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Full text of "Jean Paul. Sämtliche Werke I/1"

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JEAN PAUL 
SAMTLICHE WERKE 

Abteilung I 
Band 1 



JEAN PAUL 

Die unsichtbare Loge 
Hesperus 



ZWEITAUSENDEINS 



Herausgegeben von Norbert Miller 
Nachwort von Walter Hollerer 



l.Auflage, Marz 1996. 
2. A ullage, Marz 1996. 

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung 

des Carl Hanser Verlages. 

© 1960 Carl Hanser Vetiag Munchen. 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der 

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der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen System en, 

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Rundfunk, Fernsehen oder Video, ■auch. einzelner Textteile. 

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Biichern, Platten, Videos oder anderen Sachen aus der 

Zweitausen'deins-Produktion bedtirfen in jedem Fall der schriftlichen 

Genehmigung durch die Geschaftsleitung vom 

Zweitausendeins Versand in Frankfurt. 

Herstellung der Lizenzausgabe: 

Dieter K order & Bernd Leberfinger, Ndrdlingen. 

Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg. 

Umschlag: Angelo Marabese. 

Diese Ausgabe gibt es nur bei Zweitausendeins 

im Versand (Postfach, D-60381 Frankfurt am Main) oder 

in den Zweitausendeins-Laden in Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, 

Hamburg, Koln, Munchen, Niirnberg, Saarbrucken, Stuttgart. 

' In der Schweiz uber buch 2000, 
Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A. 

ISBN 3-86150-152-X ; 



INHALTSOBERSICHT 

Die unsichtbare Loge 7 

Hesperus 471 

Anhang 1237 

Anmerkungen zur Unsichtbaren Loge . . 1241 

Anmerkungen zum Hesperus ........ 1268 

Nachwort . - . 1313 

Zur Textgestaltung 1339 

Inhaltsverzeichnis 134; 



DIE UNSICHTBARE LOGE 

EINE LEBENSBESCHREIBUNG 



Motto 

Der Mensch ist der groBe Gedankenstrich im Buche der Natur 

Auswahl aus des Teufels Papieren 



MUMIEN 



Erster Teil 



Entschuldi gung 

bei den Lesern der samtlichen Werke in Beziehung 
auf die unsichtbare Loge 

Ungeachtet meiner Aussichten und Versprechungen bleibt sie 
doch eine geborne Ruine. Vor dreiBig Jahren hatte ich das Ende 
mit allem Feuer des Anfangs geben konnen, aber das Alter kann 
nicht ausbauen, nur ausflicken, was die kiihnejugend aufgefiihrt. Ja 
man setze sogar alle Krafte des Schaffens ungeschwacht, so erschei- 
nen ihnen doch nicht mehr die vorigen Begebenheiten, Verwick- 

10 lungen undEmpfindungen des Fortsetzens wert. Sogar in Schillers 
Don Carlos hort man daher zwei Zeiten und zwei Stimmen. - 

Noch ein Werk, die biographischen Belustigungen unter der 
Hirnschale einer Riesin; steht in der Reihe dieser Sammlung ohne 
Dach und Baurede da - aber es ist auch das letzte; - und sind denn 
zwei unausgebaute Hauserchen so gar schwer zu verzeihen in 
einem Korso von Gebauden aller Art - von Gartenhausern - 
groBen Sakristeien, wenn auch ohne Kirchen - Irren- und Rat- 
hausern - kleinen Horsalen - vier Pfahlen - Dachstuben - Erkern 
- und italienischen Kellern? - Wenn man nun fragt, warum ein 

20 Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur 
nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt 
sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn wir uns beklagen, 
daB ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht berichtet, 
was aus Kunzens zweiter LiebschaftundEHensVerzweiflung dar- 
uber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Land- 
richters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet 
hat - so troste man sich damit, daB der Mensch rund herum in 
seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, - und erst hinter seinem 
Grabe liegen die Auflosungen; - und die ganze Weltgeschichte . 

$o ist ihm ein unvollendeter Roman. - 
Baireuth, im Oktober 1825. 

Jean Paul Friedrich Richter. 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 



Wer einigen wohlwollenden Anteil an den kleinen Haus-, ja 
StudierstUbenfesten der Schriftsteller nimmt : der lauft gewiB ihre 
Vorreden zu zweiten Auflagen mit Vergniigen durch; denn in 
diesen feiern sie ihr Buch-Jubilaum und haben darin fast nichts 
zu sagen als das Angenehmste,namlich von sich. Wenn der Schrift- 
steller in der Vorrede zur Probier- Auf lage sich so gar matt und 
scheu handhaben muB und aus weit getriebner und doch unent- 
behrlicher Bescheidenheit so viele Besorgnisse und Zweifel (sie 
betreffen seine Gaben) an denTagzulegenhat: wievielungebund- 10 
ner und heiterer geht es dagegen her nach dem Obergange des 
Jubel-Autors aus der streitenden Kirche der ersten Vorrede in die 
triumphierende der zweiten, und derjubilariusbringtsichselber 
ohne Angst sein Standchen und sein vivat und vivam! 

Gegenwartiger Schreiber ist auf dieeem Bogen selber im Be- 
grifTe, zu jubilieren und ein Familienfest mit einem seiner Hebsten 
Kinder - eben dem gegenwarrigen Buche, seinem romantischen 
Erstling - zu begehen, und redet hier zur zweiten Auf lage vor. 

— Aber mitten im Feste erwagt er wohl, daB ein Autor wie er 
auf diese Weise am Ende mehr Vorreden als Bucher macht- z.B. 20 
zu einem dreimal aufgegangnen Hesperus drei Vorreden als Mor- 
genroten - und daB folglich beinahe des Redens mehr ist als des 
Machens. Das Alter spricht ohnehin gern von sich; aber nachteilig 
genug vermehren sich eben mit den Jahren die neuen Auflagen 
und mithin die Vorreden dazu, worin man allerlei uber sich vor- 
bringt. 

Das wenige, was ich hier von mir selber zu sagen habe, be- 
schf ankt sich auf das gewohnliche vorrednerische Eigenlob und 
auf den als Lobfolie untergelegten Eigentadel. 

Stehende Verbesserungen aller meiner Auflagen blieben auch 3° 
hier die Land- oder Buch-Verweisungen von faulen Tag- oder 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE I 5 

Sprachdieben oder Wortfremdlingen und die Ausrottung falscher 
Genitiv-S und Ungs. - Ferner auf alien Blattern, wo es nottat, 
wurden Lighter und Schatten und Farben gehoben oder vertieft, 
aber nur schwach; und da bloB meistens in komischen Stellen. 
Denn wenn ich hatte - um mit dem Lobe fortzufahren - an den 
ernsten starken oder andern wollen, welche die Natur und die 
Liebe und das Grofle in uns und uber uns malen : so hatt' ich es in 
meinem spatern Alter nicht zu machen vermocht, indem ich bei 
jenen Stellen schon Gott danken muB, daB ich sie nur das erste 

10 Mai gemacht. Diese Not wird sich erst recht zeigen - so daB ich 
lieber und leichter nach den vier gedruckten Flegeljahren noch so 
viele neue, als ich Jahre habe, gabe -, wenn ich einmal den dritten 
oder SchluBband dieser Loge bauen mu.fi ; und ich wiinschte herz- 
lich, irgendein anderer Nachahmer von mir als ich selber iiber- 
nahme die Last. 

Denn die Griinde liegen offen da. Dcr Verfasser dieses blieb 
und arbeitete nach den im ic> tcn Jahre geschriebnen Skizzen noch 
neun Jahre lang in seiner satirischen Essigfabrik (Rosen- und 
Honigessiglieferte aus ihr die Auswahl aus des Teufels Papieren), 

20 bis er endlich im Dezember 1790 durch das noch etwas honig- 
sauere Leben des Schulmeisterlein Wutz 1 den seligen Obertritt 
in die unsichtbare Loge nahm: so lange also, ein ganzes horazi- 
sches Jahrneun hindurch, wurde des Junglings Herz von der Sa- 
tire zugesperrt und muBte alles verschlossen sehen, was in ihm 
selig war und schlug, was wogte und liebte und weinte. Als es sich 
nun endlich im achtundzwanzigsten Jahre offnenund luften durfte : 
da ergoB es sich leicht und mild wie eine warme uberschwellende 
Wolke unter der Sonne - ich brauchte nur zuzulassen und dem 
FlieBen zuzusehen - und kein Gedanke kam nackt, sondern jeder 

30 brachte sein Wort mit und stand in seinem richtigen Wuchse da 
ohne die Schere der Kunst. Gerade ein lange zugedrucktes iiber- 
volles Herz bewahrt in seiner Flut mehr das Richtige und Ge- 

1 Es steht am Ende des zweiten Bandes der Loge; wurde aber fruher als 
diese gemacht; und das Schulmeisterlein zog denn als Logemeister und Alt- 
meister und Leithammel meinen romantischen Helden Gustav, Viktor, Al- 
bano etc. voran. 



1 6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

maBigte als ein immer offen gelaBnes, sich leer rinnendes in seiner 
Ebbe, das Wellenspriinge machen mu6 fur die nachste Buchhand- 
lermesse. Ach! man sollte alles Beste, zumal des Gefiihls, nur em- 
ma/ aussprechen! - Die Blilten der Kraftbaume sind schmal und 
haben nur zwei einfache Farben, die weifie und rote, Unschuld 
und Scham; hingegen die Blumen auf ihren diinnen Stengeln sind 
breiter als diese und schminken sich mit brennenden Farben. - 
Aber jedes erste Gefuhl ist ein Morgenstern, der, ohne unterzu- 
gehen, bald seinen Zauberschimmer verliert und durch das Blau 
des Tags verhiillt weiterzieht 10 

Ich gerate hier beinahe in dasselbe blumige Unwesen durch 
Sprechen dariiber ; aber eben wieder aus der angefuhrten Ursache, 
weil ich iiber die jungfrauliche Kraft und Schonheit, womit frische 
Gefuhle zum ersten Male reden, schon so oft und besonders-in 
Vorreden gesprochen (ich verweise in dieser zur zweiten Auf lage 
der Mumien auf die neueste zur zweiten Auf lage der gronlandischen 
Prozesse) ; und so beweiset sich der Satz schondadurch, wie er sich 
ausspricht. 

Man wird vielleicht dem Verfasser es nachsehen, daB er seinen 
ersten Roman zwei Jahre zu friih geschrieben, namlich schon in «o 
seinem 28 tcn ; aber im ganzen, gesteht er selber, sollte man Ro- 
mane nicht vor dem Jahre schreiben, wo der alte Deutsche seinen 
spielte und ihn sogleich in Geschichte durch Ehe verwandelte, 
namlich im 3o tcn Jahre. An Richardson, Rousseau, Goethe (nicht 
im lyrischen Werther, sondern im romantischen Meister), an Fiel- 
ding und vielen bewahrt sich der Satz. - Der Verfasser der un- 
sichtbaren Loge hatte von Lichtenberg so starke BuBpredigten 
gegen die Menschenunkunde der deutschen Romanschreiber und 
Dichter gelesen und gegen ihre so gro fie Unwissenheit in Realien 
ebensowohl als in Personalien, daB er.zum Gluck den Mut nicht $o 
hatte, wenigstens friiher als im 28 ten Jahre das romantische Wag- 
stuck zu ubernehmen. Er furchtete immer, ein Dichter miisse so 
gut wie ein Maler und Baumeister etwas wissen, wenn auch wenig ; 
ja er miisse (die Sache noch hoher getrieben) sogar von Grenz- 
wissenschaften (und freilich umgrenzen alle Wissenschaften die 
Poesie) manches verstehen, so wie der Maler von Anatomie, von 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 17 

Chemie, Gotterlehre und sonst. - Und in der Tat hat sich niemand 
so stark als Goethe - der unter alien bekannten Dichtern die 
meisten Grundkenntnisse in sich verknupft, von der Reichspraxis 
und Rechtslehre an durch alle Kunststudien hindurch bis zur 
Berg- und Pflanzen- und jeder Naturwissenschaft hinauf- als den 
festen und zierlichen Pfeiler des Grundsatzes hingestellt, daB erst 
ein Dichter, welcher Licht in der einen und andern Sache hat, sich 
kann horen lassen, so daB sichs hier verhielte mit den Dichtungen 
wie mit den Pflanzen, welche bei aller Nahrung durch Warme, 

io Feuchte und Luft doch nur Fruchte ohne Geschmack und Brenn- 
Stoff bringen, wenn ihnen das Sonnen/z'cAf gebrach. 

Gliicklicherweise hat sich freilich seitdem- seit dem eingegang- 
nen Predigtamte Lichtenbergs und anderer Prosaisten - sehr vieles 
und zwar zum wahren Vorteile der Dichter geandert. Menschen- 
studien vorzuglich werden ihnen von Kunstverstandigen und 
Leihlesern willig erlassen, weil man dafur desto mehr im Roman- 
tischen von ihnen erwartet und fodert. Daher sind sogenannte 
Charaktere - wie etwa die vorkommlichen bei Goethe, oder gar 
bei Shakespeare, ja wie nur bei Lessing - gerade das, wodurch 

20 sich die neueren Roman- und Drama-Dichter am wenigsten cha- 
rakterisieren, sondern es ist ihnen genug - sobald nur sonst ge- 
horige Romantik da ist -, wenn die Charaktere bloB so halb und 
halb etwa etwas vorstellen, im ganzen aber nichts bedeuten. Ihre 
Charaktere oder Menschen-Abbilder sind gute Konditor- oder 
Zuckergebilde und fallen, wie alle Kandis- und Marzipanmanner, 
sehr unahnlich, ja unformlich, aber desto suBer aus und zerlaufen 
mild auf der Zunge. Ihre gezeichneten Kopfe sind gleichsam die 
Papierzeichen dieser hohern Papiermuller und bedurfen keiner 
groBern Ahnlichkeit mit den Urbildern als die Kopfe der Konige 

30 von PreuBen und Sachsen auf dem preuBischen und sachsischen 
Konzept-Papiere, die und deren Unahnlichkeit man erst sieht, 
wenn man einen Bogen gegen das Licht halt. Da nun gerade neue 
Charaktere so schwer und ihrer nur so wenige zu erschafFen sind, 
wennman sich nicht zu einem Shakespeare steigern kann,hingegen 
neue Geschichten so leicht zu geben, zu deren Zusammensetzun- 
gen schon vorgeschriebene Endreime der Willkiir die organischen 



1 8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Kiigelchen oder den Froschlaich darbieten : so wird durch stehe'nde 
Wolkengestalten von Charakteren, welche unter dem Anschauen 
fliissig aus- und einwachsen und sich selber eine Elle zusetzen und 
abschneiden, dem Dichter unglaubliche Miihe und Zeit, die er 
fruchtbarer an Begebenheken verwendet, im Schaffen erspart, und 
er kann jede Messe mit seinem frischen Reich turn neuef Geschich- 
ten und alter Charaktere auftreten; er ist der Koch Andhrimmer 
(in der nordischen Mythologie) und hat den Kessel Eldhrimmer 
und kocht das Schwein Sahrimmer, das jeden Abend wieder leben- 
dig wird, und bewirtet damit die Helden in Walhalla jeden Tag. 10 

Dieser romantische Geist hat nun in Romanen und Trauer- 
spielen eine Hohe und Vollkommenheit erreicht, iiber welche 
hinaus er ohne Selbstverfluchtigung schwerlich zu gehen vermag, 
und welche man in der ganz gemeinen Sprache unbedenkljch 
schon Tollheit oder Wahnwitz nennen kann, wenn auch nicht in 
der Kunstsprache. Von den Trauerspielen an des ohnehin nicht 
verstandreichen Werners bis hinauf zu dem Yngurd und der Al- 
baneserin des verstandiiberreichen Miillners regiert ein seltner, 
luftiger, keines Bodens bediirftiger Wahnwitz die Charaktere und 
dadurch sogar einen Teil der Geschichte, deren Schauplatz eigent- ao 
lich im Unendlichen ist, weil verruckte und verriickbare Charak- 
tere jede Handlung, die man will, motivieren und rucken konnen. 
Sogar bei den groBten Genien anderer Volker und friiherer Zeiten 
sucht man Kunst-Verruckungen und Anamorphosen und Ana- 
grammen des Verstandes, wie z.B. in des gedachten Proselyten 
Luther oder Attila, umsonst. Sogar ein Sophokles glaubte, von 
seinen erbsuchtigen Kindern des Alterwahnwitzes angeklagt, sie 
durch ein so verstandreiches Trauerspiel wie der Odipus zu Boden 
zu schlagen ; aber in unserer Zeit wurde wohl ein deutscher Sopho- 
kles vor Gericht den Beweis seines Verstandes durch kein anderes 50 
Gedicht fuhren als durch eines, worin er seinen Haupt-Charak- 
teren den ihrigen genommen hatte. 

Dieser romantische Kunst- Wahnwitz schranktsichgliicklicher- 
weise nicht auf das Weinen ein, sondern erstreckt sich auch auf 
das Lachen, was man Humor oder auch Laune nennt. Ich will hier 
der Vorreden-Kurze wegen mich bloB auf den kraftvollen Fried- 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 1 9 

rich Hoffmann berufen, dessen Callotische Phantasien ich fruher 
in einer besondern Vorrede schon empfohlen und gepriesen, als 
er bei weitem weniger hoch, und mir viel naher stand. Neuerer 
Zeit nun weiB er allerdings die humoristischen Charaktere - zu- 
mal in der zerriittenden Nachbarschaft seiner Morgen-, Mittag-, 
Abend- und Nachtgespenster, welche kein reines Taglicht und 
keinen festen Erdboden mehr gestatten - zu einer romantischen 
Hohe hinaufzutreiben, da 6 der Humor wirklich den echten Wahn- 
witz erreicht; was einem Aristophanes und Rabelais und Shake- 

10 speare nie gelingen wollen. Auch der heitere Tieck tat in fruhern 
Werken nach diesen humoristischen Tollbeeren einige gluckliche 
Spriinge, lieB aber als Fuchs sie spater hangen und hielt sich an 

die Weinlese der Bacchusbeeren der Lust. 

Dieses wenige reiche hin, um zu zeigen, wie wilHg und freudig 
der Verfasser den hohen Stand- und Schwebepunkt der jetzigen 
Literatur anerkenne. Unstreitig ist jetzo die Belladonna (wie man 
die Tollkirsche nennt) unsere Muse, Primadonna und Madonna, 
und wir leben im poetischen Tollkirschenfest. Desto erfreulicher 
ist es, daB auch die Lesewelt diese poetische Hinaufstimmung auf 

20 eine freundliche Weise begiinstigt durch ihre Teilnahme, und daB 
sie, wie das Morgenland, Verriickte als Heilige ehrt, und was sie 
sagen, fiir eingegeben halt. Oberhaupt eine schone Lorbeer- und 
Kirschlorbeerzeit! — 

Bei alien neuen zweiten Ausgaben wird es dem Verfasser, der 
sie so gern zu recht verbesserten machen mochte, von neuem 
schmerzhaft, daB keine seiner Dichtungen ein um- und eingrei- 
fendes Kunsturteil uber Charaktere und Geschichte und Sprache 
jemal hat erobern konnen. Mit einem allgemeinen Lobe bis zur 
Obertreibung und mit einem ahnlichen Tadel bis zu einer noch 

jo groBern ist einem rechtschaffenen Kiinstler nicht gedient und ge- 
holfen. Naturlicherweise wurden zweite Auflagen noch weniger 
beurteilt und gepriift als erste, und der Verfasser sah. jeden Abend 
vergeblich auf ein Lob seiner Str'enge gegen sich selber auf. Wie 
gern er aber bessert und streicht - noch mehr als ein Wiener 
Schauspieldirektor, der bloB fremde Stiicke zerstuckt - und wie 
emsig er aus jedem bedornten oder gestachelten Tadel, sei er ent- 



20 DIE UNSICHTBARE LOGE 

weder Rose oder Wespe, den Honig der Besserung saugt, dies 
konnte ein Kunstrichter erfahren, ohne mehr Biicher zu lesen als 
zwei, namlich die zweite Ausgabe neben der ersten; ja sogar aus 
einem einzigen konnte er alles wegbekommen, wenn er einen 
Herrn Verleger bloB urn gefallige Vorzeigung des Ietzten, mit 
weisen Runzeln und mit Druck- und Dintenschwarze zugleich 
durchfurchten ^/f-Exemplars ersucbte: der Mann wiirde im 
Buchladen sich wundern iiber das Bessern, ihm so gerade gegen- 
iiber. 

Aber, wie leider gesagt, gegenwartigwird inDeutschland wenig 10 
Belletristisches rezensiert, unddieTaschenkalendersindhierwohl 
die einzigen Ausnahmen von Belang, namlich ihre verschiedenen 
kleinen Aufsatze und die verschiedenen kleinen Urteile dazu. 

Es ist eigentlich ziemlich spat, daB ich erst nach 28 Jahren sage, 
was die beiden Titel des Buchs sagen wollen. Der eine wnsicht- 
hare Logea soil etwas aussprechen, was sich auf eine verborgne 
Gesellschaft bezieht, die aber freilich so lange im Verborgnen 
bleibt, bis ich den dritten oder SchluBband an den Tag oder in die 
Welt bringe. Noch deutlicher laBt sich der zweite Titel »Mumien« 
erklaren, der mehr auf meine Stimmung, so wie jener mehr auf 20 
die Geschichte, hindeutet. Oberall werden namlich im Werke die 
Bilder des irdischen Voruberfliegens und Verstaubens, wie agyp- 
tische Mumien und griechische Kunst-Skelette, unter den Lust- 
barkeiten und Gastmahlen aufgestellt. Nun soil aber die Poesie 
mehr das Entstehen als das Vergehen zeigen und schafFen und 
mehr das Leben auf den Tod malen als das Gerippe auf das Leben. 
Der Musenberg soil als der hochste, alle Wolken uberniigelnde 
Berg, der uns sowohl den Himmel als die Erde heller schauen laBt 
und zugleich die Sternbilder und den blumigen Talgrund uns 
naher bringt, dieser soil der Ararat der im Wasser arbeitenden und 30 
schifFbriichigen Menschheit sein; wie sich in der Mythe 1 Deuka- 
lion und Pyrrha aus der Sundflut auf dem Parnassus erretteten. 
So verlangt es besonders unser Goethe und dichtet darnach; die 
Dichtkunst soil nur erheitern und erhellen, nicht verdustern und 
bewolken. - Und dies glaub* ich auch; ja ohne eine angeborne 

1 Ovid. Metamorph. VI. 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 21 

unwillkiirliche - was man eben Hoffnung und Erinnerung nennt - 
ware keine Wirklichkeit zu ertragen, wenigstens zu genie Ben. - 

Aber ebenso gewiB ist es, daB gerade die Jugend, diese leben- 
dige Poesie, mitten unter ihren Bliitenasten (fur sie aber schon 
Fruchtaste) und auf ihren sonnigen warmen Anhohen nichts lieber 
dichtet und gedichtet liest als Nachtgedanken; und nicht nur vor 
der liebekranken Jungfrau, sondern auch vor dem liebestarken 
J tingling - der darum einem Schlachttode weit begeisterter ent- 
gegenzieht als ein Alter - schweben die Gottesacker als hangende 
io Garten in Liiften, und sie sehnen sich hinauf. Die Jugend kennt 
nur griine blumige Grabhugel, aber das Alter offne Graber ohne 
grunende Wande. 

Diese jugendliche Ansicht komme nun dem Verfasser, der in 
einem fiir inn noch jugendlichen Alter schrieb, bei seinen zu hau- 
figen Grablegungen und seinen Nachtstiicken der Verganglich- 
keit in diesem Werke zugute. - Indes ist hier eben eine nicht zu 
furchtsame Rechtfertigung notwendig; denn da wir doch einmal 
alle in der immer vernichtenden und vermchtet-werdenden Zeit 
fortschwimmen und wir auf den kleinen Grabchen jeder Minute 

29 in das groBe der letzten Stunde steigen mtissen : so kann hier kein 
scheues Seitwartsschielen der Poesie - was etwa bei Obeln gelten 
konnte, die nur einzelne und nur zeitweise ergreifen -, sondern 
bloB ein tapferes Aufwartsschauen dichterisch und erquickend 
werden. Die Poesie mache nur keck die Erdgruft auf, aber sie zeige 
auch, wie sie zwischen zwei Halbh'immeln liegt und wie wir aus 
dem zugedeckten uns dem aufgedeckten zudrehen. - Und wenn 
wir nur als spielende Eintagmucken, eigentlich Einabendmucken 
in den Strahlen der untergehenden Sonne uns sonnen und dann 
senken: so geht nicht bloB die Miicke, auch die Sonne unter; aber 

30 im weiten Freien der Schopfung, wo kein Erdboden sich da- 
zwischenstellt, haben Sonnen und Geister keinen Untergang und 
kein Grab. 

Und so mdgen denn diese zwei Mumien, weniger mit neuen 
Gewiirzen zur Fortdauer einbalsamiert als hie und da mit den 
Zeichen-Binden anders eingewickelt, sich wieder der friihern Zu- 
ziehung und Einladung zu den Gastmahlen der Leser zu erfreuen 



27. DIE UNSICHTBARE LOGE 

habenl Und die dritte oder SchluBmumie soil nachgeschickt wer- 
den — als die dritte Parze im schonen griechischen Sinne — , wenn 
nicht den Mumien-Vater selber vorher das Schicksal zur groBen 
Mumie macht. Also dm einen und im andern Falle kann es an einer 
dritten SchluBmumie nicht fehlen. 
Baireuth den 24 ten Jun. 1821. 

Jean Paul Fr. Rich ten. 



VORREDNER 
in Form einer Reisebeschreibung 

Ich wollte den Vorredner anfangs in Sichersreuth oder Alexan- 
dersbad bei Wonsiedel verfertigen, wo ich mir das Podagra wieder 
in die Fiifien hinunterbaden wollte, das ich mir bloB durch gegen- 
wartiges Buch zu weit in den Leib hinaufgeschrieben. Aber ich 
habe mir meinen Vorredner, auf den ich mich schon seit einem 
Jahre freue, aus einem recht vernunftigen Grunde bis heute auf- 
gespart. Der recht verniinftige Grund ist der Fichtelberg, auf 

10 welchen ich eben fahre. - Ich muB nun diese Vorrede schreiben, 
damit ich unter dem Fahren nicht aus der Schreibtafel und Kutsche 
hinaussehe, ich meine, damit ich die grenzenlose Aussicht oben 
nicht wie einen Fruhling nach Kubikruten, die Strome nach Ellen, 
die Walder nach Klaftern, die Berge nach SchifFpfunden, von 
meinen Pferden zugebrockelt bekomme, sondern damit ich den 
groBen Zirkus und Paradeplatz der Natur mit alien seinen Stro- 
men und Bergen auf einmal in die aufgeschlossene Seele nehme. - 
Daher kann dieser Vorredner nirgends aufhoren als unweit des 
Ochsenkopfs, auf dem Schneeberg. 

20 Das notigt mich aber, unterweges mich in ihm an eine Menge 
Leute gesprachsweise zu wenden, um nur mit ihm bis auf den 
Ochsenkopf hinauf zu langen; ich muB wenigstens reden mit Re- 
zensenten - Weltleuten - Hollandern - Fursten - Buchbindern - 
mit dem Einbein und der Stadt Hof - mit Kunstrichtern und mit 
schonen Seelen, also mit neun Parteien. Es wird mein Schade nicht 
sein, daB ich hier, wie es scheint, in den Klimax meiner Pferde 

den Klimax der Poeten verflechte 

Der Wagen stdfiet den Verfasser dermaBen, daB er mit Nro. 1, 
den Rezensenten, nichts Vernunftiges sprechen, sondern ihnen 

30 bloB erzahlen will, was sein guter grauer Schwiegervater begeht - 



24 DIE UNSICHTBARE LOGE 

namlich alle Tage seinen ordentlichen Mord und Totschlag. Ich 
geb' es zu, viele Schwiegervater konnen hektisch sein, aber wenige 
sind dabei in dem Grade offizinell und arsenikalisch als meiner, 
den ich in meinem Hause - ich hab's erst aus Hallers Physiologie 
T. II. erfahren, daB Schwindsiichtige mit ihrem Atem Fliegen 
toten konnen - statt eines giftigen Fliegenschwamms mit Nutzen 
verbrauche. Der Hektiker wird nicht klein geschnitten, sondern 
er gibt sich bloB die kleine Miihe, den ganzen Morgen statt einer 
Seuche in meinen Stuben zu grassieren und mit dem Schirokko- 
wind seines phlogistischen Atems aus seiner Lunge der Fliegen 10 
ihxe anzuwehen; aber die Rezensenten konnen sich leicht denken, 
ob so kleine Wesen und Nasen, die sich keinen antimephitischen 
Respirator vom Herrn Pilatre de Rozier applizieren konnen, einen 
solchen abscheulichen Schwaden auszuhalten fahig sind. Die 
Fliegen sterben hin wie - Fliegen, und statt der bisherigen Miik- 
ken-Einquartierung nab* ich bloB den guten giftigen Schwieger- 
vater zu bekostigen, der mit ihnen auf den FuB eines Miicken- 
Freund-Hein umgeht. Nun glaub* ich, den ordentlichen guten 
Rezensenten einem Schwiegervater von solchem Gift und Wert 
gleichsetzen zu durfen; ja ich mochte jenen bei der Hand anfassen *o 
und, auf den grassierenden Phthisiker hindeutend, ihn anfeuern 
und fragen: »ob er nicht merke, daB er selber gar nicht zu ver- 
achten sei, sondern daB er - wenn der Hektikus, mit seinen Lun- 
genfliigeln das feinste und notigste Miasma unter die Fliegen 
.wehend, ein edles seltenes Glied in der naturhistorischen Welt 
vorstelle - ein ebenso niitzliches in der Hterarischen ausmache, 
wenn er, in der Gelehrtenrepublik auf- und abschleichend, das 
summende Insektengeflugel mit seinem atzenden Atem so treffend 
anhauche, daB es krepiere wie eine Heuschreckenwolke -; ob er 
dieses und noch besseres, mocht' ich den Rezensenten fragen, 30 
nicht merke und nicht daraus schlieBe, daB der Vorredner 
zu der unsichtbaren Loge dies zehnmal weitlauftiger haben 
werde?« - 

Er hat es aber naturlicherweise viel kiirzer, weil ich sonst auf 
den Ochsenkopf hinaufkame mitten in der Vorrede, ohne nur der 
Weltleute gedacht zu haben, geschweige der andern. 



VORREDNER 25 

Diese wollen nun die zweite Nummer und Sprosse meines Auf- 
klimmers abgeben - Campe wirft nicht ungeschickt durch dieses 
Wort den Klimax aus seinen und meinen Biichern -; allein ich 
werde wenig mehr bei ihnen anzubringen haben als eine Recht- 
fertigung, daB ich mich in meinem Werke zu oft anstellte, als 
macht' ich mir aus der Tugend etwas und aus jener Schwarmerei, 
die so oft den Namen Enthusiasmus tragt. Ich besorge wahrhaftig 
nicht, daB verntinftige Leute meine Anstellung gar fiir Ernst an- 
sehen ; ich hofFe, wir trauen beide einander zu, daB wir das Lacher- 

io liche davon empfinden, statt der Namen der Tugenden diese selber 
haben zu wollen - und heutzutage sind die wenigsten von uns zu 
den tollen Philosophen in Lagado (in Gullivers Reisen) zu rech- 
nen, die aus Achtung fiir ihre Lunge die Dinge selber statt ihrer 
Benennungen gebrauchten und allemal in Taschen und Sacken die 
Gegenstande mitbrachten, woriiber sie sich unterhalten wollten. 
Aber ob man mir nicht eben dies verdenken wird, daB ich Namen 
so oft gebrauche, die nicht viel modischer als die Sache selber sind 
und deren man sich in Zirkeln von Ton, so wie der Namen »Gott, 
Ewigkeit«, gern enthalt, dariiber lasset sichdisputieren. Inzwischen 

20 sen' ich doch auf der andern Seite auch, daB es mit der Sprache 
der Tugend wie mit der lateinischen ist, die man jetzozwar nicht 
mehr gesprochen, aber doch geschrieben duldet und die deswegen 
langst aus dem Mund in die Feder zog. Ich berufe mich uberhaupt 
auf einsichtige Rezensenten, ob wir dichtenden Schriftsteller ohne 
tugendhafte Gesinnungen, die wir als poetische Maschinen ge- 
brauchen so wie die ebenso fabelhafte Mythologie, nur eine Stun- 
de auszukommen vermogen und ob wir nicht zum Schreiben hin- 
Iangliche Tugend haben mtissen als Wagenwinde, Steigeisen, 
Montgolfiere und Springstab unsrer (gedruckten) Charaktere - 

$o widrigenfalls gefallen wir keiner Katze; und es ergeht den armen 
Schauspielern auch nicht anders. Freilich Autoren, die iiber Poli- 
tik, Finanzen, Hofe schreiben, interessieren gerade durch die ent- 
gegengesetzten Mittel - Eben damit kann sich ein Schreiber dek- 
ken, der in seine Charaktere das, was die Poeten und Weiber ihr 
Herz nennen, eingeheftet; es muB drin hangen (nicht nur in ge- 
schilderten, auch in lebenden Menschen), es mag Warme haben 



26 DIE UNSICHTBARE LOGE 

oder nicht; ebenso versieht der Biichsenmacher die Windbuchsen 
so gut mit einer Ziindpfanne wie Feuergeschofi, ob gleich nur mit 
JiFirWgetrieben wird — Es kann wahrlich um den ganzen Fichtel- 
berg kein so kalter pfeifen als gerade im Holzweg, wo eben mein 
Wagen mitten im Auguste geht — 

Mit Nro. 3, den Hollandern, wollt' ich mich in meinem Kasten 
zanken wegen ihres Mangels an poetischem Geschmack: das war 
alles. Ich wollte ihnen vorwerfen, daB ihrem Herzen ein Ballen- 
binder naher liege als ein Psalmist, ein Seelenverkaufer naher als 
ein Seelenmaler, und daB das ostindische Haus keinem einzigen 10 
Poeten eine Pension auswerfen wiirde als bloB dem alten Orpheus, 
weil seine Verse Fliisse ins Stocken sangen und man also sein Ha- 
berrohr und seine Muse anstatt der belgischen Damme gebrauchen 
konnte. Ich wollte den Niederlandern den kaufmannischen Unter- 
schied zwischen Schonheit und Nutzen nehmen und ihnen es hin- 
unterschreiben, daB Armeen, Fabriken, Haus, Hof, Acker, Vieh 
nur das Schreib- und Arbeitszeug der Seele waren, womit sie einige 
Gefuhle, worauf alle Menschentatigkeit auslauft, errege, erhebe 
und auBere, daB den indischen Kompagnien Schiffe und Inseln 
dazu dienten, wozu den poetischen Reime und Federn taugten, 20 
und daB Philosophic und Dichtkunst die eigentlichen Frtichte und 
Bliiten am Baume des Erkenntnisses ausmachten, aber alle Ge- 
werb- und Finanz- und Staat-Wissenschaften und Kameralkorre- 
spondenten und Reichsanzeiger bloB die einsaugenden Blatter 
waren und der Splint, der Wurzeln-Efeu und das unter dem 
Baume treibende Aas. - Ich wollt* es sagen; lieB es aber bleiben, 
weil ich besorgte, die Deutschen merkten es, daB ich unter Hol- 
landern bloB - sie selber meine; denn wie kam' iqh auch sonst 
unter die mit Tee ausgelaugten belgischen Schlafrocke? - Ich 
habe ohnehin wenig mehr zu fahren und viel noch abzu- 50 
fertigen; 

Ich untersag' es den europaischen Landstanden, mein Werk 
Nro. 4 einem Fursten zu geben, weil er sonst dabei ein- 
sMaft; welches ich - da ein furstlicher Schlaf nicht halb so 
spaBet wie ein homeriscker - recht gern geschehen lasse, so- 
bald die europaischen Landstande das Gesetz wie ein Arcuc- 



VORREDNER 27 

cio 1 so iiber die Landeskinder wolben, daB sie der Landesvater 
im Schlafe nicht erdrucken kann, er mag sich darin werfen, wie 
er will, auf die Seiten, auf den Rucken oder auf den Bauch. 

Da hundert Buchbinder Nro. 5 mich unter den Arm und in die 
Hande nehmen werden, um mich ganze Wochen friiher zu lesen 
als zu besckneiden und zu pressen — gute Rezensenten taten gewiB 
das Widerspiel-: so miissen die guten Rezensenten auf die Buch- 
binder warten j die Leser auf die Rezensenten und ich auf die Leser, 
und so darf ein einziger Ungliickvogel uns alle verhetzen und in 

10 den Sumpf ziehen; aber wer kanns den Buchbindern verbieten als 
ich, der ich in dieser Nachricht an Buchbinder mein Buch fur der- 
gleichen Binder eigenhandig konfisziere? 

Mit dem Einbein, der sechsten Nummer, viel zu reden, wie ich 
verhieB, verlohnt der Miihe gar nicht, da ich das Ding selber bin 
und noch uberdies der einbeinige Autor heiBe. Die Hofer (die 
Einwohner der Stadt Hof, der 7 tcn Nr.), worunter ich hause, muB- 
ten mich mitdiesemanti-epischen Namen belegen, weil mein linkes 
Bein bekanntlich ansehnlich kiirzer ist als das andre und weil noch 
dazu unten mehr ein Quadrat- als KubikfuB dransitzt. Es ist mir 

20 bekannt, Menschen, die gleich den ostindischen Hummern eine 
kurze Schere neben der langen haben, konnen allerdings sich mit 
der chaussure behelfen, die ihre Kinder ablegen; aber es ist ebenso 
unleugbar, daB das Zipperlein einem solchen Mann dennoch an 
beiden FuBen kneift und diesen den verdammtesten spanischen 
Stiefel anschraubt, den je ein Inquisit getragen. 

Ich hatte gar nicht sagen sollen, daB ich mit meinem lieben Hof 
in Voigtland schriftlich am Fichtelberge sprechen wollte, da ichs 
mundlich kann und mein eigener Kerl daraus her ist. Mein Wunsch 
und Zweck in einem solchen Werke wie diesem ist und bleibt 

30 bloB der, daB diese betagte und bejahrte Stadt den Schlaf, den ich 
ihr darin mit den harten Federn einer Gans einfloBen will, auf den 

weichen dieses Tiers genieBen moge 

- Endlich hab' ich nun den Ochsenkopf. - 

1 Das ist ein Gehause in Florenz - in Kriinitz* okon. Enzykl. 2. B. ists ab- 
gebildet— , worin die Mutter beiStrafe das Kind unter dem Saugen legen mu6, 
um es nicht im Schlummer zu erquetschen. 



28 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Diese Zeile ist kein Vers, sondern nur ein Zeichen, daB ich dro- 
ben war und da viel tat : meine Sanfte wurde abgeschnallet und ich 
mit geschlossenen Augen hineingeschafft, weil ich erst auf dem 
Schneeberg, derKuppel des Fichtelgebirgs, mich umsehen will — 
Unter dem Aussteigen stromte vor meinem Gesicht eine atherische 
Morgenluft voriiber; sie driickte mich nicht mit dem schwiilen 
West eines Trauerfachers, sondern hob mich mit dem Wehen 
einer Freiheitfahne.... Wahrhaftig ich wollte unter einem Luft- 
schirTe ganz andre Epopoen und unter einer Taucherglocke ganz 
andre Feudalrechte schreiben, als die Welt gegenwartig hat ... . 10 

Ich wunschte, Nro. 8, die Kunstrichter wiirden in meinerSanfte 
mitgetragen und ich hatte ihre Hande; ich wiirde sie driicken und 
sagen: Kunstrichter unterschieden sich von Rezensenten wie 
Richter von Nachrichtern - Ich wiirde ihnen gratulieren zu ihrem 
Geschmack, daB er, wie der eines Genies, dem eines Kosmopoliten 
gleiche und nicht bloB einer Schonheit rauchere - etwa der Fein- 
heit, der Starke, dem Witze-, sondern daB erinseinemSimultan- 
tempel und Pantheon fur die wunderlichsten Heiligen Altare und 
Kerzen dahabe, fur Klopstock und Crebillon und Plato und 
Swift.... Gewisse Schonheiten, wie gewisse Wahrheiten - wir 20 
Sterbliche halten beide noch fur zweierlei - zu erblicken, muB 
man das Herz ebenso ausgeweitet und ausgereinigt haben wie den 

Kopf Es hangt zwischen Himmel und Erde ein groBer Spiegel 

von Kristall, in welchen eine verborgne neue Welt ihre groBen 
Bilder wirft; aber nur ein unbeflecktes Kindes-Auge nimmt sie 
wahr darin, ein besudeltes Tier-Auge sieht nicht einmal den Spie- 
gel Nur einen orTentlichen Richter, den mein Herz verehrt, 

schenke mir dieses Jahr, und war* er audi wider mich parteiisch; 
denn ein parteilicher dieser Art fallet ein lehrreicheres Urteil als 
ein unparteiischer aus der Wochentag-Kaste. 30 

t)ber den Plan eines Romans (aber nicht iiber die Charaktere) 
muB man schon aus dem ersten Bande zu urteilen Befugnis haben ; 
alle Schonheit und Riinde, mit der die folgenden Bande den Plan 
aufwickehr, nimmt ja die Fehler und Sprimge nicht weg, die er 
im ersten hatte. Ich wiiBte uberhaupt keinen Band und kein Heft, 
worin der Autor recht hatte, den Leser zu argern. Die Nahe des 



VORREDNER 29 

Schneeberges hindert mich, es zu beweisen, daB die franzosische 
Art zu erzahlen (z. B. im Candide) die abscheulichste von der Welt 
und daB bloB die umstandliche, dem Homer oder VoB oder ge- 
meinen Marine abgesehene Art die interessanteste ist. Ferner kam' 
ich auf dem Schneeberg an, eh* ichs nur halb hinaus bewiesen 
hatte, daB wir Belletristen (ein abscheulicher Name!) insgesamt 
zwar den Aristoteles fur unsern magister sententiarum und seine 
Gebote fur unsre 39 Artikel und 50 Dezisionen halten sollten - 
daB wir aber doch fur nichts von ihm so viele Achtung zu tragen 

10 hatten als fur seine drei Einheiten (die asthetische Regeldetri), 
gegen die nicht einmal Romane siindigen sollten. Der Mensch 
interessiert sich bloB fiir Nachbarsckaft und Gegenwart; der wich- 
tigste Vorfall, der in Zeit oder Raum sich von ihm entfernt, ist 
ihm gleichgultiger als der kleinste neben ihm; so ist er, wenn er 
die Vorfalle erlebt, und mithin auch so, wenn er sie lieseu Darauf 
beruht die Einheit der Zeit und des Orts. Also der Anfang in der 
Mitte einer Geschichte, um daraus zum anfangenden Anfang zu- 
riickzuspringen - das zeitwirre Ineinanderschiitteln der Szenen - 
Episoden - so wie das Kniipfen mehrer Hauptknoten, ja sogar 

20 das.Reisen in Romanen, das den Maschinengottern ein freies,aber 

uninteressantes Spiel erlaubt kurz alle Abweichungen von 

dem Tom Jones und der Klarissa sind Sekunden und Septimen im 
Aristotelischen Dreiklang. Das Genie kann zwar alles gutmachen; 
aber Gutmachen ist nicht aufs beste machen, und glanzende ver- 
klarte Wundenmale sind am Ende doch Locher am verklarten 
Leibe. Wenn manche Genies die Kraft, die sie aufs Gutmachen 
iibertretner Regeln wenden miissen, in der Befolgung derselben 
arbeiten lieBen: sie taten mehr Wunder als der heilige Martin, der 
ihrer nicht mehr bewerkstelligte als zweihundertundsechs-Goethe 

30 in seiner Iphigenie und Klinger in seiner Medea tuns vielleicht 
dem heiligen Martin zuvor.... 

— Gegenwartig tragt man das Einbein (mich) iiber den Fichtel- 
see und iiber zwei Stangen, die statt einer Brucke iiber diese be- 
mooste Wiiste bringen. Zwei Fehltritte der Gondelierer, die mich 
aufgeladen, versenken, wenn sie geschehen, einen Mann in den 
Fichtelsumpf, der darin an seinem Vorredner arbeitet und der mit 



30 DIE UNSICHTBARE LOGE 

acht Nummern Menschen gesprochen und dessen Werk zum 

Gliick schon in Berlin ist Berge iiber Berge werden jetzo wie 

Gotter aus der Erde steigen, die Gebirge werden ihre Arme langer 
ausstrecken und die Erde wird wie eine Sonne aufgehen und dann 
wird ihre weiten Strahlen ein Menschen-BIick verknupfen und 

meine Seele wird unter ihrem Brennpunkt gliihen Nach 

wenigen Schritten und Worten ist die Vorrede aus, auf die ich 
mich so lang gefreuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich 
erst freuen soil. - Es ist gut, wenn ein Mensch seine Lebensereig- 
nisse so wunderbar verflochten hat, daB er ganz widersprechende 10 
Wiinsche haben kann, daB namlich der Vorredner dauere und der 
Schneeberg doch komme. 

— In diesen Gegenden ist alles still, wie in erhabnen Menschen. 
Aber tiefer, in den Talern, nahe an den Grabern der Menschen 
steht der schwere Dunstkreis der Erde auf der einsinkenden Brust, 
zu ihnen nieder schleichen Wolken mit groBen Tropfen und 
Blitzen, und drunten wohnt der Seufzer und der SchweiB. Ich 
komme auch wieder hinunter, und ich sehne mich zugleich hinab 
und kinauf. Denn der irre Mensch - die agyptische Gottheit, ein 
' Stuckwerk aus Tierkopfen und Menschen-Torsos - streckt seine 20 
Hande nach entgegengesetzten Richtungen aus und nach dem 
ersten Leben und nach dem zweiten : seinen Geist ziehen Geister 
und Korper. So wird der Mond von der Sonne und Erde zugleich 
gezogen, aber die Erde legt ihm ihre Ketten an, und die Sonne 
zwingt ihn bloB zu Ausweichungen. Diesen Widerstreit, den kein 
Sterblicher beilegt, wirst du, geliebter Leser, auch in diesen Blat- 
tern finden; aber vergib ihn mir wie ich dir. Und ebenso habe fur 
unverhaltnismaBige Ausbildung die Nachsicht des Menschen- 
kenners. Eine unsichtbare Hand legt den Stimmhammer an den 
Menschen und seine Krafte - sie uberschraubt, sie erschlaflft Saiten 3* 
— oft zersprengt sie die feinsten am ersten — nicht oft nimmt sie 
einen eilenden Dreiklang aus ihnen - endlich wenn sie alle Krafte 
auf die Tonleiter der Melodie gehoben : so tragt sie die melodische 
Seele in ein hoheres Konzert, und diese hat dann hienieden nur 
wenig getonet. 

.... Ich schrieb jetzt eine Stunde nicht; ich bin nun auf dem 



VORREDNER 3 I 

Schneeberg, aber nbch in der Sanfte. Erhabne Paradiese liegen 
um mich ungesehen, wie um den eingemauerten Menschengeist, 
zwischen dem und dessen hoherem Mutterland der dunkle Men- 
schenkorper innen stent; aber ich habe mich so traurig gemacht, 
daB ich in das schmetternde Trommeten- und Laubhuttenfest, 
das die Natur von einem Gebirge zum andern begeht, nicht hin- 
eintreten will: sondern erst wenn die Sonne tiefer in den Himmel 
gesunken und wenn in ihren Lichtstrom der Schattenstrom der 
Erde fallt, dann wird unter die stummen Schatten noch ein neuer 

io begluckter stiller Schatten gehen. — Aufrichtiger zu sprechen, 
ich kann bloB von euch - ihr schonern Leser, deren getraumte, 
zuweilen erblickte Gestalten ich wie Genien auf den Hohen des 
Schonen und GroBen wandeln und winken sah - nicht Abschied 
nehmen; ich bleibe noch ein wenig bei euch, wer weiB, wann und 
ob die Augenblicke, wo unsre Seelen iiber einem zerstiebenden 
Blatte sich die Hande geben, je wiederkommen - vielleicht bin 
ich hin, vielleicht du, bekannte oder unbekannte teuere Seele, von 
welcher der Tod, wenn er vorbeigeht und die unter Kornern und 
Regentropfen gebiickte Ahre erblickt, bemerkt: sie ist schon 

20 zeitig. - Und gleichwohl was kann ich jenen Seelen in den Augen- 
blicken des Abschieds, die man so gern mit tausend Worten iiber- 
laden mochte und eben deswegen bloB mit Blicken ausfullt, noch 
zu sagen haben oder zu sagen wissen, als meine ewigen Wiinsche 
fur sie : findet auf diesem (von uns Erdball genannten) organischen 
Kugelchen, das mehr begraset als beblilmet ist, die wenigen Blumen 
im Nebel, der um sie hangt - seid mit euren elysischen Traumen 
zufrieden und begehret ihre Erfullung und Verkorperung (d.h. 
Verknocherung) nicht; denn auf der Erie ist ein erfiillter Traum 
ohnehin blofi ein wiederholter — von aufien seid, gleich eurem Kor- 

30 per, von Erde, und bloB innen beseelt und vom Himmel; und 
haltet es fur schwerer und notiger, die zu lieben, die euch ver- 
achten, als die, die euch hassen - und wenn unser Abend da ist, 
so werfe die Sonne unsers Lebens (wie heute die drauBen) die 
Strahlen, die sie vom irdischen Boden weghebt, an hohe goldne 
Wolken und (als wegweisende Arme) an hohere Sonnen; nach 
dem muden Tage des Lebens sei unsre Nacht gestirnt, die.heiBen 



32 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Dimste desselben schlagen sich meder, am erkalteten hellen Hori- 
zont ziehe sich die Abendrote langsam um Norden herum, und bei 
Nord-Osten lodere fur unser Herz die neue Mor gemote auf...... 

.... Nun tritt auch die Erdensonne auf die Erdengebirge und 
von diesen Felsenstufen in ihr heiliges Grab; die unendliche Erde 
ruckt ihre groBen Glieder zum Schlafe zurecht und schlieBet ein 
Tausend ihrer Augen um das andre zu. Ach welche Lichter und 
Schatten,HohenundTiefen,Farbenund Wolken werden drauBen 
kampfen und spielen und den Himmel mit der Erde verkniipfen - 
sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir 10 
und dem Elysium), so stehen alle Berge von der zerschmolzenen 
Goldstufe, der Sonne, uberflossen da — Goldadern schwimmen 
auf den schwarzen Nacht-Schlacken, unter denen Stadte undTaler 
iibergossen liegen - Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen Him- 
mel, legen ihre festen Meilen-Arme um die bliihende Erde, und 
Strome tropfen von ihnen, seitdem sie sich aufgenchtet aus dem 
uferlosen Meer — Lander schlafen an Landern, und unbewegliche 
Walder an Waldetn,undiiberderSchlafstatte der ruhenden Riesen 
spielet ein gaukelnder Nachtschmetterling und ein hupfendes 
Licht, und rund um die groBe Szene zieht sich wie um unser Leben ap 

ein hoher Nebel. Ich gehe jetzo hinaus und sink' an die ster- 

bende Sonne und an die entschlafende Erde. 

Ich trat hinaus 

Auf dem Fichtelgebirg, im Erntemond 1792. 

Jean Paul 



Erster Sektor 

Verio bung-Schach - graduierter Rekrut - Kopulier-Katze 

Meines Erachtens war cler Obristforstmeister von Knor bloB 
darum so unerhort aufs Schach erpicht, weil er das ganze Jahr 
nichts zu tun hatte als einmaX darin der Gast, die Santa Hermandad 
und der teure Dispensationbullen-Macher der Wildmeister zu 
sein. Der Leser wird freilich noch von keiner so unbandigen Lieb- 
haberei gehort haben, als seine war. Das wenigste ist, daB er alle 
seine Bediente aus dem Dorfe Strehpenik verschrieb, wo man 

io durch das Schach so gut Steuerfreiheit gewinnt als ein Edelmann 
durch einen sachsischen Landtag, damit er (obwohl in anderem 
als katonischen Sinne) ebenso viele Gegner als Diener hatte - 
oder daI3 er und ein oberysselscher Edelmann in Zwoll mehr Post- 
geld verschrieben als verreiseten, weil sie Schach auf 250 Meilen 
nicht mit Fingern, sondern Federn zogen - Auch das kann man 
sich gefallen lassen, daB er und die Kempelsche Schachmaschine 
Briefe miteinander wechselten und daB des holzernen Moslems 
Konviktorist und Adjutant, Herr v. Kempele, ihm in meinem Bei- 
sein aus der Leipziger HeustraBe im Namen des Muselmanns zu- 

20 ruckschrieb, dieser rochiere - Man wird seine Gedanken dariiber 
haben, daB er noch vor zwei Jahren nach Paris abfuhr, um ins 
Palais royal und in die Societe du Salon des Echecs zu gehen und 
sich darin als Schachgegner niederzusetzen und als Schachsieger 
wieder aufzuspringen, wiewohl er nachher in einer demokratischen 
Gasse vie*l zu sehr gepriigelt wurde, da er im Schlafe schrie: gar- 
dez la Reine - BloB frappieren kanns einen und den andern, daB 
seine Tochter ihm nie einen neuen Hut oder eine neue Soubrette, 
die ihn ihr ansteckte, anders abgewann als zugleich mit einem 
Schach — Aber dariiber wundert und argert sich alles, was mich 

30 Reset, Leute von jedem Geschlecht und jedem Alter. daB der 



34 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Obristforstmeister geschworen hatte, seine Tochter keiner andern 
Bestie in der ganzen Ritterschaft zu geben, als einer, die ihr auBer 
dem Herzen noch em Schach abgewanne - und zwar in sieben 
Wochen. 

Sein Grund und KettenschluB war der: »Ein guter Mathema- 
tiker ist ein guter Schachspieler, also dieser jener - ein guter Ma- 
thematiker weiB die Differentialrechnung zehnmal besser als ein 
elender — und ein guter Differentialrechenmeister versteht sich so 
gut als einer aufs Deployieren und Schwenken und kann mithin 
seine Kompagnie (und seine Frau vollends) zu jeder Stunde kom- 10 
mandieren - und warum so lite man einem so geschickten, so er- 
fahrnen Offizier seine einzige Tochter nicht geben?« - Der Leser 
hatte sich gewiB sogleich ans Schachbrett hingesetzt und gedacht, 
der Zug einer solchen Quaterne aus dem Brette, wie die Tochter 
eines Obristforstmeisters ist, sei ja auBerordentlich leicht; aber er 
ist verdammt schwer, wenn der Vater selbst hinter dem Stuhle 
passet und der Tochter jeden Zug angibt, womit sie ihren Konig 
und ihre Tugend gegen den Leser decken soil. 

Wers horte, begriff gar nicht, warum die Frau Obristforst- 
meisterin, welche lange Gesellschaftdame einer Grafin von Ebers- 20 
dorf gewesen, bei ihrem feinen Gefuhl und ihrer Frommigkeit 
eine solche Jagerlaune dulde; sie hatte aber eine herrnhutische 
durchzusetzen, welche begehrte, daB das erste Kind ihrer Tochter 
Ernestine fur den Himmel sollte groB gezogen werden, namlich: 
acht Jahre unter der Erde - »Meinetwegen achtzig Jahre«, sagte der 
Alte. 

Ob man gleich in jedem Falle Teufelsnot mit einer Tochter hat, 
man mag Abonnenten an sie anzulocken oder abzutreiben haben : 
so hatte doch Knor bei der Sache seinen wahren Himmel auf 
Erden - unter so vielen Schachrittern, die samtlich seine Ernestine 30 

1 Das wiiBt* er nicht, wenn ers nicht aus den neuen Taktikern, Herrn Hahn 
und Herrn Miller, hatte, die den jungen Offizier die Differentialrechnung 
lehren, damit es ihm nicht schwer werde, mitten im Treffen beim Deployie- 
ren und Schwenken die Grundwinkel herauszurechnen. - Ebenso hab' ich 
hundertmal ein Buch schreiben und darin die armen visierenden Billard- 
spieler in den Stand setzen wollen, bio 13 nach einigen Auflosungen aus der 
Mechanik und hoheren Mathesis mit zugemachten Augen zu stoCen. 



ERSTER SEKTOR 35 

bekriegten und verspielten. Denn mit einem Kopfe, in den der 
Vater Licht, und mit einem Herzen, in das die Mutter Tugend ein- 
gefuhrt hatte, eroberte sie leichter, als sie zu erobern war; daher 
argerte und spielte sich an ihr eine ganze Brigade ehelustiger Jun- 
ker halb tot. Und doch waren unter ihnen Leute, die auf alien 
nahen Schlossern den Namen sufier Herren behaupteten, weil sie 
keine - Matrosensitten hatten, wie man in Vergleichung mit dem 
Seewasser unser schales sufies nennt. 

Aber ich und der Leser wollen iiber die ganze spielende Kom- 

io pagnie wegspringen und uns neben den Rittmeister von Falken- 
berg stellen, der bei dem Vater steht und auch heiraten will. Dieser 
Offizier-ein Mann voll Mut und Gutherzigkeit, ohne alle Grund- 
satze als die der Ehre, der, um sich nichts hinter seine Ohren zu 
schreiben, die sonst bei einiger Lange das schwar^e Brett und der 
Kerbstock empfangner Beleidigungen sind, lieber andre Christen 
hinter die ihrigen schlug, der feiner handelte, als er sprach, und 
dessen Kniestiick ichnicht zwischen diesenzwei Gedankenstrichen 
ausbreiten kann - warb in dieser Gegend so lange Rekruten, bis 
er selber wollte angeworben sein von Ernestinen. Er haBte nichts 

20 so sehr als Schach und Herrnhutismus; indessen sagte Knor zu 
ihm: »abends um 12 Uhr fingen, weil er so wollte, die sieben 
Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach sieben Wochen um 
1 2 Uhr die Spielerin nicht aus dem Schlachtfelde ins Brautbette 
hineingeschlagen hatte : so tat' es ihm von Herzen leid, und aus 
der achtjahrigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts zu wer- 
den.« 

Die ersten 14 Tage wurd* in der Tat zu nachlassig gespielt und 
- geliebt. Allein damals hatten weder andre gescheite Leute noch 
ich selber jene hitzigen Romane geschrieben, wodurch wir (wir 

30 habens zu verantworten) die jungenLeuteinknisternde,wehende 
Zirkulierofen der Liebe umsetzen, welche dariiber zerspringen 
und verkalken und nach der Trauung nicht mehr zu heizen sind. 
Ernestine gehorte unter die Tochter, die bei der Hand sind, wenn 
man ihnen befiehlt: »Kunftigen Sonntag, so Gott will, werde um 
4 Uhrm den Herrn A-Z, wenn er kommt, - verliebt.« Der Ritt- 
meister biB im Artikel der Liebe iiberhaupt weder in den garenden 



3<S DIE UNSICHTBARE LOGE 

Pumpernickel der physischen - noch in das weiBe kraftlose Wei- 
zenbrot der parisischen - noch in das Quitten- und Himmelbrot 
der platonischen, sondern in einen hiibschen Schnitt Gesindebrot 
der ehelichen Liebe : er war 37 Jahre alt. 

Sechzehn Jahre friiher hatt' er sich einenBissen vom gedachten 
Pumpernickel abgeschnitten : seine Geliebte und sein und ihr Sohn 
warden nachher vom ehr lichen Kommerzien-Agenten Roper ge- 
heiratet. 

Wir Belletristen hingegen konnens recht sehr bei unsern Ro- 
manen gebrauchen, daB es unserem Magen und unserer Magen- 10 
haut guttut, wenn wir in einem Nachmitt^ge jene vier Brotsorten 
auf einmal anschneiden; denn wir miissen aller Henker sein, um 
alien Henker zu schildern; wie wollten wirs sonst machen, wenn 
wir im namlichen Monat aus dem namlichen Herzen, wie aus dem 
namlichen Buchladen (ich argere hier Herrn Adelung durchs 
Wort »namlichen«) Spottgedichte - Lobgedichte - Nachtgedan- 
ken - Nachtszenen -■ Schlachtgesange - Idyllen - Zotenlieder und 
Sterbelieder liefern sollen, so daB man hinter und vor uns erstaunt 
iibers Pantheon und Pandamonium unter einem Dache - mehr als 
uberdesGaleerensklavenBazilenachgelassenenMagen,inwelchern 20 
ein Mobiliarvermogen von 3 5 Effekten hausete, z. B. Pfeifenkopfe, 
Leder, Glasstiicke und so fort. 

Wenn die beiden jungen Leute am Schachbrett saBen, das ent- 
weder ihre Scheidewand oder ihre Brucke werden sollte : so stand 
der Vater allemal als Markor dabei; es war aber wirklich nicht 
notig - nicht bloB weil der Rittmeister so erbarmlich spielte und 
seine GegenfiiBlerin so philidorisch; auch darum nicht, weil ihr 
die weibliche Kleiderordnung ohnehin verbot, matt oder verliebt 
zu werden (denn am Ende kehren Weiber und Ruderknechte all- 
zeit eben den Riicken dem Ufer zu, an das sie anzurudern streben) 30 
- sondern aus e inem noch sonderbarern Grunde war der Auxiliar- 
forstmeister zu entraten : die Ernestine wollte namlich um alles 
gern schachmatt werden, und eben deswegen spielte sie so gut. 
Denn aus Rache gegen das zogernde Schicksal arbeitet man ge- 
rade Dingen, die von ihm abhangen, absichtlich entgegen und 
wiinschet sie doch. Die beiden kriegenden Machte wurden zwar 



ERSTER SEKTOR 37 

sich einander immer lieber, eben weil sie einander einzubiiBen 
furchteten ; gleichwohl stands in den Kraften der weiblichen nicht, 
nur einen Zug zu unterlassen, der gegen ihre doppelseitigen 
Wiinsche stntt: in fiinf Wochen konnte der Werbeoffizier nicht 
einmal sagen : Schach der Konigin. Die Weiber spielen ohnehin 
dieses Konigspiel (wie andre Konigspiele) recht gut... Da aber 
das eine Digression der Natur zu sein scheint und doch keine ist: 
so kann eine schriftstellerische daraus gemacht werden, aber erst 
im 20 tcn Sektor; weil ich erst ein paar Monate geschrieben haben 

10 muB, bis ich den Leser so eingesponnen habe, daB ich ihn werfen 
und zerren kann, wie ich nur will. 

Ware die Liebe des Rittmeisters von der Art der neuern gigan- 
tischen Liebe gewesen, die nicht wie ein aufblatternder Zephyr, 
sondern wie ein schiittelnder Sturmwind die armen diinnen Bliim- 
chen umfasset, welche sich in den belletristischen Orkan gar nicht 
schicken konnen: so ware das wenigste, was er hatte tun konnen, 
das gewesen, daB er auf der Stelle des Teufels geworden ware; 
so aber wurd' er bloB - bose, nicht iiber den Vater, sondern iiber 
die Tochter, und nicht dariiber, daB sie das Schachbrett nicht zum 

20 Prasentierteller ihrer Hand und ihres Herzens machte, oder daB 
sie gut gegen ihn spielte, sondern dariiber, daB sie so sehr gut 
spielte. So ist der Mensch! - und ich ersuche den Menschen, mei- 
nen Rittmeister nicht auszulachen. Freilich - hatt' ich die weib- 
lichen Reize und die Rolle Ernestinens gehabt und hatt' ich ihm, 
indes er seine Kontraapproche aussann, ins betretne Gesicht ge- 
schauet, auf dessen geriindetem Munde der Schmerz iiber unver- 
diente Krankung stand, der so riihrend an Mannern von Mut aus- 
sieht, sobald ihn nicht die Gichtknoten und Hautausschlage der 
Rache verzerren : so war* ich rot geworden und ware wahrhaftig 

30 geradezu mit der Konigin (und mir dazu) ins Schach hineinge- 
fahren: denn was hatt' ich da geliebt als strenge SelberbuBung? 

Beinahe hatte am 1 6. Junius Ernestine diese BiiBung geliebt, 
wie man aus ihrem Briefe sogleich ersehen soil. Denn allerdings 
ist eine Frau imstande, zweimal 24 Stunden Iang eine und dieselbe 
Gesinnung gegen einen Mann (aber auch gegen weiter nichts) zu 
behaupten, sobald sie von diesem Manne nichts vor sich hat als 



38 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sein Bild in ihrem schonen Kopfchen; allein stent der Mann selber 
unkopiert fiinf FuB hoch vor ihr: so leistet sie es nicht mehr - 
ihrewieeinebesonneteMuckenkolonne spielenden Empfindungen 
treibt auseinander, widereinander und ineinander ein Fingerhut 
voll Puder am besagten Mann zu viel oder zu wenig - eine Beu- 
gung seines Oberleibs - ein zu tief abgeschnittener Fingernagel 
- eine sich abschalende schurfichte Unterlippe - der Puder-An- 
schrot und Spielraum des Zopfshinten auf dem Rock - ein langer 
Backenbart - alles. Aus hundert Grunden schlag* ich hier vor den 
Augen des indiskreten LesersErnestinens Brief an eine ausgediente 10 
Hofdame in der Residenzstadt Sckeerau auseinander: sie muBte 
jede Woche an sie schreiben, weil man sie zu beerben gedachte 
und weil Ernestine selber einmal so lange bei ihr und in der Stadt 
gewesen war, daB sie recht gut eilftausend PfifFe mit wegbringen 
konnte - drei Wochen namlich. 

»Die vorige Woche hatt* ich Ihnen wirklichnichtszu schreiben 
als das alte Lied. Unser Gespiele ennuyiert mich unendlich, und 
es dauert mich nur der Rittmeister ; es hilft aber bei meinem Vater 
kein Reden, sobald er nur jemand haben kann, den er spielen sieht. 
War's nicht besser, der gute Rittmeister HeBe seinen Kutscher, 20 
der den ganzen Tag in unserer Domestikenstube schnarcht, auf- 
wecken und anspannen und fuhr' ab? Seit dem Sonntage martern 
wir uns nun an einer Partie herum, und ich habe mir schon den 
Ellenbogen wund gestutzt - abends soil sie zu Ende. 

Abends um 12 Ukr. Er verlierts allemal mit seinen Springern 
und durch meine Konigin. Wenn er einmal geheiratet hat : so will 
ich ihm seine Fehlgriffe und meine Kunstgriffe zeigen. Ich bin 
recht verdriiBlich, gnadige Tante. 

Den 1 6". Jun. In vier Tagen bin ich von meinem Spieler und 
Schachbrett los, und ich will dieses nicht zusiegeln, bis ich Ihnen 30 
schreiben kann, wie er sich gegen seine mude und unschuldige 
Korbflechterin benommen. Heute spielten wir oben im sinesischen 
Hauschen. Da die Abendrote, die gerade in sein Gesicht hinein- 
fiel, verwirrte Schatten unter die Figuren warf.und da mich sein 
rechter Zeigeflnger dauerte, der von einem Sabelhiebe eine rote 
Linie hat und der auf der Schachbande auf lag: so kam ich aus Zer- 



ERSTER SEKTOR 39 

stremmg wahrhaftig urn meine Konigin, und das abscheuliche 
Kindtaufgelaute des sinesischen Glockenspiels lieB mir fast kein 
Dessein - zum Gliick kam mein Vater wieder und half mir ein 
wenig ein. Ich fuhrte ihn nachher in unsern neuen Anlagen im 
Waldchen herum, und er erzahlte mir, glaub' ich, die Historie 
seines Hnierten Fingers; er ist gegen seinesgleichen sehr wild, 
aber dabei ungemein verbindlich gegen Frauenzimmer. 

Den 1 8. Jun. Seit gestern sind wir alle etwas lustiger. Abends 
brachten zwei Unteroffiziere funf Rekruten, und da man sagte, 

io es war* ein Mensch darunter, der eine ganze geschlagene Armee 
zum Lachen brachte, gingen wir alle mit hinunter. Unten erzahlte 
der Mensch gerade halblaut einem andern Rekruten ins Ohr, er 
habe ein eingesetztes GebiB von lauter falschen Schneidezahnen, 
und sie fielen alle bis auf einen Eckzahn heraus, wenn er eine Pa- 
trone anbisse; er habe aber bloB das Handgeld wegkapern wollen. 
Er schraubte unsertwegen den Hut vom Kopf ab, aber eine weiBe 
Miitze, die sich bis iiber die Augenbraunen hereinsenkte, zerrete 
er noch tiefer nieder : >zog' er sie ab,< sagt* er, >so kam' er in seinem 
Leben nicht zum Regiment/ Der eine Unteroffizier fing an zu 

20 lachen und sagte: >Er tuts bloB, weil er drei abscheuliche Mutter- 
maler darunter hat, weiter nichts< - und ein Kamerad streifte ihm 
heimlich die Miitze von hinten herunter. Kaum war zu unserem 
Erstaunen ein Kopf daraus vorgesprungen, der an beiden Schlafen 
zwei brennende Muttermaler wies, eine Silhouette mit einem na- 
tiirlichen Haarzopf und gegeniiber zwei Iltis-Schwanzchen : so 
faBte zu unserm noch grofieren Erstaunen der Rittmeister den be- 
malten Kopf an und kiiBte ihn so heftig wie seinen leiblichen 
B ruder und wollte sich totlachen und totfreuen. >Du bist und 
bleibst doch der Doktor FenkU sagt* er. Er mufi sehr vertraut mit 

30 dem Rittmeister sein und kommt unmittelbar von Obersckeerau. 
Kennen Sie ihn nicht? Der Fiirst lasset ihn als Botaniker und Ge- 
sellschafter mit seinem naturlichen Sohn, dem Kapitan von Otto- 
mar, nach der Schweiz und Italien reisen, wie Sie schon wissen 
werden. Er setzt tolle. Streiche durcli, wenns wahr ist, was er 
schwort, dafi dieses seine 2i te Verkleidung sei und daB er ebenso 
viele Jahre habe. Er sieht ubel aus; er sagt selber, sein breites Kinn 



40 DIE UNSICHTBARE LOGE 

stiilpe sich wie ein Biberschwanz empor und der Bader rasier' ihm 
im Grunde die halbe Wiiste gratis, so viel wie zwei Barte - seine 
Lippen sind bis zu den Stockzahnen aufgeschnitten, und seine 
kleinen Augen funkeln den ganzen Tag. Er spaBet auch fiir Leute, 
die nicht seinesgleichen sind, viel zu frei.« 

- Ernestine silhouettiert hier den auBern Menschen des Dok- 
tors, der wie viele indische Baume unter auBern Stacheln und 
dornigem Laub die weiche kostbare Frucht des menschenfreund- 
lichsten Herzens versteckte. Ich werd' ihn aber ebenso gut zeichnen 
konnen wie die Briefstellerin. Da Humoristen wie er selten schon 10 
sind - weibliche Humoristinnen noch weniger - und da der Geist 
sich und das Gesicht zugleich travestiert: so wiirde ja, sagt' er, 
seine schonste Kleidung keinem Menschen etwas niitzen - ihm 
selber und den Schonen am wenigsten - als bloB den Schnitt- 
handlern. Daher waren seine Montierstiicke in zwei Facher ge- 
sondert, in kostbare (damit die Leute sahen, daB er die elenden 
nicht aus Armut triige) und in eben diese elenden, die er meistens 
mit jenen zugleich anhatte. Stachen nicht die Klappen-Segel der 
schonsten gestickten Weste allemal aus einem fuchsbraunen Ober- 
rock heraus, der fast in seiner Haar-Mause verschied? Hatt' er 20 
nicht unter einem Hut fiir i Vi Ld'or einen schimpf lichen Zopf 
aufgehangen; den er fiir nicht mehr erstanden als fiir drei hiesige 
Sechser? Freilich wars halb aus Erbitterung gegen diesen so ge- 
schmacklosen Krebsschwanz des Kopfes, gegen dieses wie ein 
Tubus sich verkiirzendes und verlangerndes Nacken-Gehenk an 
der vierten gedankenvollen Gehirnkammer. Sein Schreib-Geschirr 
muBte schoner als sein EB-Geschirr und sein Papier feiner als seine 
Wasche sein; er konnte nirgends schlechte kleine Federn leiden 
als bloB auf seinem Hute, den sein Bette - und seine den Ehelosen 
natiirliche Unordnung - sozusagen in einen adeligen Federhut 3° 
umbesserte; indessen setzte er seinen Bettfedern in den Haaren 
gute Seekiele hinter den Ohren an die Seite - der Prinzipalkom- 
missarius hatte sie auf dem Reichstag mit Ehren hinter seine 
stecken konnen! - 

Um aber keinen Anzugs-Sonderling und Kleider-Separatisten 
zu machen, lieB er sich von Jahr zu Jahr nach den besten Moden 



ERSTER SEKTOR 4 1 

des Narrheit-Journals abkonterfeien und schiitzte vor, er miisse 
den Leuten doch zeigen, daB er oder sein Kniestiick vieljeicht 
gleichen Schritt mit den neuesten Elegants zu halten wiifiten. - Der 
untere Saum seines Oberrocks war gleich dem Menschen oft aus 
Erde gemacht; allein er drang darauf, man sollt* es ihm sagen, was 
es verschluge, wenn ers leibhaftig wie der Strumpfwurker triebe, 
dessen Historie ich sogleich erzahlen will, um nur nicht ohne alle 
Moral zu schreiben. Der Mann hatte namlich das Gute und Tolle 
an sich, daB er den kotigen Anschrot, womit sich sein Oberrodk 

10 besetzte, wenn er seine Striimpfe in die Stadt auf seinem Riicken 
ablieferte, niemals herausbiirstete oder ausrieb: sondern er griff 
in eine breite Schere und zwickte damit den jedesmaligen Schmutz- 
kragen und kotigen Horizont mit Einsicht herunter - je Ianger 
es nun regnete, desto kiirzer schurzte sich sein Frack hinauf, und 
am kurzesten Tage ging der Epitomator wegen des unerhorten 
Wetters im kurzesten Oberrock herum, in einerniedlichenSedez- 
Ausgabe der vorigen Langfolio-Ausgabe. Die Moral, die ich dar- 
aus holen kann, mochte die Frage sein: sollte ein gescheiter 
Staat, der doch gewiB siebzigmal kliiger ist als alle Strumpfwurker 

20 zusammengenommen, die ja selber nur Glieder desselben sind, 
den eingesaumten Strumpfwurker nicht dadurch am besten ein- 
holen, daB er auch seine schmutzigen Glieder (Diebe, Ehebrecher 
etc.), statt lange an ihnen zu reiben und zu saubern, mit dem 
Schwerte oder sonst frisch herunterschnitte?... 

Der Doktor Fenk zerstreuete durch launigen Trost die ein- 
samen Fluche, die sein Freund Rittmeister statt der Seufzer tat. 
Er sagte, er habe an Ernestinen mehr als einmal uber einen be- 
sonders guten Zug, den er getan, kein andres Erschrecken bemerkt 
als ein freudiges. Er wolle sein Reisegeld daransetzen, daB sie, da 

jo sie ihn Hebe, einen Pfiffin ihrem Kopfe groBbrute, der die Treppe 
zum Brautbette zimmern werde - er riet ihm, sich zerstreuet und 
achtlos anzustellen, damit er sie nicht im Ausbruten des Pfiffes er- 
tappe und wegstore - er fragte ihn : »Kennst du den kleinen Dienst 
der Liebe volIkommen?« - Kein Deutscher verstand Metaphern 
weniger als der Rittmeister. »Ich meine,« fuhr er fort, »kannst du 
denn nicht der listigste Vokativus von Haus aus sein? - Kannst 



42 DIE UNSICHTBARE LOGE 

du nicht die Schachfigur, die du ziehen willst, lange fassen, urn 
deine Hand lange iiber deiner Schachmiliz zu behalten und die 
Generalissima mit der Hand irre und verliebt zu machen? - Kannst 
du nicht deine Positionen jede Minute gegen diese Feindin wech- 
seln und besonders Anhohen suchen, weil ein stehender Mann 
einer sitzenden Frau schoner vorkommt als einer stehenden? Ich 
und sie sollten dich bald auf den Stuhl zuriickgebogen, bald vor- 
warts, bald links* bald rechts gerankt, bald im Schatten, bald ihre 
Hand, bald ihren Mund hxierend erblicken im Spiele. Ja du solltest 
drei oder vier Bauern ins Zimmer herunterstoBen, bloB um dich 10 
zum Aufheben nachzubiicken, damit etwa dein schwellendes Ge- 
siqht auf ihr Herz Eindriicke machte und damit du das Blut in 
deinen und ihren Kopf zugleich emportriebest. LaB deinen Zopf 
eine Achtels-Elle dem Hinterkopfe naher oder ferner schniiren, 
falls etwa diese Schniirung und diese Elle sich bisher eurer Ehe 
entgegengesetzet hatte.« Der arme Rittmeister begrifTund tat vom 
ganzen Dienstreglement kein Jota, und dem Doktor wars ebenso 
lieb; denn er redete aus Humor in nichts lieber als in den Wind. 
Ernestine schreibt in ihrem Briefs fort: 

»Morgen gehen gottlob meine Karwochen zu Ende, und es ist 20 
ein Gliick fur den Rittmeister, der alle Tage empfindlicher wird, 
daB nur der Doktor da ist, der iiber jede gezogne Figur einen Ein- 
fall weiB. Sein Witz, sagt er, beweise, daB er selber jammerlich 
spiele, weil gute Spieler iiber und unter ihrem Spielen niemals 
ein Bonmot hatten. 

Den 2o.Jun. um 3 Uhr. Heute abends um 12 Uhr werd' ich 
endlich vom Schach-FuBblocke losgeschlossen. Er will an der 
Definitiv-Partie - nennt sie Fenk - den ganzen Tag spielen; er 
lasset aber, weil er aus seinen Tags-Kampagnen den Ablauf der 
nachtlichen errat, nachts den Kutscher mit dem Wagen halten, um 30 
sogleich wie ein Leichnam traurig abzufahren. Er sollte mir nur 
nicht zumuten, so schlecht zu spielen wie er. Er ist aber in allem 
so hastig und halt vor alien Vorstellungen die Ohren zu. 

Um z 2 Uhr nachts. Ich bin aufier mir. Wer hatt' es von meinem 
Vater geglaubt? Mein Spiel konnte kaum besser stehen - es war 
auf meines Vaters Sekundenuhr, die neben dem Schachbrett lag, 



ERSTER SEKTOR 43 

schon viel iiber halb Zwolf- er hatte nur drei Offiziere und ich 
noch alle meine - ohn' ein Wunderwerk war er in 18 Minuten 
matt - eine fliegende Rote spannte einmal urns andre sein ganzes 
Gesicht - wir wurden zuletzt ordentlich beklemmt, und selbst der 
Doktor sagte kein lustiges Wort mehr - bloB mein weiBes Miez- 
chen marschierte schnurrend auf dem Spieltisch herum - kein 
Mensch denkt natiirlicherweise auf die Katze, und er bietet mir im 
Spiele das erste Schach - nun mocht* er (oder war ichs? denn ich 
schlage zuweilen auch solche Pralltriller auf dem Tische) mit den 

io Fingern einen auf der Bande machen - wie der Blitz fahrt die 
Bestie, die es fur eine Maus halten muB, darauf hin und schmeiBet 
uns das ganze Spiel um und da sitzen wir! Stellen Sie sich vor! 
Ich halb froh, daB ihm diese Mittelsperson die Beschamung des 
formlichen Korbes abnimmt — er mit einem Gesicht voll Trost- 
Iosigkeit und Zorn — mein Vater mit einem voll Verlegenheit 
und Zorn - und der Doktor, der in der Stube mit den zehn Fin- 
gern herumschnalzet und schwort: >der Rittmeister hatt* es ge- 
wonnen, so gewiB wie Amen !< Kein Mensch wich mit seiner FuB- 
soh'le von der S telle, der Doktor blieb keine Minute auf der seini- 

20 gen und warf sich endlich in einem Enthusiasmus, den unsre ver- 
legne Stille immer mehr erhob, vor einer weiBen Amorbiiste, vor 
einem Miniaturportrat meines Vaters und vor seinem eignen 
Bilde im Spiegel auf die Knie hin und betete: >Heiliger Herr von 
Knor! heiliger Amor! heijiger Fenk! bittet fur den Rittmeister 
und schlagt die Katze tot! Ach wurdet ihr dreiBilderlebendig: 
so wiirde Amor gewiB die Gestalt des Doktor Fenks annehmen, 
und der lebendig gewordene Amor wiirde die Hand des lebendig 
gewordenen Knors ergreifen und ihr die der Spielerin geben - 
seine gabe ihre dann vielleicht weiter. Ihr Heiligen! bittet doch 

3 o fur den Rittmeister, der gewonnen hatte !< - Das ist aber nicht 
wahr, und zum Ungluck war nur der Termin zu einem neuen 
Spiele zu kurz.«... 

Da ruin der Iltis-Doktor (ich selber erzahle als Autor wieder) 
aufstand und wirklich die Hand von Knor inErnestinens ihrelegte 
und sagte, er sei der Amor - da iiberhaupt durch die Versiche- 
rungen des Doktors und durch die Unentschiedenheit des Spiels 



44 DIE UNSICHTBARE LOGE 

die Ehre des empfindlichen, von Menschen und Katzen geneckten 
Spielers ebensoviel zu verlieren hatte als die Liebe desselben - da 
ich in einem ganzen Sektor zeige, da6 Falkenberg vom altesten 
Adel im ganzen Lande war - und da zum Gluck im Obristforst- 
meister die Sitten seiner rohen Erziehung (wie bei mehren Land- 
edelleuten) halb unter dem Firnis der Sitten seines feinern Urn- 
gangs verborgen lagen wie seine alten Mobel unter modischen : so 
ging der elektrische Enthusiasmus des Doktors in groBen Funken 
in des Vaters Busen iiber, und Knor legte hingerissen die Hand Er- 
nestinens, die zum Scheine erstaunte, in des Rittmeisters seine, ders 10 
im Ernste tat- und der Brautigam drangte und warf sich in einem 
Sturm von Dankbarkeit an den Hals des neugebornen Schwieger- 
vaters, eh' er, weil seine Ehre mehr als seine Liebe triumphierte, 
etwas kalter die geschickte Hand nachkiiBte, welche ihm bisher 
diesen doppelten Triumph entzogen. — . — 

Dies verdachte ihm die Inhaberin der Hand; aber ich verdenk* 
es wieder ihr; mit welchem Grund will sie dem Manne, der gar 
keine Seele, seine eigne kaum und eine weibliche nie erriet, an- 
sinnen, daB er seine Weisheitzahne und seinen Philosophen-Bart 
soil so auBerordentlich lang gewachsen tragen, wie der geneigte 20 
Leser beide tragt, dem es freilich nicht erst hier vorgedruckt zu 
werden braucht - er merk-te alles schon vor drei guten Stunden -, 
daB hinter der Kopulierkatze etwas stak und steckte, Ernestine 
namlich selber. 

Es war so . . . Ich braudh* es aber dem Leser kaum zu berichten, 
da ers schon langst gewuBt, daB Ernestine die Kitt- und Heftkatze 
vier Abende voher taglich privatissime auf den Tisch stellte und 
sie abrichtete, auf die Finger loszufahren, wenn sie trillerten - und 
ich freue mich, daB der Scharfsinn des Lesers kein gewohnlicher 
ist, weil er weiter mutmaBet; denn sie lieB also auch am letzten 30 
Abend das Kleisteralchen von Katze als Leimrute nachschleichen, 
versenkte es bis um 1 17* Uhr in ihren SchoB und hob endlich mit 
dem Knie diesen Katzen-terminus medius aus dem SchoBe auf 
den Spieltisch, und der terminus tat nachher das Seinige. - Armer 
Rittmeister! 

Nachdenklich ist es aber. Denn wenn auf diese Art Weiber An- 



ERSTER SEKTOR 45 

ordnung fiir Zufall und Zufall fur Anordnung auszumiinzen wis- 
sen - wenn sie schon vor den Verlobnissen (folglich nachher noch 
mehr) in die erste Linie gegen die Manner, wie Kambyses gegen 
die Agypter 1 , Bundeskatzen stellen, die wie Untergotter ex ma- 
china das mannliche Spiel umwerfen und das weibliche aufstellen 
- wenn unter hundert Menschen nur funf Manner sind, welchen 
tierische Katzen oder gar menschliche ausstehlich sind, und nur 
zehn Weiber, denen sie es nicht sind - wenn also ganz offenbar 
die besten Weiber entsetzliche Btindel Mannergarn unter den 

io Armen halten, Hasengarne, Steckgarne, Spiegelgarne, Nacht- und 
Hanggarne: was soil da das Einbein* machen, das am namlichen 
Tag, wo es einen Roman zu schreiben anfing, zugleich einen zu 
spielen anhob und so beide wie auf einem Doppelklavier neben- 
einander zu Ende fiihren wollte? Am verniinftigsten, sen* ich, 
rnach' ich, wenn meine Frau den ganzen Tag am Barenfange steht 
und Zweige darauf wirft, damit ich hineinstolpere, nur durchaus 
keinen - Baren, obwohl auch keinen AfFen. Nein! ihr gefugigen 
gedrangten Geschopfe! ich setze mirs noch einmal vor und gelob' 
es einer von euch hier ofFentlich im Druck. Geschah' es dennoch, 

20 dafi ich die eine nach den Flitterwochen qualen wollte: so les* ich 
bloB diesen Sektor hinaus und riihre mich mit dem kommenden 
Gemalde eurer ehlichen Pilatus, das ich deswegen hieher trage - 
wie namlich der diimmste Mann sich fiir kliiger halt als die klugste 
Ehefrau; wie diese vor ihm, der vielleicht auBer dem Haus vor 
einer Gottin oder Gotzin auf den Knien Hegt, um begliickt zu 
werden, gleich dem Kamele auf die ihrigen sinken muB, um be- 
frachtet zu werden ; wie er seine Reichskammergericht-Erkennt- 
nisse und seine Plebiszita nach den sanftesten, nur mit zweifel- 
hafter Stimme wie verloren gewagten Gegengriinden mit nichts 

30 1 Kambyses eroberte Pelusium mit Sturm, weil er unter seine Soldaten 
heilige Tiere, Katzen u.s.w., mengte, auf welche die agyptische Garnison 
nicht zu schieBen wagte und an die sie statt der Pfeile Gebete abschickte. 
2 Das Einbein bin ich selber. Ich habe die Vorrede, die man wird iiber- 
schlagen haben, und diese Note, die nicht zu iiberschlagen ist, gemacht, da- 
mit es einmal bekanrit werde, daB ich nicht mehr habe als ein Bein, wenn 
man das zu kurze wegrechnet, und dafi sie mich in meiner Gegend nicht 
anders nennen als das Einbein oder den einbeinigen Autor, da ich doch Jean 
Paul heiBe. Siehe das Taufzeugnis und die Vorrede. 



4<y DIE UNSICHTBARE LOGE 

versiiBet als mit einem »wenn ichs nun aber so haben will«; wie 
eben die Trane, die ihn bezauberte im freien Auge der Braut, ihn 
entzaubert und ganz toll macht, wenn sie aus dem ankopulierten 
fallt, so wie in den arabischen Marchen alle Bezauberungen und 
Entzauberungen durch Besprengen mit Wasser geschehen - 
wahrhaftig das einzige Gute ist doch dies, daB ihr ihn recht be- 
triigt. Achl und wenn ich mir erst denke, wie weit ein soldier 
Ehe-Petz gegangen sein muB, bis ihr so weit ginget, daB ihr, um 
nicht von ihm gefressen zu werden, euch (wie man auch bei den 
Waldbaren tut) gar ohnmachtig anstellet; und der Petz schritt 
mit seinen muBigen Tatzen um die Scheintote herum!.... 

»In meinem Alter soil das Einbein schon anders pfeifen!« sagt 
der verheiratete Leser; allein ich bin selber schon neun Jahre alter 
als er, und noch dazu unverheiratet. 



ZWEITER SEKTOR ODER AuSSCHNITT 

Ahnen-Preiskurant des Ahnen-Grossierers - der Beschaler und Adelbrief 

Es gibt in der ganzen entdeckten Welt keine verdammtere Ar- 
beit als einen erstert Sektor zu schreiben; und diirfV ich in meinem 
Leben keine andern Sektores schreiben, keinen zweiten, zehnten, 
tausendsten, so wollt' ich lieber Logarithmen oder publizistische 20 
Kreisrelationen machen als ein Buch mit asthetischen. Hingegen 
im zweiten Kapitel und Sektor kommt ein Autor wieder zu sich 
und weiB recht gut im vornehmsten Cercle, den es vielleicht gibt 
(Knasen sitzen in meinem), was er mit seinen schreibenden Han- 
den anfangen soil und mit seinem Hute, Kopfe, Witz, Tiefsinn 
und mit allem. 

Da ich durch das Ehepaar, von dessen Verlobung durch Schach 
und Katze wir samtlich zuriickkommen, mir in neun Monaten 
den Helden dieses Buches abliefern lasse : so muB ich vorher zeigen, 
daB ich nicht unbesonnen in den Tag hineinkaufe, sondern meine 3° 
Ware (d. i. meinen Helden) aus einem recht guten Hause, um kauf- 
mannisch zu reden, oder aus einem recht alten, um heraldisch zu 



ZWEITER SEKTOR 47 

sprechen, ausnehme. Denn der reichsfreien Ritterschaft, denLand- 
sassen und den Patriziern muB es hier oder nirgends gesagt und 
bewiesen werden, da8 mein Heldlieferant, Herr von Falkenberg, 
von alterem Adel ist wie sie alle; und zwar von unechtem. 

Namlich Anno 1625 war Maria Empfangnis, wo sein UrgroB- 
vater sich ungemein besoff und dennoch aus dem Gliicktopfe die 
voile Hand mit etwas AuBerordentlichem herausbrachte, mit 
einem zweiten Adeldiplom. Denn es trank mit ihm, aber siebenmal 
starker, ein gescheiter RoBtauscher aus Westfalen, auch ein Herr 

10 von Falkenberg^ aber nur ein Namenvetter; ihre beiden Stamm- 
baume bestreiften und anastomosierten sich weder in Wurzel- 
faserchen noch in Blattern. Ob nun gleich der Sippschaftbaum 
des Westfalingers so alt und lang im Winde und Wetter des 
Lebens dagestanden war, daB er mit manchem Veteranen auf den 
Bergen Libanon und Atna zugleich aus der Erde vorgeschossen 
zu sein schien, kurz, obgleich der RoBhandler 64schildig war, in- 
des der UrgroBvater zu seiner groBten Schande und zu dessen 
seiner, der ihn in seinen Roman mit hineinnimmt, wirklich sowohl 
Zahne als Ahnen mehr nicht zahlte als 32: so wars doch noch zu 

20 machen. Der alte Westfale war namlich der Stammhalter und die 
SchiuBvignette und das hogarthische Schwanzstiick seines gan- 
zen historischen Bildersaals; nicht einmal in beiden Indien, wo 
wir alle unsre Vettern haben und erben, hatt' er noch einen. Dar- 
auf fuBte der UrgroBvater, der ihm sein Adeldiploni abzufluchen 
und abzubetteln suchte, um es fur sein eignes auszugeben : »Denn 
wer Teufel weiB es,« sagte er, »dir hilft es nichts, und ich heft* es 
an meines.« Ja der Ahnen-Kompilator, der UrgroBvater, wollte 
christlich handeln und bot dem RoB- und Ahnen tauscher fur den 
Brief einen unnaturlichschonen Beschaler an, einen solchen GroB- 

30 sultan und Ehevogt eines benachbarten RoB-Harems, wie man 
noch wenige gesehen. Aber der Stammhalter drehte langsam den 
Kopf hin und her und sagte kalt »ich mag nicht« und trank Zerbster 
Flaschenbier. Da er ein paar Glaser von Quedhnburger Gose bloB 
versucht hatte, ring er schon an, iiber das Ansinnen zu fluchen und 
zu wettern; was schon etwas versprach. Da er etwas Konigslutte- 
rischen Duckstein, denk' ich, daraufgesetzt hatte (denn Falken- 



48 DIE UNSICHTBARE LOGE 

berg hatte einen ganzen Meibomium de cerevisiis, namlich seine 
Biere, auf dem Lager) : so ging er gar mit einigen Griinden seines 
Abschlagens hervor, und die Hoffnung wuchs sehr. 

Als er endlich den Breslauer Scheps im Glase oder in seinem 
Kopfe so schon milchen fand : so befahl er, das Luder von einem 
elenden Beschaler in den Hof zu fuhren — und da er ihn etwa 
zwei- oder dreimal mochte haben springen sehen: so gab er dem 
UrgroBvater die Hand und zugleich die 128 Ahnen darin. Da nun 
der Falkenbergische UrgroBvater das erkaufte Adelpatent, das 
einige Ahnenfolgen tausendschildiger -Motten fast aufgekauet 10 
hatten, mit einem Pflasterspatel, weil es poros wie ein Schmetter- 
lingfittich war, auf neues Pergament aufstrich und aufpappte, 
Buchbinderkleister aber vorher: so tat, kann man leicht denken, 
das Pergament seiner ganzen adeligen Vorwelt den namlichen 
Dienst der Veredlung, den der Beschaler in Westfalen der RoB- 
nachwelt leistete, und iiber hundert begrabene Mann, an denen 
kein Tropfen Blut mehr adeligzu machen war, kamen wenigstens 
zu adeligen Knochen. Also brauchen weder ich noch irgendeine 
Stiftdame uns zu schamen, daB wir mit dem kiinftigen jungen 
Falkenberg so viel Verkehr haben, als man kunftig finden wird. - 20 
Obrigens indent* ich nicht gern , daB die Anekdote weiter auskame, 
und einem Lesepublikum von Verstand braucht man dies gar 
nicht zu sagen. — 

Die Hochzeit-Luperkalien hab' ich samt ihrem langsten Tage 
und ihrer kiirzesten Nacht niemals hersetzen wollen; - doch den 
Einzug darauf wollt* ich gut beschreiben. Allein da ich mich ge- 
stern zum Ungliack mit dem Vorsatze ins Bett legte, heute morgen 
das Schach- und Ehepaar mit drei Federzugen aus dem Brautbette 
ins Ehebette zu schaffen, das 19 Stunden davon steht, namlich im 
Falkenbergischen Rittersitz Auenthal- und da ich ganz natiirlich 30 
nur mit drei kleinen Winken das wenige schildern wollte, das 
wenige Pfeifen, Reiten und Pulver, womit die guten Auenthaler 
ihre gnadige Neuvermahlten empfingen : so ging die ganze Nacht 
in meinem Kopfe der Traum auf und ab, ich sei selber ein heim- 
reisender Reichsgraf und der Reichs-Erb-Kasperl und wiirde von 
meinen Untertanen, weil sie mich in 15 Jahren mit keinem Auge 



ZWEITER SEKTOR 49 

gesehen, vor Freuden fast erschossen. In meiner Grafschaft wurde 
natiirlicherweise tausendmal mehr Bewillkommunglarm und Hon- 
neurs gemacht als im Falkenbergischen Feudum; ich will des- 
wegen die Honneurs fur den Rittmeister weglassen und bloB 
meine bringen. 

Eistes Extrablatt 

Ehrenbezeugungen, die mir meine Grafschaft nach meiner Heimkehr 
von der grand tour antat 

Wenn grafliche Untertanen einem Grafen seine sechs nickt natiir- 
10 lichen Dinge nehmen: so weiB ich nicht, wie sie ihn besser emp- 
fangen konnen. Nun lieBen mir die meinigen kein einziges nicht 
natiirliches Ding. 

Sie nahmen mir das erste unnatiirliche Ding ohnehin weg, den 
Schlaf, Da ich von Chalons nach StraBburg, so watend langsam, 
als war' ich schwanger, gefahren war, um von da aus so donnernd, 
daB ich mehr hiipfte als saB, meinen Laufer umzufahren: so war* 
ich um Florzhiibel (den ersten Marktflecken in meiner Grafschaft) 
fiir mein Leben gern schlafend (und war das nicht im Traume so 
leicht zu machen?) voriibergeflogen; allein gerade an der Grenze 
20 und einer Briicke, da ich die Augen bergunter auf- und bergauf 
zumachte, wurd* ich uberfallen, nicht morderisch, sondern musi- 
kalisch, von 16 Mann besoffnem AusschuB, der schon seit friih 
7 Uhr mit dem musikalischen Gerumpel und Ohrenbrechzeug 
hier aufgepasset hatte, um mich und meine Pferde zu rechter Zeit 
mitTrommeln und Pfeifen in die Ohren zu blessieren. Glucklicher- 
weise hatten die Sturm- Artisten den ganzen Tag zum Spa Be oder 
aus Langweile vorher mehr getrommelt als aus Ernst und Liebe 
nachher. Unter dem ganzen Weg, wahrend Orchester und Ka- 
serne neben meinen Pferden ging, zankt' ich mich aus, daB ich 
50 Florzhiibel vor 17 Jahren zu einer Stadt habilitiert und graduiert 
hatte, - »Ich meine nicht deswegen,« sagt* ich zu mir, »weil nach- 
her das landesherrliche Reskript dem Florzhiibel das Stadtrecht 
und seiner Gendarmerie die Monturen wieder auszog, oder des- 

1 Darunter meinen die Arzte 1) Wachen und Schlafen, 2) Essen und 
Trinken, 3) Bewegung, 4) Atmen, 5) Ausleerungen, 6) Leidenschaften. 



50 DIE UNSICHTBARE LOGE 

wegen, well wir die iiberzahligen Monturen in Kassel versteigern 
wollten - sondern weil sie mich jetzt nicht schlafen Iassen, welches 
doch das erste nicht naturliche Ding bleibt.« 

Essen lieBen sie mich gar nicht, wejls das zweite unnaturliche 
Ding eines regierenden Herrn ist. Sann mir nicht der f lorzhubel- 
sche Restaurateur, der fiir mich das ganze gekochte und gesottene 
Mufiteil meiner Grafschaft ans Feuer gesetzet hatte, geradezu am 
KutschenfuBtritt an, ich sollte anbeiBen, und da ich ihn - wir 
GroBen setzen nicht ungern den Pobel durch Verschmahen be- 
neideter Kost in ein hungriges Erstaunen - mit eignem Munde 10 
nur um eine Biersuppe ansprach : machte da nicht der Restaurateur 
eine eitle Miene und sagte: »im ganzen Hotel hatt' er keine; und 
hatt' er sie : so sollten ihm doch die kiin ftigen Traiteurs nicht nach- 
sagen, er habe unter so vielen jus und bouillons seinem gnadigsten 
Herrn nichts prasentiert als einen Napf Biersuppe«? 

Um das dritte Ding, um die Bewegung und Ruhe zugleich, hatte 
mich bei einem Haare die Ehrenpforte meines Begrabnisdorfes 
gebracht, maBen sie mich beinahe erschlug, weil sie und die mu- 
sizierende Galerie auf ihr hart hinter meinem Ietzten Bedienten 
einpurzelten, aber zur Freude der Grafschaft keinem Menschen 20 
etwas zerbrachen als dem Bader die Glas-Schropfkopfe, die er der 
Ehrenpforte angesetzt und vorgestreckt hatte, damit doch etwas 
daranhinge, worein die nicht schlechte Illumination zu stecken 
ware. Ich wollte schon an und fur sich etwas toll werden iiber die 
satirischen Schropfvasen, die ich fur satirische Typen und Nach- 
bilder meines graflichen Ausschropfens der vollen Allodial- und 
Feudaladern nehmen wollte, und ich fragte den SchultheiB, ob er 
dachte, es fehle mir echter Witz; allein sie taten samtlich Eide, an 
Witz ware bei der ganzen Ehrenpforte gar nicht gedacht worden. 

Luft, das vierte nicht natiirliehe Ding eines Reichs-Erb-Kas- 30 
perls, hatt' ich schon haben konnen; denn bloB etwa des kurzen 
MiBbrauchs wegen, den die Instrumente und Lungen meiner Va- 
sallen von einem so herrlichen Elemente machten, hatt' ich wahr- 
lich nicht mich und den Luftsektor um mich so fest in meinen 
Wagen eingesperrt, als ich wirklich tat - ich muB das ausdriick- 
lich sagen, damit nicht der gute Kelzheimer Kantor sich einbilde, 



ZWEITER SEKTOR 5 I 

es habe mir nicht gefallen, daft mir sein musikalisches Feuerrohr, 
seine Trompete, doppelt aus dem Schalloch, sowohl seines Kirch- 
turms als seines Korpers, dermaBen entgegenstach, daB die melo- 
dischen Luftwellen aus beiden mir vier Acker weit entgegen gin- 
gen, indes noch dazu unten im Turm seine Frau die Glocken 
melkte, als wurd' ich begraben und nicht sowohl empfangen als 
verabschiedet — wie gesagt, des musikalischen Ehepaars wegen 
hatt' ich den Wagen gar nicht zugeschlossen; aber der Todesge- 
fahr wegen; denn ein freudiges Pikett Fronbauern schoB mir aus 

io 17 Vogelflinten und einem paar TaschenpufFern sowohl Ehren- 
salven als einige Ladstocke entgegen. 

Sitzt ein Graf einmal ohne vier nicht naturliche Dinge da: so 
darf er an das funfte gar nicht denken, an Ausleerung; der Sphink- 
ter aller, selbst der grofiten Poren bleibt samt der Wagenture zu. 
Es war also kein Wunder, da ich gar kein Hephata zu irgend- 
einem Porus sagen konnte, daB ich auffuhr: »Den Henker hab* 
ich davon von meinem Sitzen auf der Grafenbank in Regensburg, 
wenn ich hier auf dem Kutschkissen hocken muB und nichts - 
verrichten kann, nicht einmal . . . .« 

20 Echte Leidenschaft, die das sechste nicht naturliche Ding des 
Menschen ist, wird von nichts so leicht erstickt als von einem at- 
lassenen Hundekissen, auf dem die Pfarrer, Schuldiener und Amt- 
leute, die ein Reichs-Erb-Kasperl hat, ihm die Carmina uber- 
reichen, die sie auf ihn haben fertigen lassen: denn daruber ist 
weder zu lachen, noch zu greinen ; noch zu zanken, noch zu loben, 
noch zu reden. 

Meine Lehnleute und Hintersassen, die mir so viel von meinen 
sechs unnatiirlichen Dingen abfischten, gaben mir eben dadurch 
die Halfte des ersten wieder, das Wachen - sie hatten sich aber 

30 meinetwegen so in SchweiB gesetzt, daB ich ihrentwegen auch 
darin lag. Da ich aufwachte : dacht* ich anfangs, es war* ein Traum ; 
aber bei mehrem Aufwachen merkt* ich, daB es, die Namen aus- 
genommen, die gestohlne Geschichte meiner Nachbarschaft war. 
Freilich argert michs so gut, als wurde die Illumination und der 
musikalische Ldrm meinetwegen veranstaltet, daB die Untertanen 
beide bloB in der boshaften Absicht machen, ihren groBen oder 



$2 DIE UNSICHTBARE LOGE 

kleinen Regenten durch EkeL und Plage wieder auf seine Reise 
zuriickzujagen; was sie offenbar den orientalischen Karawanen 
abgelernt, die gleichfalls durch Trommelnund Feuerschlagen wilde 
Tiere sich vom Leibe halten. 



DRITTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT 
Unterirdisches Padagogium - der beste Herrnhuter und Pudel 

Jetzo geht erst meine Geschichte an; die Szene ist in Auenthal 
oder vielmehr auf dem Falkenbergischen Bergschlosse, das einige 
Ackerlangen davon lag. Das erste Kind der Schachamazone und 
des sterbenden Fechters und Rittmeisters im Schach war Gustav, 10 
welches nicht der erhabene schwedische Held ist, sondern meiner. 
Sei gegruBet,kleinerSchoner, aufdemSchauplatze dieses Lumpen- 
papiers und dieses Lumpenlebens! Ich weiB dein ganzes Leben 
voraus, darum beweget mich die klagende Stimme deiner ersten 
Minute so sehr; ich sehe an so manchen Jahren deines Lebens 
Tranentropfen stehen, darum erbarmet mich dein Auge so sehr, 
das noch trocken ist, weil dich bloB dein Korper schmerzet - ohne 
Lacheln kommt der Mensch, ohne Lacheln geht er, drei fliegende 
Minuten lang war er froh. Ich habe daher mit gutem Vorbedacht, 
lieber Gustav, den frischen Mai deiner Jugend, von dem ich ein 20 
Landschaftstuck ins elende FlieBpapier hineindrucken soil, bis in 
den Mai des Wetters aufgehoben, um jetzo, da alle Tage Schop- 
fungtage der Natur sind, auch meine Tage dazu zu machen, um 
jetzo, da jeder Atemzug eine Stahlkur ist, jeder Schritt vier Zolle 
weiter und das Auge weniger vom Augenlid verhangen wird, mit 
fliegender Hand zu schreiben und mit einer elastischen Brust voll 
Atem und Blut! - 

Zum Gliick bleibt es vollends vom 2 tcn bis zum iy tcn Mai (lan- 
ger beschreib' ich nicht daran) recht hubsches Wetter; denn ich 
bin ein wenig ein meteorologischer Clair voyant, und mein kurzes 30 
Bein und mein langes Gesicht sind die besten Wetterdarmsaiten 
in hiesiger Gegend. 



DRITTER SEKTOR 53 

Da Erziehung weit weniger am innern Menschen (und weit 
mehr am auBern) andern kann, als Hofmeister sich einbilden: so 
wird man sich wundern, dafi bei Gustav gerade das Gegenteil 
eintrat; denn sein ganzes Leben klang nach dem Chorton seiner 
uberirdischen, d.h. unterirdischen Erziehung. Der Leser muB 
namlich aus seinem ersten Sektor noch im Kopfe haben, daB die 
herrnhutisch gesinnte Obristforstmeisterin von Knor ihre Tochter 
Ernestine nur unter der Bedingung sich selber durch das Schach 
ausspielen lieB, daB der gewinnende Brautigam in den Ehepakten 

io versprache, das erste Kind acht Jahre unter der Erde zu erziehen 
und zu verbergen, urn dasselbe nicht gegen die Schonheiten der 
Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich abzuharten. 
Vergeblich stellte der Rittmeister Ernestinen vor : »so verzog' ihm 
ja die Schwiegermutter den Soldaten zu einer Schlafhaube, und 
man sollte nur warten, bis ein Madchen kame.« Er lieB auch wie 
mehre Manner den Unmut iiber die Schwiegermutter ganz am 
Weibe aus. Aber die Alte hatte schon vor der Taufe einen himm- 
lischschonen Jiingling aus Barby verschrieben. Der Rittmeister 
konnte wie alle kraftvolle Leute das herrnhutische Diminuendo 

20 nicht ausstehen; am meisten redete er daruber, daB sie so wenig 
redeten; sogar das war nicht nach seinem Sinne, daB die herrn- 
hutischen Wine ihn nicht sowohl uberschnellten als zu sehr tiber- 
schnellten. 

Allein der Genius - diesen schonen Namen soil er vorjetzt auf 
alien Blattern haben - lag nicht an jenen das Herz einschrauben- 
den Krampfen des Herrnhutismus krank, und er nahm bloB das 
Sanfte und Einfache von ihm. Ober seinem schwarmerischen 
trunknen Auge glattete sich eine ruhvolle schuldlose Stirne, die 
das vierzigste Jahr ebenso unrastriert und ungerunzelt lieB wie das 

3° vierzehnte. Er trug ein Herz, welches Laster, wie Gifte Edelsteine, 
zerbrochen hatten; schon ein fremdes von Siinden durchackertes 
oder angesaetes Gesicht beklemmte schwiil seine Brust, und sein 
Inneres erblaBte vor dastehenden Schmutzseelen* wie der Saphir 
an dem Finger eines Unkeuschen seinen Blauglanz verlieren soil. 
Gleichwohl muBte eine solche vieljahrige Aufopferung fur ein 
Kind sogar auf eine so schone Seele wie des Herrnhuters schwer 



54 DIE UNSICHT3ARE LOGE 

und hart aufdrucken ; aber er sagte : »o welche himmlische Anlasse 
nab' er dazu, die er aber nur seinem Gustav, der gewiB mit Gottes 
Hiilfe so aufbliihe, wie er hoffe, kiinftig vertraue; und niemand 
solle sich doch uber sein scheinbares Selbst-Hinopfern zu einem 
wahren tiefen Erden-Leben wundern.« - Und in der Tat werden 
feinere Leser, die weit denken, hofF ich, nicht sich wundern, son- 
dern vielmehr sich anstellen, als fanden sie ein solches Erzieh- 
Heldentum eben recht natiirlich. Obrigens ist wohl die Tugend 
der meisten Menschen mehr nur ein Extrablatt und Gelegenheit- 
gedicht in ihrem Zeitung- und Alltagleben; aUein zwei, drei und 10 
mehre Genien sind doch vorhanden, in deren epischem Leben die 
Tugend die Heldin ist und alles iibrige nur Nebenpartie und Epi- 
sode und deren Steigen vom Volke mehr angestaunet als bewun- 
dert werden kann. 

Die ersten dunkeln Jahre lebte Gustav mit seinem Schutzengel 
noch in einem iiberirdischen Zimmer; er trennte ihn bloB von den 
heillosen Kipperinnen und Wipperinnen der Kindheit, denen wir 
ebenso viele lahme Beine als lahme Herzen zu danken haben — 
Magden und Ammen. Ich wollte lieber, diese Unhuldinnen er- 
zogen uns im zweiten Jahrzehend als im zweiten Jahr. 20 

Der Genius zog darauf mit seinem Gustav unter eine alte aus- 
gemauerte Hohlung im SchloBgarten, von der es der Rittmeister 
bedauerte, daB er sie nicht langst verschutten lassen. Eine Keller- 
treppe fiihrte links in den Felsenkeller und rechts in diese Wol- 
bung, wo eine Kartause mit drei Kammern stand, die man wegen 
einer alten Sage die Dreibriider-Kartause nennte; auf ihrem FuB- 
boden lagen drei steinerne Monche, welche die ausgehauenen 
Handeewig iibereinander legten; und vielleicht schliefen unter 
den Abbildern die stummen Urbilder selber mit ihren unterge- 
gangnen Seufzern uber die vergehende Welt. Hier waltete bloB 30 
der schone Genius uber den Kleinen und bog jeden knospenden 
Zweig desselben zur hohen Menschengestalt empor. 

Elende Umstandlichkeit, z. B. uber die Lieferanten der Wasche, 
der Betten und Speisen, werden mir Frauenzimmer am liebsten 
erlassen; aber sie werden begieriger sein, wie der Genius erzog. 
Recht gut, sag* ich, er befahl nicht, sondern gewohnte und eriahlte 



PRITTER SEKTOR 55 

blofi. Er wider sprach weder sich noch dem Kinde, ja er hatte das 
groBte Arkanum, ihn gut zu machen - er wars selbst. Ohne dieses 
Arkanum konnte man ebensogut den Teufel zum Informator din- 
gen als sich selber, wie die Tochter schlimmer Mutter zeigen. Der 
Genius glaubte iibrigens, beim ersten Sakramente (der Taufe) 
gehe die Bildung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl) die 
des Kopfes. 

Von guten Menschen horen ist so viel als unter ihnen leben, 
und Plutarchs Biographien wirken tiefer als die besten Lehrbiicher 

10 der Moralphilosophie zum Gebrauche -. akademischer Lehrer. 
Fur Kinder vollends gibts keine andere Sittenlehre als Beispiel, 
efzahltes oder sichtbares; und es ist erzieherische Narrheit, dafi 
man durch Griinde Kindern nicht diese Griande, sondern 
den Willen und die Kraft zu geben meinet, diesen Griinden 
zu folgen. O tausendmal gliicklicher als ich neben meinem Tertius 
und Konrektor lagst du, Gustav, auf dem SchoBe, in den Armen 
und unter den Lippen deines teuern Genius, wie eine trinkende 
Alpenblume an der rinnenden Wolke, und sogest dein Herz an 
den Erzahlungen von guten Menschen groB, die der Genius samt- 

20 Hch Gustave und Selige nennte, von denen wir bald sehen sollen, 
warum sie mit Schwabacher gedruckt sind! Da er gut zeichnete, 
so gab er ihm, wie Chodowiecki dem Romanenmacher, die Zeich- 
nung jeder Geschichte und umbauete den Kleinen mit diesem 
orbis pictus guter Menschen wie der allmachtige Genius uns mit 
der groBen Natur. Aber er gab ihm die Zeichnung nie vor, son- 
dern nach der Beschreibung, weil Kinder das Horen zum Sehen 
starker zieht als das Sehen zum Hdren. Ein anderer hatte zu diesem 
padagogischen Hebebaum statt der ReiBfeder den Fiedelbogen 
oder die Klaviertaste genommen; aber der Genius tat es nicht; 

3° das Gefiihl fur Malerei entwickelt sich wie der Geschmack sehr 
spat und bedarf also der Nachhtilfe der Erziehung. Es ist der 
fruhestenEntwicklung wert, weiles das Gitter wegnimmt, das uns 
von der schonen Natur absondert, weil es die phantasierende Seele 
wieder unter die auBern Dinge hinaustreibt und weil es das 
deutsche Auge zur schweren Kunst abrichtet, schone Formen zu 
fassen. Die Musik hingegen trifft schon im jiingsten Herzen (wie 



56 DIE UNSICHTBARE LOGE 

bei den wildesten Volkern) nachtonende Saiten an; ja ihre All- 
macht biiBet vielmehr durch Obung und Jahre ein. Gustav lernte 
daher als Taubstummer in seiner taubstummen Hohle so gut 
zeichnen, daB ihm schon in seinem dreizehnten Jahre sein Hof- 
meister safi, ein schoner Mann, der weiter unten im Buche auf- 
treten muB. 

Und so floB beiden ihr Leben sanft in der Katakombe wie eine 
Quelle davon. Der Kleine war gliicklich; denn seine Wiinsche 
langten nicht iiber seine Kenntnisse hinaus, und weder Zank noch 
Furcht rissen seine stille Seele auseinander. Der Genius war 10 
glucklich; denn die Ausfuhrung dieses zehnjahrigen Baues wurd* 
ihm leichter als der EntschluB desselben; der EntschluB drangt 
alle Schwierigkeiten und Entbehrungen auf einmal vor die Seele. 
Die Ausfuhrung aber stellet sie weit auseinander und gibt uns 
erst das Interesse daran durch die sonderbare Freude, ohne die 
man bei tausend Dingen nicht ausdauerte - etwas unter seinen 
Handen taglich wachsen sehen. 

Fur beide Menschen war es gut, daB unten in diesem mora- 
lischen Treibhaus ein Schulkamerad des Gustavs mit wohnte, der 
zugleich ein halber Kollaborator und Adjunktus des Genius war, 20 
indes von der ganzen Erziehung we gen gewisser Mangel seines 
Herzens nur schlechten Vorteil zog, ob er gleich so gut wie Gustav 
zu den Tieren mit zwei Herzkammern und mit warmen Blute ge- 
horte. — Wenn ich sage, daB der groBte Fehler des Mitarbeiters 
war, daB er keinen Branntwein trinken wollte, so sieht man wohl, 
daB er klein^ wie Gustav grofi ge^ogen werden sollte, weil er der 
netteste schwarzeste - Pudel war, der jemals iiber der Erde mit 
einer weiBen Brust herumgesprungen war. Dieser-verstandige 
Hund und Unterlehrer losete den Oberlehrer oft im Spielen ab; 
zweitens konnten die meisten Tugenden nicht sowohl von als an 50 
ihm durch Gustav ausgeiibt werden, und er hielt dazu die n6tigen 
ungleichnamigen Laster bereit: - im Schlaf biB der Schulkollege 
leicht um sich nach lebendigen Beinen, im Wachen nach abge- 
zauseten. 

In diesem unterirdischen Amerika hatten die drei Antipoden 
ihren Tag, d.h. es war ein Licht angeziindet, wenn es oben bei 



DRITTER SEKTOR 57 

uns Nacht war - Nacht, d.h. Schlaf hatten sie, wenn bei uns die 
Sonne schien. Der schone Genius hatte des auBern Larms und 
seiner Tagausfluge wegen es so eingerichtet. Der Kleine lag dann 
unten in seiner Kartause, wahrend sein Lehrer Luft und Menschen 
genoB, mit lugeschniirten Augen, weil dem Zufall und der Keller- 
tiir nicht zu trauen war. Zuweilen trug er den schlafenden ver- 
hiillten Engel in die frische Luft und in die beseelenden Sonnen- 
strahlen hinauf, wie Ameisen ihre Puppen den Brutflugeln der 
Sonne unterlegen. Wahrlich war* ich der zweite oder dritte Cho- 

10 dowiecki: so stand* ich jetzo auf und stache zu meinem eignen 
Buche den Auftritt in schwedisches Kupfer, nicht bloB wie unser 
herausgetragner blaBroter Liebling unter seiner Binde in einem 
gegitterten Rosenschatten schlummert und, ahnlich einem ge- 
storbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur still mit 
kleinen Traumen seiner kleinen Hbhle vor uns liegt — Es gibt noch 
etwas Schoners, du hast deine Eltern noch, Gustav, und siehst sie 
nicht ; deinen Vater, der mitdem von der Liebe verdunkelten Auge 
neben dir steht und sich freuet iiber den reinern Atem, der die 
kleine Brust beweget, und dariiber vergisset, wie du erzogen wirst 

20 - und deine Mutter, die an dein Angesicht, auf welchem die zwei- 
fache Unschuld der Einsamkeit und der Kindheit wohnt, die liebe- 
hungrigen Lippen presset, die ungesattigt bleiben, weil sie nicht 
reden und nicht schmeicheln diirfen... Aber sie driickt dich aus 
deinem Schlummer heraus, und du muBt nach einer kurzen Zeit 
wieder in deine Platos-Hohle hinunter. 

Der Genius bereitete ihnlangeaufdieAuferstehung aus seinem 
heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: »Wenn du recht gut bist und 
nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast : so darfst 
du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb' ich auch mit, und 

30 wir kommen in den Himmel« (womit er die Oberflache der Erde 
meinte) - »da ists recht hubsch und prachtig. Da brennt man am 
Tage kein Licht an, sondern eines so groB wie mein Kopf steht in 
der Luft iiber dir und geht alle Tage schon um dich herum - die 
Stubendecke ist blau und so hoch, daB sie kein Mensch erlangen 
kann auf tausend Leitern - und der FuBboden ist weich und griin 
und noch schoner, die Pudel sind da so groB wie unsere Stube - 



58 DIE UNSICHTBARE LOGE 

im Himniel ist alles voll Seliger, und da sind allc die guten Leutc, 
von denen ich dir so oft erzahlet habe, und deineEltern,« (deren 
Abbilder er ihm lange gegeben hatte) »die dich so lieb haben wie 
ich und dir alles geben wollen. Aber recht gut muBt du sein.« - 
»Ach wenn sterben wir denn einmal?« fragte der Kleine, und seine 
gliihende Phantasie arbeitete in ihm, und er lief unter jeder solchen 
Schilderung zu einem Landschaftgemalde, worin er jede Gras- 
spitze betastete und befragte. 

Auf Kinder wirkt nichts so schwach als eine Drohung und Hoff- 
nung, die nicht noch vor abends in Erfullung geht - blofi solange 10 
man ihnen vom kiinftigen Examen oder von ihrem erwachsenen 
Alter vorredet, so lange hilfts; daher manche dieses Vorreden so 
oft wiederholen, daB es nicht einmal einen augenblicklichen Ein- 
druck mehr erzeugt. Der Genius setzte daher den langen Weg zur 
groBten Belohnung aus kleinern zusammen, die alle den Eindruck 
und die GewiBheit der groBen verstarkten und die im folgenden 
Sektor stehen. 

Apropos! Ich muB es nachholen, daB es unter alien Obeln fur 
Erziehung und fur Kinder, wogegen das verschriene Buchs tabieren 
und Wichsen golden ist ? kein giftigeres,keinen ungesundernMiB- 20 
pickel und keinen mehr zehrenden padagogischen Bandwurm 
gibt als eine - Hausfranzosin. 



Vierter Sektor oder Ausschnitt 
Lilien - Waldhorner - und eine Aussicht sind die Todes-Anzeigen 

Auf alien meinen Gedachtnisfibern (diesen Denkfaden und 
Blattergerippen von so manchem schlechten Zeug) schlaft keine 
schSnere Sage als die aus dem Kloster Corbeyi - wenn der Todes- 
engel daraus einen GeistHchen abzuholen hatte: so legte er ihm 
als Zeichen seiner Ankunft eine weiBe Lilie in seinem Chorstuhl 
hin. Ich wollt', ich hatte diesen Aberglauben. Unser sanfter Ge- 30 
nius ahmte dem Todesengel nach und sagte dem Kleinen : »Wenn 
wir eine Lilie finden : so sterben wir bald.« Wie alsdann der Him- 



VIERTER SEKTOR 59 

mellustige, der noch keine gesehen, iiberall darnach suchte! Ein- 
mal, da sein Genius ihm den Genius des Universums nicht als ein 
metaphysisches Robinets-Vexierbild, sondern als den groBten 
und besten Menschen der Erde geschildert hatte: zog sich ein nie 
dagewesener Wohlgeruch um sie herum. Der Kleine funk, aber 
sieht nicht ; er tritt zur Klause hinaus und - drei Lilien liegen da. Er 
kennt sie nicht, diese weiBen Juniuskinder ; aber der Genius nimmt 
sie entziickt von ihm und sagt : »Das sind Lilien, die kommen vom 
Himmel, nun sterben wir bald.« Ewig zitterte die Riihrung nach 

io spatern Jahren noch vor jeder Lilie in Gustavs Herzen fort, und ge- 
wiB gaukelt einmal in seiner wahren Todesstunde eine Lilie als das 
letzte glanzende Viertel der verloschenden Monderde vor ihm. 

Der Genius hatte vor, ihn am ersten Junius, seinem Geburt- 
tage, aus der Erde zu lassen. Aber um seine Seele noch hoher zu 
spannen (vielleicht zu hoch), HeB er ihn in der letzten Woche noch 
zwei heilige Vorfeste des Sterbens erleben. - Als er ihm namlich 
die Seligkeiten des Himmels, d.h. der Erde mit seiner Zunge und 
mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlich- 
keiten der Himmel- und Spharenmusik: so endigte er mit der 

20 Nachricht, daB oft schon zu Sterbenden, die noch nicht oben 
waren, dieses Echo des menschlichen Herzens hinuntertonte und 
daB sie denn eher stiirben, weil davon das weiche Herz zerrlosse. 
In das Ohr des Kleinen war Musik, diese Poesie der Luft, noch nie 
gekommen. Sein Lehrer hatte langst ein sogenanntes Sterbelied 
gemacht- in diesem bezog natiirlicherweise Gustav alles, was es 
vom zweiten Leben sagte, auf das erste, und sie lasen es oft, ohne 
es zu singen. Aber in der letzten Woche erst ring der Genius auf 
einmal an, seine milde Lehrstimme zu der noch weichern Sing- 
stimme des herrnhutischen Kirchengesanges zu verklaren und das 

30 sehnsiichtige Sterbelied vorzutragen, indes er durch Veranstal- 
tungen sich oben von einem Waldhorne - dieser Flote der Sehn- 
sucht - begleiten HeB; und die ziehenden Adagio-Klagen sanken 
durch die dampfende Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein war- 
mer Regen nieder. ... 

Gustavs Auge stand in der ersten Freudentrane - sein Herz 
drehte sich um - er glaubte, nun stiirb* es an den Tonen schon. 



60 DIE UNSICHTBARE LOGE 

O Musik! Nachklang aus einer entlegnen harmonischen 
Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort sprachlos ist, 
und die Umarmung, und das Auge, und das weinende, und 
wenn unsre stummen Herzen hinter dem Brust-Gitter einsam lie- 
gen : o so bist nur du es, durch welche sie sich einander zurufen in 
ihren Kerkern und ihre entfernten Seufzer vereinigen in ihrer 
Wiistel - 

Wie bei einem wahren Sterben naherte der Genius seinen Zog- 
ling in diesem nachgeahmten auf der Stufenleiter der fiinf Sinne 
dem Himmel. Er schmiickte den scheinbaren Tod zum Vorteile 10 
des wahren mit alien Reizen aus, und Gustav stirbt einmal ent- 
ziickter als einer von uns. Anstatt daB andere uns die Holle offen 
sehen lassen: verhieB er ihm, er werde wie Stephanus an seinem 
Sterbetage den Himmel schon often sehen, eh* er in ihn aufsteige.- 
Dies geschah auch. Ihr unterirdisches Josaphats -Tal hatte auBer 
der erwahntenKellertreppe noch einen langen waagrechten Kreuz- 
gang, der am FuBe des Bergs ins Tal und ins Dorfchen darin 
offen stand, und den zwei Tiiren in verschiedenen Zwischenrau- 
men versperrten. Diese Tiiren lieB er in der Nacht vor dem ersten 
Junius, als bloB die weiBe Mondsichel am Horizonte stand und 20 
wie ein altergraues Angesicht sich in der blauen Nacht nach der - 
versteckten Sonne wandte, mitten in einem Gebete unvermerkt 

aufziehen und nun siehst du, Gustav, zum ersten Male in 

deinem Leben und auf den Knien in das weite, 9 Millionen Qua- 
dratmeilen gro Be Theater des menschlichen Leidens und Tuns 
hinein; aber nur so wie wir in den nachtlichen Kindheitjahren und 
unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen Miicken uberhullte, 
blickest du in das Nachtmeer, das vor dir unermeBlich hinaus- 
steht mit schwankenden Bliiten und schieBenden Feuerkafern, die 
sich neben den Sternen zu bewegen scheinen, und mit dem ganzen 30 

Gedrange der Schopfung! O! du gliicklicher Gustav; dieses 

Nachtstiick bleibt noch nach langen Jahren in deiner Seele wie 
eine im Meere untergesunkne grune Insel hinter tiefen Schatten 
gelagert und sieht dich sehnend an wie eine langstvergangnefrohe 

Ewigkeit Allein nach wenigen Minuten schloB der Genius ihn 

an sich und verhullte die suchenden Augen mit seinem Busen; 



VIERTER SEKTOR 6 1 

unvermerkt liefen die Himmeltiiren wieder zu und nahmen ihm 
den Fruhling. 

In zwolf Stunden steht er darin ; aber ich werde ordentlich be- 
klemmt, je naher ich mich zu dieser sanften Auferstehung bringe. 
Es riihrt nicht bloB daher, daB ich nur ein einziges Mai in meinem 
Leben einen solchen des Himmels werten Geburttag wie Gustavs 
seinen in meinem Kopfe auf- und untergehen lassen kann, einen 
Tag, dessen Feuer ich an meinem Pulse fiihle und wovon nur 
Widerschein aufs Papier herfallt - auch nicht bloB daher kommt 

io es, daB nachher der schone Genius ungekannt von Autor und 
Leser wegziehet - sondern daher am meisten, daB ich meinen 
Gustav aus der stillen Demantgrube, wo sich der Demant seines 
Herzens so durchsichtig und so strahlend und so ohne Flecken 
und Federn zusammensetzte, hinauswerfe in die heifie Welt, wel- 
che bald ihre Brennspiegel auf ihn halten wird zum Zerbrockeln, 
aus seiner Meerstille der Leidenschaftenheraus in den sogenannten 
Himmel hinein, wo neben den Seligen ebenso viele Verdammte 
gehen. - Aber da er alsdann auch der groBen Natur ins Angesicht 
schauen darf: so ists doch nicht sein Schicksal allein, was mich be- 

»o klommen macht, sondern meines und fremdes, weil ich bedenke, 
durch wieviel Kot unsere Lehrer unsern innern Menschen wie 
einen Missetater schleifen, eh' er sich aufrichten darf! - Ach hatte 
ein Pythagoras, statt des Lateinischen und statt der syrischen 
Geschichte, unser Herz zu einer sanft erbebenden Aolsharfe, auf 
welcher die Natur spielet und ihre Empfindung ausdruckt, und 
nicht zu einer larmenden Feuer trommel aller Leidenschaften wer- 
den lassen - wie weit - da das Genie, aber nie die Tugend Grenzen 
hat und jeder Reine und Gute noch reiner werden kann - konnten 
wir nicht sein! - 

30 So wie Gustav eine Nacht wartet, will ich auch meine Schilde- 
rung um eine verschieben, um sie morgen mit aller Wollust mei- 
ner Seele zu geben. 



62 DIE UNSICHTBARE LOGE 

FUNFTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT 

Auferstehung 

Vier Priester stehen im weiten Dom der Natur und beten an 
Gottes Altaren, den Bergen, - der eisgraue Winter mit dem 
schneeweiBen Chorhemd - der sammelnde Herbst mit Ernten 
unter dem Arm, die er Gott auf den Altar legt und die der Mensch 
nehmen darf- der feurige J tingling, der Sommer, der bis nachts 
arbeitet, um zu opfern - und endlich der kindliche Friihling mit 
seinem weiBen Kirchenschmuck von Blijten, der wie ein Kind 
Blumen und Bliitenkelche um den erhabenen'Geist herumlegtund 10 
an dessen Gebete alles mitbetet, was ihn beten hort. - Und fur 
Menschen£zW<er ist ja der Friihling der schonste Priester. 

Diesen Blumenpriester sah der kleine Gustav zuerst am Altar. 
Vor Sonnenaufgang am ersten Junius (unten wars Abend) kniete 
der Genius schweigend hin und betete mit den Augen und stumm- 
zitternden Lippen ein Gebet fur Gustav, das'iiber sein ganzes ge- 
wagtes Leben die Fliigel ausbreitete. Eine Flote hob oben ein 
inniges liebendes Rufen an, und der Genius sagte, selber iiber- 
waltigt: »Es ruft uns heraus aus der Erde, hinauf gen Himmel; 
geh mit mir, mein Gustav.« Der Kleine bebte vor Freude und 20 
Angst. Die Flote tonet fort - sie gehen den Nachtgang der Him- 
melleiter hinauf - zwei angstliche Herzen zerbrechen mit ihren 
Schlagen beinahe die Brust - der Genius stoBet die Pforte auf, 
hinter der die Welt steht - und hebt sein Kind in die Erde und un- 
ter den Himmel hinaus — . . Nun schlagen die hohen Wogen des 
lebendigen Meers iiber Gustav zusammen - mit stockendem Atem , 
mit erdriicktem Auge, mit uberschutteter Seele steht er vor dem 
uniibersehlichen Angesicht der Natur und halt sich zitternd fester 
anseinen Genius.... Als eraber nach dem ersten Erstarren seinen 
Geist aufgeschlossen, aufgerissen hatte fur diese Strome - als er 30 
die tausend Arme fiihlte, womit ihn die hohe Seele des Weltall an 
sich druckte - als er zu sehen vermochte das griine taumelnde 
Blumenleben um sich und die nickenden Lilien, die lebendiger 
ihm erschienen als seine, und als er die zitternde Blume tot zu 



FUNFTER SBKTOR 63 

treten furchtete - als sein wieder aufwarts geworfnes Auge in dem 
tiefen Himmel, der Offmmg der Unendlichkeit, versank - und als 
er sich scheuete vor dem Herunterbrechen der herumziehenden 
schwarzroten Wolkengebirgeundderiiberseinem Haupt schwim- 
menden Lander- als erdieBerge wie neueErden auf unserer liegen 
sah - und als ihn umrang das unendliche Leben, das gefiederte 
neben der Wolke fliegende Leben, das summende Leben zu seinen 
FuBen, das goldne knechende Leben auf alien Blattern, die leben- 
digen, auf ihn winkenden Arme und Haupter der Riesenbaume - 

10 und als der Morgenwind ihm der groBe Atem eines kommenden 
Genius schien und als die flatternde Laube sprach und der Apfel- 
baum seine Wange mit einem kalten Blatt bewarf - als endlich 
sein belastet-gehendes Auge sich auf den weiBen Fliigeln eines 
Sommervogels tragen lieB, der ungehort und einsam uber bunte 
Blumen wogte und ans breite griine Blatt sich wie eine Ohrrose 

versilbernd hing : so fing der Himmel an zu brennen, der ent- 

flohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantels 
weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom gottlichen 
Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne. Gustav rief: 

20 »Gott steht dort« und stiirzte mit geblendetem Auge und Geiste 
und mit dem groBten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjahriger 

Busen faBte, auf die Blumen hin 

Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! Du siehest nicht 
mehr in die gliihende Lavakugel hinein; du liegst an-der beschat- 
tenden Brust deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine 
Sonne und dein Gott - zum ersten Mai sieh das unnennbar holde, 
weibliche und mutterliche Lacheln, zum ersten Male hore die 
elterliche Stimme; denn die ersten zwei Seligen, die im Himmel 
dir entgegengehen, sind deine Eltern. O himmlische Stunde! Die 

30 Sonne strahlt, alle Tautropfen funkeln unter ihr, acht Freuden- 
tranen fallen mit dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier 
Menschen stehen selig und geriihrt auf einer Erde, die so weit vom 
Himmel liegt! Verhulltes Schicksal! wird unser Tod sein wie 
Gustavs seiner? Verhulltes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie 
hinter einer Larve sitzet und das uns Zeit lasset, \u sein - ach! 
wenn der Tod uns zerleget und ein groBer Genius uns aus der 



64 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann seine Sonnen und 
Freuden unsere Seele uberwaltigen, wirst du uns da auch eine 
bekannte Menschenbrust geben, an der wir das schwache Auge 
aufschlagen? O Schicksal! gibst du uns wieder, was wir niemals 
hier vergessen konnen? Kein Auge wird sich auf dieses Blatt 
richten, das hier nichts zu beweinen und nichts dort wiederzufln- 
den hat: ach wird es nach diesem Leben voll Toter keiner be- 
kannten Gestalt begegnen, zu der wir sagen konnen: willkom- 

men? 

Das Schicksal steht stumm hinter der Larve; die menschliche 10 
Trane steht dunkel auf dem Grabe; die Sonne leuchtet nicht in die 
Trane. - Aber unser liebendes Herz stirbt in der Unsterblichkeit 
nicht und vor dem Angesichte Gottes nicht. 



SECHSTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT 
Gewaltsame Entfiihrung des schonen Gesichts - wichtiges Portrat 

Das Erstaunen Gustavs, zu dem ihn den ganzen Tag ein Gegen- 
stand nach dem andern anstrengte, und die Entbehrung des Schlafs 
endigten seinen ersten Himmeltag mit einem Fieberabend, den er 
wurde verweint haben, auch ohne einen Grund. Aber er hatte 
einen: sein Genius war wahrend des Tumultes im Garten mit 20 
einem sprachlosen Kusse von dem Liebling fortgezogen und hatte 
nichts zuriickgelassen als der Mutter ein Blattchen. Er hatte nam- 
lich ein Notenblatt in zwei Halften zerschnitten; die eine enthielt 
die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu, auf 
der andern standen die Aufiosungen und die Antworten. Die dis- 
sonierende Halfte sollte sein Gustav bekommen; die andere be- 
hielt er: »Ich und mein Freund«, sagt* er, »erkennen einmal in der 
wiisten Welt einander daran, daB er Fragen hat, zu denen ich Ant- 
worten habe.« Auch den Pudel, der immer groBer wurde, nahm er 

mit Wo werden wir dich wiedersehen, unbekannter schoner 30 

Schwarmer? Du erfahrst es nicht, wie dein verwaiseter Zogling 
abends rufet und schluchzet nach dir, und wie ihm der neue ge- 



SECHSTER SEKTOR 65 

stirnte Himmel nicht so gefallet als seine Stubendecke mit dir, und 
wie ihm dieLichtkerzen jedes Zimmer zur stillen Hohle ummalen, 
in der er dich geliebt hatte und du ihn. Ebenso biicken wir uns am 
Lebens-Abend an alten Grabern unsrer friihen Frewnde, die nie- 
mand bedauert als wir; bis endlich den letzten Greis aus dem lie- 
benden Zirkel ein fremder Jiingling beerdigt; aber keine einzige 
Seele erinnert sich der schonen Jugend des letzten Greisesl - 

Am Morgen war er wieder gesund und froh ; die Sonne trocknete 
sein Auge aus-, und das Nebelbild seines Genius zog in der Hulle 

■ der letzten Nacht sich weit zuriick. Es tut mir leid, daB ichs seinen 
Jahren und seinem Charakter beizumessen habe, daB er, die Abend- 
stunden der schmerzlichsten Sehnsucht ausgenommen, ein wenig 
zu leicht das Bild eines Freundes durch nahere Bilder in den Hinter- 
grund verschieben lieB. Alle Blumen waren jetzo Spielzeug fur 
ihn, jedes Tier ein Spielkamerad und jeder Mensch ein Vogel 
Phonix; jede Himmelsveranderung, jeder Sonnenuntergang, jede 
Minute iiberschuttete ihn mit Neuigkeiten. 

Es war ihm wie vornehmen Kinderri, die aufs Land hinaus- 
kommen; alles begucken, betasten, bespringen sie in der neuen 

> Erde und dem neuen Himmel. Denn es ist ein unbeschreibliches 
Gliick fiir stiftfahige Kinder, daB ihre Eltern, die sonst aus der 
Natur sich wenig machen, sie dennoch zwischen hohen Zimmern 
und hohen Hausern, die nicht 38 Quadratschuhe vom Himmel 
sichtbar lassen, wie in Treibgarten mit hohen Mauern erziehen, 
damit die Natur ihnen so wenfg als ihre Eltern unter die Augen 
komme; dadurch erhalt sich ihr Gefiihl fiir beide ebenso unver- 
hartet uber der Erde, als wiirden sie wirklich unter ihr erzogen; 
fa sie sehen den Sonnenaufgang zum ersten Male fast noch spater 
als Gustav, - auf der Postkalesche oder in Karlsbad. - 

, Seine Eltern lieBen ihn als einen Neugebornen ungern von der 
Seite, kaum in den SchloBgarten und nicht zum Berg hinunter, wo 
ihm die PoststraBe gefahrlich war. Auch hatt' er aus seiner unter- 
irdischen Schulpforte eine gewisse Verlegenheit mit heraufge- 
bracht, die mittelmaBige Menschen und fast sein Vater fur Ein- 
falt nehmen, welche aber hohere Menschen, sobald sie in Gesell- 
schaft eines nicht stieren, sondern uberfiillten schwarmerischen 



66 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Auges wie bei ihm erscheint, fiir das Ordenkreuz ihres Orden- 
bruders halten. Gleichwohl bereueten es seine Eltern acht Tage 
darauf, nicht, ihn eingesperrt, sondern, ihn hinausgelassen zu 
haben. 

Die Obristforstmeisterin von Knor und ein Faszikel Herrn- 
huter und Herrnhuterinnen waren mit ihr gekommen, den Zog- 
ling des Grabes zu horen; ein Grummetschober alter Fraulein 
hatte schon vier Wochen vorher eingesprochen, und jetzo wieder, 
um nur ein solches Wunderkind ansichtig zu werden. Die herrn- 
hutkchen Briider waren lebhaft und frei mit Anstand; die Schwe- 10 
stern mauerten sich samtlich um eine Standuhr, deren Gehause 
mit Engeln als Hornisten gerandert war - sie waren von den Hor- 
nisten nicht wegzubringen. Beizubringen war ihnen auch nichts; 
Maul und Augen machten sie auch nicht auf, und der Rittmeister 
wurde schwarz vor verhaltenem Arger. Endlich tippte die Lippe 
einer Schwester an ein Weinglas, die andern tippten nach - so viel 
die eine vom Gebacknen abknickte, so viel brockelten die andern 
sich zu - ein Zuck regte die ganze obligate Kompagnie dieser auf 
zwei FiiBe gestellten Schafe. Der Frauleinschober hingegen hieb 
in alles ein; im Fliissigen und Festen war er wie ein Amphibium 20 
zu Hause, sie hatten in ihrem kauenden und klappernden Leben 
nie etwas gereget als die Zunge. - Als nun fiir so viele Zuschauer 
das Wundertier her sollte-: wars - weg. Alles wurde ausgestobert, 
langverlorne Dinge wurden gefunden, in alles hineingeschrien, in 
jeden Winkel und Busch - kein Gustav! Der Rittmeister, dessen 
anfangende Betrubnis immer eine Art Zorn war, HeB die ganze 
sehlustige Schwesterschaft sitzen; die Rittmeisterin aber, deren 
Betriibnis noch weichere Teile angriff, setzte sich kosend zu ihr. 
Als aber alle angstliche, fragende, laufende Gesichter immer trost- 
loser zuriickkamen und als man gar hinter dem ofFnen SchloBtor, 3 o 
wo der Kleine abgeriBne Blumen in kleine beschattete Beete 
steckte, diese noch naB von seinem BegieBen fand : so zerknirschte 
die Verzweiflung die Gesichter der Eltern; »ach der Engel ist ge- 
wiB in den Rhein gestiirzt«, sagte sie, er aber sagte nichts dagegen. 
Zu einer andern Zeit hatt* er einen solchen FehlschluB mit den 
FuBen zerstampft; denn der Rhein floB eine halbe Stunde vom 



SECHSTER SEKTOR 67 

Schlosse; aber hier schloB in beiden die Angst, die weit tollere 
Spriinge tut als die Hoffnung. Ich rede hier deswegen von einer 
andern Zeit, weil mir bekannt ist, wie sonst der Rittmeister war: 
namlich aus Mitleiden aufgebracht gegen den Leidenden selber. 
Niemals z.B. fluchten seine Mienen mehr gegen seine Frau, als 
wenn sie krank war (und ein einziges schnelles Blutkugelchen stieB 
sie um) - klagen sollte sie dabei gar nicht - war das, auch nicht 
seufzen - war auch das, nur keine leidende Miene machen - ge- 
horchte sie, iiberhaupt gar nicht krank sein. Er hatte die Torheit 

jo der miiBigen und vornehmen Leute, er wollte stets frohlich sein* 

Hier aber, da einmal sein Glticktopf in Scherben lag, versuBete 

ein fremder Seufzer seinen eignen und seinen Zorn iiber die un- 

achtsame Hausdienerschaft und iiber den diirren Schwester- und 

Grummetschober. 

Als das Kind die Nacht ausblieb und den ganzen Vormittag 
und als man gar ira Walde auf der KunststraBe sein Hiitchen an- 
traf : so verwandelten sich die Stiche der Angst in das forteiternde 
Schmerzen dieserStichwunden. Gegen keine Gemiiterschutterung 
ist ein guter Gegenbeweis so schwer zu fiihren als gegen die Angst; 

20 ich fuhre daher gar keinen seit Jahr und Tag, sondern ich gebe ihr 
das Argste, was sie behauptet, sofort willig zu und falle dann bloB 
die andere Gemutbewegung, die aus dem besorgten Argsten 
kommen kann, mit der Frage an: »Und wenns nun ware?« 

Jeder Fliegenschwamm im Walde wurde breitgetreten und 
jeder Baumspecht aufgejagt, um den Kopf zum Hut zu finden - 
aber vergeblich; - und am dritten Tage ging der Rittmeister, 
dessen Gesicht eine Atzplatte des Schmerzes war, ohne Absicht zu 
suchen so vertieft im Walde herum, daB er einen mit Koffern und 
Bedienten ausgelegten Reisewagen durch das Gebusch schwerlich 

30 hatte fliegen sehen, wenn nicht daraus wie ein Freuden-Donner- 
schlag die Stimme seines verlorenen Sohnes ihn erschiittert hatte. 
Er rennt nach^der Wagen schieBet voraus, und im Freien sieht 
er ihn schon hinter seinem Schlosse stauben. AuBer sich kommt 
er in SchloBhof angesturmt, um nachzusprengen und um es - 
bleiben zu lassen. Denn oben an der Haustiire stand die in einen 
Knaul zusammengelaufne SchloB -Genossenschaft schon um den 



68 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Gustav, die SchloBhunde bellten, ohne einen gescheiten Grund 
zu haben, und alles sprach und fragte so, daB nian gar keine Ant- 
wort des Kleinen vernahm. Der vorbeifliegende Wagen hatte ihn 
ausgesetzt. Am Halse hing in einem schwarzen Bande sein Por- 
trat. Seine Augen waren rot und feucht von den Qualen der Heim- 
sucht. Er erzahlte von langen Ian gen Hausern, wofiir er Gassen 
hielt, und von seinem Schwesterchen, das mit ihm gespielet, und 
vom neuen Hute; es war' aber keine Seele daraus klug geworden, 
hatte nicht der Koch erne entfallne Karte zu seinen Fiifien erblickt. 
Diese las der Rittmeister und sah, daB er sie nicht lesen sollte, 10 
sondern seine Frau. Er verdolmetschte es aus dem mit weiblicher 
Hand geschriebenen Italienischen so : 

»Kann sich denn eine Mutter bei einer Mutter entschuldigen, 
daB sie ihr Kind ihr so lang entzogeh? Wenn Sie mir auch meinen 
Fehler nicht vergeben : ich kann ihn doch nicht bereuen. Ich traf 
Ihren lieben Kleinen vor drei Tagen im Walde irrend an, wo ich 
ihn in meinen Wagen stahl, um ihn vor schlimmern Dieben zu 
bewahren und um seine Eltern auszuflnden. - Ach, ich will es 
Ihnen nur sagen: ich hatt' ihn auch mitgenommen, wenn auch 
beides nicht gewesen ware. O nicht, weil er so himmlisch schon, 20 
sondern weil er so ganz, sogar bis auf die Haare, wie mein teuerer 
verlorner Guido aussieht, kann ich ihn kaum lassen. Ach es sind 
schon viele Jahre, daB mir das Schicksal auf eine sonderbare Art 
mein liebstes Kind lebendig aus dem SchoB genommcn. Ihres 
kommt heute wieder, meines vielleicht nie! - Das Hals-Gehenk 
verzeihen Sie. Das Portrat werden Sie fiir seines halten, so ahnlich 
ist er meinem Sohn; aber es ist das meines Guido. Sein eignes HeB 
ich mir auch malen und behalt* es, um das Ebenbild meines Guten 
doppelt zu haben. Sollt' ich einmal Ihren Gustav aufgebliiht zu 
Gesicht bekommen: so wiird* ich ihn lange anschauen, ich wtirde 30 
denken : so muB mein Guido jetzt auch aussehen, so viel Unschuld 
wird er auch im Auge haben, so sehr wird er auch gefallen. - Ach 
meine Kleine weint, daB ihr Spielgenosse wieder wegfahren soil - 
und ich tu' es auch; sie gibt nur einen Bruder, aber ich einen Sohn 
zuriick. Mogen Sie und er glucklicher sein! - Meinen Namen 
schenken Sie mir.« 



SECHSTER SEKTOR 69 

Sie rieten alle iiber die Verfasserinhin und her. Der Rittmeister 
allein sagte traurig nichts; ich weiB nicht, ob aus Kummer iiber 
die Erinnerungen an seinen ersten verlornen Sohn, oder weil er 
gar wie ich iiber die ganze Sache dachte. Ich vermute namlich, der 
verlorne Guido ist eben sein eignes Kind; und die Briefstellerin 
ist die Geliebte, die ihm der Kommerzien-Agent Roper aus 
den Handen gewunden hatte. Ich werde erst nachher sagen 
wanim. 

Gustavs Schonheit kann man erstlich aus der Vernunft oder 

10 von vornen dartun, zweitens von hinten. Sein Treibhaus, das ihn 
auferzog und zudeckte, bleichte ganz natiirlich seine Lilienhaut zu 
einem weiBen Grund, auf welchen zwei bfasse Wangenrosen oder 
nur ihr Widerschein unddie dunklere feste Rosenknospe der Ober- 
lippe geblasen waren. Sein Auge war der offne Himmel, den ihr 
in tausend fiinf jahrigen und nur in zehn funfzigjahrigen Augen 
antrefft; und dieses Auge wurde noch dazu von langen Augen- 
wimpern und von etwas Schwarmerischen verschleiert oder ver- 
schonert. Endlichhatten weder AnstrengungnochLeidenschaften 
ihren Waldhammer und die scharfen Lettern desselben in dieses 

20 schone Gewachs geschlagen,und ihm war noch kein Todesurteil, 
das seinen Fall bezeichnet, in seine Rinde eingeschnitten. Alles 
Schone aber ist sanft; daher sind die schonsten Volker die ruhig- 
sten; daher verzerret heftige Arbeit arme Kinder und arme 
Volker. 

Es ist aber noch kein Jahr, dafi ich Gustavs Schonheit von 
hinten beweisen kann. Denn da der Auktionproklamator damals 
mein intimster Freund war: so beging er mir zu Gefallen den 
kleinen Schelmenstreich,«daB er die Gemalde und Kupferstiche 
gerade an einem Tage versteigerte, wo der Maskerade wegen kein 

30 Mensch gerade von der groBen Welt aus Unterscheerau in die 
Versteigerung kam, mich ausgenommen; ich erstand fur Sunden- 
geld tausend Dinge. Die ganze Stadt und Vorstadt hatte zu diesem 
Schutthaufen von Moblen zugetragen und war Verkauferin und 
Kauferin zugleich. In dieser Auktion erschienen alle europaische 
Potentaten, aber elend gezeichnet und koloriert; und ein Edel- 
mann von bon sens hielt seine beiden Eltern feil und wollte sie als 



70 DIE UNSICHTBARE LOGE 

gute Kniestucke verstechen - in Rom verhandelten umgekehrt 
die Eltern die Kinder, aber in natura. Der Edelmann hoffte, ich 
wiirde auf seinen Papa und seine Mama bieten; aber ich war bei 
nichts der Mehrbieter als bei Gustavs Portrat, das er auch los- 
schlug. Der Edelmann hieB - Roper, von dem ich oben gesagt, 
daB er an einem Tage Ehemann und Stiefvater geworden. 

Und hier hangst du ja, Gustav, mir und meinem Schreibtisch 
gegeniiher, und wenn ich iiber etwas sinne, so stoBet mein Auge 
immer auf dich. Viele tadeln mich, mein kleiner Held, daB ich dich 
hier zwischen Shakespeare und Winckelmann(von Bause)aufge- , 
nagelt ; aber hast du nicht- das bedenken zu wenige - einen Nasen- 
Schwibbogen, auf dem schwere und hohe Gedaaken ruhen, einen 
solchen, der oft unter der Hand des Todes sich noch schoner 
wolbt, und hast du nicht unter dem Knochen-Architrav ein weites 
Auge, durch das die Natur wie durch eine Ehrenpforte in die Seele 
zieht, und ein gewolbtes Haus des Geistes und alles, womit du deine 
in Kupfer gestochne Nachbarschaft verdienest und aushaltst? 

Der Leser sollte wissen (es geschieht aber weiter hinten), was 
mich jetzo notigt, meinen Sektor plotzlich auszumachen und ein- 
zusperren .... 

Zweites Extrablatt 

Strohkranzrede eines Konsistorialsekretars, worin er und sie beweisen, 
daB Ehebruch und Ehescheidung zuzulassen sind 

Ich gesteh' es hier, unser aufgeklartes Jahrhundert sollte man das 
ehebrechende nennen. Ich sagte allerdings einmal auf dem Markt- 
platz zu Marseille, ich hielt* den Bettel fur recht, den Ehebruch - 
schon weit vor Miinchen sagt' ich, man sollte an die Mutterkirche 
des Ehebettes noch ein Ehefilial stoBen - im Obersachsischen 
sagt* ich, wenn jene Grafin ein ganzes Jahr fortgebar, jeden Tag 
etwas: so ware noch jetzo bei Grafinnen wenigstens das vorher- j 
gegangene Jahr zu haben - in den zehn deutschen Kreisen driickt' 
ich mich gewiB auf zehn verschiedene Arten aus; — aber es war 
damals nirgends der Ort, die Sache klar aus der Physiologie dar- 
zutun, als bloB hier. 



SECHSTER SEKTOR 7 1 

Sanktorius wars 1 , der sich auf einen delphischen Nachtstuhl 
setzte und da die Wahrheit aussaB, daB der Mensch alle 1 1 Jahre 
einen neuen Korper umbekomrhe — der alte wird wie der deutsche 
Reichs-Korper stiickweise fluchtig, und es bleibet von der ganzen 
Mumie nicht so viel sitzen, als ein Apotheker klein geschabt in 
einem Teeloffel eingeben will. Bernoulli widersprach gar diesem 
ganz und rechnete uns vor, Sanktorius stolpere, denn nicht in 1 1 , 
sondern in 3 Jahren dampfe der eine Zwilling-Bruder weg und 
schieBe der andere an. Kurz Russen und Franzosen wechseln den 

10 Korper ofter als das Hemd des Korpers, und eine Provinz be- 
kommt allzeit neue Leiber und einen neuen Provinzial mitein- 
ander, in 3 Jahren, wie gesagt. 

Die Sache ist gar nicht gleichgiiltig. Denn es ist sonach unmog- 
lich, daB ein Kahlkopf, der sein Ehejubilaum begeht, an seinem 
ganzen Leibe auf ein Stiickchen Haut hellersgroB hinweise und 
anmerke: »Mit diesem Lappchen Haut stand ich vor 25 Jahren 
auch am Altar und wurde samt dem iibrigen an meine jubilierende 
Frau hinankopuliert.« Das kann der Jubelkonig unmoglich. Der 
Ehering ist zwar nicht herunter, aber der Ringfinger langst, um 

ao welchen er saB. Im Grunde ists ein Streich iiber alle Streiche, und 
ich berufe mich auf andre Konsistorialsekretare. Denn die arme 
Braut steigt freudig mit der Statua curulis von einem Brautigam- 
korper unter den Betthimmel und deiikt - was weiB sie von guter 
Physiologie -, am Korper habe sie etwas Solides, ein eisernes 
Stuck, ein Immobiliargut, kurz einen Kopf mit Haaren, von denen 
sie einmal sagen konne: an mdnen und an meiner Haube sind sie 
grau geworden! Das hofft sie; indes schafft unter ihrem HofTen 
der Schelm von einem Korper seine samtliche Glieder, wie ein 
Student sein verschuldetes Studentengut, nach 3 Jahren infinitesi- 

30 malteilchenweise bei Nacht und Nebel fort. — Wendet sie sich am 
Neujahrabend um: so liegt imEhebette bloB ein GipsabguB oder 
eine zweite Auf lage neben ihr, die der vorige Korper von sich da- 
rin gelassen und in welcher kein altes Blatt der alten mehr ist. Was 

1 In Hallers grofler Physiologie steht es, daB der Mensch nach Sanktorius 
alle 1 1 Jahre den alten Korper fahren lasse - nach Bernoulli und Blumenbach 
alle 3 Jahre — nach dem Anatomiker Keil jedes Jahr. 



JZ DIE UNSICHTBARE LOGE 

soil nun eine Fran, wenn der Kubik-Inhalt des Brautbettes und 
der des Ehebettes so verschieden sind, von der Sache denken? - 
ich meine, wenn z. B. ein ganzes weibliches Konsistorium (z. B. 
die Frau Konsistorialprasidentin, die Vizeprasidentin, die Konsi- 
storialsekretarin) nach 3 Jahren auf dem Kopf kissen ein ganz an- 
ders mannliches Konsistorium antrifft, als das aufgeloste war, das 
die Ehe versprach: was soil eine Frau da anstellen, die, wenns eine 
Konsistorial-Halfte ist, recht gut weiB quid juris? Sie, sag* ich, 
die es hundertmal iiber dem Essen gehort haben muB, daB eine 
solche Entweichung des mannlichen Korpers eine verfluchte bos- 10 
liche Verlassung oder desertio malitiosa ist, die sie von ihren Ehe- 
pflichten ganz loskntipfet - und es kann vollends eine solche 
Strohwitwe gar Lutherum de causis matrimonii gelesen haben 
und sich daraus entsinnen, daB er einer boslich Verlassenen nach 

einem oder einem halben Jahre eine neue Ehe nicht verbeut 

Sich in besagte neue Ehe zu begeben, wird ofTenbar die erste Pflicht 
und Absicht einer solchen Verlassenen sein; da aber der neue re- 
stierende Ehemanns-Korper nichts fur den fortgedunsteten kann: 
so wird sie es, um ihn nicht zu kranken, ohne sein Wissen und 
ohne Rachsucht tun, wenn er etwan auf der Borse ist - oder auf 20 
dem Katheder - oder auf der Messe - oder zu Schiffe - oder hinter 
dem Sessiontisch oder sonst aus. 

Inzwischen ist der Mann kein Narr, sondern so viel hat er von 
der Physiologie allemal innen, daB auch die Frau ihren Korper 
ebensooft als ihre Magde tausche; mithin braucht er auf nichts 
zu passen. Nov. 22. c. 25. reicht ihm das Recht der Ehescheidung 
schon, wenn sie auf eine Nacht von ihm gelaufen; hier aber ist die 
Konsistorialratin gar auf immer weggedunstet und repetiert noch 
dazu in jedem Dreijahr diese Wegdiinstung, - sie, die doch nach 
»Langens geistlichem Recht« dem Konsistorialrat, ders selber in 30 
seiner Buchersammlung hat, nachziehen muBte, wenn er Landes 
verwiesen wurde, gesetzt sogar, in den Ehepakten hatte sie sich 
ausbedungen, zu Hause zu bleiben. So redet Lange mit den Man- 
nern aus der Sache. In der groBen Welt, wo echte Keuschheit und 
Vielwissen und also auch Physiologie zu Hause ist, traktierte man 
den Punkt langst mit Anstand und Verstand und trieb Gewissen- 



SECHSTER SEKTOR 73 

haftigkeit weit. Denn da ein Mann allda an seiner Gemahlin 
3 Jahre nach dem Vermahlungfest nicht ein Apothekerlot Blut, 
nicht eine diinne Vene, worins lauft, mehr von der alten auszu- 
spiiren hofft; da er mithin die weggewanderten Teile seiner guten 
Gemahlin an jeder andern viel eher und skherer wiederzufinden 
glaubt als an ihr selbst; da er also vielmehr Liebe zur ankopulier- 
ten fur eigentlichen Ehebruch an ihr und mit ihr halten muB - 
und, genau genommen, ists auch so -: so ists ihm jetzo haupt- 
sachlich um reine Sitten zu tun; er lasset also zwar derjenigen 

io Sammlung von Pulsadern, Nervenknoten, Fingernageln und ed- 
lern Teilen, die man insgemein seine Frau benennt, seinen Namen, 
seinen halben Kredit und seine halben Kinder, weil man tiber- 
haupt in der groBen Welt ungernoffentliche Verbindungenoffent- 
lich aufhebt und lieber am Ende an tausend aus Luft gefloch- 
tenen Ketten geht; aber das gestattet ihm seine Achtung fur 
Moral und Publikum nicht, eine und dieselbe Wohnung - 
Tafel - Gesellschaft mit einer Frau zu haben, die einen andern 
Korper hat; er erscheint sogar (welches vielleicht zu skrupulos 
ist) ungern mit ihr offentlich und enthalt sich wenigstens in 

20 seinem Hause alles dessen, wozu er oder Origenes sich unfahig 
machten. 

Es sind schlechte abgefarbte Katheder, die mir den Einwurf 
machen konnen, die verehelichten Seelen blieben ja doch zuriick, 
wenn die Leiber verrauchten. Denn mit der Seele (also mit dem 
Gedachtnis, mit dem Denkvermogen,sittlichen Vermogen u. s. w.) 
lasset man sich heutzutage wenig oder nicht kopulieren, sondern 
mit dem, was um sie herumhangt. Zweitens ist es ja bei jedem 
Materialisten auf der philosophischen Borse zu erfahren, daB die 
Seele nichts ist als ein Wassersprofiling des Korpers, der also bei 

30 Mann und Frau mit dem Leib zugleich weggeht. Man braucht es 
aber gar nicht, sondern man darf nur Hitmen beifallen, welcher 
schreibt, die Seele ware gar nichts, sondern bloBe Gedanken leim- 
ten sich wie Krotenlaich aneinander und krochen so durch den 
Kopf und dachten sich selbst. Bei solchen Umstanden kann das 
Brautpaar Gott danken, wenn sein Paar kopulierter Seelen nur 
so Iange halten will, wie die zwei Paar Tanz-Handschuhe des 



74 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Hochzeitballs. Auch sieht man es am Vormittag nach den Flitter- 
wochen. 

Also, wie gesagt, alle Kanonisten konnen die Woche, wo Mann 
und Frau zum Ehebrechen schreiten darf, nicht weiter hinaus- 
schieben als ins vierte Jahr nach der Verlobung; allein fur Leute - 
von Welt und von Stand 1st das hart und zu rigoros, zumal wenn sie 
aus ihrem »Keik (demAnatomiker) wissen, daB schon in einemjahre 
der ganze alte Korper wegtauet, - bloB elende 16 Pfund Fleischge- 
wicht ausgenommen. Daher warens oftmeineGedanken,daBich, 
wenn ich meinen Ehebruch schon ins erste Jahr verlegte (wie's 10 
viele tun), wirklich nur sehr wenigen Pfunden meiner Gattin, die 
1 07 hat, un treu wurde, den 1 6 Pfund namlich, die noch restierten. 

Auf den namlichen Korpertausch, worauf man seinen Ehe- 
bruch griindet, muB das Konsistorium seine Scheidung griinden. 
Denn wenn Leute oft 9, 1 8 Jahre nach der Trauung offenbar noch 
in der Ehe beisammen bleiben, indes alle Physiologen wissen, daB 
zwei neueEhekorper und zwar ohne priesterlicheEinsegnung bei- 
sammen sind : so ist nun das Konsistorium verbunden, dreinzu- 
sehen und dreinzuschlagen und die zwei fremden Leiber zu schei- 
den durch ein paar Dekrete. Daher wird man auch niemals horen, 20 
daB ein gewissenhaftes Konsistorium Schwierigkeiten macht, 
Christen, die schon in der Ehe sind, zu trennen; man wird aber 
auch von der andern Seite ebensowenig horen, daB es solche, die 
sich die Ehe bloB versprochen, ohne die groBten Schwierigkeiten 
scheide -: eben ganz naturlich; denn dort bei der langen Ehe ist 
wahrer Ehebruch durch die Scheidungbulle abzuwenden, weil un- 
kopulierte Leiber da sind; hier aber bei der Verlobung sind die 
Korper, die den Vertrag gemacht, noch vollig da, und sie miissen 
erst lange in der Ehe leben, bevor sie zur Scheidung taugen. Das 
ist die wahre Auflosung eines Scheinwiderspruchs, der so viele 50 
Schwache schon verleitet hat, uns samtlich im Konsistorio fur 
sportelsiichtig, mich fur den Markor und unsre griinen Session- 
tische fur griine Billarde zu halten, um welche sich President 
und Rate mit langen Queues herumtreiben, um die Partien auszu- 
spielen ; ach, ein Konsistorialsekretar schneidet ohnehin mehr Fe- 
dern als Geld. 



SECHSTER SEKTOR 75 

Warum wird uns uberhaupt nicht von den Pastoren jedes ein- 
gepfarrte Ehepaar, das iiber 3 Jahre beisaramen geschlafen, ein- 
berichtet, damit mans scheide zu reenter Zeit? Eine solche Schei- 
dung, wozu man keine weitern Griinde braucht als den, daB die 
zwei Leute lange beisammen waren, hat in alien Landern ja keine 
andere Absicht als die, daB sie nachher sich wieder ordentlich 
kopulieren lassen mit den erneuerten Leibern. Das Konsistorium 
und ich fahren am fatalsten dabei, falls die Sache sich nicht etwa 
bessert, wenn der neue Minister den Thron besteigt. Wahrlich, 

10 ein solches geistliches Landeskollegium legt oft die lange Sage an 
und zersagt Eheblocher oder Betten, in denen Ehepaare 21 Jahre 
lang gehauset hatten, die in so langer Zeit wenigstens siebenmal 
(alle drei Jahre sind Ehebruch und Ehescheidung fallig) waren zu 
scheiden und zu trauen gewesen : was fur SportelneinbuBe, da wir 
die Scheidungkosten, die wir hatten versiebenfachen konnen, ver- 
vierfachen muBten! Es ist ohnehin an einer solchen Scheidliqui- 
dation wenig, weil sie bekanntlich moderiert wird, und zwar vom 
Konsistorium selber. Man gebraucht noch dazu im Konsistorial- 
zimmer die Vor- und Nachsicht, daB ich allemal den Sportelzettel, 

20 wenn ihn das geschiedne Paar abgezahlt hat, nach 15, 20 Jahren 
wieder extrahiere und dem Konsistorialboten und Pfennigmeister 
von neuem mitgebe, nicht sowohl um die Sporteln zweimal ein- 
zukriegen (welches Nebensache ist), als um zweimal daruber zu 
quittieren, falls das getrennte Paar die erste Quittung etwa ver- 
loren hatte, und auch, um es vor einer dritten Zahlung sicherzu- 
stellen. Man will dem Paare alles leicht machen, wenn man es in 
mehren und groBen Terminen zahlen lasset. 

— Und heute vor drei Jahren kopulierte man mich fur meine 
Person auch — aber die damalige Strohkranzrede war zu 

50 schlecht 



7<$ DIE UNSICHTBARE LOGE 

SlEBENTER SeKTOR ODER AUSSCHNITT 
Robisch — der Star - Lamm statt der obigen Katze 

Nach einer solchen Entfuhrung schrankte man Gustavs Spiel- 
theater undLustlager ganz auf den Wall des Schlosses ein ; in die wo- 
gende Flur und ins Dorfchen Auenthal, das wohl eine 1 / ll deutsche 
Meile davon ablag, durft' er nur hinein — sehen. Dieses blumige 
Empor-Eiland umkreisete er den ganzen Tag, um jeden roten 
Kafer niederzuschlagen, jedes marmorierte Schneckenhauschen 
von seinem Blatte abzudrehen und iiberhaupt alles, was auf 
sechs FiiBen zappelte, einzufangen in seinem eignen Kerker. Auf 10 
Kosten seiner unerfahrnen Finger unternahm er anfangs auch die 
Biene an ihrem Hinterleibe aus ihrem Freudenkelche zu ziehen. 
Die bunten Arrestanten drangte er nun - wie Fiirsten alle 
Menschenklassen in eine Hauptstadt - samtlich in einen schonen 
Salomons-Tempel oder in eine Silberschtag-Noachitische Arche 
von Pappendeckel mit mehr Fenstern als Mauer zusammen. Der 
Baumeister dieses vierten salomonischen Tempels war nicht, wie 
bei dem ersten, der Teufel oder der Wurm Lis 1 , sondern ein 
Mensch, der leicht beiden glich, der sogenannte Kammcrjager 
Robisch. Dieser Hintersasse des Rittmeisters besuchte jahrlich die 20 
besten Zimmer und Garten des ganzen Landes, um beide nicht 
sowohl von ihren schlimmsten als von ihren kleinsten Bewohnern 
zu saubern - von Mausen und Maulwurfen. Ich will die Gelehrten^ 
Republik eben nicht bereden, daB dieser Mausschachter so viele 
unterirdische Maulwiirfe aus der Welt fortschickte, als jahrlich 
schriftstellerische hineintreten, um sich auf die HinterfiiBe zu 
setzen und dann mit den VorderfuBen, die an beiden Maulwurf- 
arten Menschenhanden gleichen, in den Buchladen und auf dem 
Leipziger Buchhandlermarkte ihre Erdhaufchen als kleine Musen- 
berge aufzuwerfen; - inzwischen bezahlt wurde Robisch gerade 50 
so, als habe der Kammerjager alles Ungeziefer verjagt. Denn die 
Leute glaubten, wenn man diesen Kelchvergifter der Nagetiere 

1 Nach den Rabbinen half der Teufel den Tempel mit bauen, und der 
Wurm nagte die Steine zurecht. 



SIEBENTER SEKTOR 77 

crbose und nicht bezahle: so mach' er Moses* Wunder nach und 
verdoppele durch dagelassene Kolonien das Ungeziefer, das man 
seinem Konigs- und Blutbann entziehe. Ich will von dieser mora- 
stigen Seele, die sich nie meinem Gustav naher walze, mich weg- 
begeben, wenn ich geschrieben habe, daB er oft im Falkenber- 
gischen Hause war, daB er, wenn Fremde da waren, den Extra- 
undKasualbedienten,und wenn Rekrutenwildpret zu fangen war, 
fur den Rittmeister den Leithund machte, und daB er sich an den 
kleinen Gustav mit seinen Fabrikaten drangte. Ein solches An- 

10 hakeln an Kinder ist ohne elterliche Kindlichkeit zweideutig. Kin- 
der aber lieben Bediente besonders; und Gustav vollends, der 
schlechterdings auch spater nicht vermochte, jemand zu hassen, 
den er in seiner Kindheit lieb gehabt; von alien Untaten, die Ro- 
bisch an ihm verubt hatte, ware gleichwohl das Band der Dank- 
barkeit fiir das elende Insektenstockhaus, das den Wall entvolkerte, 
nicht entzwei gegangen. 

Was in der salomonischen Schlofikirche war und sumsete, sollte 
Zucker fressen, weil Kinder ihn fiir das Vortisch- und Nachtisch- 
Essen ansehen ; und es waren die schonsten Inhaftaten verhungert, 

20 wenn nicht ihr Fronvogt, Gustav, vorri Kammerjager noch emen 
Starmatz zum Geschenk bekommen hatte; denn den Matz lieB er 
auch in das Pantheon hineinspringen, und der fraB alles, was nichts 
zu fressen hatte .... Wenn ich hier unter dieFlugeldeckenderln- 
sekten und in den Schnabel des Matzes die nachsten Refiexionen 
und die kuhnsten Winke versteckt habe: so hofF ich, man finde 
sich in dergleichen schon. 

AuBer mir hatte wohl niemand Gustavs Namen so oft im Schna- 
bel als der Star, der gleich Hof leuten nichts weiter im Kopfe hatte 
als ein nomen proprium. Der Kleine dachte, der Star denke und 

30 sei so gut ein Mensch wie Robisch und liebe ihn fiir alles; daher 
konnt* er sich nicht satt an ihm horen und lieben. Er konnte sich 
eben an nichts satt umarmen. BloB lebendige Geschopfe waren 
sein Spielzeug. Der Pachter hatte dazu noch ein schwarzes Lamm 
gesellt, das er mit einem roten Band und mit Brotrinden um den 
Wall herumlockte. Das Lamm muBte wie ein Dorf komodiant alle 
Rollen machen, bald muBt* es der Genius, bald der Pudel sein, 



78 DIE UNSICHTBARE LOGE 

bald Gustav, bald Robisch. So spielte also unser Freund seine 
ersten Erdenrollen Solo und war zugleich Regisseur, Einblaser und 
Theaterdichter. Solche Komodien, die sich Kinder macken y sind 
tausendmal nutzlicher als die^ die sie spie/en, und waren sie aus 
Weiftes Schreibtisch: in unsern Tagen, wo ohnehin der ganze 
Mensch Figurant, seine Tugend Gastrolle und seine Empfindung 
lyrisches Gedicht wird, ist diese Verrenkung der armen Kinder- 
seelen vollends gefahrlich. Indes ist es zuweilen auch nicht wahr: 
denn ich machte den vollstandigen Filou bloB ein-, zwei- oder 
dreimal in meinem Leben, aber wirklich noch, eh' ich zum ersten- 10 
mal gebeicht hatte. 

Die Verordnung, die ihn nicht vom SchloBberg hinunterlieB, 
unterschied sich von den Verordnungen unserer transzendenten 
Eltern, der Obrigkeit, dadurch riihmlich, daB sie erstlich der Partei 
bekannt gemacht, und zweitens daB sie wenigstens 14 Tage lang 
gehalten wurde. Gustav hatte fur sein Leben gern sich und das 
Lamm vom Walle hinab an den FuB des Berges getrieben. - Da 
nun der Rittmeister aus Quistorps peinlichen Beitragen wuBte, 
daB man an die Stelle der Ferstrickung oder Konfination (Ein - 
sperrung auf den Wall) die Distrikt- oder Gebietraumung setzen 20 
kann: so diktierte er die letzte Strafe statt der ersten und sagte: 
»Kann man denn nicht das Lamm des Pachters Regel (Regina) 
mitgeben, solang sie da am Berge weidet? Meinetwegen kann der 
Junge mittreiben, wenn ich ihn nur immer im Gesicht behalte.« 
Ich muB es noch abwarten, was die Reichsritterschaft dazu sagen 
oder schreiben wird, daB ein Ehrenmitglied derselben, mein Held, 
nachmittags um 4 Uhr sich allemal eine lange Haselgerte abdrehte 
und' damit ein Ochsenjunge wurde und neben der eilfjahrigen 
StroBners Regina die Schaf- und Rindherde und das Lamm am 
Band mit solchem Stolze und mit solchen Jupiters-Augenbraunen 30 
austrieb, daB er leicht andeutete, er lenke den ganzen Stall und die 
Reichsritterschaft solle ihm nur jetzo kommen. 

Nur im tausendjahrigen Reiche gibt es solche Nachmittage, wie 
Gustav an der Anhohe, gleichsam auf dem SchoBe der Erde hatte. 
Mein Vater hatte mich in die Zeichenschule senden sollen: kdnnt* 
ich nicht jetzt die ganze Landschaft in meinem Farbenstrom statt 



SIEBENTER SEKTOR 79 

im Dintenstrom auffangen und hinausspiegeln? Wahrhaftig ich 
konnte jedes Gebusch mit dem hineinschlupfenden Vogel dem 
Leser in die Augen zuriickspiegeln, jede Hppenfarbige Rotbeere 
der Felsen-Abdachung, jedes von Anflug iiberwachsene Schaf und 
jeden Baum, den das Eichhornchen mit zerbrockelten Tannzapfen 
umsaete. Inzwischen gibt es Dinge, an denen wieder die Iltishaare 
des Pinsels vergeblich biirsten, die aber schon aus meinem Kiele 
rinnen — das auf Geniissen schwimmende Auge Gustavs schifft 
leicht hiniiber und heriiber zwischen dem Lamme, dem hellen 

10 Blumengrund mit der Schatten-Landspitze und zwischen dem 
Zauber-Gesichte Reginens und braucht nirgend wegzublicken. 

Warum sagt* ich ein Zauber-Gesicht, da es ein alltagliches war? 
- weil mein kleiner Apollo und Schafhirt mit trinkenden Augen 
auf dieses Gesicht wie auf eine Blume flog. Unter einer Hirnschale 
wie seine, zu welcher den ganzen Tag die weiBe Flamme der 
Phantasie, und kein blaues Branntewein-Flammchen des Phlegma 
auffackelte, muBte jedes weibliche Gesicht mit vergiildeten Reizen 
in Gotterfarbe und nicht in Totenfarbe dastehen. Alle Schonen 
hatten bei ihm den Vorteil noch, daB er sie nicht seit zehn Jahren, 

20 sondern seit zehn Tagen sah. Indessen ist das nicht seine erste 
Liebe, sondern nur ein Friihgottesdienst, ein Vorfest, ein Prot- 
evangelium irgendeiner ersten Liebe, mehr nicht. 

Zwei ganze Wochen trieb er sein Lamm auf die Weide, eh' sein 
Mut so weit stieg, daB er - nicht sich neben ihr Strickzeug hin- 
setzte, dies uberstiegMenschenkrafte, sondern nur daB er - das 
Schaf an seinem postilion d'amour festhielt, nicht um es zu Regi- 
nen hinzuziehen, sondern um selber von ihm hingezogen zu wer- 
den; denn die beste Liebe ist am blodesten, wie die schlimmste am 
kuhnsten. Wie ein stillender Mond legte sich alsdann, wenn sie 

50 mehr in seinen Gedanken als in seinen Augen war, ihr Bild an 
seine traumende Seele, und so viel war ihm genug. - Sein zweites 
Mittel, ihr Akzessist zu werden, war der runde Schatteneines tiefer 
unten schwankenden Lindenbaums, hinter dem die Abendsonne 
wie hinter einem Jalousieladen sich zersplitterte. Mit diesem Schat- 
ten rutscht' er nun der Reginaimmer naher; unter dem Vorwand, 
als mied* er die eine Sonne, riickte er einer andern rotern zu. Von 



80 DIE UNSICHTBARE LOGE 

solchen kleinen Spitzbubereien lauft die Liebe iiber; sie werden 
aber alle erraten und alle verziehen; und sie werden oft mehr vom 
Instinkt als vom BewuBtsein eingegeben. Wenn freilichder Abend 
langsam aus dem Tal sich in die Hohe richtete - wenn die ein- 
sGhlummernde Natur in abgebrochenen Lauten des zu Bette ge- 
gangnen Vogels gleichsam noch ein paar Worte im halben Schlafe 
sagte - wenn das Glockenspiel am Halse der Herde, die unschul- 
dige Blumen der Freude aus Wiesen pfluckte, und der eintonige 
Guckguck und das verwirrte Abendgerauschdie Tasten der lei- 
sesten Saiten gedruckt hatten: so nahm sein Mut und seine Liebe 10 
um ein Namhaftes und nicht selten in dem Grade zu, daB er den 
Kuchen, den er fur sie eingesteckt, offentlich aus der Tasche holte 
und ohne Bedenken - ins Gras legte, um ihr wirklich den' Antrag 
dieses Backwerks zumachen, sobald sie in der Dammerung beim- 
SchloBtor auseinander muBten: hier stieB er ihr die Schenkung 
mit hastiger Verwirrung zu und sprang mit freudiger Beschamung 
davon. Gelang es ihm, ihr dieses Abendopfer zu insinuieren: so 
war jede Pulsader seines Arteriensystems ein entzuckt klopfendes 
Herz (denn die Sprache und Freude seiner Liebe war Geben), und 
unter seiner Bettdecke pflanzte er die ganze Nacht kiihne Plane auf 20 
morgen, die der Nachmittag-Glockenhammer mit vier Schlagen 
samtlich - bis auf ihre Herz- Wurzel - in die Erde schlug. Sie tat 
immer das breite Halstuchihrer Mutter um ; daraus muB es ein Phi- 
losoph von Verstand ableiten, daB ihm spater die groBen Halstu- 
cher der Damen gefielen, die ich selber den vorigen Tandelschurzen 
des Halses vorziehe; aus dem namlichen Grunde gefielen ihm wie 
mir auch breite Kopfbinden und breite Schurzen. Ich habeschon 
mit PhilosophenL'hpmbre gespielt,die es umwandten und behaup- 
teten, alles das gefalle ihm, nicht, weil das Zeug an der Schonheit 
(Reginens) war, sondern weil die Schonheit am Zeuge war. 30 

Im Grunde scham* ich mich, daB ich hier, wahrend die zer- 
rissendsten Bakkalaureen eintunken und den ubrigenBakkalaureen 
die feinsten Sponsalien von Koniginnen und Marquisinnen aus- 
malen, meine Schreibmaterialien auf das Weiden und Verlieben 
zweier Kinder verwende. Beides lief bis in denHerbst hinein fort, 
und ich mochte es abschildern; aber, wie gesagt, die Scham vor 



ACHTER SEKTOR 8 I 

den Bakkalaureen! - Und doch gonn' ich dir, winziger Trimmer, 
so sehr diese weiBe Sonnenseite deines Lebens an deinem Berge 
und dein Lamm und dein Auge ! Und ich mochte so gern die Tage, 
die vor dir voriiberlaufen und deinen kleinen SchoB mit Blumen 
iiberlegen, zum Stehen bringen, damit der Leichenzug der be- 
wafFneten Tage hinten halten muBte, die deinen SchoB entlauben 
konnen - dein Lustholzchen Hchten - dein Lamm stechen - deiner 
Regina Dienstgeld zur Magd geben! 

Aber im Oktober fahrt alles nach Unterscheerau; und die Kin- 
io der wissen noch nicht einmal, daB es Lippen und Kiisse gibt! 

Wochender vorerstenLiebe ! warum verachten wireuch melir 
als unsre spatern Narrheiten? Ach an alien eueren sieben Tagen, 
die an euch wie sieben Minuten aussehen, waren wir unschuldig 
uneigenniitzig und voll Liebe. Ihr schonen Wochenl ihr seid 
Schmetterlinge, die aus einem unbekannten Jahre^eruberlebten, 
umunseremLebens-Friihlinge vorzuflattern ! Ich wollte,ichdachte 
von euch noch so enthusiastisch wie sonst, vcn euch, wo weder 
GenuB noch Hoffnung an Grenzen stockten ! -Du armer Mensch ! 
wenn der zarte weiBe, die ganze Natur iiberzaubernde Nebel 

20 deiner Kincterjahre herunter ist: so bleibst du doch nicht lange in 
deinem Sonnenlichte, sondern der gefallene iVie^/kriecht wieder 
als dichtere Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf, und am 
Jiinglings-Mittage stehest du unter den Blitzen und Schlagen 
deiner Leidenschaften! - Und abends regnet dein zerschlitzter 
Himmel noch fort! - 

ACHTER SEKTOR 

Abreise - weibliche Launen - zerschnittene Augen 

Da die Edelleute und Waldratten im Sommer das Land, im 

Winter die Stadt bewohnen: so tats der Rittmeister auch; denn 

30 die schone Natur (meint' er und sein Gerichthalter) lauft am Ende 

auf nichts als auf ein Inventarium von Bauern hinaus, deren Ell- 

1 Die Schmetterlinge im Friihling haben sich (durch das Zolibat) aus dem 
vorigen Jahre hergefristet; die im Herbst sind Kinder des gegenwartigen 
J ah res. 



82 DIE UNSICHTBARE LOGE 

bogen und Schenkel in einer Scheide halb von Zwillich, halb von 
aufgeflicktem Leder stecken, auf Sumpfwiesen, auf Brachfelder 
und auf Schweinvieh, und es gibt da nichts zu empfinden als Ge- 
stank - in der Stadt hingegen ist doch ein Stuck Fleisch zu haben, 
ein Spiel franzosischerKarten,einigerwahrerSpaB und em Mensch. 
Es ist jugendliche Unduldsamkeit, einem Manne, der kein Gefiihl 
fur Musik und Gegenden hat, auch das fur fremde Not und Ehre 
abzusprechen, besonders dem Rittmeister. 

Noch viel wichtigere Grtinde trieben ihn nach Scheerau; er 
suchte da 13000 Rtlr., eine Menge Rekruten und einen Hof- 10 
meister. - Den letzten zuerst! Seine Frau sagte: »Gustav muB je- 
mand haben, es fehlt ihm noch an Lebensart!« Aber Hofmeistern 
fehlts nicht daran - diese Infanten aus dem Alumneum, die nichts 
hebt als eine Kanzeltreppe, die so lange die Seelenhirten des jungen 
Edelmanns sind, bis sie die Seelenhirten der Gemeinde werden, 
welche ihr Zogling regiert, diese Erzieh-Poussierer sind imstande, 
nicht bloB den Kopf des Junkers - wie der Vater hofft — , sondern 
auch den Rumpf desselben - wie die Mutter hofft - recht gut zu 
formen und zu glatten, erstlich ohne eigne Glatte, zweitens in 
Lehrstunden, drittens mit Worten,viertens ohneWeiber, funftens 20 
auf eine sechste Art, dadurch, daB der Hofmeister das weiteste 
Lowenherz zu einem schlafrigen Dachsherzen einkrempt. 

Der zweite metallische Sporn, der den Rittmeister nach der 
Stadt forttrieb, war das Geld. Niemand kam so leicht in den Fall, 
ein Glaubiger sowohl als ein Schuldner zu werden, als er ; die halbe 
Nachbarschaft hatt' er, weil er weder sich noch andern etwas ab- 
schlug, zuletzt in seine Gdste und seine Schuldner verwandelt; 
aber jetzt verwandelte er daruber sich beinahe selber in beides, 
wenn nicht der Landesherr seinen zerrollendenGeldhaufen wieder 
aufbauete. Er muBte also nach der Residenz Oberscheerau die 30 
miBliche Bitte mitbringen, daB ihm jener 1 3 000 Rtlr. nicht sowohl 
schenken oder leihen - das ware zu machen gewesen - als beiahlen 
mochte, als ein Kapitel von sieben Jahren. Der scheerauische Sophi 
hatte namlich die Gewohnheit, keine Geliebte abzudanken, ohne 
ihr ein Landgut, oder ein Regiment, oder einen gestirnten Mann 
mitzugeben ; — er HeB von einer Geliebten allzeit noch so viel ubrig, 



ACHTER SEKTOR 83 

daB noch eine Ehefrau f ur einen Ehetropfen daraus zu machen war, 
wie der Adler und Lowe (auch Ftirs ten der Tiere) allemalein Stuck 
vom Raube unverzehrt fiir anderes Vieh liegen lassen. Mithin 
trennte er sich auch von der Mutter seines natiirlichen Sohnes - 
des Kapitan von Ottomar - auf dem Rittergute Ruhestatt, das er 
an einem Tage (mit Falkenbergs Gelde) kaufte und verschenkte. 
Drittens wollte der Rittmeister in Scheerau seinen Unter- 
offizieren, die meistens da lagen, ein paar Schritte ersparen; denn 
er schlug zwar mit dem Stock so leicht wie eine Dame mit dem 

10 Facher zu, aber er brach nicht gern einer Heuschrecke das sechste 
Bein aus, und daher schonte er die seiner Leute, die viere weniger 
hatten, urn so mehr. 

Endlich packen sie ein, die Falkenbergischen: wir wollen dabei 
sein. Da Falkenbergs Seele, wie Uhren undPferde, nur unter dem 
Reisen nicht stockte : so wareram Abzugmorgen am frohesten und 
raschesten; liebte keine Fortschreitung durch Sekunden^ son- 
dern durch Nonen; fluchte xiber samtliche Hande und FtiBe im 
SchloB, weil sie nicht flogen; driickte und stauchte das weibliche 
Schiff und Geschirr mit ehernen Handen in die nachste Schachtel 

20 hinein; und hatte keine andern abfuhrenden Haarseile seiner un- 
geduldigen Langweile als seine FtiBe, die stampften, und seine 
Hande, mit denen er teils den Kutscher aus solchen Griinden, wie 
dieser die Pferde, auswichste, teils die Zuruckbleibenden im 
Schlosse samtlich recht gut beschenkte. 

Die Rittmeisterin aber weiB alles so komplett und vernunftig 
zu tun, daB sie mit nichts fertig wird. Hatte sie drei Spriinge zu 
tun, um dem herunterplumpenden Monde auszuweichen : so 
streifte sie doch, eh' sie sprange, noch eine Fake aus der Fenster- 
gardine heraus - beim Platten war's noch arger. Gleich Gelehrten 

30 liegt sie neben dem Brotstudium noch einem Nebenstudium und 
Beiwerk ob und tut mit jeder Sache die benachbarten mit. »Ich 
kann nun einmal nicht so luderlich sein wie andre Weiber«, sagte 
sie eben zum knirschenden Ehemann, der acht stumme Minuten 
ihr zusah. »Ich wollt* ins Teufels Namen lieber, du wares t die 
liiderlichste in der ganzen schriftsassigen Ritterschaft« - sagt' er. 
Da sie nun, sooft sie Sturm und unrecht hatte, bloB auf den 



84 DIE UNSICHTBARE LOGE 

zornigen Hyperbeln des andern ankerte, wie ich als appellatischer 
Sachwalter haufig muB : so bewies sie audi dasmal geschickt, da 6 
an luderlichen Frauen wenig ware - und da einen hitzigen Ritt- 
meister nichts noch mehr aufbringt als ein stolzer Beweis dessen, 
was er gar nicht leugnet: so gings wie allemal los - die Zungen- 
Streitflegel bewegten sich -seine Speicheldruse, ihre Tranendruse 
und beider Lebern mit Gallenblasen sonderten so viel ab, als in 
christlichen Ehestunden gesondert werden muB - aber 1 5 Minuten 
und 1 5 Packereien sogen wie Blutadern alle diese ehelichen Ab- 
sonderungen wieder ein. Beim Abreisen hat kein Mensch Zeit, 10 
sich zu erbosen. 

- Sie war auf meine Ehre eine recht gute Frau, aber nur nicht 
allemalj z.B. beim Abreisen am wenigsten: sie wollte erstlich da- 
bleiben und keifte in alle horende Wesen hinein, zweitens wollte 
sie fort. Niemals, wenn ihr Mann am Morgen sich und seinem 
Hunde den Halsschmuck umlegte, um Besuche zu machen, be- 
gehrte sie mit (sie rmiBte denn die vollige Unmoglichkeit mitzu- 
kommen vorausgesehen haben): sondern wenn er am zweiten 
Tage nur ein Wort von einer Dame, die mit dagewesen, schieBen 
lieB : so klagte sie ihm ihre Not : »Unsereine riecht nun den ganzen 20 
Sommer nicht aus dem Hause hinaus.« Wollt' er sie das nachste 
Mai mitzwingen : so war entsetzlich zu tun, es war zu bleichen, 
zu jaten, Fleischfasser und Serviettenpressen zuzuschrauben, 
Waschzettel und alles zu machen, oder das vorzuschiitzen : »Ich 
bin am liebsten bei meinem Kleinen.« Allein ihre Absicht, die 
wenige errieten, war bloB, an zwei Orten auf einmal zu sein, in 
und auBer dem Hause - und es ist fur unsre Weiber schlimm, wenn 
unsre Philosophen und Manner nicht so viel einsehen, wie die 
katholischen Philosophen und Manner, die kombrischen, Ariaga, 
Bekanus, langst einsahen 1 , daB der namliche Korper leicht zur nam- 30 

1 Affirmant idem corpus existens in duobus locis habere posse utrobique 
formas absolutas non dependentes - ita ut hie moveatur localiter, illic non, 
hie calidum sit, illic frigidum, etc. hie moriatur, illic vivat, hie eliceret actus 
vitales turn sensitivos turn intellectivos, illic non. Foetiidisp. theol. T.I. 
p. 43 2. Bekanusbeschranktes mitphilosophischemScharfsinn so we it, daB ein 
solcher Korper - also eine Frau - nicht an einem Orte fromm und zugleich 
am andern gottlos sein konne; dieses leuchtet mir auch ein. 



ACHTER SEKTOR 85 

lichen Sekundc an zwei Orten oder mehren nicht nur auf einmal 
sitzen, reden, wachsen, sondern auch in der einen Stadt empfinden 
konne, indem er in der andern denkt, - zu gleicher Zeit in der 
Kirche lachen und in dem Theater weinen konne. — 

Extrablattchen 
Sind die Weiber Papstinnen? 

Alle Fragen dieses Blattchen tat ich an eine Abtissin, die lieber 
Miinzen als Fromme machen lieB. 1st nicht die dreifache Krone 
des Papstes jetzt auf den weiblichen Kopfen als eine vier-, funf- 

10 fache da, und schossen nicht ihre Hiite in die Hohe wie Salat in den 
Hundstagen? - Ists nicht den Weibern selber schon bekannt, dafi 
sie so untriiglich sind wie der Papst, und wenn dieser es mehr in 
dogmatischen als in historischen Dingen ist, wie die Jansenisten 
glauben, ist es bei den Papstinnen nicht umgekehrt ?- Und wer 
hat den Mut, eine zu widerlegen, die er nicht geheiratet? Der 
Papst ist Gottes Vizekohig oder gar Gott selbst, wenn dem Feii- 
nus 1 zu glauben; sind aber die Papstinnen nicht bekannte Gottin- 
nen? - Allerdings sagt ein Papst selbst, Klemens VI., daB er 
Engeln befehlen konne, jeden Kerl aus dem Fegefeuer in den Him- 

20 mel zu spedieren*; brauchen aber unsre Papstinnen Engel dazu? 
BloB eine Woche brauchen sie, um uns ins Fegefeuer, und eine 
Stunde, um uns zuruck in den Himmel zu werfen. - Marianus 
Soccinus, welcher behauptet', daB ein Papst aus Nichts Etwas, 
aus Unrecht Recht und aus allem Henker alien Henker machen 
konne, muB nur nicht glauben, daB unsre Papstinnen es nicht 
auch vermogen, und sind ihm ihre Ohrenbeichten nicht erinner- 
lich? — Wer exkommuniziert seine Ketzer, oder dispensieret seine 
Rechtglaubigen ofter, Papste oder Papstinnen? - Und wer macht 
heutzutage, durchlauchtige Abtissin, allmachtigere Augenbreven 

30 und Lippenbullen, wer kreieret mehr Heilige, mehr Selige und 

1 Wolfii lect. memorab. Cent. XVI. p. 994. etc. 
3 loco cit. 
* loco cit. 



86 DIE UNSICHTBARE LOGE 

mehr Nuntien a und de latere? Petri Nachfolger oder Petri Nach- 
folgerinnen? - Papste sollen sonst immerhin Konigreiche weg- 
geschenkt oder abgenommen haben ; beherrschen nicht Papstinnen 
diese Konigreiche? - Papste konnten von Amerika nichts ver- 
schenken als den Namen; ist aber nicht das, was einige Papstinnen 
von diesem Lande uns mitteilen, etwas viel Reelkres? - Konige, 
die sonst von Papsten gequalt wurden, werden jetzt von Papstin- 
nen begliickt; und wenn jene hochstens einen oder ein paar Ko- 
nige schufen, werden nicht die Konige unter den meisten euro- 
paischen Thronhimmeln von Papstinnen gemacht, und zwar in 10 
niedlichem Taschenformat, bis sie aus der Taufschussel nach und 
nach heranwachsen, daB sie so lang sind wie ich oder ihr Thron?- 
Kiissen wir ihnen nicht den Pantoffel ofter als dem seligsten Vater, 
indem die zwei Arme vom Professor Moskati zu Padua langst als 
zwei VorderfuBe befunden worden, auf deren lederne oder seidne 
Schuhe wir alle Wochen unsre Lippen driicken? - Legen nicht 
Papst und Papstin den alten Namen ab, wenn sie den Thron be- 
schreiten, den der eine durch Alter, die andre durch Jugend be- 
hauptet? - Und wehns wahr ware, daB Papst und Papstin ur- 
spriinglich nur Bischofe einer Provinz (eines Mannes) sein sollen 20 
und daB es weiter keine Papstin gibt als die gate Johanna: wiird' 
ich wohl gerade das Gegenteil offentlich in einem Extrablattchen 
oder heimlich zu Ihnen zu sagen wagen, durchlauchtige Abtis- 
sin? - 

Ende des Extrablattes 



Fortsetzung des vorigen Sektors 

Wahrend ich die Abtissin befragte : kamich von der wildlaunischen 
Rittmeisterin weg. Ich will setzen, ich oder der Leser hatten sie 
geheiratet: so wiirden wir zwar dem Himmel danken, an ihren 
Ringfinger unsern brillantierten Ring geschraubt zu haben; - 30 
aber doch wiirden wir uns taglich, wie man sieht, mit ihr herum- 
zubeiBen haben: so gewiB bleibts, daB nicht die weiblichen 
Laster, sondern die weiblichen Launen so viel Pferdestaub und 



ACHTER SEKTOR 87 

Dornen in das Ehelager saen, daB oft der Satan darauf liegen 
mochte. - 

Ohne Gustav, der so viel zuschleppt, kamen wir vor zehn Mi- 
nuten nicht aus dem Schlosse. Mein Leser malt sich ihn wider 
meine Erwartung ganz falsch vor, traurig namlich, weil er aus 
seiner Kindheit-Erdenwiege, aus seinem Adamsgarten und von 
seinem Abendberge weichen soil. So falsch ! - Ein anderer Leser 
wiirde sich ihn freudig denken, weil fiir Kinder, denen noch jede 
andre Szene eine neue ist, Reisen die Schopfung eines neuen 

10 Himmels Und einer neuen Erde wird und weil die Phantasien eines 
Kindes noch keine kummerhaften sind. Scheerau muBte in seinen 
Vermutungen durchaus die Stadt mit langen Hausern sein, worin 
er mit seiner Schwester gespielt. Noch dazu wurde - was alien 
Kindern eine Naturalisationakte ist - sein Spielmagazin einge- 
schifft; sogar den Starmatz, der als geschuttelter Hierarch in der 
salomonischen Filialkirche auf- und absprang, hielt er auf den 
stauchenden Knien. Jeden Winkel des Schlosses bedauerte er samt 
dem,wasdarinwar,daB esnichtmit einsteigen durfte; dieses ganze 
Konchyliengehaus kam ihm so eng, so abgegriffen, so abgeschos- 

20 sen vor I Leute, die wenig gereiset, schauen ihre Stube in den 
Augenblicken der Abreise - der Ankunft - und in den iibrigen 
mit drei verschiedenen Gefiihlen an; aber fiir Zugheuschrecken 
und Zuggefttigel sind die KunststraBen und ResidenzstraBen nur 
Korridore zwischen den Zimrnern. 

Schon eine halbe Stunde saB er auf dem nackten Kutschen- 
kasten voraus, mit den Beinen in Gepack eingekeilt und in zap- 
pelnder Erwartung, wann die Pferde den ersten RiB taten. End- 
lich wurde die Wagentiire zugeworfen, und alles rollte dahin, den 
Berg hinab, den Gemeindeanger hiniiber, auf welchem der weiB- 

jo geschalte Baum, der zur Kirchweih sich mit gerotelter Fahne und 
Banderwimpeln noch einmal in die Erde bohren sollte, unserem 
Gustav ganz verachtlich wurde, der jetzt in Scheerau hundert 
schonern Maienbaumen und Kirchweihen entgegenfuhr. - Aber 
als es vor der an Freuden fruchtbaren Region seines Berges vor- 
xiberging: so zog er vom Trauergeriiste der gestorbnen Nach- 
mittage, vom klingenden Vieh, das am Gipfel grasete, von einem 



88 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Weideadjunktus, der ihm schlecht gefiel, vom zusammengetra" 
genen Steinpferch, in den er sein Lammchen gestellt, das nun ohne 
Band und ohne Liebe droben stand, und endlich vom Markstein, 
auf dem sonst seine Traute, seine Schone strickte, davon freilich 
zog er die zuriickgewandten Blicke sehnend langsam weg. »Ach«, 
dacht' er, »wer wird dir Zitronenkuchen geben und meinem 
Lammchen Brotrinden? Ich will euch aber schon alle Tage recht 
viel herschicken!« 

Es war ein reiner Oktobermorgen, der Nebel lag zusammenge- 
faltet dem Himmel zu FiiBen, derwegfliegendeSommerschwebte 10 
mit seinen blauen Schwingen noch hoch iiber den Asten und Blu- 
men, die ihn getragen, und schauete mit dem weiten, still erwar- 
menden Sonnenauge den Menschen an, von dem er Abschied nahm. 
Gustav wollte aus dem Wagen, um den betaueten fliegenden Som- 
mer, der zartgesponnen wie ein Menschenleben die Erde iiberzog, 
zusammenzuwickeln und mitzunehmen. Aber du, Mensch, hangst 
so oft als'stinkende Pest- und Nebelwolke in die reine Natur her- 
ein! 

Denn sie mochten kaum eine Stunde gefahren sein, nach der er 

schon jedes Dorf fur Scheerau hielt Ich willaber erst angeben, 20 

wo's war. Bei Issig schrie er im Wald: »0! nun dort wird der 
schwarze Arm hineinlangen und mich hinausziehen !« Als sich der 
Alte noch daruber wunderte, woher der Kleine wuBte, daB jetzt 
eine Armsaule komme, die wirklich aus den Baumen herauswies : 
so tings auf einmal darhinter an zu schreien : »Ach meine Augen, 
meine Augen !« Den Kleinen und die Mutter versteinerte der 
Schrecken; absr der Rittmeister sturzte sich aus oder durch den 
Wagen, zerstieB die Glaser und prallte in den Wald hinein - und 
an ein kniendes feines Kind hinan, aus dessen zerschnittenen 
Augen Tranen und Wasser Hefen. »Ach tu mir nichts, ich kann 30 
nimmer sehen!« sagt' es und griff mit den Handchen um sich, um 
die Lanzette wegzuschlagen, die zu seinen Knien lag. »Wer hat dir 
denn das getan?« sagt' er mit der sanftesten, vom heftigsten Mit- 
leid brechenden Stimme; aber eh' es sprach, kam ein altes ver- 
wiistetes Bettelweib naher und sagte, im Gebiisch war' ein Bettler 
hingeschossen, ders Kind blenden hatte wollen, um darauf zu 



NEUNTER SEKTOR 89 

betteln. Allein das Kind kriimmte sich mit groBern Konvulsionen 
an seine Hand und sagte: »0! sie will mich wieder schneiden.« 
Der Rittmeister erriet die Spitzbxiberei, schlitzte den nachsten Ast 
herab, peitschte die Elende mit verfehlender Wut ins Angesicht 
und lief mit dem Blinden auf dem Arm dem furchtsamen Wagen 
zu. Es war ein herzerdriickender Anblick, der unschuldige Wurm 
mit feinen Zugen und Bewegungen in Lumpen und mit rot ein- 
gerunzelten Augen! - 

Neunter Sektor 
10 Eingeweide ohne Leib - Scheerau 

Nicht bloB Liigner und L'hombrespieler, sondern auch Romanen- 
leser mussen eiri gutes Gedachtnis haben, um die ersten 10 oder 
12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen aus- 
wendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fort- 
kommen. Bei mir steht kein Zug umsonst da; in meinem Buche 
und in meinem Leib hangen Stiicke Milz; aber der Nutzen dieses 
Eingeweides wird schon noch herausgebracht. - Da ein Roman- 
schreiber wie ein Hofmann bloB darauf hinarbeiten muB, daB er 
seinen Freund und Helden stiirze und in geladene Gewitter fuhre : 

20 so bild* ich seit einem Quartale am Himmel hie ein graues Wolk- 
chen, das schwindet, dort eines, das zerlauft; aber wenn ich end- 
lid) alle Zellen des Horizonts unsichtbar elektrisiert habe : fass' ich 
den ganzen Teufel in ein Donnerwetter zusammen - nach dem 
Abdruck von 14 Bogen kann der Setzer das Krachen schon horen 
und setzen. — Im Grunde ist freilich kein Wort wahr; aber da 
andre Autoren ihre Romane gern fur Lebensbeschreibungen aus- 
geben: so wird es mir verstattet sein, zuweilen meiner Lebens- 
beschreibung den Schein eines Romans anzustreichen. 

Das Kind gab statt seiner Geschichte bloB die Klagen iiber seine 

30 Geschichte. Es schien iiber sieben Jahre alt, akzentuierte das 
Deutsche italienisch, und sein kranklich zarter, blaBroter Korper 
legte sich um seine Seele, wie ein bleiches Rosenblatt um das 
Wurmchen darin. Sein Vater hieB Doktor Zoppo, kam aus Pavia, 



90 DIE UNSICHTBARE L0GE 

botanisierte sich aus Italien nach Deutschland und lieB die Kleinen 
unterwegs gelbe Blumen reiBen. Der blinde Amandus wollte in 
diesem Walde auch Krauter pfliicken; aber die teuflische Augen- 
arztin traf ihn, half ihm gelbe Blumen finden und lockte ihn damit 
so tief in den Wald hinein, daB sie ihm Kleider und Augen rauben 
konnte. 

Gustav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht sahe, schenkte 
ihm sein Morgenbrot, damit er nicht mehr weinen sollte, und 
konnte seine Blindheit, da seine Augen so offen waren, nicht be- 
greifen. Im nachsten Landstadtchen lieB sich Falkenberg rasieren 10 
und Amandus verbinden. Ich sah einmal auf der letzten Station 
vor Leipzig eine so reizende Querbinde iiber der Stirn und dem 
Auge eines Madchens, daB ich wunschte, meine Frau wiirde von 
Zeit zu Zeit dor thin geritzt, weil es nett ausfallt; hingegen Aman- 
dus' Verband iiber zwei Augen machte ihn zu einem Kinde des 
Jammers. 

Da Amandus in besserer Einkleidung und mit der traurigen 
Binde im Wagen saB: konnte Gustav gar nicht zu weinen auf- 
horen und wollte ihm seinen Matz herauslangen und schenken; 
denn nicht die GroBe, sondern die Gestalt des Leidens bestimmt 20 
das Mitleiden. 

Wenige Menschen, die nach Scheerau fahren, werden das nar- 
rische Gliick haben, daB ihnen zwei Stunden davor ein einsamer 
Magen ohne den Pertinenz-Menschen aufstoBet; Falkenberg und 
seine Leute und Pferde hatten dieses Gliick. Es kam angefahren 
der Magen, das diinne und dicke Gedarm, die Leber, worin die 
Fiirsten ihre Galle sieden, die Lunge, deren Luftblaschen die furst- 
liche Gallenblase sind, wie die Luftrohre der Gallengangderselben 
ist, und das Herz; aber kein Leichnam kam mit; denn der Leich- 
nam, der regierender Herr von Scheerau war, lag schon in der 50 
Erbgruft. Dieser ganze Magen verdaute so viel wie sein Gewissen, 
namlich ganze Hufen Landes; und besser als sein diinner Kopf, 
dem Wahrheiten und Gravamina eine schwere Speise waren; die 
papinianische Magenmaschine blieb noch im Alter feurig, als schon 
alles andre kindisch war. Er ritt, kurz vor seinem Tode, stunden- 
lang einen - Kammerherrn, den er wohl lei den konnte; gleich- 



NEUNTER SEKTOR 9 1 

wohl schob er wie ein ganz Verstandiger den Teller und das Glas 
weg, wenn nicht der alte rechte Inhalt in beiden war'. Hinter dem 
Eingeweidesarge - dem Reliquienkastchen des Unterleibes — 
fuhren der Obristkiichenmeister, einige Beikoche, der Hof kellerei- 
adjunkt und noch groBere Glieder des Hofetats - z.B. der Medi- 
zinalrat Fenk. Dieser und Falkenberg bemerkten einander nicht. 
Letzter stieB heute auf lauter Seltenheiten, auf den Doktor, den er 
in Italien, und den Fiirsten, den er noch auf der Erde suchte. Die 
gekronten insolventen Eingeweide, die ihm auf diese Weise das 

10 Geld nicht zahlten, verwickelten ihn nun mit dem Kronerben in 
ein Glaubigergefecht. 

Der Leichenzug des fiirstlichen Gedarms ging in die Abtei 
Hopf, wo das Erbbegrabnis derer fiirstlichen Glieder war, die - 
wenn dem Plato ein Wort zu glauben ist - wahres Vieh sind und 
mit denen der Mensch, er iiberschniire sie mit Ordenbandern oder 
Tragriemen, allemal seine Hollennot hat. Ich will der Darmkapsel 
nur drei Schritte nachziehen, weil der Medizinalrat jetzo - nach 
seiner lustigen Sitte, an alien Orten, in Theater- und Kirchen- 
logen und Gasthofen, nur in seinem Museum nicht, zu schreiben- 

to in der Begrabniskirche der Eingeweide seine Schreibtafel auf- 
wickelte und Sachen hineinschrieb, die wahrhaftig so lauten : »Da 
Fiirsten sich an mehren Orten auf einmal beerdigen lassen, wie 
sie auch so leben, so mocht* ichs auch - allein nicht anders als so: 
mein Magen miiBte in die Episkopalkirche beigesetzt werden - 
meine Leber mit ihrer bittern Blase in eine Hofkirche - das dicke 
Gedarm iri ein jiidisches Bethaus - die Lungenfliigel in eine Simul- 
tan- oder doch Universitatjdrche - das Herz in die triumphierende, 
und die Milz in ein Filial. Wenn ich aber erster Leichenprediger 
eines gekronten Unterleibes ware : so hatt* ich einen andern Gang ; 

30 ich nahme den Schlund zum Eingange der - Trauerrede und den 
Blinddarm zum BeschluB ! Und konnt' ich nicht in den drei Teilen 
der Predigt die drei Konkavitaten durchgehen, darin die edlern 
Teile des Korpers fliichtig beriihren und endlich auf den letzten 
Wegen desselben mich weinend und preisend aus dem Staube 
machen? Denn so scherzt man hienieden.« Es gibt einen poetischen 
Wahnsinn, aber auch einen humoristischen, den Sterne hatte; 



92 DIE UNSICHTBARE LOGE 

aber nur Leser von vollendetem Geschmack halten hochste An- 
spannung nicht fur Oberspannung. 

Der Falkenbergische Reisezug kam in Scheerau abends an, 
abends, der schonsten Zeit, um anzulangen, daher so viele abends 
in der andern Welt anlangen. Gustav schien schon dort gewesen 
zu sein, wahrend seiner Entfiihrung. Da aber von meinen Lesern 
die wenigsten der Schonheit wegen nach Scheerau sind entfuhrt 
worden und sie also die Stadt nicht kennen : so soil sic ihnen der 
zehnte Ausschnitt vorzeigen. 



Zehnter Sektor io 

Ober-, Unterscheerau - Hoppedizel — Krauterbuch - Besuchbraune — 
Fiirstenfeder 

Es ist noch keinem Geographen und Oberkonsistorialrat das 
Ungliick begegnet, das Herr Busching hatte, daB er in seinem to- 
pographischen Atlas ein ganzes gutes Fiirstentum auslieB, das auf 
der wetterauischen Grafenbank mit sitzt und Scheerau heiBet - 
das nach dem Reichsmatrikularanschlag •/• zu RoB und 9'/» zu 
FuBe und zum Kammerzieler 21 FI. Vu Xr. gibt - das unter 
Karl IV. gefurstet wurde - das seine funf hiibschen Landesstande 
hat, die allerhand zu sagen, aber nichts zu tun haben, namlich den 20 
Kommentur des deutschen Ordens, die Universitat, die Ritter- 
schaft, die Stadte und die Dorfer - und das unter andern Ein- 
wohnern auch mich hat. Ich mochte nicht an der Stelle eines 
solchen Schreib-Mannes sein, der sonst in jede Sackgasse mit 
seinem geographischen Spiegel kriecht, um sie zuriickzuspiegeln, 
der aber hier ein ganzes Fiirstentum samt seinen funf paralytischen 
Landstanden rein iibersprungen hat; ich weiB, wie es ihn krankt, 
aber nun, da ich mit der Welt daruber gesprochen, ist ihm nicht 
mehr zu helfen. 

Die Hauptstadt Scheerau besteht eigentlich aus zwei Stadten, 30 
aus Neu- oder Oberscheerau, wo der Ftirst residiert, und aus Alt- 
oder Unterscheerau, wo der Rittmeister logiert. Ich meines Orts 



ZEHNTER SEKTOR 93 

bin langst iiberzeugt, daB die Sachsenhauser nicht halb so weit 
von den Frankfurtern abstehen als die Altscheerauer von den Neu- 
scheerauern, in Ton, Gesicht, Kost und allem. Dei* Neuscheerauer 
hat Hofton genug, urn Anstand und Schulden und Wut zu aufler- 
hauslichen Freuden zu haben, und doch wieder zu viel Kanzleiton 
(weil alle hochste Landeskollegien da sind), um nicht uberall 
steife Subordination entweder anzuerkennen oder abzufodern 
und um nicht aus dem Kammerherrn in den Kanzelisten und 
Rechnungrevisor zuriickzufallen. Das sieht nun der Altschee- 

io rauer ein. Der Neuscheerauer hingegen sieht ein, daB jener 
folgende Zugehat:wennin Chinadie Mauler einerTischgenossen- 
schaft sich wie ein Doppelklavier zu gleicher Zeit bewegen miis- 
sen; wenn in Monomotapa das Land dem Kaiser nachzuniesen 
pflegt: so gehe man nach Altscheerau, wo es noch viel besser ist; 
in derselben Minute miissen alle Gassen weinen, husten, beten, 
laxieren, hassen und pissen - ihre Konduitenliste sieht wie eine 
Partitur aus, aus der alle das namliche Stuck, nur mit verschiednen 
Instrumenten und Stimmen spielen - (bloB in der Musik regiert 
sie einiger wahre Freiheitgeist, und keiner bindet seinen Ellen- 

20 oder Fiedelbogen oder Tangenten sklavisch an seines Nachbars 
seinen) - sie hassen scheme Wissenschaften so sehr wie sich unter- 
einander - unfahig, gesellschaftliches Vergniigen zu entbehren, 
zu veranstalten, zu genieBen, unfahig zu wagen, einander offen 
zu hassen und zu Heben und zu ertragen, bohren sie sich in ihre 
Geldhiigel und achten offentlich den Reichsten und geheim den 
Verwandten oder gar niemand - ohne Geschmack und ohne Pa- 
triotismus und ohne Lekture . . . 

Ich mach' es aber gar zu toll; kein Leser wird hinter dem Ritt- 
meister einen FuB nach Unterscheerau setzen wollen. Ihr groBter 

30 Fehler ist, daB sie nichts taugen; aber sonst sind sie fleiBig, voll 
lauter Kauf leute, enthaltsam und fegen die Gassen und Gesichter 
hubsch. Residenzstadte haben wie Hofe Familienahnlichkeit; aber 
Landstadte haben - je nachdem mehr kaufmannische, militarische, 
juristische, bergmannische, seemannische Safte in ihnen rinnen - 
ein verschiednes Vollgesicht und Halbgesicht. 

Vor der UberblechtenHaustiirdes Professors der Moral/fr>/>/Wz- 



94 DIE UNSICHTBARE LOGE 

£e/stieg die FalkenbergischeSchiffgesellschaftausihrerfahrenden 
Arche; sie hielt in des Professors zweitemStockwerk gewohn- 
lich ihr Winterquartier. Gleich hinter der Haustiire stieB der Ritt- 
meister auf ein tolles Melodrama. Namlich der FloBinspektor 
Peuschel Iehnte sich an die Wand und vomierte und schimpfte; 
und wechselte mit beidem regelmaBig, wie mit Pentameter und 
Hexameter — Der Professor der Moral schrieb mit einem unein- 
getunkten Finger ruhig die Ziige folgender Worte an die Wand, 
die er unaufhorlich ablas : »Ekelhaft wars wohl, verteufelt ekel- 
haft!« — Jeden andern hatte ein eintretender alter Freund wie to 
Falkenberg sogleich in der ganzen Szene gestort; aber der Pro- 
fessor war. nicht aus seinem SpaB zu ziehen, sondern hob seine 
Umhalsung in unverandertem Tone mit dem Rapport des gegen- 
wartigen Vorfalls an: »gegenwartiger Herr FloBinspektor Peu- 
schel«, begann Hoppedizel, »zeche gern, Wein namlich — es habe 
nichts verfangen, daB die Frau Inspektorin« (- denn schonende 
Diskretion war nie auf Hoppedizels Lippen -) »ihn habe um- 
bessern wollen durch einen lebendigen Frosch, den sie in seinem 
Weine krepieren lassen. Er selber habe daher heute Hand ange- 
legt, ihm das Nippen zu verleiden. Denn er habe zum Gliick einen 20 
Blasenstein - so dick wie eine Muskatellerbirn - aus einem Uni- 
versitatkadaver geschnitten; den nab* er zu einer Trinkurne aus- 
gebohret und Herr Peuscheln weisgemacht, aus Lava sei sie ; und 
heute habe er seinen vomierenden Freund echten ungarischen 
Ausbruch daraus saugen lassen; damit es ihn nun geekelt und zu 
einem andern Ausbruch genotigt hatte, hab' ers vor einem Paar 
Minuten dem Patienten klar dargetan, daB das vulkanische Spitz- 
glas wahrer Harn- oder Nierenstein gewesen. Und er hofFe, sein 
Freund schlage sich das urinose Steingut eine Zeitlang nicht aus 
dem Kopf.« Der Professor ging den Inspektor an, ihm den Ge- 30 
fallen zu tun und, sobald der Ekel nachlieBe, heute abends in der 
Gesellschaft des Herrn Rittmeisters zu einem Loffel voll Suppe 
dazubleiben. 

Man komme noch so oft in gewisse Hauser, so erblickt man 
alles revidiert und umgesetzt und umgestiirzt; aber im Hoppe- 
dizelschen am meisten; und des Rittmeisters Winterlager sah 



ZEHNTER SEKTOR 95 

immer aus wie ein Gartenhaus im Winter. Menschen von feinem 
Gefuhl bezaubern durch eine gewisse zartliche Aufmerksamkeit 
au£ kleine Bedurfnisse des andern, durch ein Erraten seiner leisesten 
Wiinsche, durch eine stete Aufopferung ihrer eignen, durch Ge- 
falligkeiten, deren seidenes Geflecht sich fester und sanfter um 
unser Herz herumlegt als das schneidende Liebeseil einer groflen 
Wohltat. - Hoppedizel bediente sich weder des Flechtens noch 
Seiles und fragte nach nichts. Es war nicht Abwesenheit des feinen 
Gefuhls, sondern Ungehorsam gegen dasselbe, dafi er - wenn der 

10 Rittmeister die erste Woche Quartier und Verleiher verfluchte - 
dazu lachte. 

Der zarte Amandus bewohnte den ganzen Abend das Siechbett, 
und Gustav kroch an seine Seite, um mit ihm zu spielen. Wie 
heitern uns im steinichten Arabien der hassenden Welt Kinder 
wieder auf, die einander lieben und deren gute kleine Augen und 
kleine Lippen und kleine Hande noch keine Masken sind ! 

Am andern Tage nahm beide Kinder ein Zufall wieder ausein- 
ander. Der Rittmeister fuhrte sie durch alle Gassen der Stadt wie 
durch eine Bildergalerie und hielt endlich mit den zwei Herzens- 

20 milchbrudern vor seines Freundes, des Doktor Fenks Hause still 
und sah sehnend das Gemalde desselben an - es bildete eine Dok- 
tors-Kutsche vor mit einem Arzt innen, mit dem Tode vorn, der 
in die Gabel eingespannt war, und mit dem Teufel oben, der auf 
dem Bock saB. - »Der gute Nam, dacht' er, »kdnnt* auch einmal 
aus seinem Italien abziehen und seinen Freunden eine Freude 
machen!« Denn er wuBte von seiner Ankunft nichts. »Mandus! 
Mandus! lauf rauf !« schrie plotzlich ein zappelndes Madchen oben 
und kam selber gesprungen und zerrte und guckte am Kleinen. 
Der gutmtitige Rittmeister wanderte gern aus dem groBen Par- 

30 terre den Kindern nach ins vertraute Haus, und seine Verwunde- 
rung uber alle Zeichen der Ruckkehr Fenks endigte nichts als der 
hereinbrechende Doktor selbst. Dieser prallte vom halben Wege 
zu seiner Umarmung auf den kleinen Blinden zuriick und riB 
unter Tranen und Kussen die Bandage auf - besah die Augen 
lange am Fenster - und sagte nach einem tiefen Atemzug: »Gott 
Lob und Dank ! er wird nicht blind !« Erst jetzt schlug der Doktor 



96 DIE UNSICHTBARE LOGE 

seine Arme mit doppelter Warme um den Freund: »Verzeihs, es 
1st mein Kind!« Gleichwohl nahm er Amandus wieder ans Licht 
und beschauete ihn noch langer und sagte mit hinaufgezogenen 
Augenbrauen: »BloB die Sclerotica scheint ladiert; die Okulistin 
zapfte die wasserige Feuchtigkeit heraus. In Pavia sah ichs alle 
Wochen an Hunden, denen die Zahnarzte (unsre medizinischen 
Lehnsvettern) die Augen aufschnitten und eine dumme Salbe da- 
raufstrichen. Wenn nachher die Feuchtigkeit und das Gesicht 
von selber wiederkamen: so hatt' es die Salbe getan.<( 

Ich iibergehe den Strom von gesprachiger und freudiger Er- 10 
gieBung beider Freunde, vor demsiekaummehrhortenundsahen, 
am wenigsten die Uhr - »Adh sie kommen!« sagte Fenk, namlich 
die Gaste. - Da meine Leser Verstand genug haben : so konnen 
sie mich, hoff ' ich, auserzahlen lassen, eh' sie ihre Zornrute gegen 
den bildlichen SteiB des Doktors hinter dem Spiegel vorholen. - 

Niemand als er hafite so brennend das Enge, das Unduldsame 
und Kleinstadtsche der Unterscheerauer, womit sie sich ein so 
kurzes Leben verkitrzten und ein so saueres versauerten. - »Mich 
ekelts, von ihnen gelobt zu werden«, sagt* er nicht bloB, sondern 
er erboste auch gern mit dem schlimmsten Anstrich seiner reinsten 20 
Sitten alles von einem Tore zum andern; indes vermocht' er aus 
Herzens-Weichheit mehr nicht zu argern als die ganze Stadt in 
grosso, einen allein nie. Deswegen grassierte er am zweiten Mor- 
gen seiner Ankunft wie eine Influenza von einem Hause zum andern 
und bat alle Muhmen, Basen, B\utfeinde y Leute, die ihn nichts an- 
gingen als die Hebe Christenheit, z. B. den FloBinspektor Peuschel, 
den Lottodirektor Eckert mit seinen vier Spatbirnen von Tochtern, 
und was nur unterscheerauschen Atem hatte, das bat er samtlich 
zusammen auf den Nachmittag, auf eine Reiseseltenheit ? namlich 
auf ein Herbarium vivum,das er zeigen werde: »es sei kein leben- 30 
diges Krauterbuch, sondern etwas ganz Besondres, und von den 
Gletschern ware das Beste her.« 

Diese kamen eben jetzo alle - nicht weil sie das geringste nach 
einem Krauterbuch fragten ? sondern weil sie es doch sehen wollten 
und die Haushaltung des unbeweibten Doktors nebenbei. Ich 
muB den europaischen Hofen so viel gestehen, daB sich die Lands- 



ZEHNTER SEKTOR 97 

mannschaft und Basenschaft mit Grazie hineinhustete, hineinfegte 
und -niusperte; und den vier Spatbirnen fehlt* es nicht an Welt, 
sondern sie machten statt der Verbeugung eine Vertiefung und 
bewegten sich sehr gut steilrecht. Der Hauswirt trug alsdann zwei 
lange Krauterfolianten herein und sagte freundlich, er wolle gern 
alles herweisen - nun ziindete er die Holle an, in die er die Gesell- 
schaft warf - er kroch mit RaupenfiiBen und Schneckenschleim 
von Blatt zu Blatt des Buches sowohl als des Krautes — er zeigte 
nichts oberflachlich - er ging die Pistillen, die Stigmen, die Anthe- 
io ren eines jeden Gewachses genau durch - er sagte, er wiirde sie 
ermuden, wenn er weitlauftiger ware, und beschrieb also Namen, 
Land, Naturgeschichte eines jeden Grases ganz kurz — alle Ge- 
sichter brannten, alle Riicken briihten sich, alle FuBzehen zuckten. 

- Vergeblich versuchte eine Base, dem blinden Amandus mit den 
Augen nachzulaufen, um nur etwas Animalisches zu ersehen; der 
Krauterkenner befestigte sie an einen neuen Staubbeutel, den er 
gerade anpries. Schon bis an die Pentandria hatte er seinen Klub 
geschleift, als er sagte: »Der heutige Abend soil uns nahe um die 
Dodecandria finden; aber SchweiB und FleiB kostets.« - Er wurde 

20 beim allgemeinen Jammer iiber einen solchen Fegfeuer-Nach- 
mittag, dergleichen noch kein Scheerauer erlebt hatte, immer ver- 
gniigter und sagte, ihre Aufmerksamkeit feuere am meisten ihn 
an. - Gleichwohl lieBen sich die botanischen Magistranden aus 
einem Blatte ins andere martern und wollten verbindlich bleiben: 

- bis der Rittmeister, ob er gleich den Scherz erriet, teufelstoll 
wurde und fort wollte. Der Doktor sagte: »den zweiten Folianten 
muBt' er ohnehin fur eine andre Stunde versparen; aber er wiin- 
schte, siekamen bald wieder, das soil' ihm erst einBeweissein,daB 
es ihnen heute gefallen.« Der blofie Gedanke an den zweiten Tor- 

30 turfolianten - wogegen der Theresianische Kodex mit seinen Fol- 
ter abrissen nur ein TaschenkalendermitMonatkupfernist-fuhrte 
etwas von einem Fieberschauer bei sich. So hatten sie also einen 
ganzen halben Tag schandlich ohne eine Verleumdung, ohne eine 
Erzahlung verloren, die hatte nach Haus konnen mitgebracht und 
von da weitergegeben werden. Die altern Damen besuchten Kon- 
zerte und Balle gewohnlich, aber gar nicht, um gesehen zu wer- 



9» DIE UNSICHTBARE LOGE 

den, sondern um zu sehen und darin physiognomische Fragmente 
zur Beforderung der Menschenkenntnis, obwohl nicht der Men- 
sckenliebe, auszuarbeiten ; - ja sie besuchten auch ihre erklarten 
Feindinnen gern, wenn iiber eine abwesende Feindin Ioszufallen 
war, wie Wolfe, die einander fliehen, sich doch verbiitlden zum 
Tode eines andern Wolfs. Ich habe immer mit Yergniigen bemerkt, 
wie ein Paar Scheerauerinnen sich einander so herzlich und mit 
reiner Freundschaft dann mitteilen, wenn sie gerade das geheimste 
Schlimme von einer dritten auszupacken haben. Nur, wenn zwei 
auf dem Kanapee nicht mehr nebeneinander sitzen, sondern sich 10 
die Gesichter statt der Hiiften zuwenden, so mag ich der nicht 
sein, den sie gerade handhaben. 



Extrazeilen uber die Besuchbraune, 

die alle Scheerauerinnen befallt bei dem Anblick 

einer fremden Dame 

Mannern schadet daselbst der Anblick einer fremden Dame wenig; 
bloB alle Friseure und Barbiere kommen spater als sonst; auf dem 
Billard zeichnen die Queues oder die Tabakpfeifen ihre Gestalt in 
die Luft, und die Lehrer des loblichen Gymnasiums horen gar 
nicht darauf- Hingegen die Weiber! - 20 

Auf der Insel St, Kilda geschieht, wenn ein Fremder da aus 
dem Scruff aussteigt, ein Ungliick, das noch kein Philosoph er- 
klaren konnte - das ganze Land hustet seinetwegen 1 . AlleDorfer, 
alle Korperschaften, alle Alter husten - kauft sich der Passagier 
etwas ein, so umhustet ihn der Nahrstand - unter dem Tor tuts 
der Wehrstand; und der Lehrstand hustet in seine Lehren hinein. 
Es hilft gar nichts, zum Arzt zu gehen — der bellt selber arger als 
seine Kunden und ist sein eigner Kunde.... 

In Unterscheerau istdasselbe Ungliick, aber groBer. Eine fremde 
Dame setze ihren netten FuB in das Posthaus, in den Konzert- 30 
oder Tanzsaal, in irgendein Visitenzimmer: sogleich sind alle 
Scheerauerinnen genotigt zu husten und - was allzeit von einem 

1 Sogar Kinder im Mutterleibe. S. Allgem. deutsche Bibl. Bd.67. S. 138. 



ZEHNTER SEKTOR 99 

schlimmen Hals herkommt - Wiser zu reden - alien fliegt die 
Braune an, d.h. die angina vera. An den armen Damen erscheinen 
alle Zeichen der giftigsten Halsentziindung, Hit\e (daher das 
Fachern), Kdhe, schweres Atemholen, Phantasien, aufgeblahte 
Nasenflugel, steigender Busen. Kilhlende Mittel, Wasser, Ent- 
ledigung der Luftrohren tun den Patientinnen noch die besten 
Dienste. 1st aber (welches der Himmel abkehre) die eintretende 
Fremde die schonste - die bescheidenste - die reichste - die ge- 
ehrteste - die am meisten gefeierte - die geschmackvolleste - so 

10 wird keine einzige Leidende im Krankensaale kuriert; ein solcher 
Engel wird ein wahrer Todesengel, und man sollte am Tor gar 
keine Fremde von Verdienst einpassieren lassen. - 

Die Besuchbraunegras-siertwiejedeandre am meisten imHerbste 
und Winter unter den Winterlustbarkeiten und Wintergasten. 
- Diese Braune schreibt Witz oder Verstand zwei Grunden zu : 
erstlich den aufiern oder Schalenverdiensten (innern nie); so 
glaubt auch l/n^er, dafi Schaltiere auf den Hals am meisten wirken, 
daher z.B. Austern schweres Schlucken, kalzinierte Krebse gegen 
Wasserscheu, Dunst von Krebsen Stummheit, Skorpionen Zun- 

20 genlahmung wirken. - Der zweite Grund ist, daB Damen in einer 
Stadt wie auf einem Isolatorium wohnen und daB, wenn eine 
Fremde, die mit ihnen sich nicht in Rapport gesetzt, die manipu- 
lierten Clairvoyanten beriihrt, oder auch nur in der Feme von 
ihnen steht, diese lauter haBliche Empfindungen in alien Gliedern 
spiiren. 

Ende der Extrazeilen 

Den weggehenden Scheerauerinnen gab Fenk nach dem bota- 
nischen Gottesdienste noch die Nachricht als einen Altarsegen 
mit nach Haus, bei welchem er das Kreuzmachen ihnen selber 
50 UberlieB : »daB die beiden Kinder, die man gesehen, den Kleinen 
und die Kleine, keine andere Wiege gehabt als den Reisewagen; 
daB aber er gegenwartig Pestilenziarius samt Medizinalrat ge- 
worden; jedoch nur Frauen kurieren wolle und mit der Zeit eine 
ehelichen, und er bitte instandig.« — 

Wenn die Unterscheerauer etwas, das suB, sauer und toll zu- 



IOO DIE UNSICHTBARE LOGE 

gleich scheint, vorbekommen : so horchen sie erstlich auf- dann 
lacheln sie an - dann sinnen sie nach - dann sehen sie es nicht ein 
- dann mutmaBen sie drei Tage darnach nichts Gutes - und end- 
lich werden sie dariiber recht aufgebracht. Fenk fragte nichts dar- 
nach und sagte von Zeit zu Zeit etwas, was sie nicht verstanden 
oder er selber nicht. 

Er erklarte alsdann dem Rittmeister, und ich dem Leser, alles. 
Die aufgeklebten Krauter, sagt' er, hielten von nun an alle Basen 
und Tropfe und Visitenameisen von seiner Stube ab, wie um- 
zaunenderHanf die RaupenvomKrautfeld.- Seine Reisegeschichte 10 
und ein paar Ratsel daraus zeig* er nur halb, weil man sich fur die 
Menschen am meisten interessiere, an denen man noch etwas zu 
erraten suche, und die neugierigen Patientinnen wurden die sei- 
nigen sein. - Ob er verheiratet sei, wiss' er selber nicht; und andere 
solltens auch nicht wissen, weil man ihn in alle Hauser, wo ein 
Warenlager von Tochtern steht, als Arzt hineinrufen werde, damit 
er als Brautigam wieder herausgehe. — Endlich nehm' er deshalb 
nur weibliche Kranke an, weil diese die haufigsten waren; weil 
man zu ihm fiir diese ausschlieBende Praxis ein besonderes Zu- 
trauen fassen wiirde; weil dieses Zutrauen das ganze Dispensa- 20 
torium eines Weiberdoktors sei; weil die meisten Krankheiten der 
Weiber bloB in schwachen Nerven und deren ganze Kur in Ent- 
haltung von — Arzeneien bestande; weil Apotheken nur fiir Man- 
ner, nicht fiir Weiber waren und weil er sie ebensogern anbetete 
als kurierte. 

Ein anderer Punkt war der, wienach er so geschwind nach 
Scheerau und so geschwind zum Medizinalrat gekommen. Es ist 
so : der Erbprinz, der jetzt auf dem hohen Thronkutschersitz mit 
dem Staatwagen zumTeufel fahren wird,liebtniemand; auf seiner 
Reise spottete er iiber seine Matressen; seine Freundschaft ist nur 30 
ein geringerer Grad von HaB, seine Gleichgiiltigkeit ist ein groBe- 
rer; den groBten aber, der ihn wie Sodbrennen beiflet, hegt er 
gegen seinen unehelichen Bruder, den Kapitan von Ottomar, 
Fenks Freund, der zu Rom in der schonsten natiir lichen Natur 
sowohl als artistischen geblieben war, um im Genufi und Nach- 
ahmen der romischen Gegenden und Antiken zu schwelgen. Otto- 



ZEHNTER SEKTOR 10 1 

mar schien ein Genie im guten Sinne und im bosen auch. Er und 
der Erbprinz ertrugen einander kaum in Vorzimmern und waren 
dem Duelle oft nahe. Nun hasset der scheerauische GroBfurst 
auch den armen Fenk, erstlich weil dieser ein Freund seines Fein- 
des isr, zweitens weil er dem dritten Bruder des Erbregenten einmal 
das Leben und mithin die Apanagengelder wiedergab, drittens 
weil der Fiirst weit weniger (oder gar keine) Grunde brauchte, 
um jemand zu hassen, als um zu lieben. - 

Nun ware der Doktor schon unter der vorigen Regierung, 

10 deren Magen uns entgegenfuhr, gern Medizinalrat geworden; 
unter der kiinftigen Regierung, deren Magen sich noch in Italien 
fiillte, war wenig zu machen. Der Doktor suchte also sein Gluck 
noch ein paar Wochen vor der neuen Kronung festzupflanzen. Er 
fand den alten Minister noch, der sein Conner war und dessen 
Gonner der Erbprinz aus dem Grunde wenig war, aus welchem 
Erbprinzen gewohnlich glauben, daB sie die Kreaturen des ver- 
storbenen Vaters ebensowohl, nur delikater und langsamer unter 
die Erde bringen mussen als wilde Volker, die auf den Scheiter- 
haufen des Konigs auch seine Lieblinge und Diener legen. Als 

20 Fenk kam, machte ihn der verstorbene Regent zu allem, was er 
werden wollte; denn es war so: 

Da der selige Landesvater ein Landeskind im physiologischen 
Sinne geworden war, d.h. wieder so alt, als er gewesen, da man 
ihm das erste Ordenband statt eines Laufbandes umflochten, nam- 
lich 6 l / 8 Jahr: so wurde dem Fiirsten das ewige Unterschreiben 
seiner Kabinettdekrete viel zu sauer und zuletzt unmoglich. - Da 
er indessen doch noch regieren muBte, als er nicht mehr schreiben 
konnte : so stach der Hofpetschierstecher seinen dekretierenden 
Namen so gut in Stein aus, daB er den Stempel bloB einzutunken 

jo und naB unters Edikt zu stofien brauchte: so hatt' er sein Edikt 
vor sich. Auf diese Weise regierte er um 1 5 Prozent leichter; -der 
Minister aber um 100 Prozent, welcher zuletzt aus Dankbarkeit, 
um dem geschwachten Fiirsten sogar das schwere Handhaben des 
Stempels abzunehmen, das schone Petschaft (er zog es Michel- 
Angelos seinem vor) selber in sein eignes DintenfaB eintunkte; so 
daB der alte Herr ein paar Tage nach seinem eignen Tode ver- 



DIE UNSICHTBARE LOGE 



schiedene Vokationen und Reskripte unterschrieben hatte - aber 
dieser Poussiergriffel und Pragstock der Menschen wurde der 
Legestachel und Vater der besten Regierbeamten und laichte zu- 
letzt den Pestilenziarius. 



Extragedanken liber Regentendaumen 

Nicht die Krone, sondern das DintenfaB druckt Fursten, GroB- 
meister und Kommenturen; nicht den Zepter, sondern die Feder 
fuhren sie mit so vieler Beschwerde, weil sie mit jenem bloB be- 
fehlen, aber mit dieser das Befohlne unterschreiben miissen. Ein 
Kabinettrat Viirde sich nicht wundern, wenn ein gequalter 10 
gekronter Skribent sich, wie romische Rekruten, den Daumen 
amputierte, um nur vom ewigen Namen-Malen, wie diese vom 
Kriege, loszukommen. Aber die regierenden und schreibenden 
Haupter behalten den Daumen ; sie sehen ein, daB das Landeswohl 
ihr Eintunken begehrt, - das wenige Unleserliche aus Kabinettbe- 
fehlen, was man ihren Namen nermt, macht wie eine Zauber- 
formel Geldkasten, Herzen, Tore, Kauf laden, Hafen auf und zu; 
der schwarze Tropfe ihrer Feder dunget und treibet oder zerbeizet 
ganze Fluren. Der Professor Hoppedizel hatte, da er erster Lehrer 
der Moral beim scheerauischen Infanten war, einen guten Ge- 20 
danken, wiewohl erst im letzten Monat: konnte der Oberhof- 
meister nicht dem Unterhofmeister befehlen, daB er den Kron- 
Abcschutzen, der doch einmal schreiben lernen muBte, statt 
unniitzer Lehnbriefe lieber mitten auf jedem leeren Bogen seinen 
Namen schmieren lieBe? - Das Kind schriebe ohne Ekel seine 
Unterschrift auf so viele Bogen, als es in seiner ganzen Regierung 
nur bedurfe - die Bogen legte man bis zur Kronung des Kindes 
zuriick - und dann, fuhr er fort, wenn es genau iiberschlagen 
ware, wie oft ein Kollegium seinen Namenzug jahrlich haben 
muBte, wenn folglich am Neujahrtage die notige Zahl signierter 30 
Ries Papier zum Gebrauche aufs ganze Jahr den Kollegien zu- 
geteilt wiirde : was hatte nachher das Kind unter seiner Regierung 
fur Not? 

Ende der Extragedanken 



EILFTER SEKTOR IO3 

Noch ein Wort: nach neun Wochen tat dem Doktor die Rache 
mit dem Krauterbuche, wie jedem guten Menschen die kleinste, 
wieder wehe. »Das Herbarium«, sagte er, »argert mich, sooft ich 
hineinklebe; aber es ist gewiB wahr, ein Mann sei immerhin durch 
alle Residenzstadte bescheiden passiert: unter dem Tor seiner 
Vaterstadt fahrt der Hochmutteufel in ihn und macht mit ihm 
die ersten Besuche - seine guten Landsleute, will er haben, sollen 
wahrend seiner Reise vernunftig geworden sein.« 



ElLFTER SEKTOR 
10 Am and us* Augen - das Blindekuh spiel 

Die Sympathie, welche Erwachsene in der ersten Viertelstunde 
ahlaktkrt) fugt auch oft Kinder aneinander. Unser Paar lief ein- 
ander taglich iiber vierzigmal in die Arme und herzte sich. Ihr 
guten Kinder ! seid froh, daB ihr eure Liebe noch starker ausdriicken 
durfet als durch Briefe. Denn die Kultur schneidet dem Ausdruck 
der Liebe das Gebet des Korpers immer kleiner vor - diese hagere 
Gouvernante nahm tins erstlich den ganzen Korper dessen weg, 
den wir lieben - dann die Hand, die wir nicht mehr drucken dur- 
fen - dann die Knopfe und die Achseln, die wir nicht mehr be- 

20 riihren durfen - und von etner ganzen Frau gab sie uns nichts zum 
Kiissen zuriick als (wie ein Gewolle) den Handschuh : - wir rriani- 
pulieren einander jetzt alle von feme. - Amandus hing mit seinem 
mehr weiblichen Herzen an Gustavs mehr mannlichem mit aller 
der Liebe, die der Schwachere dem Starkern reichlicher gibt, als 
er sie ihm abgewinnt. Daher liebt die Frau den Mann reiner; sie 
Hebt in ihm den gegenwartigen Gegenstand ihres Herzens, er in 
ihr ofter das Gebilde seiner Phantasie ; daher sein Wanken kommt. 
Dieses Vorredchen soil nur eine Anfurt zueinerkleinen Schlagerei 
zwischen unserem kleinen Kastor und Pollux sein. 

30 Sie waren namlich ungern so lange auseinander, als die Augen 
auf- und zugebunden wurden. Sooft der Verband wegkam,stellte 
sich Gustav vor ihn und verlangte durchaus, er sollte ihn sehen, 



104 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und tat seinen Finger sich an die Nase und sagte: »Wo tipp' ich 
jetzt hin?« Aber er examinierte den Blinden nicht sehend. Nach 
einer wochentlichen Abwesenheit fuhr Amandus auf ihn zu: 
»Schieb mein Band auf,« sagte er, »ich kann dich gewiB auch sehen 
wie meinen Katzenheinz !« Da Gustav es aufgeluftet hatte und da 
er wirklich in das Auge des operierten Freundes einging, ganz wie 
er war, mit allem, mit Rock, Schuhen und Striimpfen; so war er 
froher als ein Patriot, dessen Fiirst die Augen oder den Verband 
aufmacht und ihn sieht. Er inventierte sein ganzes Bilderkabinett 
vor seinen Augen mit einem ewigen »Guck!« bei jedem Stuck. 10 
Aber weiter! Die Welt wird wenig davon wissen - die kleinen 
Partikelchen derselben ausgenommen, die Kinder, von denen eben 
ich reden will -, daB diese bei Hoppedizel Blindekuh gespielet. 
Ein fatales Spiel! wenn Madchen dabei sind, wie hier war, zumal 
so schlimme wie des Professors seine! Amandus lieB sich in das 
Spiel ein und rannte hinter seinem Schnupftuch, das weibliche 
Pnffigkeit iiber seine Augen gefaltet hatte, im Zimmer umher, 
nichts fangend als entkorperte Kleider. Zum Ungluck stieBen 
die Madchen unter dem Ofen, worunter sie gegen alle gute Spiel- 
ordnung geschlichen waren, auf die voile Milchschussel des Spitz- 20 
hundes. Da sie nun damals zu wenige Moralphilosophen gelesen, 
obgleich deren genug gesehen hatten: so schoben sie, aus Mangel 
an reiner praktischer Vernunft, die Schussel so weit leise vor, daB 
der greifende Hascher ohne Miihe hineintrampelte und driiber- 
schlug. Gustav muBte als Kind ein wenig lachen. Auf ihn schoben 
es die Siinderinnen und riefen: »0 du! wenn nun Amandus ein 
Ungluck genommen hatte !« Er riB sich von den nassen Scherben 
auf und pufFte dem Gustav, der ihn trostend bei denHanden faBte, 
ein wenig hinten ans Schulterblatt, da, wo nach den Kompendien 
der Milchsaft mit dem Blut zusammenrinnt. »Ich hab's doch nicht 30 
hingestellw, sagt' er. - »Ja, ja! und hast mir nichts gesagt«, ver- 
setzte der Blinde und stieB ihn wieder, aber hef tiger und doch 
weniger zornig. - »Schlag immerl ich nab* dir nichts getan«, und 
die Stimme brach meinem guten Helden - jener schlug wieder 
nach und sagte: »Ich bin dir auch gar nimmer gut«, aber so, als 
wurd* er sogleich zu weinen anfangen. - »Ach du hast dir gewiB 



ZWOLFTER SEKTOR IO5 

einen Splitter eingestochen?« fragte Gustav mit der mitleidigsten 
Stimme — mitten im Versuch zu einem neuen StoBe glitt die dunne 
Eisrinde vom erwarmten Herzen Amandus' herunter, er umfaBte 
den Unschuldigen und sagte unter hellen Zahren : »Du hasts ja 
nicht getan, und ich geb* dir all meine Spielware: schlag mich 
doch rechtl« und schlug sich selber. — BloB die Empfindung der 
Liebe kampft mit solchen bittersiiBen Sonderbarkeiten. Amandus 
gestand oft, noch immer wandle ihn, wenn er jemand unrecht 
getan, mitten in seiner Krankung daruber die Neigung an, fort- 
10 zubeleidigen, um sich selber so weit fortzukranken, daB er end- 
lich vor Schmerz sich mit der heiBesten Liebe ans versehrte fremde 
Herz werfen miiBte. Aber, o lieber Amandus! wenn gerade ein 
Padagog in Gestalt einer Moral die Tiir aufgemacht hatte ! - 

Man muB niemals glauben, als wollt' ich hier personlichen Groll 
an samtlichen Hofmeistern auslassen : denn erstlich hatt' ich gar 
niemals einen Hofmeister, zweitens war ich selber einer und ein 
rechter. 

ZWOLFTER SEKTOR 

Konzert - der Held bekommt einen Hofmeister von Ton 

20 Ich habe mich in einen neuen Ausschnittbegeben,weiiichdarin 
dem Leser eine neue Person zu prasentieren habe - den Hofmeister 
meines Helden. 

Ich brauche keinen Menschen daran zu erinnern, daB der Ritt- 
meister ein so narrisches, bald zu gefiigiges, bald zu sprodes, mo- 
ralisierendes, mutloses Ding, als ein Informator ist, in Scheerau 
suchte, damit sein Kind zu gleicher Zeit mit dem Lande einen 
Regenten bekame. Nun hatt' er eine Pate da, welche advozierte, 
musizierte, badinierte, lorgnierte und Welt hatte; aber er hatte 
nicht den Mut, ihr in einem Padagogium, dessen Schuljugend auf 

5° einen Mann belief, die Lehrstelle anzutragen. Ich will es nur her- 
aussagen, daB ich selber diese Pate und diese neue Person bin; 
aber es wird meiner Bescheidenheit mehr zustatten kommen, wenn 
ich mich in einem Sektor, wo ich so viel zu meinem Lobe vor- 



106 DIE UNSICHTBARE LOGE 

bringen muB, aus der ersten Person in die dritte umsetze und blofi 
sage Pate, nicht ich. 

Diese Pate blies im Unterscheerauer Konzert, um mit der Flote 
in die Spharenstimme eines sehr jungen Frauleins von Roper zu 
spielen, dessen Kehle sich oft kaum von der Flote scheiden lieB. 
Die ganze Seek dieses Madchens ist ein Nachtigallton unter 
Bluteniiberhang; der Leib desselben ist eine fallende himmelreine 
Schneeflocke, die nur im Ather dauert und auf dem Kot des Bo- 
dens zerlauft. Dem Flotenisten fiel wahrend den Pausen ein 
schones, in phantasierende Aufmerksamkeit verlornes Kind in die 10 
Augen und auf das Herz : Gustav wars. Der erste Blick nach der 
Begleitung war auf die Nachbarschaft des Kindes, um den Eigner 
desselben zu finden - der erste Schritt, den die Pate tat, war zur 
andern Pate, zum Rittmeister, dessen Freundschaft mit mir be- 
kannt genug ist. Das mannliche Geschlecht ist gliicklicher und 
neidloser als das weibliche, weil jenes imstande ist, zweierlei 
Schonheiten mit ganzer Seele zu fassen, mannliche und weibliche; 
hingegen die Weiber lieben meistens nur die eines fremden Ge- 
schlechts. Ich hab' aber vielleicht zu viel Enthusiasmus fur die er- 
habne mannliche Schonheit, so wie fur poetische Schwarmerei, 20 
ungeachtet ich wenigstens letzte selber nicht habe. Aus Gustav 
wirkte die doppelte Zauberei auf mich, ich vergaB alle Zauberin- 
nen des Konzerts uber den Zauberer; aber ich ward am Ende 
traurig, daB ich dem Schonen mehr Blicke als Worte abzuschmei- 
cheln vermochte. Auf das Konzert gab ich, gleich andern Zu- 
horern, ohnehin nur so lange acht, als ich selber ein Mitarbeiter 
war oder als eine meiner Schulerinnen spielte; denn die Scheerauer 
Konzerte sind bloB in Musik gesetzte Stadtgesprache und prosai- 
sche Melodramen, worin die Sesselreden der Zuhorer wie ge- 
druckter Text unter der Komposition hinspringen. Obrigens 30 
unterzeichnen wir auf unsere Konzerte mehr unserer Kinder als 
unserer selber wegen; die musikalische Schuljugend bekommt 
darin einen Tanz- Und Tummelplatz ihrer Finger, und von meinen 
artistischen Katechumenen kantschuet wochentlich wenigstens 
einer den Flugel. Ich frische die Eltern dazu an und sage, in einem 
solchen Konzertsaal lernen die Kleinen Takt, weil da nicht nur 



ZWOLFTER SEKTOR IO7 

genug, sondern auch iiberflussig Takt ist, indem jeder dasige 
Musikoffiziant seinen eignen originellen pfeift, hackt, streicht, 
stampft, den erstlich kein anderer neben ihm pfeift, hackt, streicht, 
stampft und den er zweitens selber von Minute zu Minute um- 
bessert. »Und wenn aucn das nicht ware, « sag* ich, »so ist doch 
wahrer musikalischer Ausdruck im OberfluB da; jeder driickt 
darin seine Empfindungen, die der Verlegenheit, des Erstarrens, 
auf seinem Instrumente aus; und Backs Regel, Dissonanzen stark 
und Konsonanzen schwach vorzutragen, weiB in einem Saale 

10 jeder, wo die Konsonanzen so sanft eingeschmolzen werden, da 6 
man fast keine hort und nur die Dissonanzen zu vernehmen 
meint.« 

Am andern Morgen flog ich unfrisiert zum Rittmeister und - 
daichden gutenKleinenumkeinenniedern Preis erhaltenkonnte- 
brachte ihn ganz ans erste Ziel seiner Reise hinan, namlich das, 
einen Hofmeister mitzubekommen. Man muB nicht denken, daB 
ich Informator geworden, um Lebensbeschreiber zu werden, 
d.h. urn pfiffigerweise in meinen Gustav alles hineinzuerziehen, 
was ich aus ihm wieder ins Buch herauszuschreiben trachtete; 

20 denn ich brauchte es erstlich ja nur wie ein Romanen-Manu- 
fakturist mir bloB zu ersinnen und andern vorzuliigen; aber 
zweitens damals wurde an eine Lebensbeschreibung gar nicht 
gedacht. 

Mir ist weit weniger daran gelegen, meine scheerauischen Ver- 
haltnisse bekannt zu sehen, als der Welt; denn ich kenne sie schon. 
Aber die Welt nicht. Ich formierte eine Dreieinigkeit von Per- 
sonen da: ich war Klaviermeister, Rechtskonsulent und Welt- 
mann. Drei narrische Rollen! - Ich studierte in der Stadt, die 
sonst die groBten Juristen und jetzo die kleinsten Hunde liefert, 

30 in Bologna, zwei ganz entgegengesetzte Lieferungen, wie Paris 
sonst die Universitat aller europaischen Theologen war, jetzo der 
Philosopher In Paris war ich auch, hatte auch da ein geschxckter 
Parlamentsadvokat werden konnen; ich wollt* aber nicht und nahm 
nichts daraus mit (so wie aus Bologna und aus einigen deutschen 
Reichsstadten) als die schwarze juristische Kleidung, die ihren 
Grund hat; denn da unsere Klienten uns ernahren und bezahlen 



I08 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und mehr Recht und Not als Geld behalten: so trauern wir Pa- 
tronen um sie schwarz; hingegen bei den Romern legten die 
KHenten, die mehr bekamen als gaben, fiir den Patronus, wenn es 
ihm schlimm erging, Trauerkleider an. 

Zweitens war ich Klaviermeister, aber vielleicht kein gesetzter; 
denn ich verliebte mich im ersten Quartal in alle meine Schiile- 
rinnen (fiir Schiiler dankte ich) und richtete mich nach meinen 
Stunden mit meinen Empfindungen. Ich hegte wahre Zartlkhkeit, 
erstlich gegen eine Dame von Rang, die ich nie kompromittieren 
werde - zweitens gegen ihre Schwester, eine Abtissin, weil sie 10 
GeneralbaB bei mir lernte - drittens gegen *** - viertens gegen 
die Hofkaplanin, die zwar hektisch, aber geschmackvoll ist und 
die eher zu viel als zu wenig Zieraten an (nicht auf) dem Klaviere 
liebte und es auf das schonste wichste, iiberzog und aufstellte — 
fiinftens in die Residentin von Bouse, die gar nicht einrrial die 
Sache weiB und an deren Hiiften und Reizen ich ordentlich vor 
Bewunderung dumm wurde, bis ich zum Gluck ihre allgemeine 
Koketterie und ihre Untreue gegen ihren Inkognito-Liebhaber 
verspiirte - sechstens in den ganzen Scheerauer Hof, wo ich nach 
dem Recht der toten Hand den Empfang einer lebendigen Hand, 20 
die eine Schiilerin der meinigen werden wollte, fiir eine Investitur 
zum ganzen Herzen und Vermogen ansah - siebentens sogar in 
ein wahres Kind, in Beata (die obgedachte Tochter von Roper), 
fiir welche ich alle Wochen einmal bei schlechtem Wetter und 
ebenso schlechtem Honorar aufs Land lief und bei der an gar 
nichts anders zu denken war als an Liebe- kurz in alles, in Laub- 
knospen, Bliitknospen, Bliiten und Friichte verschieBet sich ein 
Mensch, der ein Klaviermeister ist. 

Nun kommt der Weltmann. Ich kann mich zwar meinen Lesern 
(wovon ich mir die Volkmenge und richtigere Tabellen wiinschte) 30 
nicht personlich zeigen; aber die Scheerauer, denen dieses Blatt 
vorkommt, werden hier aufgefordert, ihre Gedanken zu sagen und 
abzuurteln, ob ein Mann, der der groBen Welt taglich drei Kla- 
vierstunden gibt, mehr ihr Lehrer als ihr Schiiler ist. Anstand, 
Gang, geschmackvoller Anzug, Attitiiden, steilrechte,waagrechte 
und quere, sind zwar nicht die geforderten Vorziige des Autors, 



DREIZEHNTER SEKTOR IO9 

obwohl cles feinen Gesellschafters, unci konnen nicht gedruckt 
werden; aber ich verfechte nur so viel: bloB an einem Hofe lernt 
mans, zumal bei einigem EinfluB, und wenn man mitspielt, es sei 
am L'hombretisch oder am Klaviertisch 1 , der, wie manche Brust 
am Hofe, unter der stummen Holzplatte ein holdes Saitenspiel 
verbirgt. Wenn man freilich wieder in seinem Museum auf- und 
abgeht, unter groBen Biichern und groBen Mannern, begleitet 
von der ganzen republikanischen Vergangenheit, emporgerichtet 
zur tiefen Perspektive der unendlkhen Welt hinter dem Grabe : 
10 so verachtet selber der Inhaber seine Konchylien-Vorziige; er 
fragt sich: gibt es nichts Bessers als iiber seinen Korper (anstatt 
iiber Leidenschaften) Herr zu sein und ihn so leicht zu tragen wie 
nach den drei ersten Glasern Champagner - seinen Ton in den all- 
gemeinen Ton hineinzustimmen, weil an Hofen und Klavieren 
keine Taste iiber die andre hinausklingen darf- auf dem diinnen 
schaukelnden Brette der weiblichen Launen so fliegend wegzu- 
eilen, daB unsere Tritte die Schwankungen bloB begleiten — schon 
zu tanzen und zu gehen, soweit es mit einem langen Bein tunlich 
ist (denn freilich wenn ein Klaviermeister mit einem Kurzbein zu 
20 kampfen hat: so mag der Henker auf beiden so zierlich aufstehen 
wie der Prinz von Artois) - kurz alien Verstand zu Narrheit zu 
sublimieren, alle Wahrheiten zu Einfallen, alle Kraftgefiihle zu 

pantomimischen Nachaffungen? Nichts Bessers, fragt der 

Laufer im Museum, gibt es? - 

- Etwas viel Bessers gibts: ein Informator zu werden in Auen- 
thal bei so einem Himmel-Kinde, wie Gustav ist, und den ganzen 
Spuk drucken zu lassen. - 



Dreizehnter Sektor 
Landestrauer der Spitzbuben - Scheerauer Fiirst - furstliche Schuld 

50 Der Kronprinz, auf dessen Zahlen der Rittmeister wartete, war 
noch auf der auslandischen KunststraBe, von der er auf den Thron 

1 Ich meine ein in die Gestalt eines Tisches verstecktes Klavier. 



DIE UNSICHTBARE LOGE 



wie auf cinen Turm hinauffuhr. Drei arme Spitzbuben hielten 
ihren Einzug noch fruher als er. Es kann erzahlet werden : Sekdem 
Tode des Hochstseligen — der Papst ist der Allerseligste - wurde 
eine Kirche um die andre im Scheerauischen nicht ausgestohlen, 
sondern ausgekleidet; die Kirchendiebe schalten bloB das Land- 
trauertuch, das unsere Kanzeln und Altare anhatten, wieder ab. 
Die Kirchner und Kantores fanden alle Morgen skalpierte heilige 
Statten, und die Pfarrer muBten darin stehen in dem Friihgottes- 
dienst. Nun hatte neulich der Geldgreifgeier, Kommerzien-Agent 
Roper, in der MauBenbacher Kirche Altar und Kanzel am BuB- 10 
tage mit einem Frack von schwarzem Tuch — buntes war ihm 
nicht heilig und wohlfeil genug - iibersohlen lassen. Diese 
schwarze Emballage blieb daran als Landtrauer. Der alte Roper 
hatte mithin wenig Schlaf mehr, weil er besorgte, die Kirchen- 
Greifgeier zogen dem MauBenbacher Altar das Ehrenkleid aus 
und nahmen den mit silbernen und seidnen Lettern aufs Tuch 
genahten Schuldschein mit, welcher besagte, wer alles herge- 
schenkt.SeinGerichthalteriTo/^demeinDiebfang Zobelfangund 
Perlenfischerei ist, umgab daher die Kirche mit allerlei Falken- 
augen; es ware auch nichts gewesen, wenn nicht der Falkenber- 20 
gische Bediente Robisch am Sonntage abends, sobald die Kirche 
zugeschlossen war, zum. Schulmeister gesagt hatte : »er solle sie 
zulassen, er habe die Kirchleute gezahlet, und drei waren nicht mit 
herausgegangen.« Kurz man blockierte den Tempel bis nachts 
und - zog gliicklicherweise drei versteckte Tuchkorsaren aus dem 
Andachtorte heraus. Am Morgen erstaunt alles, die drei Kirch- 
ganger fahren auf einem Leiterwagen zum Scheerauer Tor hinein 
und haben samtlich schwarie Rocke und Unterkleider an - abends 
sind sie verschwunden. Fur den Hof (wenn er nicht noch ge- 
schlafen hatte) wars ein haBHcher Prospekt,dafi eine Rauberbande 30 
so gut wie er Hoftrauer angelegt und sich deswegen die Trauer- 
garderobe aus Kirchen gestohlen hatte. 

»Henken sollte man dich,« sagte derRittmeister zu seinem Kerl - 
»arme Diebe ins Ungliick zu bringen, die keinem Menschen etwas 
nehmen, sondern nur Kirchen.<< - »Aber fiir solche Schufte« (sagt' 
ich) »gehort doch auch keine Hoftrauer, schon des Aufwands we- 



DREIZEHNTEU SEKTOR 1 1 1 

gen. Warum darf man iiberhaupt nicht seinen leiblichen Vater 1 , 
aber wohl den Landesvater betrauern? - Oder warum verstattet 
die Kammer den Landeskindern noch das Weinen, da doch das 
die Tranendriisen des Staats erschopft und da die Tranen noch 
steuerfrei sind?« - 

»Sie greifen zu weit,« sagte der Rittmeister;»gerade so wiebis- 
her muB die zeitige Regierung bleiben, wenn sie sich von alien 
vorigen durch die Sorgfalt auszeichnen soil, womit sie iiber unsern 
Flor, iiber alle unsere Pfennige und Pulsschlage wacht.« 

io »Die Negermarketender« (sagte der Doktor, aber unpassend 
genug) »wachen noch mehr; denn einen Sklavenhandelsmann 
kiimmert die UnpaBlichkeit eines solchen Stuck-Menschen oder 
Sklaven mehr als seiner Frau ihre. Sogar Bewegung und Tanz 
soil sein menschlicher Viehstand haben, und er priigelt ihn dazu.« 
»Ackerbau,« (fuhr er fort) » Handel, Fabriken, Volksreichtum 
und Volkswohlleben sogar, kurz die Korper der Untertanen kann 
der schlimmste Despot erheben und nahren - aber fur ihre See/en 
kann er nichts tun, ohne alles wider seine zu tun.« ' 

Ich bin oft auf den Gedanken gefallen, ob nicht die Trauer- 

20 ordnungen oder -abordnungen haben wollen, daB der pfifflge und 
traurige Staatsburger die Erlaubnis der Landtrauer beniitze und 
seine Haustrauer mit ihr zusammenwerfe. Konnt' er nicht seinen 
Einzelkummer iiber die Sterblichkeit seiner Tanten, seiner Vettern 
auf heben, bis ein allgemeiner einfiele, und so, wenn das Land den 
Kondolenzflor um Arm und Degen gewickelt hatte, alles in Pausch 
und Bogen wegtrauern und sich hinter dem namlichen Flor iiber 
eine Landsmutter und eine Stiefmutter betriiben? Hofen war's 
leicht. Ja konnten diese nicht in der Landestrauerihre Sippschaft 
gar voraus betrauern? Konnte man iiberhaupt nicht die ganze 

30 Narrheit bleiben lassen? - 

Mein neuer Landesherr stieg endlich aus dem Reisewagen auf 
den Thron und verwechselte den Kutschenhimmelmit dem Thron- 
himmel. Der Rittmeister hielt vor der Kronung eine Bittschrift 
bereit, worin er so trotzig wie ein Sattler sein Geld verlangte; 

1 Im Scheerauischen war clamals, wie in noch einigen Staaten, den Unter- 
tanen alle Trauer verboten. 



DIE UNSICHTBARE LOGE 



nach der Kronung hatte der Fiirst wie ein Demant so viel Feuer- 
glanz aus seiner Krone und seinem Zepter eingeschluckt, daB sein 
Glaubiger vom Gerichthalter ein neues Memoriale machen lieB 
und bloB urn die Zinsen anhielt. Da er nichts bekam, nicht einmal 
eine Resolution: so wollt* er mehr fordern. Denn er bedachte 
nicht, daB unsere regierende Brotherrn in Scheerau selten Geld 
haben. Wenn wir auBerordentliche Gesandtschaften bekommen 
oder senden, wenn wir taufen oder begraben lassen, der Kriege 
gar nicht zu erwahnen : so haben wir wenig oder nichts als - Ex- 
trasteuern, diese metallischen Stiitzen und Klammern des miirben 10 
Thrones. In dem Kammerbeutel deuten wir, wie in der Heraldik, 
das Silber durch leeren Raum an. 

Aber dem Schuldner und Glaubiger war bald geholfen. Letzter, 
der Rittmeister, marschierte als Cicerone mit seinem Gustav durch 
das Kadettenhaus und zeigte ihm alles, um ihm alles zu loben, weil 
er mit seinem Kopf einmal in einen Ringkragen hinein sollte - 
als der junge Fiirst auch ankam und auch alle Gemacher besah, 
nicht um alles wieder auf dem nachsten Sattel zu vergessen, son- 
dern um gar nichts zu bemerken. Es tat mir leid - denn ich war 
auch mitgekommen -, daB jeder Professor sich darauf verlieB, 20 
der Regent zahle, wenn nicht jedes Haar auf seinem Haupte, doch 
jede Locke an seiner Periicke; denn er wurde nicht einmal meiner 
und meines Anstandes ansichtig; aber ganz naturlich, da ihm ein 
solcher Anstand in den feinsten Salen aller Lander schon etwas 
Altes geworden war. Er trug - denn wie lang* war er vom Reisen 
heim? - den Fiirstenhut mit der Ungezwungenheit eines Damen- 
hutes; keine lange Regierung hatte noch die Krone finster herein- 
gedriickt, und die geracten Menschen brachen sich in den Medien, 
Feuchtigkeiten und Hauten seines Auges noch nicht zu krummen 
Baugefangnen. Seine Worte bot ef mit der Freigebigkeit eines 30 
Weltmanns noch wie Schnupftabak herum. Endlich erhielt auch 
Falkenberg eine Prise. Ich sehe meine beiden Prinzipale noch 
gegeneinarider stehen - meinen adeligen und verborgenden Prin- 
zipal mit dem festen, aber gehorchenden Anstande eines Soldaten, 
in Embonpoint und aufquellende Muskeln gedriickt, und mit dem 
leichtglaubigen Wohlwollen, das gutmiitige Menschen fur jeden 



DREIZEHNTER SEKTOR 1 1 3 

hegen, der gerade mit ihnen spricht - den gekronten und insol- 
venten Prinzipal aber mit dem malerischen Anstand, worin jedes 
Glied sich in den andern hinein verbeugt und worin selbst die 
Stellung eine fortdauernde Schmeichelei ist, mit einem vielblatte- 
rigen Faltenwurf im lahmgespannten Gesicht, mit einer Gefallig- 
keit, die weder verweigert noch halt. Meine Pate sah die allge- 
meine Gefalligkeit des Krontragers fur eine ausschlieBende gegen 
sich an ; sie dachte, er tue seine Fragen, um eineAntwort zu haben; 
und als vollends mein gnadigster Fiirst und Landesherr geauBert 

10 hatten: »der kleine Gustav sei kier an seiner Stelle, er interessiere 
durch sein air de reveur starker, als man sich selber die Rechen- 
schaft zu geben wisse, und man wiirde ihn, sobald er fiir diese 
ZimmergroB genug ware, dem Vater mit 13000 Rtlr. Handgeldab- 
kaufen«: so war der Rittmeister auBer sich, oder vielmehr aus sei- 
ner Bitte; seine Bittschriften wurden Dankadressen; sein Wunsch 
war, daB ich schon acht Jahre Hofmeister bei ihm gewesen ware ; 
seine HofTnung war, das Geld komme nach; und der wahre Vor- 
teil war, daB der Sohn ins beste deutsche Kadettenhaus kame. 
Man tut mir keinen Gefallen, wenn man ihn auslacht. Freilich 

20 schwur er auf seinem Schlosse, »Hof leuten traue er keine Hand 
breit und die ganze Nation stink* ihn an«; hingegen solchen Hof- 
leuten, mit denen er gerade zu tun hatte, traut* er mehr - allein 
militarische Unwissenheit der Rechte ist bei ihm an vielem schuld; 
wie soil er als Soldat wissen, daB ein Fiirst zu keiner Bezahlung 
verbunden ist? - Vielleicht ists nicht einmal alien Lesern so be- 
kannt, als sie vorgeben werden. Ein Regent braucht aus drei 
Griinden nicht einen Heller zu bezahlen, den er seinen Landes- 
kindern abgeliehen (borgte sein Herr Vater : so versteht sichs von 
selber). Erstlich: ein Gesandter, er sei vom ersten oder dritten 

30 Rang, stieBe die altesten Publizisten vor den Kopf, wenn er seine 
Schulden abtruge; nun kann er, der ja der bio Be Reprasentant 
und die abgedriickte Schwefelpaste des Regenten ist, unmoglich 
Rechte haben, die dem Urbilde abgehen, folglich wird nicht be- 
zahlt. Zweitens: der Fiirst ist - oder wir diirfen unsern akade- 
mischen Nachmittagstunden kein Wort mehr glauben - der wahre 
summarische InbegrifFund Reprasentant des Staates (wie wieder 



1 14 DIE UNSICHTBARE LOGE 

der Envoye ein Reprasentant des Reprasentanten ist oder ein 
tragbarer Staat im kleinen) und stellet folglich jedes Staatsglied, 
das ihm einen Kreuzer leihet, so vor, als wenn ers selber ware; 
mi thin leihet er sich im Grunde selber, wenn ein solches zu seinem 
reprasentierenden Ich gehoriges Glied ihm leihet. Gut! man ge- 
steht es; aber dann gestehe man audi, daB ein Fiirst sich so lacher- 
lich machen wurde, wenn er seinen eignen Landeskindern wieder 
bezahlen wollte, als sich der Vater des Generals Sobouroffmachte, 
der die Kapitalien, die er sich selber vorstreckte, sich ehrlich mit 
den landesublichen Interessen heimzahlte uhd sich nach dem 10 
Wechselrecht bestrafte. Woher kam' es denn als aus der Ver- 
wandtschaft mit dem Throne und dessen Rechten, daB sogar 
GroBe im Verhaltnis ihres Standes und ihrer Schuldenmasse fal- 
lieren durfen? Oder warum ist ein gerichtliches Konsens- oder 
Hypothekenbuch der richtigste HofadreBkalender oder almanac 
royal? - 

Drittens: der geflickteste Untertan kann sich von seinem Fiir- 
sten Anstandbriefe oder Moratorien verschaffen; wer soil sie aber 
dem Fiirsten geben, wenn ers nicht selber tut? Und tut ers Ge- 
wissens halber nicht: so kann er sich doch wenigstens alle funf 20 
Jahre ein erneuertes Quinquetmell bewilligen. 

Einen vierten Grund wiiBt' ich aber nicht. 



VlERZEHNTER SEKTOR 

Eheliche Ordalien - funf betrogene Betriiger 

Einen Hofmeister hatte Falkenberg also jetzt und die Hoffnung 
der 13 000 Rtlr. und eine Kadettenstelle fur seinen Sohn - Rekru- 
ten braucht' er nur noch. Auch diese fiihrte ihm und seinen Un- 
teroffizieren der Maulwurfs-Moloch Robisch reichlich zu; ich weiB 
aber nicht, was die Kerle wollten, daB sie, wenn Robisch seinen 
Kuppelpelz und sie ihr militarisches Patengeld hatten-mit letztem 30 
meistens davongingen. Im MauBenbacher Wald fielen Diebe den 
Transport an, und nach dem Ende der Schlacht wareh Feind und 



VIERZEHNTER SEKTOR 1 1 5 

Transport vora Schlachtfelde geflohen. Den Rittmeister druckt* 
es sehr, weil er, der fur sich und seine Familie nicht die niitz- 
lichste Ungerechtigkeit beging, zuweilen auf dem Werbplatz 
eine kleine verstattete. 

Dem stillen Gustav machte der laute Stadtwinter die langsten 
Stunden. Er sah keine weiBe Kopf binde und kein schwarzes Lamm 
vorbeitragen, ohne auf einem Seufzer hinuber zu seinem zauberi- 
schen Wall und unter seine Sommerfreuden zuriickzufliegen. 
Wenn ihn die ungezogne Nachkommenschaft Hoppedizels fiir 

10 dumm hielt, weil er nicht listig, fiir stolz, weil er nicht laut war: 
so stillte er das Bluten seines Innern, das verlacht und geneckt 
wurde, mit dem Gedanken an die Menschen, die ihn geliebt hatten, 
an seinen Genius und an seine Schaferin. Um seinen Amandus 
hatt' er so gern eine andere als Hoppedizelische Nachbarschaft 
gehabt, so gern die Fluren und den freien Himmel seiner Heimat! 
- Er liebte das Stille und Enge neben sich und das UnermeBliche 
in der Natur. O wenn du bei mir bist, Trauter, wie will ich dich 
schonen und lieben ! Dein Auge soil nie triibe neben meinem Lehr- 
stuhle werden, dein Herz nie schwer ! Du zarte Pflanze sollst nicht 

20 mit einschneidendem Bindfaden um mich wie um eine richtende 
Hopfenstange geschniiret sein, sondern mit lebendigen Efeu- 
wurzeln sollst du selber mich als etwas Lebendiges umfassen ! 

Oberhaupt hatte man im Hoppedizelischen Hause ein ver- 
dammtes Hundeleben, wie ich selber oft sah, wenn ich und der 
Hausherr einander iiber die ersten Prinzipien der Moral bloB mo- 
ralisch bei den Haaren hatten : denn alles hatte da einander dabei, 
aber physisch, ein Hund den andern - die Knaben die Madchen - 
die Dienerschaft einander - die Herrschaft die Dienerschaft - der 
Professor die Professorin, wovon ein merkwiirdiges Faktum ab- 

jo gedruckt werden soil - und alle diese einander wechselseitig nach 
der Vermischrechnung. - Zum Ungliick hatte Hoppedizel nie Ach- 
tung fiir irgendeinen Menschen (mithin Verachtung auch nicht) ; er 
borgte alles, besudelte alles, kompromittierte jeden, verzieh jedem 
und zuerst sich. Im Winterquartier des Rittmeisters waren die 61- 
farbigen Tapeten (Elle zu 24 Gr.) eine spanische Wand zwischen 
des Rittmeisters leerem Raum und zwischen der Wanzen Wand- 



Il6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

spalten; cler Ofen war gut, aber wie der Babylonische Turm ohne 
Kuppel; die Zimmerdecke drohte (wiewohl glcich manchen 
Thronhimmeln schon lange ohne Schaden) einzubrechen undden 
groBten Philosophen die Kopfe einzuschlagen, die von Stein auf 
dem Spiegeltischestanden. Er hatte oftdarumwenigZartheitfiir 
die Leute, weilersichdaraufverlieB, daB sie deren zu viele hatten, 
urn die Unsichtbarkeit der seinigen zu rtigen - in Unterscheerau 
machen wirs nicht anders. Aber nun kommt der Zufall, der uns 
alle eher daraus wegtrieb. 

Der Professor hatte namlich, wie die meisten Leute, keinen 10 
Geschmack in Mobeln; am liebsten stellte er die besten unter die 
elendesten, die feinste PiBvase unter ein GroBvaterbett und 
gegeniiber einem sandigen WaschgefaB, eine geputzte Livree sei- 
nes Bedienten hinter versaumten Anzug seiner Kinder u.s. w. Nun 
beging er allemal einen Friedensbruch an seiner Frau dadurch, daB 
er nie leer heimkam; er hatte immer etwas erhandelt, das nichts 
taugte; er hatte die Schwachheit unzahliger Manner, sich weiszu- 
machen, er verstande die Haushaltkunst so gut wie die Frau, wenn 
er nur anfangen wollte - Sachen, die man lange treiben sieht, 
glaubt man zuletzt selber treiben zu konnen - Sie hatte die 20 
Schwachheit unzahliger Weiber, sich vorzuschmeicheln, der Ehe- 
herr sei ein wahrer Ignorant im Haushalten und konn' es nicht 
einmal erlernen, wenn er auch wollte. »Red* ich in deine Biicher- 
sachen auch?« fragte die sehr grob verkorperte Professorin. Man 
konnt' es also bei jeder Mobelversteigerung oder auf jedem Jahr- 
markt in einer Kalenderpraktika neben den Kriegen der groBen 
Herren prophezeien, daB hier ein kleiner zwischen dem Ehepo- 
tentaten und der andern feindlichen Macht ausbrechen werde; 
weil diese seinen Kommerzien-Traktat nicht leiden konnte; das 
Ehepaar feierte dann seine olympischen Spiele der Zunge und 30 
Hande und konnte die Zeitrechnung der Ehe nach diesen Olym- 
piaden abteilen. 

Weiter! Unser neue Regent lieB - da das Volk in Italien den 
Palast des verstorbnen Papstes und Doge gratis erhalt - die Mo- 
beln seines Herrn Vaters um Weniges versteigern; er tats wie alle 
Kronprinzen aus Achtung gegen ihn, damit das Volk ein Anden- 



VIERZEHNTER SEKTOR 1 17 

ken vom Seligen, wic das romische die Garten von Casar, erben 
konnte. Der Professor wollte auch erben und erstehen. Er bot 
also zum Besten des Rittmeisters, in dessen Zimmer die Kommode, 
der Spiegel und die Sessel jammerlich waren, nicht auf diese drei 
Dinge, sondern auf drei benachbarte - auf zwei schone Bronze- 
Vasen mit Ziegenkopfen und Myrtenblattern fur die elende Kom- 
mode, auf einen gerad- und spitzbeinigen Spiegeltisch unter den 
elenden Spiegel, auf eine prachtige Bergere zwischen die elenden 
Sessel. Es wurde ihm zugeschlagen. Sein erstes Wort, als er aus 

io dem Auktionzimmer in seines trat, war an seine Frau: »Ist der 
Rittmeister droben? - Ich nab' schone Dinge fur ihn erstanden.« 
Jetzo sang sie schon den ersten Vers ihres Kriegliedes, ohne ein 
Kaufstiick noch zu kennen. Er nannte ihr keines; denn er hatte 
das groBte Ungluck eines Ehemannes, namlich Verachtung gegen 
seine Frau, so wie sie hingegen ihm gegen alle Menschen, sogar 
gegen die besten, beitrat, auBer gegen sich nicht. Unter dem Ab- 
holen der Kaufstucke antwortete er auf den ersten Vers des Krieg- 
gesanges und nannte doch keines; und so antiphonierten sie bloB. 
Endlich wurden die Ziegenkopfe und Spitzbeine ins Haus gesetzt. 

20 Da ging das Krieggeschrei los: »Das ist dumm, dumm, dumm! 
Ei du dummer Mann du! das Zeug! den Bettel! wo waren heute 
deine funf Sinne? Ich bezahle keinen Deut.« (sie war ohnehin nie 
Kassierer) »Und so teuer! Aber wenn man Kinder und Narren zu 
Markt etc.« Er sagt ganz kalt: »Lasse nur nichts drankommen und 
schaffes hinauf zum Rittmeister, mein Schatz!«Sie gehorchte den 
Augenblick; ging aber in seine Stube und offhete alle Schleusen 
ihres rauschenden Zorns. Spat unter diesem Rauschen sagt* er end- 
lich drohend : »Du weiBt, Frau !....« Nun wurde in ihrem Munde 
aus dem Wind ein Sturm. Er war kein Mann, den Zorn oder 

30 irgendeine Leidenschaft fortrissen, sondern ein echter Stoiker war 
er und immer bei sich; daraus lasset sichs erklaren, warum er, da 
Epiktet und Seneka Stoikern den verbotnen innern Zorn durch 
den auBern Schein desselben zu ersetzen raten, um die Leute zu 
bandigen, sich sogar dieses zornigen Scheins befliB und gelassen 
seine Faust petrifizierte und diesen Knauf als eine Leuchtkugelauf 
diejenigen GHedmaBen seiner Gattin warf, die ohne Licht in der 



Il8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Sache waren. Dieser stumpfe Wilsonsche Knopfableiter ihrcs 
Zorns zog erst die groBten beredten Funken aus ihr herv'or; und 
in der Tat ists in der Ehe wie in den alten Republiken, die (nach 
Homes Bemerkung) nie groBere Redner trugen als in stiirmenden 
kriegerischen Zeiten. Er machte das Sinnliche bloB zum Fahr- 
zeug des Geistigen und begleitete seine Hand mit ausgewahlten 
Bruchstiicken aus Epiktets Handbuch: »Ich bin wahrlich ganz bei 
mir;« (sagt' er) »aber du schreiest gar zu sehr, wenn ich michnicht 
dreinschlage.« Sein weltlicher Arm bewegte sich auf ihr fort. »Ich 
fahre immer fort« (fuhr er fort) - »inzwischen danke Gott, daB 10 
dein Mann so viel Gelassenheit hat, daB er alles abwagen kann, 
was er tut.« Sie wurde nicht eher kalt, als bis er hitzig wurde; 
dieses merkte sie daraus, wenn er wie Sokrates stumm wurde und 
seine Hand mit seiner herabgerissenen Schlafmiitze bewaffhete 
und befliigelte. So heiB ihr vor seinem einschlagenden Gewitter 
seine stechende Sonnenfreundlichkeit vorkam: so unangenehm 
kalt war ihr nach demselben sein Gewolke; kurz beide spielten 
vor und nach dem Kampfe umgekehrte Rollen. Diesesmal traf 
ihr Zorn eine Wetterscheide an und zog sich ganz iiber den, der 
unter den ziegenkopfigen Vasen auf der Bergere saB, auf den 20 
Rittmeister. Dieser lieB auf die erste Zeitung dieses ekelhaften 
Kriegessein WintergerateinScheeraueinpackenund das Sommer- 
gerate in Auenthal auspacken und ging - zwar. 

Aber er ware beinahe geblieben. 

Obrigens wiinsch* ich dieses geschilderte schlagfertigeEhepaar 
mit seinen Ehe- und Schiagringen nicht zu sehr von der feinern 
Ehewelt, die sich nie ausprugelt, verachtet zu sehen; denn wahr- 
lich die atzenden Giftworte, die das raffinierte Ehepaar einander 
zutropfelt, das verhaltene, wie ein Blasenpflaster ziehende Kran- 
ken, womit sie einander wund und heil machen wollen, reiBet die 30 
Wunde bloB tiefer unter der Haut und macht zwar nicht den 
Chirurgus, aber wohl den Doktor notig. 

Jetzt will ich berichten, warum der Rittmeister beinahe ge- 
blieben ware. 

Hoppedizel hatte auBer ihm an einem Nachmittag fiinf Leute 
bei sich, den Gerichthalter Kolb, den FloBinspektor Peuschel, 



VIERZEHNTER SEKTOR 119 

einen alten Karmenmacher, einen Hofzimmerfrotteur und einen 
Hof junker; denn was wird der Leser nach Zunamen dieses Volks 
fragen? Er zog erstlich den Gerichthalter beiseite und sagte zu 
ihm: »heute sol'lt' er einen SpaB machen und den vier andern 
Herren mit gefarbtem Wasser, das sie fur Weinhielten,zutrinken, 

damit diese sich in wahrem Wein bes6ffen.« »Recht gut!« 

sagte der Gerichthalter, »sie sollen alle an den Gerichthalter ge- 
denken.« Das namliche sagte der Professor dem FloBinspektor, 
dem Karmenmacher u.s.w. ; alle antworteten : »Recht gut ! siesollen 
10 alle an den FloBinspektor, an den Karmenmacher u.s.w. geden- 
ken.« Jeder wollte vier Mann zum Narren haben; der Professor 
wollte fiinf Mann dazu haben - alien gelang es. 

Abends wurden fiinf Korbe gefarbtes Wasser ins Zimmer ge- 
tragen; jeder riickte hinter sein Schenktischchen und schraubte 
den Korkstopsel vom Quasi- Wein ab. Die ersten Flaschen Bou- 
teillenwasser wurden still von der Gesellschaft eingesogen ; wahre 
Pfiffigkeit muBte der Lust- und Wasserpartie diesen Schein 
stufenweiser Berauschung vorschreiben. 

Nun aber hob das Sonnensystem sein Wasseriieken an. »Der 
so Wein konnte starker sein«, sagte jeder und wollte jeden betriigen. 
Der Gerichthalter mit rosenroter Nasenknospe spritzte seinen 
Kadaver statt des Spiritus mit mehr Wasser aus, als er in seiner 
ganzen Ewigkeit a parte ante selbst getrunken oder gep.ss. t, oder 
aus fremden Augen gedriickt. Ein Mensch, der so wasserhaltig 
wie er wird, daB er sich schwer aufrecht erhalt vor Niichternheit, 
macht andern Trunkbundnern leicht glaublich, es sei vor Be- 
trunkenheit; und alle lachelten sehr, da er lachte. 

Der FloBinspektor Peuschel leitete einen ganzen Wasserschatz 

in den Magen und machte seine Blutadernzu Wasseradern; aber 

30 er argerte sich halb, daB er die andern mit seinem Schein-GesdfT 

betriigen muBte, und sehnte sich heimlich statt der verstellten Be- 

trunkenheit nach echter. 

Der Zimmerfrotteur mazerierte und laugte sich im Grunde 
durch das geschminkte Wasser aus und ersaufte beinahe sein gal- 
lisches Obel - so schluckte der Schadenfroh. 

Dem Hof junker, der sich fast den Magen entzweisoff, schlugs 



120 DIE UNSICHTBARE LOGE 

schlechter zu ; drei Tage nachher schmolz er an einer incontinentia 
urinae hin. - BloB durch den zellulosen Karmenmacher fuhr eine 
ganze aufgefarbte Siindflut ohne Schaden glatt hinein und hinaus; 
er sah aber munter und satirisch herum und lauerte darauf, wenn 
sein Nachster hinter den vier Tischen besoffen ware. 

Etwan eine flammende Scheune ware mit ihren Walfisch-Be- 
scheiden zu retten gewesen.... Nun kam die Zeit, da jeder be- 
trunken scheinen muBte, wer SpaB verstand - sie diskurierten und 
lallten widereinander mit iiberschweppender baumender Zunge - 
der Junker und Frotteur streckten sich gar in die Stube als zwei 10 
Lagerbaume hin, und ihre bauschenden Unterleiber, sollte die 
Welt denken, lagen als Weinschlauche auf den Baumen - der 
Amtmann machte die Augen zu, das Maul auf- der Karmenmacher 
stellte sich vor, am tollsten und plausibelsten wurd* ers machen, 
wenn er erstlich gleich wahren Betrunknen vorschwiire, er sei 
niichtern, und zweitens, wenn er so gegen die Bettpfoste um- 
sanke, daB er ein wahres Lochelchen kriegte. Er hatte sich auch 
glucklicherweise eine Wunde verschafFt, die groBer war als seine 
Trunkenheit, und wollte aus Rache mit derNachricht vorbrechen, 
er habe die Vierherren zum Narren und bloB Wasser gehabt - 20 
der Professor wollte auch alles heraussagen, wie alles und der Wein 
ware — die andern wolltens auch und lachten schon samtlich vor- 
aus : als zum Ungluck der langst iibersattigte FloBinspektor sich 
zum Frotteur abgeschlichen und diebisch statt eines Gegengiftes 
und Konfortativs gegen seinen nachgedruckten Wein die vor- 
gebliche Originalausgabe desselbengekredenzthatteausdesFrot- 
teurs oder Reibers Kelch .... es war auch Wasser darin wie in 
seinem - blitzschnell und halbnarrisch kredenzte er die Kelche 
aller Wassergotter - in alien war Wasser - da fuhr er mit alien 
heraus - und die ganze Marine kredenzte fliegend herum, und 30 
jeder sollt' es im Ernste sagen, ob er toll und voll ware. - Leider 
war die ganze SpaBbruderschaft niichtern. Der Rittmeister, dem 
solche Scherze "lieber waren als Fastnachthuhner, verwandelte 
aus Liebe zur Moral die allgemeine Verstellung der Betrunkenheit 
in reine Aufrichtigkeit und vollfuhrte es durch echten Wein. Als 
nachher das Fiinfeck nach Hause hiipfte und diese funf torichte 



VIERZEHNTER SEKTOR 121 

Jungfrauen als funf kluge, wiewohl mit der Wasser-Plethora, 
heimzogen, so sagt' er: »Bei meiner Seele! so etwas sollte man 

drucken lassen,« Und wahrhaftig, hier lasset man es ja 

drucken. - 

Ich mochte gern von diesem Hoppedizel, eh* ich und der Leser 
aus seinem Hause ziehen, ein Medaillon, eine Abschattung zum 
Andenken mit uns nehmen; aber es grauet mir vor der Arbeit - 
Heber bossier' ich alle Charaktere dieses Werkchens in Papier 
oder Wachs als diesen Mann. Sein Charakter besteht aus hundert 

io kompilierten Charaktern, seine Kenntnisse aus alien Kenntnissen, 
sein Scharfsinn aus Skeptizismus, seine Laster aus Stoizismus, 
seine Tugend aus einem System iiber die Tugend und seine Hand- 
lungen aus Schnurren, Schnacken und Charakterziigen. 

Dennoch oder demnach liebte ihn der Rittmeister, weil er ihn 
oft sah (er war fast jedem gram, der ihn nicht besuchte) und weil 
beide lustig waren und weil hundertmal Menschen einander lie- 
ben, ohne daB ein Teufel weiB warum. Falkenberg hatte sich fur 
jeden Freund, selbst fur den, der ihn erst beruckt hatte, mit dem 
Behemoth selber geschossen - aus Ehre und Gutherzigkeit* der 

20 Professor hingegen zog reine Moral, gleichsam als reine Mathe- 
matik, der angewandten weit vor und handelte selten. Man er- 
innert sich daher gern an seine schone Selbstandigkeit in Grund- 
satzen, die er einmal in Auenthal als Gast bewies, da nachts um 
12 Uhr statt des Rittmeisters aus dem aufgeturmten Schnee bloB 
der leere Gaul heimkam. - Ein andrer, z. B. der Rittmeister selber, 
ware auf demselben Gaule aufgesessen und hinausgeritten, um 
den Ausgebliebenen zu suchen und zu retten; allein der Professor 
schnauzte nett das Talglicht und setzte sich an die trostlos fort- 
weinende Ehefrau - welche schon frtiher bei einem bloBen kurzen 

jo Verspaten in jeder Nacht sich abangstigte, ob sie gleich an jedem 
Morgen darauf sich ausschalt - und sagte mit Fassung zu ihr: 
»sie moge nur weinen, so viel sie wolle, er erlaub* es gern ; es schade 
wenig, erleichtere vielmehr das Herz; und wasche dabei die Aug- 
apfel ab und breche zu heftiges Licht; die iibrigen Tranen miiBten 
ohnehin durch die Nasenhohle in den Schlund und Magen sickern 
und dem Verdauen helfen; ihren Mann aber anbelangend, so 



122 DIE UNSICHTBARE LOGE 

konne das Schlimmste, was ihm zugestoBen, ohnehm nur sein, 
daB er erfroren ware; er kenne aber halb aus Erfahrung kein sanf- 
teres Sterben als das aus Kalte - denn es sei im Grunde so vie], 
als werde man gehenkt oder ersauft; denn man sterbe am Schlag- 
fluB.« 

Aber, wie gesagt, der Rittmeister liebte und verlieB ihn doch. 



FUNFZEHNTER SeKTOR ODER AUSSCHNITT 
Der funfzehnte Sektor oder Ausschnitt 

Vor der Abreise gab ich alien, besonders der Residentin von 
Bouse, die geborgten Musikalien zuriick; und dieser, die mir so 10 
viel aus Italien geliehen, lieh ich noch etwas Bessers aus Deutsch- 
land, meine Schwester Philippine namlich: diese soil da die kleine 
Tochter der Residentin bilden helfen; aber sie wird unter den 
zarten Fingern einer solchen talentvollen Dame selber mehr ge- 
bildet werden, als sie bildet. Moge sie da nur nie ihr rasches, 
zitterhaftes, scherzendes und doch fuhlendes Herz zu einem ko- 
ketten umsetzen ! Moge sie ihrer Laura (eben der Tochter der Re- 
sidentin) das Joch der koketten Erziehung luften, da das arme 
Kind bestandig unter der Glasglocke des Fensters schmachtet, 
den Leib unter der Bettdecke in 4 Lot Fischbein einkeilt, die 20 
Handchen auch wieder nachts in die Handschuh-Hulsen sperret 
und das Kopfchen mit einem Blei an Haaren riickwarts gewohnt. 
Bekanntlich lebt die Mutter, die Residentin, eine halbe Stunde 
von der Stadt zu Marienhof, im sogenannten neuen SchloB, das 
mit einem alten zusammenstoBet> welches, glaub' ich, vermietet 
ist. 

Aber zu meinem Gefolge in dieser Lebensbeschreibung 

stoBen mit jedem Bogen, sen' ich, mehr Leute und machen mir das 
Lenken und Schwenken sauerer. Ich wollte lieber, ich war* ein 
Reichstand und hatte Millionen zu regieren - und einzunehmen - 30 
als hier dieses fatale Menschen-Siebeneck, das mit Miihe in die 
rechten Ausschnitte zu treiben ist und worunter ich selber der 



FUNFZEHNTER SEKTOR I 23 

widerhaarigste bin. Denn mir, als bloBem Lebensbeschreiber, 
stehen weder Rekhskammergericht noch Exekuriontruppen gegen 
mein Siebeneck bei; war* ich aber ein Reichstand, so taten sie 
schon manches - versprechen. 

Unsern Abschiedwagen in Scheerau umgab die lustige Kalte 
des Professors - das arbeitsame Geschrei seiner Stoikerin - das 
zartliche Lacheln des Pestilenziarius mit Iltisschwanzen - das gute 
Herz seines Sohnchens, das kaum mit Liigen von Gustav abzu- 
schneiden war - und meine dankbaren Erinnerungen an unsicht- 

10 bare Stunden, an geliebte Menschen und an alle meine Schulerin- 
nen — O daB doch der Mensch hier so viel vergehen sieht, eh' 
er selber vergeht 

Unterweges weinte Gustav im Wagen immerfort in unsere Ge- 
dankenstille hinein; aber der Alte, dem doch selber das Herz so 
leicht zerlauft, wurde endlich dariiber toll und sagte zu mir: »Ich 
sehe immer mehr, daB mir ihn der Herrnhuter« (er meinte den 
Genius) »zu einer Milchsuppe eingeriihrt hat; und wenn Sie ihn 
nicht, Herr Hofmeister, ein biBchen kernhaft machen, so wird ein- 
mal ein weinerlicher Soldat herauskommen, der kaum zu einem 

20 Feldprediger taugt; denn auch der muB manchmal sich auf einen 
Kernfluch verstehen.« - 

Den Herrnhuter btachte er im Kopfe nach dem Stadtchen Issig, 
als folgendes Selbgesprach vor unserem Wagen vorbeiging: »Ich 
bin ein Esel und ein rechter Spitzbube von Hause aus, ich eleftder 
Schlingel. ich Racker allzumal und verflucht-bekannter alter 
Hollenbrand! Sollte man mich denn nicht entzweisagen und bra- 
ten, mich Teufel, mich Matz und Vieh!« sagte ein Schulknabe, den 
alle Schulkameraden umliefen und beklatschten. »Er sprichw, sagte 
mein Prinzipal, »wie eine herrnhutische Bestie, die sich herunter- 

30 setzt, um jeden andern noch mehr herabzusetzen.« Aber nicht im 
geringsten; ein armer Teufel wars, der Hunger hatteund Humor, 
und fur welchen die ganze Schule Brotkrumen und Apfel zusam- 
mengeschossen hatte, wenn er ihr den Gefallen tate und auf sich 
entsetzlich schimpfte .... 

— Schones Auenthal! dein Schnee ist schon weg? - 



124 die unsichtbare loge 

Sechzehnter Sektor 
Erzieh-Vorlegb latter 

Da ich meine Pretiosen (Manuskripte warens) und meine Effek- 
ten (das Guterbuch derselben war iiber dreiBig Zeilen dick) und 
mein Vaterliches und Miitterliches (das war ich selber) in meiner 
Wohn- und Schulstube herumgestellet hatte; da ich schon vorher 
mit drei langen Schritten an meine Fensteraussicht getreten war, 
die in einer Windmuhle, in der Abendsonne und einem Staren- 
hauschen an einer Birke bestand : so konnte ich sogleich ein aus- 
gemachter Hofmeister sein, und ich durfte nur anfangen; - ich I0 
konnte jetzt die ganze Woche ernsthaft aussehen und meinenZog- 
ling auch dazu notigen - alle meine Worte konnten Wochen- 
predigten, alle meine Gesichter Gesetztafeln sein - ich hatte sogar 
zwei Wege vor mir, ein Narr zu sein: ich konnte eineunsterbliche 
Seele sich halbtot deklinieren, konjugieren, memorieren und ana- 
lysieren lassen im Lateinischen - ich konnte aber auch seine junge 
Zirbeldriise in hohere Wissenschaften eintunken und versenken, 
so sehr, daB sie ganz aufschwolle und sich groB anschluckte von 
Logik, Politik und Statistik - ich konnte mithin (wer wehrte es) 
die Beinwande seines Kopfes zu einem diirren Biicherbrett aus- 20 
hobeln, den lebendigen Kopf zu einem Silhouettenbrett, woran 
sich gelehrte Kopfe abschatten, entzweidrucken; sein Herz hin- 
gegen lieB sich verarbeiten aus einem Hochaltar der Natur zu 
einem Drahtgestell des alten Testaments, aus einer Himmelkugel 
zu einem engen Paternosterkiigelchen der Frommelei, oder gar 
zu einer Schwimmblase der Weltklugheit - wahrhaftig, ich konnte 
ein Tropf sein und ihn zu einem noch groBern machen.... 

DichTrauten!DichArglosen,Freundlichen,derdudichmitdei- 
nem ganzen Schicksal, mit deiner ganzen Zukunft in meine Arme 
warfst! - O es tut mir schon wehe, daB so viel von mir abhangt! - 30 

Da aber vom Hofmeister meiner kiinftigen Kinder ebensoviel 
abhangt: so will ich fur ihn hier folgende Erzieh-Vorlegblatter 
drucken lassen, die er nicht ubelnehmen kann, weil ich den guten 
Mann ja noch nicht kenne und nicht meine. 



SECHZEHNTER SEKTOR I25 

»Mein lieber Herr Hofmeister! 

War' ich der Ihrige : so setzten Sie sich gewiB nieder und schrieben 
mir folgende recht gute Regeln auf: 

Die Naturgeschichte sei das Zuckerbrot, das der Schulmeister 
d'em Kinde in der ersten Stunde in die Tasche steckt, um es anzu- 
kodern, - so auch Geschichten aus der Geschichte. - Aber nur 
nicht komme die Geschichte selber! Was konnte nicht diese hohe 
Gottin, deren Tempel auf lauter Grabern stent, aus uns machen, 
wenn sie uns zum ersten Male dann anredete, wann unser Kopf 
io und Herz schon offen waren und beide die groBen Worter ihrer 
Ewigkeitsprache - Vaterland, Volk, Regierform, Gesetze, Rom, 
Athen - verstanden! - Was Herrn Schrockh anlangt, der noch 
ehrliche Gelehrtenhistorie und reine Waisenhaus-Moral mit bei- 
geschaltet, so schneiden Sie mir, Herr Hofmeister, nur nicht aus 
seinem Buche die Kupferblatter mit heraus, und am englischen 
Einband ist mir auch gelegen. 

Geographie ist ein gesundes Voressen der kindlichen Seele; 
auch Rechnen und Geometrie gehort zum friihen wissenschaft- 
lichen ImbiB; nicht weil sie denken lehren, sondern weil sie es 
20 nicht lehren (die groBten Rechenmeister und Differential isten und 
Mechaniker sind oft die seichtesten Philosophen) und weil die 
Anstrengung dabei die Nerven nicht schwacht, wie" Rechenrevi- 
soren und Algebraisten beweisen. 

Philosophic aber oder Anspannung des Tiefsinns ist Kindern 
todlich oder knickt die zu dunne Spitze des Tiefsinns auf immer 
ab. - Tugend und Religion in ihre ersten Grundsatze bei Kindern 
zuriickzerspalten, heiBet, einem Menschen die Brust abheben und 
das Herz zerlegen, um ihm zu zeigen, wie es schlagt. - Philosophic 
ist keine Brotwissenschaft, sondern geistiges Brot selber und Be- 
30 diirfnis; und man kann weder sie noch Liebe lehren; beide, zu 
fruh gelehrt, entmannen Leib und Seele. 

Es gefallet mir, daB Sie selber erklarten, Sie wurden das Fran- 
zosische dem Lateinischen, das Sprechen den grammatischen Re- 
geln (d.h. den Laufwagen den Theorien von der Muskelbewegung) 
vorausschicken und die toten Sprachen spater vornehmen, weil 



126 DIE UNSICHTBARE LQGE 

sie mehr durch den VerstandzXs durch das Geddchtnis gefasset wer- 
den. Latein wird zum Teil darum so schwierig, weil es so fruli- 
zeitig vorkommt; im funfzehnten Jahre tut man darin mit einem 
Finger, wozu man friiher die Hand brauchte. 

Abscheulich ists, daB auch schon unsere Kinder lesen und sitzen 
und den SteiB zur Unterlage und Basis ihrer Bildung machen 
sollen. Das belehrende Buch ersetzt ihnen den Lehrer nicht, das 
belustigende das gesiindere Spielen nicht ; die Dichtkunst ist fur ' 
ein unbartiges Alter noch zu unverstandlich und ungesund; der 
Lehrer, der vorlieset, muB erbarmlich sein, wenn er nicht weit 10 
nachdrucklicher spricht. Kurz keine Kinderbiicher! 

In ein padagogisches Stammbuch wiirden wir beide schreiben: 
Vergeblich tadeln ist schlimmer als gar nicht tadeln - Fehler, die 
das Alter nimmt, nehme der Lehrer nicht, der dauerhaftere zu be- 
kampfen hat, u.s.w. Ihr Katechismus sei Plutarch und Feddersen 
(aber ohne seinen elenden Stil); d.h. keine Moralien, sondern Er- 
zahlungen darnach - und noch dazu in keiner besondern Stunde, 
sondern zur rechten, damit der Kopf meiner Kinder nicht ein Vo- 
kabetnsaahon Moralen, sondern ihr Herz eine durchgluhte/fcta/i- 
da der Tugend werde. 20 

Da der blode, enge, angstliche Anstand der dummste und un- 
natiirlichste ist, so lehren Sie den Kindern den besten, wenn Sie 
ihnen keinen befehlen; von Natur achten sie weder silberne Sterne 
noch silberne Kopfe — gewohnen Sie ihnen dergleichen nicht ab. , 

Meine groBte Bitte ist - die ich viele Jahre vorher drucken 
lassen -, daB Sie der spaBhafteste Mann in meinem Hause sind; 
Lustigkeit macht Kleinen alle wissenschaftliche Felder zu Zucker- 
feldern. Meine miissen bei Ihnen durchaus nach ihrem Wohlge- 
fatlen scherzen, reden, sitzen diirfen. Wir Erwachsene standen 
den abscheulichen Schulzwang unserer Abkommenschaft keine 50 
Woche aus, so verniinftig wir sind; gleichwohl muten wir es 
ihren mit Ameisen gefullten Adern zu. Oberhaupt: ist denn die 
Kindheit nur der muhselige Rusttag zum genieBenden Sonntag 
des spatern Alters, oder ist sie nicht vielmehr selber eine Vigilie 
dazu, die ihre eigne Freuden bringt? Ach, wenn wir in diesem 
leeren niederregnenden Leben nicht jedes Mittelfur den nahern 



SECHZEHNTER SEKTOR 1 27 

Zweck (wie jeden Zweck fur ein entferntes Mittel) ansehen: was 
finden wir denn hienieden? - Ihr Prinzipal (ein abscheuliches 
Wort!) hat sich auf seine Verlobung ebensosehr gefreuet als auf 
seine Hochzeit. 

Spielender Unterricht heiBt nicht, dem Kinde Anstrengungen 
ersparen und abnehmen, sondern eine Leidenschaft in ihm er- 
wecken, welche ihm die starksten aufnotigt und erleichtert. Nun 
taugen dazu durchaus keine unlustigen Leidenschaften - z.B. 
Furcht vor Tadel, vor Strafe etc. -, sondern freudige; spielend 

10 wiirden alle Madchen von Scheerau das Arabische erlernen, wenn 
ihre Liebhaber in keiner andern Sprache an sie schrieben als in 
dieser synonymischen. Hoffnung des Lobs ist es, das Kindern (das 
Lob auBerer Vorziige ausgenomrnen) weit weniger schadet als 
Tadel und gegen welches sich keines, am wenigsten das beste, 
verstocken kann. Ich will Ihnen hier sagen, was mein eigner Hof- 
meister fur Erzieh-Ranke anwandte: er nahte sich ein ZifFerbuch; 
in diesem gab er jedem Glied seines Lyzeums (19 waren) fiir jede 
Arbeit eine groBe oder kleine Zahl; diese Zahlen erwarben, wenn 
sie auf eine gewisse festgesetzte Summe gestiegen waren, einen 

20 Adel- und FleiBbrief, worauf man sein Lob mit nach Hause nahm. 
Da Belohnungen kraftlos werden, die zu oft oder erst von weitem 
kommen: so setzte er auf diese geschickte Art den Weg zur ent- 
fernten Belohnung aus taglichen kleinen zusammen. Wir konnten 
ferner unsere Zahlen zusammensparen; und Kinder heftet nichts 
so sehr an FleiB als ein wachsendes Eigentum (von ZifFern oder 
von Schreibbiichern). Solche Zahlen wegstreichen war Strafe. Er 
machte uns alle dadurch so fleiBig, besonders mich, daB ich we- 
nige Jahre darauf imstande war, eine Biographie zu schreiben, die 
noch jetzt gelesen wird. 

30 Reden Sie mit meinen Lieben nie kurz, nie allgemein, sondern 
sinnlich, und er^ahlen Sie so ausfuhrlich wie Vofi seine Idyllen. 

So hab' ich die PoussiergrifFel und Formzeuge an meinem 
Gustav gebraucht, wahrhaftig nicht, um ihn seiner Lebensbe- 
schreibung, die ich verfaBte, sondern dem Leben anzupassen; ich 
wollt* aber, der Henker holte das Menschenherz, das fiir eigne 
Kinder nicht tun will, was es fur ein fremdes tat. 



128 'die unsichtbare loge 

Meine Tochter hingegen, werter Herr Hauslehrer, die altern 
sowohl als die jungern, geb* icli Ihnen nicht in die namliche Schul- 
stunde - Madchen konnten mit Knaben ebensogut Schlafzimmer 
als Schulstube teilen - und in gar keine. Ein Hofmeister, der 
Madchen zu erziehen wiafke (und Sie konnens), miiBte so viel 
Welt, so viel Weiberkenntnis, so viel Witz, so viel launige Ge- 
wandtheit bei ebenso vieler Festigkeit besitzen - inzwischen er- 
zieht eine recht gescheite Gouvernante die meinigen: hausliche 
Arbeit unter dem Auge einer gebildeten Mutter. 

Ehe ich diese geheime Instruktion beschlieBe, merk* ich noch 10 
an, daB sie ganz unniitz ist- erstlich fur Sie, weil ein Mann von 
Genie auch mit jeder andern Methode allmachtig bleibt, zweitens 
fur dealahmen Kopf, weil er Kindern die Geisteskrafte, er mags 
machen, wie er will, wie ein alter SchlafgenoB einem jungen die 
korperlichen, stets auszehren wird. Ich habe uberhaupt diesen pa- 
dagogischen Schwabenspiegel lange vor meinen Kindern in die 
Welt vorausgeschickt - mithin gar nicht fur Sie, sondern fur ein 
Buch.« - 

Namlich fur dieses. 

Urn meinem Prinzipal zu zeigen, was ich in der Erziehung ge- 20 
tan hatte, sagt* ich so : »Der Superintendent in Oberscheerau hat 
einen Wachtelhund, Het^ genannt, den er fiir keine Menagerie 
SchoBhunde weggibt. Nun sollte man denken, der Mann, da er 
Beichtkinder, eigne Kinder und Weine und indianische Huhner 
genug hat, ware gut daran ; aber falsch : Hetz leidet es nicht. Denn 
sobald die Suppe auf dem Tische raucht: so umschirTt Hetz den 
Tisch, springt in die Hohe - seine Schnauze liegt dann wasserpaB 
in einer Ebene mit der Rehkeule - und bilk und stochert mit dem 
Kopfe an jedes Knie so sehr, besonders ans geistliche, daB der 
Mann seines Orts wie in einem Fegefeuer fortschlucket und haufig 30 
nicht weiB, kauet er Zucker oder Salz. Es rettete ihn nicht, daB er 
oft den Hund selber anboll; die Radikalkur dagegen aber ware 
bloB die, Hetzen nie einen Bissen zu geben. Er hielt es auch oft 
tagelang: aber in der nachsten Mahlzeit bewarf er aus Vergessen 
oder Unwillen den Plagegeist mit einem Knochen. Dieser einzige 



SECHZEHNTER SEKTOR 1 29 

Knochen verhunzte den ganzen Hund. Dem Seelenhirten ist, be- 
sorg* ich, so lange nicht zu helfen, bis Hetz, der von selbst sich 
nicht andert , etwa verreckt. Mir hingegen begegnet Hetz mit Ver- 
nunft und Schonung: warum? - Solang ich an jenem Tische aB, 
schenkt' ich Hetzen keine Faser, ohne Ausnahme. Auf Hetze und 
Menschen wirkt Festigkeit allmachtig. Wer keinen Hund erziehen 
kann, Herr Rittmeister, kann auch kein Kind erziehen ; ich wiirde 
Hofmeister, welche in mein Brot wollten, an keinen Probierstein 
streichen als an den, daB sie mir Eichhornchen und Mause zahmen 
10 miiBten : wers am besten verstande, zog* ein, z. B. Wildau wegen 
seiner Bienenzahmung.« — Aber meine gnadige Pate lachte nie 
herzhaft iiber meine oder Fenkische Scherze; hingegen iiber einen 
Hoppedizelischen lachte sie sehr, und doch hat sie uns beide lieber. 
Wenn ich noch zwei Erzieh-Idiotismen - wovon der eine ist, 
daB ich den Witz meines Zoglings so stark als seinen Verstand 
iibte, der zweite daB ich lauter Autores aus Zeitaltern von unedlen 
Metal len mit ihm traktierte - in einem Extrablatt werde gerettet 
haben: so gehen wir weiter in sein Leben hinein. 

Extrablatt 

20 Warum ich meinem Gustav Witz und verdorbne Autores zulasse 

und klassische verbiete, ich meine griechische und romische? 

Ich muB vorher mit drei Worten oder Seiten beweisen ; daB und 
warum das Studium der Alten niedersinke 1 und daB es zweitens 
wenig verschlage. 

Wir sind bekanntlich jetzt aus den philologischen Jahrhunder- 
ten heraus, wo nichts als die lateinische Sprache an Altaren, auf 
Kanzeln, auf dem Papier und im Kopfe war und wo sie alle ge- 
lehrte Schlafrocke und Schlafmutzen von Irian d bis Sizilien in 
einen Bund zusammenknupfte, wo sie die Staatsprache und oft die 
3° Gesellschaftsprache der GroBen ausmachte, wo man kein Gelehr- 
ter sein konnte, ohne ein Inventarium alles romischen und grie- 
chischen Hausrats und einen Kiichen- und Waschzetteldieser klas- 

1 Diese Bemerkung iiber den Verfall hat seit 20 Jahren, wenn nicht in 
Frankreich, doch in Deutschland viel von ihrer Ausdehnung verloren. 



130 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sischen Leute im Kopfe zu fiihren. Jetzt ist unser Latein Deutsch 
gegen das eines Camerarius, ders also nicht notig gehabt hatte, 
seinen schmalkaldischen Krieg griechisch abzufassen; jetzo wird 
selten eine Predigt lateinisch, geschweige -wie sonst griechisch ge- 
schrieben und kann also nicht wie sonst ins Lateinische sondern 
bloB ins Deutsche iibersetzt werden. In unsern Tagen drangt 
keine Frau mehr ihren eingepuderten infulierten Kopf durch das 
klassische engeKummet,wenns nicht Hermes' Tochter tun. Dieses 
war meinem Leser noch eher bekannt als mir, weil ich jiinger bin - 
so wie uns beiden auch das jetzige bessere Kommentieren, Rezen- 10 
sieren und t)bersetzen der Alten bekannt genug ist. Nur wuchs 
mit dem Werte ihrer Verehrer nicht die Zah! dieser Verehrer; alle 
andre Wissenschaften teilen sich jetzt in eine Universalmonarchie 
iiber alle Leser; aber die Alten sitzen mit ihren wenigen philolo- 
gischen Lehnleuten einsam auf einem S. Marino-Felsen. Es gibt 
jetzo nichts als Vielwisser, die alles gelesen haben, nur die Alten 
nicht. 

Der Geschmack am Geiste der Alten muB sich so gut ab- 
stumpfen als der an ihrer Sprache. Ich behaupte nicht, daB man in 
den klassischen Papageien-Jahrhunderten diesen Geist besser 20 
fiihlte als jetzo; denn Vossius hing am Lukan ? Lipsius am Seneka, 
Kasaubon am Persius; ich sage nicht, daB damals ein Faust, eine 
Iphigenie, eine Messiade, ein Damokles geschrieben wurden wie 
jetzt. Allein ich rede vom jetzigen Geschmack des Volks, nicht des 
Genies. 

Wenn der Geist der Alten in ihrem geraden festen Gang zum 
Zweck bestand, in ihrem Hasse des doppelten dreifachen Man- 
schetten-Schmucks, in einer gewissen kindlichen Aufrichtigkeit: 
so muB es uns immer leichter werden, diesen Geist zu fiihlen, und 
immer schwerer, ihn in unsre Werke zu hauchen; mit jedem Jahr- 30 
hundert miissen in unserm Stile die Ein-, Ober- und Rucksichten 
mit unserm Lernen schimmernd wachsen; die Fiille unserer Kom- 
position muB ihre Riinde verwehren; wir putzen den Putz an, 
binden den Einband ein und Ziehen ein Oberkleid iiber das Ober- 
kleid; wir miissen den weiBen Sonnenstrahl der Wahrheit, da er 
uns nicht mehr zum ersten Male trifft, in Farben zersetzen, und 



SECHZEHNTER SEKTOR I3I 

anstatt daB die Alten mit Worten und Gedanken freigebig waren, 
sind wir mit beiden sparsam. Gleichwohl ists besser, ein Instru- 
ment von sechs Oktaven zu sein, dessen Tone leicht unrein und 
ineinander klingen,als ein Monochord, dessen einzige Saite sich 
schwerer verstimmt ; und es ware ebenso schlimm, wenn jeder, als 
wenn niemand wie Monboddo schriebe. 

Mit unserer Unfruchtbarkeit an Werken im alten Stil nimmt 
zugleich der Geschmack fiir diese Werke zu. Die Alten fuhlten 
den Wert der Alten — nicht; und ihre Einfachheit wird bloB von 

10 denen genossen, von denen sie nicht erreicht werden, von uns. 
Ich denke, aus diesem Grunde : die griechische Einfachheit ist von 
der der Morgenlander, Wilden und Kinder 1 nur durch das hohere 
Talent verschieden, womit das heitere griechische Klima jene 
Simplizitat auszeichnete. Das ist die angeborne y nicht erworbene. 
Die kunstltche erworbene Einfachheit ist eine Wirkung der Kultur 
und des Geschmacks; die Menschen des i8 ten Jahrhunderts waten 
erst durch Slimpfe und GieBbache zu dieser Alpen-Quelle hinauf; 
wer aber droben bei ihr ist, verlasset sie nie mehr, und nur Volker, 
nicht einzelne konnen von Monboddos Geschmack zu Balzacs 

20 seinem herabfallen. Dieser erworbne Geschmack, den das junge 
Genie immer antastet und das bejahrte meistens bekennt, mufi 
von Messe zu Messe durch die Obung an allem Schonen bei Ein- 
zelwesen empfindlicher und scharfer werden: die Volker selber 
aber verlieren sich jedes Jahrhundert weiter von den Grazien weg, 
die sich, wie die homerischen Gotter, in Wolken verstecken. Die 
Alten konnten mithin die natiirliche Einfachheit ihrer Hervor- 
bringungen so wenig empfinden, als das Kind oder der Wilde die 
der seinigen. Die reinen einfachen Sitten und Wendungen eines 
Alplers oder Tirolers bewundert weder der eigne Besitzer, noch 

30 sein Landsmann, sondern der gebildete Hof, der sie nicht erreichen 
kann; und wenn die romischen GroBen sich am Spielen nackter 
Kinder labten, mit denen sie ihre Zimmer putzten: so hatten die 

1 In der Erzahlung des Kindes ist die namliche Verschmahung des Putzes, 
der Seitenblicke und der Kurze, dieselbe Naivetat, die uns oft Laune zu sein 
scheint und keine ist, und dasselbe Vergessen des Erzahlers iiber die Erzah- 
lung, wie in den Erzahlungen der Bibel, der altern Griechen etc. 



132 DIE UNSICHTBARE LOGE 

GroBen, aber nicht die Kinder die Labung und den Geschmack. 
Die Alten schrieben also mit einem unwillkiirlichen Geschmack, 
ohne damit zu lesen - wie die jetzigen genievollen Autoren, z.B. 
Hamann, mit weit mehr Geschmack lesen als schreiben - daher 
jene Speckgeschwiilste und Hitzblattern an den sonst gesunden 
Kindern eines Plato, Aschylus, sogar eines Cicero; daher be- 
klatschten die Athener keine Redner mehr als die Antithesen- 
Drechsler und die Romer die Wortspieler. Zur iibermaBigen Be- 
wunderung Shakespeares fehlte ihnen nichts als Shakespeare sel- 
ber. Eben deswegen konnten diese Volker, wie das Kind, von der 10 
natiirlichen Einfachheit zum gleiBenden, lackierten Witzeln her- 
untergehen. 

Zweitens versprach ich auf drei Seiten zu behaupten, daB die 
Vernachlassigung der Alten wenig schade. Denn was nutzet denn 
ihre Bearbeitung? Sie werden wie die Tugend weit weniger ge- 
fuhlt und genossen, als man sagt 1 . Das Vergniigen an ihnen ist 
die richtigste Neuner- Probe des besten Geschmacks; aber dieser 
beste Geschmack setzt eine solche geistige AufschlieBung fur alle 
Arten von Schonheiten, ein solches Rein- und SchonmaB aller 
innern Krafte voraus, daB nicht bloB Home Geschmack unverein- 20 
-bar mit einem bosen Herzen findet, sondern auch daB ich nachst 
dem Genie, das ihn nach Entladung seiner geistigen Vollsaftigkeit 
immer bekommt, nichts Seltners kenne als ihn, den vollendeten 
Geschmack. O ihr Konrektoren und Gymnasiarchen, die ihr uber 
dieDevalvation der Alten winseltund greint,wennsie noch Augen 
hatten, sie wiirden uber euere Valvation weinen! - O es gehoren 
andre Herzen und Seelenfliigel (nicht bloBe Lungenflugel) dazu, 
als in euren padagogischen Riimpfen stecken, um einzusehen, 
warum die Alten Plato den Gottlichen nannten, warum Sophokles 
groB und die Anthologen edel sindl Die Alten waren Menschen, jo 
keine Gelehrten; was seid ihr? Und was holt ihr aus ihnen?... 

Copiam vocabulorum - In mittlern Jahrhunderten war auch 
jeder kleine Nutzen der Alten ein groBer; aber jetzt im i8 ten , wo 
alle Volker gradus ad parnassum in den Musen-Granit einge- 

1 Was die Neuern im Geschmack der Alten schreiben, wird wenig ver- 
standen; und die Alten selber sollen so haufig verstanden werden? 



SECHZEHNTER SEKTOR 133 

hauen, kommt es auf zwei Treppen mehr oder weniger nicht ar. 
Haben denn die jetzigen Nationen nichts im alten Geschmacke 
geschrieben? - War* es so: so wurden ohnehin Muster, die sich 
in keinenEbenbildern vervielfaltigt haben, Ieicht zu entraten sein; 
es ist aber nicht einmal so, und die Omarsche Verbrennung aller 
Alten konnte uns nur ein wenig mehr entreiBen, als wenn man 
den ganzen noch stehenden Herbstflor von einigen griechischen 
Tempeln und andern Ruinen umbrache: wir wiirden doch noch 
Hauser im griechischen Geschmack bekommen. Die Muster haben 

io ja selber ohne Muster geschrieben, und Polyklets Bildsaule wurde 
nach keiner Polyklets Bildsaule geregelt. Trotz dem Studium der 
geschriebenen Antiken lag sonst in Deutschland und liegt noch 
in Italic n die dichtende Schopfcrkraft auf dem Siechbett. 

Wer wie Heyne die alten Sprachen zur formalen Ausbildung der 
Seele dingen will: der vergisset, daB jede Sprache es kann, und 
daB eine unahnlichere, wie die orientalischen, es noch besser kann, 
und daB diese Ausbildung uns zuweilen so teuer zu stehen kommt 
als manchem Baron sein Franzosisches. Die Griechen und Romer 
wurden Griechen und Romer ohne die formale Bildung von 

20 griechischen und lateinischen Autoren - sie wurden es durch Re- 
gierung und Klima. 

Es ist ein Ungliick fur das Schonste, was der menschliche Geist 
geboren hat, dafi dieses Schonste unter den Handen der Primaner, 
Sekundaner und Tertianer zerrieben wird — daB das Scholarchat 
glauben kann, die bessere Ausgabe oder die besseren Nominal- 
und Real-Erklarungen setzten die jungen Gymnasiasten mehr in- 
stand, die erhabenen klassischen Ruinen zu fassen,als eine bessere 
von Druckfehlern gesauberte Ausgabe des Shakespeares und die 
beigefugten Novellen nebst den Noten einen Schulmann oder 

30 Franzosen instand setzen wurden, die Augen vor diesem eng- 
lischen Genius aufzuschlieBen - daB sonach das Scholarchat sich 
einbildet, einen Hamling oder TaufJing erhalte nichts kalt gegen 
die Reize einer Kleopatra als die Hullen dieser Reize - und daB 
die Scholarchate nicht mir und der Natur nachgehen\ 

1 Fiihlen denn alle Deutsche die Messiade, die der deutschen Sprache und 
biblischen Geschichte kundig sind? 



134 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Die Natur erziehtnamlich unsern Geschmack durch vorragende 
Schonheiten fur feinere; der Jiingling zieht den Witz der Emp- 
findung vor, den Bombast dem Verstand, den Lukan dem Virgil, 
die Franzosen den Alten. Im Grunde hat dieser minderjahrige 
Geschmack nicht darin unrecht, daB er gewisse niedere Schon- 
heiten starker empfindet als wir, sondern daB er die damit ver- 
bundnen Flecken und hohere Reize schwacher empfindet als wir 
alle; denn wir wiirden nur desto vollkommner sein, wenn wir zu- 
gleich mit dem jetzigen Gefiihl fiir das griechische Epigramm das 
verlorne Jugend-Entzucken iiber das franzosische verknupfen 10 
konnten. Man sollte also den Jiingling sich an diesen Leckereien, 
wie der Zuckerbacker seinen Lehrjungen an andern, so lange sat- 
tigen lassen, bis er sich daran iiberdriissig und fiir hohere Kost 
hungrig genossen hatte; - jetzo aber ubersetzt er sich umgekehrt 
an den Alten satt und bildet und reizet damit seinen Geschmack 
fiir die Neuern. In unserer Autoren-Welt erscheinen die traurigen 
Folgen davon, daB Scholarchate den An fang mit dem Ende machen 
und von Schriftstellern,diebloBdem zartesten besten Geschmacke 
die letzte Runde geben, den gymnasiastischen aus dem Groben 
wollen hauen lassen und so weder der Natur folgen noch mir. 20 

Die Scholarchate besorgen freilich, »dadurch kame unter die 
jungen Leute mehr Witz, als schicklichist, wenn man den Seneka, 
Epigrammen und verdorbne Autores lese«. Meine erste Antwort 
ist, daB die Konstitution des Deutschen robust und gesund genug 
ist, um dem Fleckfleber des Witzes weniger ausgesetzt zu sein als 
andre Volker. Z.B. das witzige Buch »0ber die Ehe« oder Ha- 
manns Schriften machen wir durch tausend reine Werke wieder 
gut, wo der Witz nicht darin ist. Ich habe daher oft gedacht, so 
wie der Deutsche von seinen Vorziigen wenig weiB, so weiB er 
auch von dem nichts, daB er nicht uberfliissigen Witz hat, ob- 30 
gleich die Rezensenten mir und den Verfassern derRomane diesen 
OberfluB oft genug vorwerfen. Aber ich und diese Verfasser ver- 
langen unparteiische Richter hieriiber; sogar diese sonst unbe- 
deutenden Rezensenten selber sind hierin einem Seneka und Rous- 
seau, die beide den witzigen Stil verdammten, bekampften und 
doch haschten, zu ihrem Ruhm so wenig ahnlich, daB sie den 



SECHZEHNTER SEKTOR 135 

Fehler des Witzes strenge an andern riigen und gliicklich selber 
vermeiden. 

Meine zweite Antwort ist tiefer: eh' der Korper des Menschen 
entwickelt ist, schadet ihm jede kiinstliche Entwicklung der Seele; 
philosophische Anstrengung des Verstandes, dichterische der 
Phantasie zerrutten die junge Kraft selber und andredazu. BloBdie 
Entwicklung des Witzes, an die man bei Kindern so selten denkt, 
ist die unschadlichste - weil er nur in leichten fliichtigen Anstren- 
gungen arbeitet; - die niitzlichste - weil er das neue Ideen-Rader- 

10 werk immer schneller zu gehen zwingt - weil er durch Erfinden 
Liebe und Herrschaft iiber die Ideen gibt - weil fremder und eig- 
ner uns in diesen friihen Jahren am meisten mit seinem Glanze 
entziickt. Warum haben wir so wenig Erfinder und so viele Ge- 
lehrte, in deren Kopfen lauter unbewegliche Giiter liegen und die 
BegrifTe jeder Wissenschaft klubweise auseinandergesperrt in 
Kartausen wohnen, so daB, wenn der Mann iiber eine Wissen- 
schaft schreibt, er sich auf mchts besinnt, was er in der andern 
weiB? - BloB weil man die Kinder mehr Ideen als die Handhabung 
der Ideen lehrt und weil ihre Gedanken in der Schule so unbeweg- 

20 Hch fixiert sein sollen wie ihr SteiB. 

Man sollte Schld{ers Hand in der Geschichte auch in andern 
Wissenschaften nachahmen., Ich gewohnte meinem Gustav an, die 
Ahnlichkeken aus entlegnen Wissenschaften anzuhoren, zu ver- 
stehen und dadurch selber zu erfinden. Z. B. alles GroBe oder Wich- 
tige bewegt sich langsam : also gehen gar nicht die orientalischen 
Fiirsten - der Dalai Lama - die Sonne - der Seekrabben; weise 
Griechen gingen (nachWinckelmann) langsam - ferner tut es das 
■ Stundenrad — der Ozeaft - die Wolken bei schonem Wetter. - 
Oder : im Winter gehen Menschen, die Erde und Pendule schneller. 

3 o - Oder: verhehlt wurde der Name Jehovas - der orientalischen 
Fiirsten — Roms und dessen Schutzgottes — die sibyl linischen Bii- 
cher-die erste altchristliche Bibel-diekatholische-derVedametc. 
Es ist unbeschreiblich, welche Gelenkigkeit aller Ideen dadurch in 
die Kinderkopfe kommt. Freilich miissen die Kenntnisse schonvor- 
her da sein, die man mischen will. Abergenug I der Pedant versteht 
und billigt mich nicht; und der bessere Lehrer sagt eben: genug! 



I36 DIE UNSICHTBARE LOGE 

SlEBZEHNTER SEKTOR 
Abendmahl — darauf Liebemahl und Liebekufl 

O geliebter Gustav! die ausgewinterten Tage unserer Liebe 
schlagen in meinem Dintenfasse wieder in Bluten aus, indem ich^ 
sie vorzeichnel Hast du, Leser, irgendeinen Friihling deines Le- 
bens gehabt, und hangt noch sein Bild in dir: so leg es im Winter- 
monat des Lebens an deinen warmen Busen und gib seinen Farben 
Leben, wie Erwarmung das unsichtbare Fruhlinggemalde des 
Ofens enthiillt und belebt - denk dir alsdann deine Blumentage, 

wenn ich unsere zeichne Unsere vier kleinen Wande waren 10 

die Staketen eines reichern Paradieses, als sich durch einen Au- 
garten ausstreckt, unser Kirschbaum am Fenster war unser Des- 
sauisches Philanthropinwaldchen, und zwei Menschen waren 
gliicklich, ob sie gleich befahlen und gehorchten. Das Maschinen- 
werk des Lobes, das ich in dem Regulativ meinem Hofmeister so 
sehr anpries, legt' ich beiseite, weil es nicht an einen, sondern an 
eine ganze Schule anzusetzen 1st: mein Paternosterwerk war seine 
Liebe zu mir. Kinder lieben so leicht, so innig; wie schlimm muB 
ders treiben, den sie hassen! Auf der Skala meiner Strafen-Karo- 
Hna oder Theresiana standen - statt der padagogischen Ehren- 20 
und Leibesstrafen - Kalte, ein trauernder Blick, ein trauernder 
Verweis und die hochste, das Drohen, fortzugehen. Kinder von 
zartem Herzen und von einer immer durch den Wind aufgehobnen 
Phantasie wie Gustav sind am leichtesten zu wenden und zu dre- 
hen; aber auch ein einziger falscher RiB des Lenkseils verwirrt 
und verstockt sie auf immer. Besonders sind die Flitterwochen 
einer solchen Erziehung so gefahrlich wie diein der Ehe mit einer 
feinfuhlenden Frau, bei welcher ein einziger kakochymischer 
Nachmittag durch keine kiinftigen Jahr- und Tag^eiten wieder 
auszutilgen ist. Ich wills nur bekennen : eben einer solchen sensiti- jo 
ven Frau wegen bin ich Hofmeister geworden. Da die Weiber 
(hieB es in mir) in einem auffallenden Grade alle Vollkommen- 
heiten der Kinder haben - die Fehler derselben schon weniger -: 
so kann ein Mensch, der an den so weit auseinanderstehenden 



SIEBZEHNTEK SEKTOK 1 37 

Asten der Kinder sein Gespinste anzukleben und anzuziehen weiB, 
d.h. der sich in Kinder schicken kann, so sehr schlimm unmoglich 
fahren als andre, wenn er - heiratet. 

Wo der Tadel das Ehrgefuhl des Kindes versehrte, da unter- 
driickte ich ihn, um meine Kollegen in der Runde durch das Bei- 
spiel zu lehren, da 6 das Ehrgefuhl, das unsere Tage nicht genug 
erziehen, das Beste im Menschen sei — daB alle andre Gefiihle, 
selbst die edelsten, ihn in Stunden aus ihren Armen fallen 
lassen, wo ihn das Ehrgefuhl in seinen emporhalt - daB 

io unter den Menschen, deren Grundsatze schweigen und deren 
Leidenschaften ineinanderschreien, bloB ihr Ehrgefuhl dem 
Freunde, dem Glaubiger und der Geliebten eine eiserne Sicher- 
heit verleihe. 

Sieben Tage fruher, als recht war, kommunizierte meinGustav; 
denn das Konsistorium - die Feme der Pfarrherren, die Poniten- 
tiaria der Gemeinden und die Widerlage der Regierung — schickte 
uns mit Vergniigen als geistige Fastendispensation oder Alters- 
ErlaB (venia aetatis) diese sieben Tage, um welche sein Kom- 
munion-Alter zu leicht war, fur ebensoviel Gulden geschenkt 

20 aufs SchloB heraus. Mein Zogling muBte also - der geschickteste 
Religionlehrer saB vergeblich zu Hause - wochentlich zweimal 
zum dummen Senior Set^mann in Auenthal abmarschieren, der 
zum Gluck kein Jurist wie ich war und in dessen Pfarrwohnung 
ein Rudel Katechumenen die Schnauzen in geronnene Katechis- 
mus-Milch stecken muBten - Gustav brachte statt des Tier-Rus- 

^ sels einen zu kurzen Mund mit. 

Gleichwohl war der Senior Setzmann nicht iibel; auf einem 
Parlaments-Wollensack hatt* er sich zu einem Redner gesessen, 
d.h. zu einem Ding, das unter den Personen, die ihm anfangs 

3° nicht glauben, zuerst seine eigne iiberredet - Ein Redner ist so 
leicht zu iiberreden , als er iiberredet - Der Senior war jeden Sonn- 
tag in den ersten Stunden nach der Predigt fromm genug; er kann 
zwar verdammt werden, aber bloB Mangel an Predigten wiird' 
es tun und der an Bier. Eine verniinftige Betrunkenheit kommt 
beides dem as^etischen und dempoetischen Enthusiasmus unglaub- 
lich zustatten. Die Leser sind meine Freunde nicht, welche sagen, 



138 DIE UNSICHTBARE LOGE 

aus bloBem Arger unci Neid - daB mein Gustav seine Stunden 
horte - schrieb' ich es hier in die Welt hinaus, daB der Keller die 
Pauls- und Peterskirche-des Seniors war - daB seine Seele, wie ge- 
fliigelte *Fische, nur so lange emporflog, als die Schwingen ein- 
geolet waren - daB er immer betrunken und geruhrt zugleich er- 
schien und eher nicht in den Himmel hineinbegehrte, als bis er 
ihn nicht mehr sehen konnte. Hermes und Oemler sagen, ich 
wiirde Argernis vermeiden - obgleich das Beispiel Setzmanns ein 
groBeres geben mufi als der Spafi dariiber -, wenn ichs lateinisch 
vortriige, daB die aquae supra coelestes seiner Augen allemal seine 10 
zwei Schuh tiefern humores peccantes begleiteten. 

Gustav ging an wehenden Friihlingnachmittagen auf jungem 
Grase zu ihm und freuete sich unterwegs auf zwei hubsche 
Dinge - : erstlich auf diesen Missionar der heidnischen Dorf jugend 
selber, dessen schwarmerischer Atem Gustavs Ideen, deren jede 
ein Segel war, wie ein Sturmwind bewegte und der besonders in 
der letzten, sechsten Woche, wo er die jungen Sechswochner iiber 
den Leisten des sechsten Hauptstiicks schlug, meines Gustavs 
Ohrenso verldngerte^ daB zwei i%tge/daraus wurden, die mitseinem 
Kopfchen davongingen. - Zweitens spitzte dieser sich auf eine 20 
breite Bituk iiber einem breken Halstuch und dergleichen Schiirze, 
welches alles noch dazu so blutenweiB war wie er und am schon- 
sten Leibe in der ganzen Pfarrei saB - an Reginens ihrem, welche 
darin sich auf das zweite Kommunizieren vorbereitete. So etwas, 
mein Gustav, machte dich ganz naturlich aufmerksamer als zer- 
streuet; und wenn mir das Scholarchat nur eine halbe solche Muse 
statt des Bauchkissens meines lecken Konrektors auf dem Lehr- - 
stuhle entgegengestellt hatte: Himmel! ich wiirde gelernt haben, 
ferner memoriert, ferner dekliniert, desgleichen konjugiert, und 
endlich exponiert !- Deshalb war es zweitens eben keine Hexerei, 30 
Gustav - da bloB dein Ohr der Windseite vom Pastor entgegen- 
lag, das Auge aber der Sonnenseite von Reginen -, daB du wenig 
dir aus der halben Stunde machtest, die der Senior dariiber gab, 
um sein Gewissen zum Narren zu haben. Er hielt, um den Frais- 
und Zentherrn und Feimer im Herzen, das Gewissen, stille zu 
machen, seine Kinderlehren eine halbe und seine Predigten drei- 



SIEBZEHNTER SEKTOR 139 

viertel Stunden langer als die ganze Diozes. Der Mensch tut lieber 
mehr wie seine Pflicht als seine Pflicht. 

Da Gustav nicht wuBte, daB Madchen nichts iibersehen und 
alles uberhoren: so war ihm der ganze Katechismus ein Liebe- 
brief, in dem er sich mit ihr unterredete. Wenn sie dem Senior zu 
antworten hatte: wurd' er rot; »der Senior«, dacht' er, »kann sein 
Fragen und Qualen nicht verantworten«, und sein Sehnerve wur- 
zelte auf ihrem Gesichte. 

Da die Falkenbergischen kein besonderes Kommunizierzimmer 

io mit samtnen Dielen hatten: so ging meine Pate, der Rittmeister, 
an der Spitze ihrer Lehnleute um den Altar; also auch Gustav. 

, Am Beichtsonnabend - O ihr stillen Tage meiner frommsten 
Entziickungen, geht wieder vor mir voriiber und gebt mir euere 
Kinderhand, damit ich euch schon und treu beschreibe! - Am 
Sonnabend ging Gustav nach dem Essen — schon unter demselben 
konnt* er vor Liebe und Ruhrung seine Eltern kaum ansehen - 
die Treppe hinauf, um nach einer so schonen Sitte den Seinigen 
seine Fehler abzubitten. Der Mensch ist nie so schon, als wenn er 
um Verzeihung bittet oder selber verzeiht. Er ging langsam hin- 

20 auf, damit seine Augen trocken und seine Stimme fester wiirde; 
aber als er vor die elterlichen kam, brach ihm alles wieder, er hielt 
lange in seiner gluhenden Hand die.vaterliche, um etwas zu sagen, 
um nur die drei Worte zu sagen : »Vater, vergib mir«; aber er fand 
keine Stimme, und Eltern und Kind verwandelten die Worte in 
stille Umarmungen. Er kam auch zu mir... in gewissen Verfas- 
sungen ist man froh, daB der andre in der namlichen ist und also 
unsre vergibt... Ich wollt', Gustav, ich hatte dichjetzt in meiner 
Stube. - Wenn Kinder sich Gott - nicht wie Erwachsene als ihres- 
gleichen, namlich als ein Kind, sondern - als einen Menschen den- 

30 ken : so ist das fiir ihr kleines Herz genug. Gustav ging nach diesen 
Abbitten wankend, zitternd, betaubt, wie wenn er das sahe, was 
er dachte - Gott -, in die verlassene Kindheithohle hinab, wo er 
unter der Erdrinde erzogen wurde und wo seine ersten Tage und 
ersten Spiele und Wiinsche begraben lagen. Hier wollt* er knien 
und in dieser zerbrochnen Andachtstellung, worin der Genius 
der Sonnen und Erden in jener vielleicht frommsten Zeit unsers 



J4° DIE UNSICHTBARE LOGE 

Lebens alle gefuhlvolle Kinder erblickt, seine ganze Seele in einen 
einzigen Laut, in einen einzigen Seufzer verwandeln und sie op- 
fern auf dem Dankaltar; aber dieser groBte menschliche Gedanke 
riB sich wie eine neue Seele von seiner los und iiberwaltigte sie — 
Gustav lag, und sogar seine Gedanken verstummten . . . Aber die 
Stimme wird gehort, die in der Brust bleibt, und der Gedanke ge- 
sehen, der zuriicksinktunter den Strahlen des Genius; und in der 
andern Welt betet der Mensch seine hiesigen verstummten Ge- 
bete hinaus. 

Am Abende dieses heilig-seligen Tages trug eine wiegende 10 
Ruhe auf ihren sichern Handen sein uberfulltes Herz; er schlug 
nicht gewaltsam die kurzen Kinder- und Menschen-Arme um die 
Freude, sondern dieseechlofl die Mutterarme leis' lim ihn. Dieser 
Zephyr der Ruhe wehte - anstatt daB der Orkan des Jauchzens 
den Menschen durch und wider alles reiBet - noch am Pfingst- 
tage spielend um sein Leben voll kleiner Bluten, und sein Wesen 
lag wie auf einer sanft tragenden Wolke, da die heitere Pfingst- 
sonne ihn fand; aber als der Blumengeruch der geschmuckten 
Brust, das Gefiihl des pressenden, rauschenden Anzugs, das Glok- 
kengelaute, dessen fortlaufende Tone wie goldne Faden um alle a=> 
einzelne Auftritte Hefen und siein einem verbanden, der Birkenduft 
und das griine Helldunkel der Kirche, sogar das Fasten, da all 
dies seine Gefuhle und seine Blutkiigelchen in fliegende Kreise 
warf: so stand in seiner Brust eine angeziindete Sonne; das Bild 
eines tugendhaften Menschen brannte nie in so groBen, iiber die 
Wolken hinaustretenden Umrissen vor ihm als da! — 

Aber der Abend! - Die kleinen Kommunikanten spazierten da 
mit leichterem Herzen und vollerem Magen in sittsamen Gruppen 
herum und fiihlten Essen und Putz. Gustav - von dessen Flammen 
das Abendessen einiges iiberleget hatte, wiewohl sich noch eine jo 
sanfte Glut verhielt - wandelte seinen Garten, da sein Kopf kein 
Tanzplatz, sondern eine Moosbank froher Gefuhle war, langsam 
auf und ab und zog die eingeschlafnen Tulpenblatter auseinander, 
um aus diesem Blumenkerker manches verspatete Bienchen los- 
zulassen. Endlich lehnte er sich an den Turstock des hintern Gar- 
tenturchens und sah sehnend liber die Wiesen ins Dorfchen hinab, 



SIEBZEHNTER SEKTOR 141 

wo die gereiheten Eltern zusammen plauderten und den Kindern 
miitterlich-eitel nachschaueten, welche heute zum ersten und wohl 
zum letzten Male spazieren gingen, weil Bauern und Morgenlan- 
der nur Sitzen lieben. Da ruckte ein scheues Bauerkinder-Pikett 
behutsam um die Gartenmauer herum, weil dasselbe den alten 
Starmatz, den Gustav heute mit seinem Bauer ins Freie getragen, 
gern naher horen wollte in seiner echt-ironischen Laune voll der- 
ber Schimpfworter. Kinder sind in fremden Kleidern und an frem- 
den Orten sich fremd; aber Gustav hatte seinen Leitton, um mit 

10 ihnen ins Gesprach uberzugehen, zum Gliicke bei der Hand, den 
Matz, mit welchem er bloB in eines zu geraten brauchte. Und alles 
gelang; und die redenden Kunste des Vogels machten bald die 
Konversation so allgemein und unbefangen, dafi man uber alles 
mit alien sprechen konnte. Gustav fing an Geschichtchen zu er- 
zahlen, aber vor einem jiingern und billigern Publikum als ich; 
seine Geschichtchen erdachte und erzahlte er im namlichen Augen- 
blick, und seine Phantasie stieB mit ihren Fliigeln im unermefi- 
Hchen Tummelplatz an nichts. Oberhaupt erflndet man geschei- 
tere Contes unter dem Sprechen als unter dem Schreiben, und 

20 Madame d'Aunoy, die ich lieber heiraten als lesen mochte, wurde 
uns groBen Kindern bessere Feenmarchen gegeben haben, wenn 
sie solche vor den Ohren der kleinen erfunden hatte. 

Unter dem Vorwande des Niedersetzens lud und bat er sein gan- 
zes Hor-Publikum auf einen Altan, der um einen Lindenbaum im 
Garten samt einerTreppe geflochten und gewolbet war — Ich lasse 
so zeitig meine Leser nicht herab; denn Bienen, Bildschnitzer 
und ich lieben Linden sehr, jene des Honigs, diese des weichen 
Holzes und ich des weichen Namens und des Duftes wegen. 
Aber hier ist noch etwas ganz anders zu lieben - Drei Kommu- 

30 nikantinnen horchten zur offnen Gartentur hinein und verdoppel- 
ten von weitem den Horsaal: mit einem Worte, Regina war dar- 
unter und ihr Bruder schon mit droben; die Galerie oder die 
Logen muBten endlich - da das Hinaufrufen nichts half - das 
weibliche Parterre hinaufzerren. Ich erzahle selber jetzt feuriger 
nach; kein Wunder, daB auch Gustav es tat. Regina setzte sich 
am weitesten von ihm, aber ihm gegeniiber. Er fing eine ganz 



142 DIE UNSICHTBARE LOGE 

frische Historie an, weil das bureau d'esprit viel starker geworden. 
Em elendes blutjunges Madchen - Kinder wollen inder Geschichte 
am liebsten Kinder - make er vor, eines ohne Abendbrot, ohne 
Eltern, ohne Bett, ohne Haube und ohne Siinden, das aber, wenn 
ein Stern sich putzte und herunterfuhr, unten einen hiibschen 
Taler fand, auf dem ein silberner Engel aufgesetzt war, welcher 
Engel immer glanzender und breiter wurde, bis er gar die Fliigel 
aufmachte und vom Taler aufflog gen Himmel und dann der Klei- 
nen droben aus den vielen Sternen alles holte, was sie nur haben 
wollte, und zwar herrliche Sachen, worauf der Engel sich wieder 10 
auf das Silber setzte und sehr nett da sich zusammenschmiegte. - 
Welche Flammen schlugen unter dem Schaffen aus Gustavs Wor- 
ten heraus, aus seinen Augen und Mienen in die Zuhorerschaft 
hinein. Noch dazu stickte nebenbei der Mond die Lindennacht auf 
dem FuBboden mit wankenden Silber-Punkten - eine verspatete 
Biene kreuzte durch den gliihenden Kreis und ein schnurrender 
Dammerungvogel um einen bekranzten Kopf- auf dem Doppel- 
Grund von Lindengriin und Himmelblau zitterten Blatter neben 
den Sternen — der Nachtwind wiegte sich auf diinnem Laube und 
auf Goldflittern der geputzten Regina und bespiilte mit kiihlen 20 
Wellen ihre Feuerwange und Gustavs Flammenatem . . . . Aber 
wahrhaftig ich behaupte, den Katheder brauchte er nicht einmal, 
so herrlich waren Katheder und Redner. Wie konnt' ihm dieser 
notig sein, da er der Braut Christi und seiner eignen erzahlte; da 
der ganze heutige Tag mit seinem blendenden Nimbus wieder 
aufstand; da er das Mitleid in die Brust der unbefangenen Kinder 
einfiihrte und aus ihren Augen es wieder vorpreBte; und da er 
gewisse weibliche sich benetzen sah — Seine eignen zergingen in 
Wonne, und er dehnte sein Lacheln immer weiter auseinander, 
um damit sein Auge zu bedecken, das sich schon schoner bedecket 30 
hatte. — »Gustav!« hatt* es schon zweimal vom Schlosse her ge- 
rufen- aber in dieser seligen Stunde horte es keiner; bis zum drit- 
ten Male die Stimme nahe unten im Garten erklang. Die betaubte 
geheime Gesellschaft rollte die Treppe hinab; - neben Gustav 
verweilte nur noch Regina unter der dunkeln Laube, um eiligst 
mit ihrer Schiirze die Spuren der Erzahlung aus den Augen zu 



SIEBZEHNTER SEKTOR 143 

bringen und mit einer Nadel sich etwas hinaufzustecken - er stand 
dem Gesichte, auf dem so viele schone Abendroten seines Lebens 
untergegangen waren, so nahe und so stumm und hielt sie ein 
wenig, als sie nachwollte - ware sie stille gestanden, so hatt* er sie 
nicht halten konnen; aber da sie riB: so umfaBte er sie fester und 
im groBern Bogen - ihr Ringen vereinigte beide, aber seiner 
trunknen Seele ersetzte die Nahe den KuB - das Strauben fuhrte 
seine zuckende Lippen an ihre - aber doch erst als sie seine Brust 
von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann 
io erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute be- 
rauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aus- 
saugen und seine ganze eingieBen - sie standen auf zwei entfernten 
Htmmeln, zueinander iiber den Abgrund heriibergclehnt und ein- 
ander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht los- 
lassend zwischen die Himmel hinunterzusturzen — 

Konnt* ich seinen ersten KuB tausendmal brennender ab- 

malen: ich tat* es; denn er gehort unter die ersten Abdriicke der 
Seele, unter die Maiblumen der Liebe, er ist die beste mir be- 
kannte Dephlegmation des erdigen Menschen. Nur ist es in diesem 
20 deutschen und belgischen Leben nicht moglich zu machen, daB 
der Mensch iiber fiinf oder sechs Male zum ersten Male kusse. 
Spater sieht er allezeit in seine Sachdefinition, die er von einem 
Kusse im Kopfehat, ordentlichhinein und zitiert den Paragraphen, 
wo's stent; der ganze Inhalt des dummen Paragraphen ist aber 
der, die eigentliche Sache sei ein Zusammenplatten roter Haute. 
Wahrlich ein Autor von Gefuhl kann sich nicht niedersetzen und 
bedenken, daB ein KuB eines von den wenigen Dingen ist, die nur 
genossen werden , wenn unter dem Geistigen das Korperliche nicht 
vorschmeckt - ohne daB ein solcher Autor von Gefuhl (es ist 
jo niemand als ich) die ausfilzet, die nicht so viel Verstand haben wie 
er - er filzet nicht bloB die Herren Veit Weber und Kot^ebue, in 
deren Schriften zu viele Kusse stehen, sondern auch andre Leute 
aus, in deren Leben zu viele kommen, namentlich ganze Picke- 
nicks, die einander nach dem Tischgebet die Wangen mit den 
Lippen abbiirsten und anschropfen. Kommt es gar so weit, daB 
diese schone Lippenbliite unsers Gesichts sich an Hauten von 



144 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Schafen und von Seidenraupen,an Handsandalen, zerkniillen muB : 
so will ein Autor von so viel Empfindung derleidenden Partei 
die Hande und der tatigen die Lippen wegschneiden 

Ich begieBe den vom letzten Kusse erhitzten Leser mit diesem 
kalten Wasserschatze wirklich nicht deshalb, urn mit ihm so um- 
zuspringen wie das Schicksal mit mir; denn dieses hat sichs einmal 
zum Gesetz gemacht, jedesmal wenn ich mitten im Freudenot 
solcher Auftritte wie der Gustavische — oder auch nur der Be- 
schreibung solcher Auftritte - stehe, mich sogleich in Salzlaken 
und Vitriolole unterzutauchen. Sondern ich wollte gerade um- 10 
gekehrt die haBliche Empfindung uber den Tausch entgegenge- 
setzter Szenen dem Leser halbieren, die der arme Gustav ganz 
bekam, da es unten rief: 

»Wollt ihr gleich!« Die Rittmeisterin legte in den Ton mehr 
Beleidigendes, als mein unschuldiger Gustav noch zu fuhlen ver- 
stand. Die Liebhaberin verliert in solchen Oberraschungen den 
Mut, den der Liebhaber bekommt. Die ersten Versikel des ab- 
gefluchten Strafpsalms durchlocherten das Ohr der schuldlosen 
Regina, welche stumm und weinend aus dem Garten schlich und 
so den freudigen Tag triibe beschloB. Die sanftern Verse erfaBten 20 
den Geschichtdichter, der seine Contes moraux asthetisch und 
mit Pathos auszumachen vorhatte und nun selber von einem 
fremden Pathos erwischt wurde. Ernestinens Herz, Lippen und 
Ohren waren hinter den strengsten Gittern erzogen ; daher wich 
ihre so melodische Seele (bei einem bloBen KuB) in eine fremde 
harte Tonart aus; sie gab vom schonsten Madchen nichts zu, als: 
»Ein gutes Madchen ists.« Oberhaupt ist mir die Frau, die gewisse 
Fehltritte einer andern sehr schonend beurteilt, mit ihrer Duldung 
verdachtig : eine ganz reine weibliche Seele erzwingt an sich hoch- 
stens die Miene dieser Toleranz fur eine weniger reine. 30 

1 Gustavs Mut zum KuB istiibrigens natiirlich. Unser Geschlecht durch- 
Iauft drei Period en des Muts gegen das schone - die erste ist die kindliche, 
wo man beim weiblichen Geschlecht noch aus Mangel an Gefuhl etc. wagt - 
die zweite ist die schwarmerische, wo man dichtet, aber nicht wagt - die dritte 
ist die letzte, wo man Erfahrung genug hat, um freimutig zu sein, und Gefuhl 
genug, um das Geschlecht zu schonen und zu achten. Gustav kiiflte in der 
ersten Periode. 



ACHTZEHNTER SEKTOR 1-45 

Auf unschuldige Lippen driickte Gustav den ersten und letzten 
KuB; denn in der Pfingstwoche zog die Schaferin nach MauBen- 
bach als SchloB-Dienstbote. Wr werden nichts mehr von ihr 
horen. - So wird es durch das ganze Buch fortgehen, das wie das 
Leben voll Szenen ist, die nicht wiederkommen. Nun tritt schon 
die Sonne hoher an Gustavs Lebenstage und fangt an zu stechen - 
eine Blume der Freude um die andre biickt sich schon vor- 
mittags zum Schlummer nieder, bis nachts um 10 Uhr der ge- 
senkte Flor mit verschwundnen Bliiten schlaft.... 



10 ACHTZEHNTER SEKTOR 

ScheerauischeMolukken - Roper- Beata-offizinelleWeiberkleider-Oefel 

Ich wiirde narrisch handeln und schreiben, wenn ich - da uns 
alle, Leser sowohl als Einwohner dieser Biographie, Scheerau so 
nahe angeht; da Gustav, der Held, dahin als Kadett kommt; da 
ich, der Hofmeister, daraus komme; da Fenk, der Doktor, noch 
daselbst ist und da Fenk in dieser Geschichte noch wichtig werden 
kann - drei Papiere von Dr. Fenk trotz aller dieser Griinde nicht 
einruckte. Die Rede ist von {wei Zeitungsartikeln und einem Brief, 
die der Pestilenziar geschrieben. 

20 Ich weiB gewifi, daB es einigen hohen Fremden, die durch die 
scheerauischen hohern Zirkel gereiset, bekannt ist, daB der Doktor 
eine Zeitung schreibt, die nicht gedruckt wird, namlich eine ge- 
schriebne Gazette oder Nouvelles a la main, wie mehre Residenz- 
stadte sie haben. Dorfer haben gedruckte Neuigkeiten, kleine 
Stadte miindliche, Residenzstadteschriftliche. Das Papier ist Fenks 
Marforio und Pasquino, der seine satirischen Arzneien austeilt. 

Seinen ersten Zeitungartikel flecht' ich ein, schon bloB des 
Journals fur Deutschland wegen. Dieses so platte und so wort- 
reiche Journal - denn sonst war' es weder von noch fur Deutsch- 

30 land geschrieben - riickte eine gute Abhandlung von mir nicht 
ein, die ich liber den auBerordentlichen Handelflor in Scheerau 
eingeschickt, weil vielleicht keine Regierung in Deutschland we- 



146 DIE UNSICHTBARE LOGE 

niger bekannt ist als die scheerairische. Wahrhaftig man sollte 
denken, dieses Fiirstentum verstecke sich wie ein Walfisch unter 
die Eisrinde der Polarmeere, so unbekannt sind die wichtigern 
Nachrichten von ihm; z.B. solche wie die, daB wir Scheerauer 
seit der neuen Regierung den ganzen ostindischen Handel und die 
Molukken an uns gezogen, von denen wir jetzo unsere Gewurze 
selber holen, welche letzte die Regierung eigenhandig dazu aus 
Amsterdam verschreibt. — Aber das steht ja eben im ersten Zei- 
tungsartikel. 

Nro. 16 

Gewiirzinseln und Molukken in Scheerau 

Der Brandenburger Weiher bei Baireuth ist ein ausgegrabner 
Landsee von 500 Tagwerken, und vor einigen Monaten saB ich 
eine Stunde darin; denn man trocknet ihn jetzt zum Besten seiner 
bleichen Kiistenbewohner aus. Der scheerauische Weiher, an dem 
vier Regenten weitergraben lieBen, hat 1 29 Tagwerke mehr und 
ist fur Deutschland wichtig: denn durch seine aerostatischen 
Diinste wird er so gut wie das Mittellandische Meer das Wetter in 
Deutschland andern, sobald der Wind iiber beide geht. Die Ebbe 
und Flut muB genau genommen sogar auf einer Trane oder im ; 
Saufnapfchen eines Zeisigs stattfinden, wie viel mehr auf einem 
solchen Wasser: - die Diozes von Inseln, die diesen Teich so 
putzt und furniert, z.B. Banda, Sumatra, Zeylon und das schone 
Amboina, die groBen und kleinen Molukken, traten erst unter der 
jetzigen Regierung aus dem Wasser - oder vielmehr ins Wasser. 
Herrn Buffon, wenn er noch lebte, und andre Naturforscher muBt' 
es frappieren, daB die Inseln auf dem Scheerauischen Ozean nicht 
durch Auftiirmungen von Korallen entstanden — auch nicht durch 
Erdbeben, die den Dromedar-Rucken des Meergrundes aus dem 
Wasser aufkrummten - selber durch keinen Vulkan in der Nahe, 
der diese Berge ins Wasser hineingesaet hatte; denn Sumatra, die 
groBen und die kleinen Molukken wurden bloB in kleinen Partien 
auf unzahligen Schubkarren und Leiterwagen an die Kiisten her- 



ACHTZEHNTER SEKTOR 147 

beigeschoben - und weil auf den Karren Steine, Sand, Erde und 
alle Ingredienzien einer hubschen Insel waren, so brachten die 
Fronbauern, Iandesherrliche sowohl als ritterschaftliche, die eben- 
so viele (Tabak-) rauchende und Inseln bildende Vulkane waren, 
in kurzem die Molukken fertig, indes die ritterschaftlichen Briik- 
ken tiber Iandesherrliche Wasser noch nicht angefangen sind. Die 
Absicht des Landesherrn ist, den ganzen ostindischen Handel bei 
Asien in Scheerau so bei der Hand zu haben wie eine Rappemuhle 
- und ich denke, wir haben ihn; nur mit dem Unterschiede, daB 

i3 die scheerauischen Gewurzinseln noch besser sind als die hol- 
landischen. Auf den letzten muB man erst das Reifen des PfefFers, 
der Muskatnlisse etc. abpassen; aber auf unsern liegt schon alles 
reif und trocken da. und man darfs nur ans Essen reiben : das 
macht, weil wir alle diese Fruchte schon ganz zeitig aus — Amster- 
dam verschreiben. Es ist namlich so: 

»Entweder alles oder nichts ist ein Regale. Der Rechtskundige 
kann es nicht billigen, daB die Fursten, wiewohl sie die kostbar- 
sten, aber seltensten Produkte zu ihren Regalien erheben, gleich- 
wohl die gemeinen, aber desto ergiebigern in den Handen der 

20 Landeskinder lassen und dadurch den Fiskus schwachen. Der 
Jurist findet bei den siidasiatischen Fiirsten, so despotisch sie sonst 
sind, mehre Folgerichtigkeit, welche nicht das Wild, oder Salz, 
oder Bernstein, oder Perlen, sondern das ganze Land und den 
ganzen Handel nehmen und beide bloB jahrlich verpachten. Die 
deutschen Fiirsten haben hiezu groBere Befugnis als alleandre; 
denn alle europaische Reiche haben indische Besitzungen, haben 
ein Neu-England, Neu-Frankreich, Neu-Holland; aber ein Neu- 
Deutschland hat das Alt-Deutschland nicht, und das einzigeLand, 
welches ein Fiirst noch wegzunehmen hat, ist sein eignes, man 

30 miiBte denn aus Polen oder der Turkei ein Neu-Osterreich, Neu- 
PreuBen etc. zu machen wissen. 

Allein dieses sah bisher kein Regent als der scheerauische ein, 
der diese Grundsatze seinem geheimen Kabinette vorlegte, aber 
schon vor dem Abstimmen seinen EntschluB gefasset hatte: daB 
nun die Leute alles Gewiirz bei ihm nehmen sollten. Er selber 
schafft nun, gleich der Natur, auf seinen Molukken die Gewiirze, 



I48 DIE UNSICHTBARE LOGE 

die sein Land isset, indem er sich durch den Kommerzien-Agenten 
von Roper den Samen dieser Gewurze - Pfeffer-Korner, Niisse 
etc., aber nicht zum Pflanzen, sondern zum Kochen - aus Amster- 
dam spedieren lasset. Daher umschniiret (weil die Molukken bei 
der Gewiirz-Defraudation litten) ein Pfeffer- und Zimt-Kordon 
von Kadetten und Husaren das Land; niemand konnte eine Mus- 
katnuB einschwarzen als die Muskattaube in ihrem dicken Ge- 
darm. Alles, was meine scheerauische Leser aus den Laden nehmen, 
der Kaufladen mageinem groBen Hause gehoren,dasmehr Schiffe 
und Reisediener auf den Beinen erhalt als ich Setzer, oder er mag 10 
von einem armen Hoker gemietet sein, dessen Schilderung mich 
schon dauert, dessen Strazza eine Schiefertafel ist und dessen Ka- 
pitalbuch eine schmierige Stubentur und dessen Kaufmannsgiiter 
nicht zu Schiffe, sondern als Landfracht unter dem Arme oder auf 
der Achse, d.h. an einem Stocke auf der Achsel gebracht werden- 
in beiden Fallen kauet der scheerauische Leser Erzeugnisse aus 
Molukken, die vor seiner Nase sind. - 

Einer, der dergleichen beurteilen kann, fallet nachher dem Ge- 
wiirz-Inspektor von Herzen bei, welcher im scheerauischen Intel- 
ligenzblatte schreibt, 1) daB jetzt das LandPfeffer und Ingwer um 20 
niedrigern Preis erhalten konnte, weil bloB der Fiskus imstande 
ware, sie in groBern, mithin in wohlfeilern Partien zu beziehen - 
2) daB der Regent jetzt vermogend sei, diese Leckereien, die unsern 
Beutel iiber Indien leeren, unter alien Deutschen zuerst den Schee- 
rauern abzugewohnen, indem er bloB den Preis betrachtlich zu 
steigern brauchte. - 3) und daB eine neue Dienerschaft ihr Brot 
hatte. 

Ich brauch* es nicht zu verteidigen, daB unser Fiirst - da die 
russische Kaiserin Dorfern das Stadtrecht gibt - Schutt-Hiigeln 
das Inselrecht er teilt, oder daB er ihnen ostindische Namen schenkt, 30 
da jeder Tropf von Schiffer bei der groBten Insel, die er noch dazu 
mehr entdeckt als macht, Patenstelle vertreten darf. Unser Suma- 
tra ist iiber 1 / 4 Quadratviertelstunde groB und hat hauptsachlich 
Pfeffer — die Insel Java ist noch groBer, aber noch nicht fertig - 
auf Banda, das dreimal so grofi als der Konzertsaal ist, liefert die 
Natur Muskatnusse, auf Amboina Gewiirznelken - auf Teidor ' 



ACHTZEHNTER SEKTOR 1 49 

steht ein artiges Landhaus eines bekannten Scheerauers (des 
Doktors hier selber) - die kleinen Molukken, die in den Weiher 
hineinpunktiert sind, kann ich samt ihren Produkten in die Westen- 
tasche stecken, sie haben aber ihr Gutes. - Wer noch in keiner 
Seestadt, in keinem Hafen war: der kann hieher in den Scheerauer 
reisen und selber nachmittags ein Zeuge davon werden, was in 
unsern Tagen der Handel ist, den die verbundnen Hande aller 
Volker heben — hier kann er sich einen Begriffvon Kauffahrtei- 
fiotten machen, von denen er so viel, aber nur blind gelesen und 
10 die er hier wirklich uber unsern Teich segeln sieht - er kann die 
sogenannte Gewiirzflotte des Herrn Kommerzien-Agenten von 
Roper sehen, die gleich einem hitzigen Klima die notigen Ge- 
wiirze, die er verschrieben, unter alle Inseln austeilt - cr kann audi 
auf arme Teufel stoBen, die auf ein wenig FloBholz sich aus Ost- 
indien die wenigen Kaufmannsgiiter abholen, die sie kreuzerweise 
absetzen — am Hafen und Ufer, wo er selber steht, kann er be- 
merken, was der Kustenhandel ist, den da sogenannte Fratschler- 
Weiber mit Pfeffer- und Welschen-Niissen im kleinen treiben.« 

Ende von Nro. 16 

20 Das zweite Stuck der Fenkischen Zeitung isteine Schilderungeben 
dieses Kommerzien-Agenten von Roper ohne seinen Namen. 
Wenn der Leser diese Abschweifung gelesen hat: sowird er sagen, 
es war gar keine. 

Nro. 21 

Ein unvollkommner Charakter, so fur Romanenschreiber im Zeitung- 
komptior zu verkaufen steht 

Im Roman gefallen wie in der Welt keine vollkommen-gute 
Menschen ; aber auch auf der andern Seite wird einer weder Lesern 
noch Nebenmenschen gefallen, der ganz und gar ein Schelm ist - 
30 bloB halb oder dreiviertel muB ers sein, wie alles in der groBen 
Welt, Lob und Zote und Wahrheit und Luge. 



150 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Im Zeitungkomptoir steht ein halber Schelm und wird alien 
Romanschreibern im Scheerauischen urn das wenige, was sie dafiir 
geben konnen, verkauflich erlassen. Ich versichere die Herrn 
Schreiber, daB ich etwa nicht die Unvollkommenheiten dieses 
Schelms iibertreibe, um ihn teuerer abzusetzen; der Inhaber 
nimmt den Schelm wieder zuriick, wenn er nicht Bosheit genug 
hat. 

Dieser unvollkommne Charakter wurde im Kirchenstaat ge- 
zeugt und an der Grenze von Unter-Italien geboren ; und kaufte 
sich, nach seiner Taufe und Mundigkeit, Hecheln und Mausfallen. 1 
Die wenigsten Deutschen wissen, daB sie die Italiener, bei denen 
dieser Handelzweig bliihet, reich auskaufen. Unser Charakter 
schwang sich bald von einem Hechel-Kommissionar zu einem 
Hechel-Associe empor; er verfertigte die Mausfallen, die er aus 
Italien bezog, in Deutschland, und die Mauslocher waren sein 
Ophir und die Flachsfelder seine Miinzstadte. Die Hechel, die er 
vor dem Einkauf seines Adeldiploms an gegenwartigen Tiermaler 
verkaufte, schlug er ihm fur sechstehalb Gulden los. 

Er muB schon vor seiner Geburt in der andern Welt in einem 
gro.Ben Hause gehandelt haben; denn er brachte eine Kaufmann- : 
Seele schon fertig mit. Es war nicht klug von mir, daB ichs nicht 
eher erzahlet habe, daB er als Knabe von neun Jahren in seiner 
Blatterkrankheit einen kleinen Kaufladen aufsperrte und mit dem 
Pockengifte feil hielt, das man aus seiner Apotheke, namlich von 
seinem Korper nahm zum Einimpfen. Er gab keine Blatter um- 
sonst her, sondern verlangte sein Geld dafiir und sagte, er sei ein 
Pocken-Samereihandler, aber noch ein junger Anfanger. Diesen 
Handel mit eigner Manufaktur legt' ihm bald der Arzt und die 
Natur, und der Doktor sagte, er sei so teuer wie ein Apotheker. 
Daher wollt' er sogar selber einer werden. 

Er wurd' auch einer, aber nach dem mecklenburgischen Idio- 
tikon; denn in diesem heiBet jeder Materialladen eine Apotheke. 
Namlich in Unterscheerau anderte er die Religion und den Nahr- 
zweig und bauete sich einen Laden, der bloB fur Kaufer Hechel 
und Mausfalle war. Hier hielt er sich einen Ladenjungen, ein 
Kiichenmensch, einen Friseur, einen Barbier und einen Vorleser 



ACHTZEHNTER SEKTOR I 5 I 

des Morgensegens - alle diese Personen machten nur cine 
Person aus, seine eigne; diese war und tat wie ein Ensoph 
alles. 

Da bei unserem Schelm als einem unvollkommnen Charakter 
Tugenden in Fehler vererzt sein mussen - ich wiird' inn sonst 
keinem Roman-Bauherrn antragen — : so nehme man mirs nicht 
ubel, daB ich auch seine weiBe Seite neben seine schwarze bringe, 
wie man auf boheimischen Tafeln immer weiBe und schwarze Ge- 
richte nebeneinander stellet. 

10 Er ging damals Sonntags aus seinem Laden bei aller erlaubter 
Sparsamkeit doch gut gekleidet heraus. Seinen Hut, seine Ring- 
finger und seine Weste bordierte echtes Gold; seinen Magen und 
seine Waden spann der Seidenwurm cin und seinen Riicken das 
englische Schaf. Es ist ganz der menschlichen Bosheit gemaB, das 
Verschwendung zu nennen, was hier seltene verheimlichte Wohl- 
tatigkeit war; alles, was der unvollkommne Charakter anhatte, 
waren - Pfander; denn urn die Leute vom Verpfanden abzu- 
bringen, drohte er jedem, jedes Pfand, worauf er leihe, wurd' er 
so lange anziehen, als es bei ihm stande. Auf diese Art hielt er 

20. manchen ab, und die Kleidung dessen, bei welchem menschen- 
freundliches Warnen nichts verfing, legte er wirklich Sonntags 
nach dem Essen an. Es war daher weniger Mangel an Geschmack 
als an Geiz und Harte, daB er an sich, so wie mehre Dienst- 
Personen, so auch mehre Kleider vereinigte und so bunt aufschritt 
wie ein Regenbogen oder wie eine Kleidermotte, die sich von 
Tuch zu Tuch durchfriBt. 

Da ich so gewiB weiB, daB Verschwendung ihn nicht verun- 
zierte, so sehr es den Anschein hat ; so will ich alien Anschein durch 
die Nachricht wegnehmen, daB er jeden Sonnabend sein Pfund 

50 Fleisch im Zolibate kaufte, aber - denn sonst bewiese es noch 
nichts - nicht aB. Er aB allerdings eines und mit dem Loffel; aber 
es war vom vorigen Sonnabend. Der unvollkommne Charakter 
holte namlich jeden Sonnabend sein Andachtfleisch aus der Bank 
und veredelte und dekorierte damit sein Sonntag-Gemus. Aber er 
nahm nichts zu sich als den vegetabilischen Teil. Am Montag 
hatt' er den tierischen noch und wiirzte mit ihm ein zweites Ge- 



I J2 DIE UNSICHTBARE LOGE 

mus - am Dienstage arbeitete das abgekochte Fleisch mit neuem 
Feuer an der Kultur eines frischen Krautes - am Mittwoch muBt' 
es vor ihm mit matten Fettaugen auf einer andern Krautersuppe 
liebaugeln - und so ging es fort, bis endlich der Sonntag erschien, 
wo das ausgelaugte Fleischgeader selber zum Essen, aber in einem 
andern Sinne, kam und Roper das Pfund wirklich aB. Ebenso 
kann man mit einem Pfund Leibnizischer, Rousseauischer, Ja- 
kobischer 1 Gedanken ganze Schiffkessel voll schriftstellerischen 
Bldtterwerks kraftig kochen. 

Diese Sparsamkeit legierte der unvollkommne Charakter noch 10 
mit einigem Betrug. Er interpolierte die Giiter, die er gut bekam, 
und schrieb zuriick, er habe sie schlecht bekommen, sie waren so 
und so und er konnte sie nur um den halben Preis gebrauchen. 
Ein Drittel des Preises spielt' er so dem Kaufmann geschickt ge- 
nug aus der entfernten Tasche. Waren, Fasser, Sacke, die inseinem 
Hause nur ein Absteig-Quartier hatten und weiterreisen mufiten, 
gaben ihm den Transito-Zoll durch ein kleines Loch heraus, das 
er in sie hineinmachte, um das wenige daraus sich zu entrichten, 
was dem Fuhrmann aufgebiirdet werden konnte, wenns fehlte. - 
Er legte ein Miinzkabinett oder Hospital fiir arme invalide ampu- 20 
tierte Goldstucke an. Andern verrufenen Munzen gab er den ehr- 
lichen Namen, den sie verloren, wieder und zwang seine Faktore, 
sie als Iegitimiert und rehabilitiert anzunehmen. Ein Goldstuck 

1 Friederich Jakobi in Diisseldorf. Wer an seinem Woldemar - das Beste, 
was noch iiber und gegen die Enzyklopadie geschrieben worden - oder an 
seinem Allwill - wodurch er die Stiirme des Gefuhls mit dem Sonnenschein 
der Grundsatze ausgleichet - oder an seinem Spinoza und Hume - das Beste 
iiber, fiir und gegen Philosophic- die zu grofte Gedrungenheit (die Wirkung 
der altesten Bekanntschaft mit alien Systemen) oder den Tiefsinn oder die 
Phantasie oder einige Ziige, die gewisse seltnere Menschen heben, bewundert : 3° 
einem solchen wird dabei das erste Anbellen, unter welchem Jakobi in den 
Tempel des deutschen Ruhms treten muBte, sehr widrig ins Ohr fallen; aber 
er muB sich nur erinnern, da6 in Deutschland (nicht in andern Landern) 
neue Kraftgeister immer an der Tempelschwelle anders empfangen werden 
(z . B. von bellenden Dreikopfen) als im Tempel selber, wo die Priester sind ; 
und sogar einem Klopstock, Goethe, Herder ging es nicht anders. Aber voll- 
ends du armer Hamann in Konigsberg! Wie viele Mardochais haben in der 
Allgemeinen deutschen Bibliothek und in andern Journalen an deinem Galgen 
gezimmert und an deinem Hangstrick gesponnen ! - Inzwischen bist du doch 
glucklicherweise nur scheintot vom Galgen gekommen. 



ACHTZEHNTER SEKTOR 1 5 J 

mochte noch so schlecht in sein Haus gekommen sein, er dankte es 
wie einen Offizier nie ohne Avancement ab. So decken solche 
edlere Seelen sogar die Mangel des Geldes mit dem Mantel der 
Liebe zu. 

Auf diese Art breiteten sich seine Kaufmanns- und Feldgiiter 
immer mehr aus, und in seinem von der freundschaftlichen Warme 
des Publikums angebriiteten Herzen regte sich, wie ein Ei-Infu- 
siontierchen, ein federloses durchsichtiges mattes Ding, das er 
Ehre nannte. Der unvollkommne Charakter HeB sich also einen 

10 Charakter als Kommerzienrat kommen. 

Jetzt, da er die Ehre recht beim Flugel und aufs Papier be- 
festigt hatte, konnt' er sie eher beleidigen als vorher, als er sie noch 
nicht unter seinen Papieren besa3. Er machte also seine Lieb- 
erklarung dem reichsten und geizigsten Vater einer schonen Toch- 
ter, welche die Liebe gegen einen Offizier zum letzten Schritte 
hingerissen hatte. Die Tochter haBte seine Lieberklarung; aber 
der Charakter mit Hiilfe des Vaters bemachtigte sich ihrer strau- 
benden Hand, zog sie daran zum Altar, schraubte den Ring ihr 
an und pfahlte ihre Hand in seine. Ihr zweites Kind war sein 

20 erstes. 1 

Da indessen seine Ehre sich nach diesem Blutverlust und diesen 
Ausleerungen schlecht auf den FuBen erhaiten konnte: so muBt* 
er daran denken, ihr ein recht starkendes Amulett, ein Ignatius- 
Blech, einen Lukas- und Agathazettel umzuhangen - ein Adel- 
diplom. Sie wurde aus der Reichshofrats-Kanzlei von Wien auch 
gliicklich hergestellt. 

Da er nicht mit seiner Frau, sondern nur mit seinen Glaubigern 
Guter-Gemeinschaft hatte: beurlaubte er sich vom Kaufmann- 
stande mit einem unschuldigen Falliment und rettete sich und sein 

30 reines Gewissen und die Giiter seiner Frau und seine eigne auf 
seinen Landgiitern, um da seinem Gott zu dienen. 

Ich meine seinen Gottern. - Freunde hatte iibrigens der un- 

1 Gebe doch der Himmel, dafi der Leser alles versteht und sich hier nur 
einigermaCen noch der ersten Sektoren erinnert, wo ihm erzahlt wurde, dafi 
die Frau des Kommerzien-Agenten Roper die erste Geliebte des Rittmeisters 
Falkenberg gewesen und dem Agenten ihren Erstgebornen von dem Ritt- 
meister als Morgengabe zugebracht. 



154 DIE UNSICHTBARE LOGE 

vollkommne Charakter nicht. Seine BegrifFe von Freundschaft 
waren zu edel und hoch und verlangten die reinste uneigenniitzig- 
ste Liebe und Aufopferung vom Freunde ; daher ekelten ihn die 
niedrigen Tropfe um ihn an, die nicht sein Herz, sondern seinen 
Beutel verlangten und die ihn bloB an sich driickten, um etwas 
aus ihm herauszudrucken. Er konnte einen solchen Eigennutz 
nicht einmal vor sich sehen, und sein Haus Htt daher, wie die 
menschliche Luftrohre oder wie Sparta, nichts Fremdes in sich. 
Er glaubte mit Montaigne, man konne nicht mehr als einen Freund, 
so wie eine Geliebte, recht lieben; daher schenkt* er sein Herz 10 
einer einzigen Person, die er unter alien am hochsten schatzte - 
seiner eignen namlich - diese hatt' er gepruft; ihre uneigenniitzige 
Liebe gegen ihn selber vermochte ihn, daB er Ciceros Ideal er- 
reichte, welcher schrieb, daB man fur den Freund alles, sogar das 
Schlimme tun konne, was man fur sich nicht tate. 

Er ist der groBte Stoiker im Scheerauischen; er sagt nicht bloB, 
an alien Vergnugungen sei nichts: sondern er verachtet auch alle 
zeitliche Giiter, weil sie ihn nicht glucklich machen konnen. Diese 
Verachtung derselben ist vom heftigsten Bestreben nach ihnen 
wohl nicht zu trennen, weil ein Weiser, wie die Stoiker in der Note 1 20 
sagen, ein Leben, in dessen Mobiliarvermogen nur eine Kratz- 
biirste oder ein Stallbesen driiber ist, einem Leben, dem bloB dieses 
wenige fehlte, vorziehen wird, ob er gleich nicht durch jenes 
gliicklicher wird. Daher legt der unvollkommne Charakter auf 
die kleinsten Effekten, wie der alte Shandy auf die kleinsten Wahr- 
heiten, einen so groBen Wert wie auf die groBten; daher muB er 
mit den NuBschalen heizen, mit abgelosten Siegeln siegeln, auf 
fremde leere Briefraume eigne Briefe schreiben etc. Der unvoll- 
kommne Charakter hat hierin Ahnlichkeit mit dem Geizigen, der 
mit ahnlichen Kleinigkeiten wuchert und den keine Griinde wider- 30 
legen konnen : denn wenn ich einen Groschen nicht wegwerfen 
darf, so darf ich auch keinen Pfennig, keinen halben Pfennig, 

keinen -7^ Pfennig- die Griinde sind dieselben. 

1 Si ad ill am vitam, quae cum virtu te degatur, ampulla aut strigilis accedat, 
sumturum sapientem earn vitam potius quo haec adjecta sint nee beatiorem 
tamen ob earn causam fore. Cic. de finib. honor, et mal. Lib. IV. 



ACHTZEHNTER SEKTOR I 55 

Im Menschen liegt ein entsetzlicher Hang zum Geiz. Den groB- 
ten Verschwender konnte man zu noch etwas Schlimmern, zum 
groBten Knicker machen, wenn man ihm so viel gabe, daB er es 
fiir viel und der Vermehrung wert hielte; und umgekehrt. So will 
der Wassersuchtige desto mehr Wasser, je hoher er davon ge- 
schwollen ist; mit seinem Wasser fallet zugleich der Durst dar- 
nach. 

Der unvollkommne Charakter dankt dem Himmel fiir zweier- 
lei, erstlich daB er in keinen Geiz, zweitens in keine Verschwen- 

io dung gefallen sei — daB er seiner Frau und seinem Kinde nichts 
versagt, alles gibt und blofi dummen Leuten, die Stoff zur Ver- 
schwendung behalten wollen, diesen Stoff aus den Handen nimmt, 
wie die alten Deutschen, Araber und Otaheiter nur Fremde, nie 
aber Inlander bestehlen - daB er keusch ist und lieber die Geld- 
katze eines Kaufmanns als den Gurtel der Venus loset - daB er 
Armen ganz anders beispringen wollte, wenn er so viel Pfennige 
hatte wie der und der -. daB er aber gleichwohl sein biBchen sich 
so wenig wie der Traurige seinen Kummer nehmen lasse und daB 
er einmal am Jiingsten Tage werde befragt werden, ob er mit 

10 seinen Pfunden (Sterling) gewuchert. — 

Dieser verkauf liche Charakter im Zeitungkomptoir ist wie ein 
englischer Missetater Ware und Verkaufer zugleich und will vom 
Romanschreiber nichts fur sein ganzes Wesen haben als gratis 
den Roman, in den er geworfen wird. 

So weit Fenk, der alle Menschen trug, aber keinen Unmenschen, 
keinen Filz. Ich habe diesen unvollkommnen Charakter fur meine 
Biographie an mich gehandelt (denn er selber existiert auch bio- 
graphisch unter dem Namen Roper); es fehlet ihr ohnehin an 
echten Schelmen merklich; ja wenn ich auch Ropern mit den 
$o Teufeln der epischen Dichter vergleiche und mich mit den Dich- 
tern selber: so sind wir beide doch nicht sehr grofi. 

Wenn die Leser einen Brief vom Doktor Fenk hatten, der seine 
vorige Harte entschuldigte - der uns an Scheerau, an den Doktor 
und an eine mir so Hebe Person erinnerte und der zum Ganzen 
recht paBte: so wiirden sie den Brief in die Lebensbeschreibung 



I 56 DIE UNSICHTBARE LOGE 

mit einkniipfen. Ich habe den namlichen Brief und das namliche 
Recht; und schicht' ihn hier ein. 

Fenk an mich 

„Nimm den armen Oberbringer dieses zum Klienten an; der 
MauBenbacher hat seine Saug- und Schopfwerke dem armen Teufel 
eingeschraubt und zieht. Die samtlichen Spitzbuben yon Advo- 
katen in Scheerau dienen ihm gegen keinen reichen Edelmann zu 
Patronen, den sie einmal zu ihrem eignen zu bekommen wiinschen. 

Ich bin zwar selber taglich in MauBenbach und advoziere; aber 
der Knicker nimmt keine uneigenniitzigen Griinde an; und sonst 10 
hat Roper fiir alles andre Gefuhl und Vernunft. Es wird einmal 
eine Zeit kommen, wo man unsre vergangne Dummheit so wenig 
begreifen wird als wir kunftige Weisheit, ich meine, wo man nicht 
bloB, wie jetzo, keine Bettler, sondern auch keine Reichen dulden 
wird. 

Vom Vater einer schonen Tochter zwingt man sich gut zu 
denken. Ich notige mich auch: an deiner Klavierschulerin Beata 
sahest du nur die griinen Blatter unter der Knospe; jetzo konntest 
du die aufbrechenden Rosenblatter selber sehen urtd den Duft- 
Nimbus darum. Eine solche Tochter eines solchen Vaters! Das 20 
heiBt, die Rose bluht auf einem schwarzen, im Schmutze saugen- 
den Wurzelgeflecht. 

Ich bin dort, sie zu heilen; der Alte will fiir sein Geld was 
haben; aber in MauBenbach bedenkt kein Mensch, daB der Abt 
Galiani, den man vier Tage vor meiner Abreise aus Italien begrub, 
gesagt hat, daB die Weiber ewige Kranke sind. Jedoch bloB an 
Nerven; die Gefuhlvollsten sind die Kranklichsten; die Verniinf- 
tigsten oder Kaltesten sind die Gesiindesten. Wenn ich ein Fiirst 
ware: ich resolvierte fiirstlich und setzte in einem allerhochsten 
Reskript Hausarrest darauf, wenn eine Frau auch nur einen ein- 30 
zigen Medizinldffel austranke. Ihr armen hintergangnen Ge- 
schopfe, warum habt ihr so viel Zutrauen zu uns Mannern iiber- 
haupt und zu uns Doktoren insbesondere und lasset es euch gern 
gefallen, daB wir, die Arzneiglaser wie in einer Reiheschank ver- 
zapfend, euch auf einem Medizinwagen so lange spazieren fahren, 



ACIITZEHNTER SEKTOR 1 57 

bis wir euch auf den Leichenwagen abladen?... So sagt' ich 
manchmal zu ihnen; und dann nahmen sie alle Arzneien noch 
lieber ein, die ich ihnen verordnete. 

Die einzigen Arzneien, die Weibern mehr niitzen als schaden, 
sind hochstens Kleider. Nach vielen Naturforschern verlangert 
das Mausern das Leben der Vogel; aber auch das der Weiber, setz* 
ich dazu, die allemal so lange siechen, bis sie wieder ein neues Ge- 
fieder anhaben. Aus der Therapeutik lasset sichs schlecht erklaren ; 
aber wahr ists; und je vornehmer eine ist, mithin je kranklicher, 
10 desto ofter muB sie sich mausern, wie auch der Sumpfsalamander 
sich alle ftinf Tage hautet. Ein weiblicher Krebs, der auf eine neue 
Schale wartet, hockt erbarmlich in seinem Loche. Jedes Gift kann 
ein Gegengift werden; und da gewiB ist, daB Kleider Kranklieiten 
geben konnen, z. B. die Hektik, Pest etc. : so mussen sie unter An- 
leitung eines verniinftigen Arztes auch Krankheiten heben kon- 
nen. Ein aufgeklarter Medikus wird meines Bediinkens, wenn die 
Hallische Hausapotheke, d.i. die Kleiderkommode, nichts hilft, 
aus keiner Apotheke als aus dem Auerbachischen Hofe in Leipzig 
rezeptieren. Da du mancher PreBhaften damit beispringen kannst : 
20 so will ich dir aus meiner weiblichen materia medica folgende 
offizinelle Halstticher, Kleider etc. hersetzen : 

Stahlarzneien sind Stahlrosetten und Stahlketten. Der Stahl- 
und Magenschild des atlassenen Gurtels erwarmt den Magen und 
andre intestina sehr. 

Die Edelsteine, die sonst aus Apotheken gegeben wurden,sind 
noch jetzo auBerlich gut zu gebrauchen. 

Blumenbouquets, sobald sie von Seide sind, sind probate Arz- 
neipflanzen und starken durch den Geruch das Gehirn. 

Schals sind Brustarzneien, und nicht ein roter Faden (welches 
3 o Aberglaube ist), sondern ein Halsband mit einem Medaillon ist 
nach neuern Arzten kranken Halsen dienlich. 

Mit der peruvianischen Rinde wird viel betrogen, aber echte ist 
ein Rock a la peruvienne. 

Da alle Wunden nach der neuern Chirurgie durch bio Be Be- 
deckung geheilet werden : so tut statt des englischen Taftpflasters 
bloBer Taft am Leibe dieselben Dienste. 



158 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Ein neuer Visitenfacher ist bei starken Ohnmachten unentbehr- 
lich; ob aber ein Muff unter die erweiehenden Mittel, falsche 
Touren unter die Haarseile, und ein Sonnenschirm unter die 
kiihlenden Mittel, und eine Kleidgarnitur unter die Bruchbander 
und Bandagen gehore - das konnen ein oder dreihundert Beispiele 
noch nicht erweisen. 

Wir halten uns lieber daran, daB ein Frisierkamm ein Trepan 
gegen Kopfubel, eine Repetieruhr gegen intermittierenden Puis 
und ein Ballkleid ein Universale gegen alles ist. 

So ist also, scherzhaft zu reden, der Damenschneider ein Ope- 10 
rateur, sein Nahfinger ein Arzneifinger, sein Fingerhut ein Doktor- 
hut 

. . . Warum vergaB ich dich, edle Beata? Dich heilt eine Pariire 
nicht; und wenn kiinftig einmal dein schones Herz erkrankte: so 
wiirde nichts es heilen als das beste Herz, oder es sturbe. — 

Wundere dich iiber mein Feuer nicht. Ich komme gerade von 
ihr und vergesse alle Fehler, die ich vor vierzehn Tagen noch von 
ihr wuBte. Madchen, die oft krank sind, gewohnen sich eine Miene 
von geduldigem Ergeben an, die ){um Sterben schom ist. Ich habe 
ihren Lieblingausdruck unterstrichen, aber nur von ihrer Zunge 20 
kann er im schonsten sterbenden sinkenden Laute flieBen. Diese 
Geduld gewohnet ihr auBer ihren ewigen Kopfschmerzen auch 
ihr Vater an, der sie gleich sehr qualt und liebt und der ihr zu Ge- 
fallen (nach dem Egoismus des Geizes) eine Welt abschlachtete. 
Wenn die Seek mancher Menschen (sicher auch diese) zu zart und 
fein fur diese Morast-Erde ist : so ist es auch oft der Korper mancher 
Menschen, der nur in Kolibri- Wetter und in Tempe-Talern und 
in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Korper und ein zarter Geist rei- 
ben einander auf. Beata hangt, wie alle von dieser Kristallisation, 
ein wenig zur Schwarmerei, Empfindsamkeit und Dichtkunst hin ; 30 
aber was sie in meinen Augen hoch hinaufstellt, ist ein Ehrgefuhl, 
eine demutige Selberachtung, die (meinen wenigen Bemerkungen 
nach) ein Erbteil nicht der Erziehung, sondern des giitigsten 
Schicksals ist. Diese Wiirde sichert ohne prude Angstlichkeit die 
weibliche Tugend. Wenn man aber dieses weibliche point d'hon- 
neur erst einerziehen, ja einpredigen muB - ach wie leicht ist nicht 



ACHTZEHNTER SEKTOR 159 

eine Predigt besiegt! - Weiber, die sich selber achten, umringt 
eine so voile Harmome aller ihrer Bewegungen, Worte, Blicke! 
... Ich kann sie nicht schildern, aber die sind zu schildern, die der 
Rose gleichen, welche unten, wo man sie nicht bricht, die langsten 
und hartesten Dornen hat, aber oben, wo man sie geniefiet, sich 
nur mit weichen und umgebognen verpanzert. 

Ich weiB nicht, ob es dir etwas Altes ist, daB Tochter ihren 
Miittern jede Wahrheit und alle Geheimnisse sagen; mir ists etwas 
Neues, und nur eine beste Tochter, wie Beata, kann es. 

io Vor vierzehn Tagen erinnerte ich mich eines Fehlers von ihr 
nicht so schwach als heute, welcher der ist, daB sie zu wenig Freude 
an der - Freude und zu groBe an traurigen Phantasien hat. Es 
gibt zu weiche Seelen, die sich nie freuen konnen (so wie nic be- 
leidigt fiihlen), ohne zu weinen, und die ein groBes Gliick, eine 
gro fie Giite mit einem seufzenden Busen empfangen. Wenn aber 
diese vor rohen Seelen stehen, die den verborgnen Dank und die 
stumme Freude nicht erraten konnen : so werden sie gezwungen, 
nicht Empfindung, aber den Ausdruck derselben vorzuheucheln. 
Beatens Vater will fur jedes seiner Geschenke, deren Wert er bis 

20 zu Apothekergranen auswiegt, eine springende Freude; sie hin- 
gegen fuhlt hochstens spater darauf eine; die Erscheinung irgend- 
eines lichten Gliicks selber blitzet ihr auf einmal iiber alle traurige 
Tage hin, die wie Graber in ihrer Erinnerung liegen. Auch an 
dieser Beata sen' ichs wieder, daB der weibliche Leib und Geist 
zu zart und zu wallend, zu fein und zu feurig fur geistige An- 
strengung sind und dafi beide sich nur durch die immerwahrende 
Zerstreuung der hauslichen Arbeit erhalten; die hohern Weiber 
erkranken weniger an ihrer Diat als an ihren exzentrischen Emp- 
findungen, die ihre Nerven wie den Silberdraht durch immer 

30 engere Locher treiben und sie aus Fadennudeln in geometrische 
Linien zerdehnen. Eine Frau, wenn sie S chillers Feuerseele hatte, 
stiirbe, wenn sie damit eines seiner Stiicke machte, im fiinften 
Akte selber mit nach. 

Ich verstehe deine verliebte Fragartikel recht gut: freilich steigt 
der geheime Legationrat von Oefel hier oft aus. Er scheint zwar 
keine zartlichern Geschafte hier zu haben als kaufmannische und 



l6o DIE UNSICHTBARE LOGE 

vom Kommerzien-Agenten nichts verschrieben zu fodern als 
Pfeffer fur Zeylon und Muskatnusse fur Sumatra, folglich seine 
Tochter und ihre Giiter am allerwenigsten. - Desgleichen ist die 
Minister in, dieser Zoll- und Almosenstock voll mannlicher Her- 
zen, zwar auch mit da und hat Oefels angeohrtes oder gehenkeltes 
schon an ihren Reizen hangen; aber der Teufel trau' geheimen 
Legationraten, zumal Oefeln. Ich sage dir, er mag Beaten kapern 
oder nicht, so wundert fnich jedes. Du wirst dieh freilich damit 
trosten, lieber Jean Paul, daB du erstlich groBere Reize hast als er 
und zweitens gar nicht weiBt, daB du die Reize hast, welches in 10 
der Konversation viel tut. Es ist wohl etwas daran; denn Oefel 
will nicht sowohl gefallen als bloB zeigen, daB er gefallen konnte, 
wenn er nur wollte, und er erlaubt sich daher alle Launen, bloB 
damit man etwas zu tadeln und zu vergeben und er gutzumachen 
habe* er ist auch - weil ein Hofmann und ein Demant auBer der 
Harte noch reine Farbenlosigkeit haben miissen, um fremde Far- 
ben und Lichter treuer nachzustrahlen - so gar zu einem Hofmann 
zu eitel und kauft sich mit fremder Gunst nur seine eigne. Ich will 
dich mit noch mehr >Zwars< trosten, bis ich meine Aber hole. 
Beata sieht zwar aus, als ob sie sich alle Minuten frage : > warum 20 
bewunder' ich ihn nicht?<; die Ministenn sieht aus, als ob sie jene 
alle Minuten frage: >warum beneidest du mich nicht, da mein 
Lehnmann ein Forte-Piano mit hundert Zugen und Tritten ist 
wie ich selber?< - denn er behalt keine Stellung und kann sich in 
jede wagen; jede Bewegung scheint aus der andern herzuflieBen; 
seine Seele andert ebenso spielend wie der Korper die Positionen 
und biegt sich, wie ein Springbrunnen bei Wind, in die entlegen- 
sten Materien hinuber; ihn macht nichts irre, er jeden; er weiB 
hundert Eingange zu einer Predigt, fangt an, um anzufangen, 
bricht ab, um abzubrechen, und weiB selber nicht eher als seine 30 
Zuhorer, was er will — kurz es ist ein Nebenbuhler, lieber Paul ! - 
Ich kann jetzt das versprochene Aber nicht recht hereinbringen. 
Aber obgleich meine schone Patientin ihn so kalt uberblickt 
wie einen, der uns ein Kleid anprobiert, so setzt er doch das Gegen- 
teil voraus und wirft Leuchtkugeln zu seiner Erhellung und 
Dampfkugeln zu ihrer Verfinsterung in sie und sticht schon im 



ACHTZEHNTER SEKTOR I 6 1 

voraus die Miinzstempel fur seine kunftige Eroberung-Medaillen. 
- Manner oder Mannchen wie Oefel haben einen solchen Ober- 
fluB von Treue, daB sie ihn nicht einer, sondern unter tausend 
Weibern verteilen mussen ; Oefel will ein ganzes weibliches Skla- 
venschiff kommandieren : er fragt dabei nach dir so wenig wie 
nach der Ministerin, die ihn liebt, weil es ihr letzter Liebhaber ist, 
und die er liebt, erstlich weil er an ihrem Triumphwagen, vor 
welchem sonst mehre Tropfe eingespannt waren, gern als Gabel- 
pferd allein ziehen will, zweitens weil sie mehr List und weniger 

io Empfindung als er besitzt und ihn beredet, es sei gerade umge- 
kehrt. 

Da ich nun unsere Beata, die du gern in dein Leben und in dein 
Buch hineinhaben mochtest, in das Leben und das Buch des 
Oefels (er ist audi iiber einem) verflechte, so hab' ich, trauter 
Paul, dem alten Roper so viele Kabinett-Predigten daruber ge- 
halten, daB die Kranklichkeit seiner Tochter nicht durch einen, 
sondern durch ein paar hundert Arzte zu besiegen sei, d.h. durch 
Gesellschaft - daB der Alte ihr eine Gesellschaft oder vielmehr 
sie einer geben will, ohne selber fur eine die Alimentengelder aus- 

20 zugeben. Er will sie auf irgendein Beet des Hofgartens verpflan- 
zen: >Sie soil auch Welt mitkriegem, sagt er und hat selber keine. 
Er wiirde, wenn er diirfte, die ganze weibliche Welt von ihren 
Altaren und Bilderstiihlen und Prasidentenstuhlen und ordent- 
lichen Sesseln auf Melkstuhle und Werkstiihle und Schemel her- 
abziehen und driicken; gleichwohl sollen seiner Tochter durch 
Juden und durch Diamant-Pulver Facetten oder Glanzecken an- 
geschlifFen werden, die er selber hasset. Ist sie am Hofe, so sieht 
sie nachher der Legationrat alle Tage — und Jean Paul hat nichts. 
Dieser Jean fragte mich auch pfiffigerweise, ob er nicht Ge- 

30 richthalter beim Vater der besagten Tochter werden konne, weil 
er, der Jean, von dem Abdanken des jetzigen gehort habe - Herr 
Kolb (eben der Gerichthalter) ist aber noch da, zankt sich noch, 
sagt jede Woche : >Wenn jeder die Streiche von Roper wuBt', die 
ich<,...; Roper sagt jede Woche: >Wenn jeder die Streiche von 

Kolb wiiBte, die ich< , und so sind beide aneinander durch 

wechselseitige Besorgnisse geleimt. — Jetzt ist ohnehin nicht da- 



1 62 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ran zu denken; denn in vierzehn Tagen lasset sich der alte Roper 
von seinem Rittergute huldigen. Ein Geiziger scheuet sich, zu 
andern und zu wagen. 

>Warum lassest du deine gute Schwester so lange im giftigen 
Hiittenrauche des Hofes stehen? 1st das, was sie dort gewinnen 
kann, wohl so viel wert wie das, was sie mitbringt und dort ver- 
Heren kann, ihr reines, weiches, obgleich fliichtiges Herz? Auf 
meinen Reisen dacht' ich anders, aber jetzt in der Einsamkeit ist 
mir ein kokettes Insekt, eine kokette Krebsin, die bald vor-, bald 
ruckwarts kriecht, die ihre groBe und kleine Scheren immer auf- jo 
sperrt und sie immer wieder erzeugt, wenn man sie abgerissen, die 
in der Brust statt des Herzens einen Magen tragt und doch kalt- 
bliitig ist wie alle Insekten, eine solche inkrustierte Krebsin ist mir 
widerlicher als eine schalenlose in der Mause der Empfindsamkeit, 
die zu weich ist und aus der Romanschreiber die empfindsame 
Krebsbutter machen. Empfindelei bessert sich mit den Jahren, 
Koketterie verschlimmert sich mit den Jahren. — Warum schaffst 
du deine Philippine nicht nach Haus?< Auf diese Fragen hat mir 
Jean Paul nicht geantwortet; ich aber auf seine: denn ich rache 
mich nicht; ich wunschte vielmehr, besagter Paul driickte Beatens 20 
Finger heute an unrechte Finger mehr als auf die rechten Tasten 
und jetzt im Lenz-Alter sahe sie sich neben dem Klavier fragend 
nach Paulo um und uberleuchtete ihn mit dem blauen Himmel 
ihres weiten Auges; der arme Teufel, eben der Paul, wiirde sich 
nicht mehr kennen und dann sagen : >Ohn* ein schones Auge geb* 
ich -fur alles andre Schone nicht einen Deut, geschweige mich; 
aber iiber ein Himmels-Augenpaar vergess' ich alle benachbarte 
Reize und alle benachbarte Fehler und den ganzen Bach und Benda, 
wie er ist, und meine Mordanten und die falschen Quinten und 
weit mehr.( Leb wohl, Vergefilicher! 30 

Dr. Fenk.n 

Wir verstehen uns, herzlicher Freund; wer selber einmal Satiren 
geschrieben hat, vergibt alle Satiren auf sich, zumal die boshaf- 
testen, bloB die dummen nicht. Aber, ob es der Doktor gleich im 
Scherze verfochten hat, so muB ich doch solche Leser, die weit von 



ACHTZEHNTER SEKTOR 1 63 

Scheerau wohnen, ohneRucksichtaufmichbenachrkhtigen,daB 
der besagte Legationrat Oefel die unbedeutendste Haut ist, die 
wir beide nur kennen, wie er denn bloB unter Weibern weniger, 
aber unter Mannern allzeit verlegen ist und im kleinen Zirkel viel 
mehr als im groBen, zu geschweigen, daB er immer die Aufmerk- 
samkeit aufsucht und auch erjagt, welche bescheidne Leute ge- 
schickt vermeiden, die allgemeine namlich. Wenn ihm diese iiber- 
all gelingt: so soil er sie doch nicht in meinem Buche haben.... 
Die folgende Sache ist freilich unmoglich - zumal meiner ver- 

10 dammten lang- und kurzbeinigen oder sponddischen Stellage und 
Konsole wegen, auf die mein iibrigens von Kennern beurteilter 
Torso gelagert ist — aber ausmalen kann sich doch ein Mensch 
die unmogliche Sache, welche diese ist, daB ich mich einmal Be- 
aten mit einer Lieberklarung zeigte und so - wider eigne Er- 
wartung- selber der Held dieser Lebensbeschreibung und sie die 

Heldin wiirde ich bin ordentlich verdutzt, denn ich wollte 

wahrhaftig nur sagen und setzen, dafi ich bei Roper Geriehthalter 
wiirde und hernach im Grunde - weil ich jeden Gerichttag zart- 
lich ware, oder eine zartliche Bestie, wie eine Frau sich ausdruckt, 

20 die mehr zum schonen als schwachen Geschlecht gehort - gar sein 
Schwiegersohn - Mit Freuden wollt' ich dem so guten Leser, der 
Mitfreude fuhlt, alles biographisch beschreiben und ihn er- 
gotzen .... Aber, wie gesagt, die Sache ist fatalerweise wohl un- 
moglich, so weit ich in die Zukunft schauen kann; und dies bloB 
eines verdammten unsymmetrischen Drahtgestelles wegen, das 
doch der, den sein Ungliick darauf geheftet, durch tausend Gla- 
suren und Rasuren wieder gutmachen will und auf welchem ja 
Epiktet gleichfalls lange stand. 

Im Feuer bin ich ganz aus meinem biographischen Plan her- 

30 ausgegangen; es sollte bisher der Lesewelt geschickt verhalten 
werden (und gliickte auch), daB alle diese Avanturen noch nicht 
alt sind und daB in kurzem das Leben dieser Personen mit meiner 
Lebensbeschreibung davon Hand in Hand gleichzeitig gehen 
werde — Jetzt aber nab' ich alles losgeziindet - Es muB nun uber- 
haupt ein neuer Sektor angefangen werden, worin mehr Ver- 
nunft ist... 



164 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Neunzehnter Sektor 
Erbhuldigung - Ich, Beata, Oefel 

Vierzehn Tage nach Fenks Brief — 1st aber auf Leser zu bauen? 
- Ich weiB nicht, wohers beim deutschen Leser kommt, ob von 
einem Splitter im Gehirn oder von ergossener Lympha oder von 
todlichen Entkraftungen, daB er alles vergisset, was der Schrift- 
steller gesagt hat - oder es kann auch von Infarktus oder von 
versetzten Ausleerungen herriihren : genug der Autor hat davon 
die Plackerei. So hab' ichs schon auf einer Menge Bogen dem 
Leser durch Setzer und Drucker sagen lassen (es hilft aber nichts), 10 
daB wir 13000 Taler beim Fursten stehen haben, welche kommen 
sollen — daB ich zwar keine Jura studiert, daB ich aber doch, 
wahrend ich mich zum Advokaten examinieren lassen, manchen 
hubschen juristisehen Brocken weggefangen, der mir jetzo wohl 
bekommt-daB Gustav Kadett werden soil und ich Gerichthalter 
werden will - daB Ottomar unsichtbar und sogar unhorbar ist - 
und daB mein Prinzipal zu viel verschleudert! — 

Leider freilich: denn solang' er noch ein Zimmer oder einen 
Pferdestand ohne tierischen Kubik-Inhalt weiB : so hangt er seine 
Angelrute nach Gasten ein. Er ist wie die jetzigenWeiber nirgends 20 
gesund als im gesellschaftlichen Orkan und Visiten-Dickicbt - er 
und diese Weiber steigen aus einem solchen lebendigen Menschen- 
Bad so verjiingt und neugeboren wie aus einem Ameisen- und 
Scknecken-Bad. Er kann sich nie schmeicheln, hier nur die ge- 
ringste Ahnlichkeit (geschweige mehr) mit dem Kommerzien- 
Agenten Roper zu haben, der in der Einsamkeit eines Weisen und 
Rentierers stille nachdenkt iiber Hausprozesse und riickstandige 
Zinsen und der es weiB, daB sein SchloB nur Schenk- und Krug- 
gerechtigkeit besitzt und also niemand iiber Nacht beherbergen 
darf.-Falkenberg!hor aufdenBiographen! Ziehe deinen Beutel, 30 
dein SchloBtor und dein Herz zuweilen zu! Glaube mir, das 
Schicksal wird deine gro Bmutige Seele nicht schonen, das rennende 
Gluck wird dein weiches Herz mit seinem Rade uberfahren 
und zerschneiden, um sein Lottorad hinter seiner Binde vor einem 



NEUNZEHNTER SEKTOR 1 65 

Roper auszuladen! O Freund! es wird dir alles nehmen, was du 
dem fremden Elend oder der eignen Freude geben willst, nicht 
einmal den Mut wird es dir lassen, dein beschamtes Herz mit 
seinen Wunden an einem Freunde zu verbergen! - und wie soil 
es dann deinem Sohn ergehen? — 

Und doch! - ich tadle dich nur vorher; aber nachher, wenn du 
dich einmal ungliicklich gemacht durch Gliicklich-Machen : so 
fmdest du Achtung in jedem guten Auge, Liebe an jeder guten 
Brustl 

10 ... Also vierzehn Tage nach Fenks Briefe, als mein ZogHng 
schon achtzehn Jahre, aber noch ohne die Kadettenstelle war, saB 
bei meinem Prinzipal ein bureau d'esprit boheimischer Edelleute 
und hatte feurige Pfmgst-Zungen und Marz-Bier. Ich hatte nichts, 
war aber mit drunter: ich konnt* es meinem guten Rittmeister nie 
abschlagen, sondern vermehrte, wenn nicht die Gesellschafter - 
man schatzet Menschen von einer gewissen zu groBen Feinheit 
erst dann am meisten, wenn man von ihnen weg ist unter Men- 
schen von einer gewissen Grobheit -, doch die Leute. Manche 
Menschen sind wie er Visiten-PreBknechte und konnen nicht ge- 

20 nug Leute zusammenbitten, ohne zu wissen weswegen, ohne sie 
zu lieben; Taubstumme Hide Falkenberg ein. Es hat fur die Leser 
Folgen, daB ich sagte : »Heute lasset sich Roper huldigen.« Falken- 
berg, der gern Boses von andern sprach und ihnen nichts als Gutes 
tat und der seinen abwesenden Erbfeinden, d.h. Geizigen, gern 
Erbsen auf den Weg streuete und diese doch wieder wegfegte, 
wenn jene fallen wollten, dieser war froh iiber meinen Gedanken 
und iiber seinen : »Wir sollten«, sagt* er, »ihm (Roper) zum Arger- 
nis heute alle hinreiten.« - In sechs Minuten saB das trinkende 
bureau d'esprit und der Hofmeister auf den Gaulen ; Gustav nicht : 

30 er war fur ein schoneres Schwarmen gemacht als fiir ein lautes. 
Daher verwickelte Gustavs inneres Leben mich oft bei seinem 
Vater, der aufieres forderte, in den verdruBlichen und vergeblichen 
Versuch, dafi ich ihm beibringen wollte, worin eigentlich der hohe 
Wert seines Sohnes lage - fur einen Hofmeister, der auf Ehre halt, 
ist dergleichen zu fatal. 

Wir sahen auf unsern Pferden Maufienbach^ das vor seinem 



l66 DIE UNSICHTBAKE LOGE 

adeligen Bojaren stand und ihm die Feudal-Krone auf seinen ita^ 
Henischen Kopf setzte. Neben dem gehuldigten Lehenherren stand 
sein Justiz-Departement, sein Akzis-Kollegium, seine geheime 
Landesregierung, sein Departement der auswartigen Angelegen- 
heiten - namlich Herr Kolb, der.Gerichthalter, der alle diese 
Kollegien vorstellte. Dieses Miniatur-Ministerium des Miniatur- 
Souverans hatte auf einer Wiese - das konnten wir von weitem 
sehen — einen Iangen Brief in der Hand, woraus es den Leuten 
alles vorlas, was zu beschwdren war; die hundert Hande der Eid- 
genossenschaft zogen sich dann durch die hartenden zwei Hande i 
Ropers und Kolbes hindurch und versprachen, dem Edelmann 
gern zu gehorchen, falls er seines Orts versprechen wollte, zu be- 
fehlen. 

Aber nach Freud* kommt Leid, nach Erbhuldigung ein bureau 
d'esprit . . . Im achtzehnten Jahrhundert sind allerdings viele Men- 
schen erschrocken und sehr, z. B. die Jesuiten, die Aristokraten, 
auch Voltaire und andre groBe Autores erschraken oft ziemlich - 
aber es erschrak doch keiner im ganzen aufgehellten Jahrhundert 
so als der Kommerzien- Agent, da er sah, was kam; da er sah 
1 5 Menschenkopfe und 1 5 RoSkopfe zwischen einem Artillerie- zo 
train von Hunden oben uber den Berg hinunterziehen, die samt- 
lich in seinem Schlosse nichts zu suchen hatten, aber zu finden 
genug. Da aber auch zweitens niemand im achtzehnten Jahrhun- 
dert seltner zu Hause war als er - er war es zwar, hockte aber 
hinter Spiegelglas-Fenstern wie hinter Brandmauer und Schanz- 
korb, weil sie ihm wie ein Gyges-Ring die Sichtbarkeit be- 
nahmen — , so hatt* er sich helfen und fur so viele Saugetiere ebenso 
viele Meilen entfernt sein konnen; aber auf der Wiese wars nicht 
zu machen. Ein frbhlicher Mensch, und war* es ein Geiziger, will 
Frohlichemachen: Roper erschrak - erstaunte - resignierte- und 30 
empfing uns freudiger, als wir errieten. Er blieb im Geben heute, 
we'd er einmal im Geben war. 

Denn seine Lehnleute, die heute den Verstand verschworen 
hatten, sollten ihn auch vertrinken; einige sauer erworbene und 
ebenso sauer schmeckende zwei Eimer hatt' er als Gefangne aus 
ihrem Burgverlies am Krontage losgelassen - er hatte die Fasser 



NEUNZEHNTER SEKTOR 167 

ihnen mit doppelter Kreide weniger angeschrieben als getunchet 
und leuteriert und Fleckkugeln von Kreidenerde so lange in Hang- 
bettchen darein eingesenkt gehabt, daB das GesofFfast am Ende 
zu gut war, urn verschenkt zu werden. Der Filz sucht zu ersparen, 
sogar indem er verschenkt. Obrigens sprang er mit seinen Lehn- 
Untertanen zutraulicher und freigebiger um als mit uns geadelten 
Gasten; - »so handelt ein Mann stets , der keinen Adelstolz be- 
sitzt«, sagt der Rezensent; aber »so handelt der Knicker stets, dem 
geringere, aber silberhaltige Leute lieber sind als standmaBige 

10 nehmende Gaste und der einen eignen Bedienten uber einen frem- 
denFreund und iiber den Stand die Nutzbarkeithinaufsetzt«, sag* 
ich. - Luise, die Kommerzien-Agentin von Roper, legte jeder 
Bier-Arche ihres Mannes noch eine kleine Schaluppe zu; seine 
Geschenke waren ihr allemal ein Vorwand, geheime Zusatze dazu 
zu machen. Nur befahl sie dem Dorfrichter, ein wachsames Auge 
darauf zu haben, daB ihr von der Bierhefe nichts verloren gehe. 
Die Natur hatte ihr eine freie liebende Seele gegeben; aber eben 
diese Liebe fur ihren Mann HeB ihr von seinen Fehlern wenigstens 
den Schein. 

20 Du treues Herz! Lasse mich einige Zeilen bei deiner ehelichen 
Uneigenniitzigkeit verweilen, die alle eigne Wiinsche fur Siinden 
und alle Wiinsche ihres Mannes fiir Tugenden halt, und der kein 
Lob gefallet als eines auf den, welchen du iibertrirTst! Warum bist 
du nicht einer Seele zugefallen, die dich nachahmt und kennt und 
belohnt? Warum waren dir fur deine Aufopferungen, fur deine 
Herzensrisse hienieden keine schmerzstillenden Tropfen als die 
beschieden, die deinetwegen aus den schonen Augen deiner Toch- 
ter fallen? - Ach du erinnerst mich an alle deine Leidens-Mit- 
schwestern. — Ich weiB es zwar aus meiner Seelenlehre recht gut, 

30 ihr armen Weiber, daB euere Leiden nicht so groB sind, als ich 
mir sie denke, eben weil ich sie denke und nicht fiihle, da der 
Blitz, der in der Ferne der Vorstellung zu einer Flammen-Schlange 
wird, in der Wirklichkeit nur ein Funke ist, der durch mehre 
Augenblicke schieBet; aber kann sich ein Mann, ihr weiblichen 
Wesen, die Seelen-Schwielen und Bruche denken, die sein grober, 
von WafFen geharteter Finger in euere weichen Nerven driicken 



l68 DIE UNSICHTBARE LOGE 

muB, da er nicht einmal so sanft mit euch umgeht, wie ihr mit 
ihm, oder er selber mit saftvollen glatten Raupen, die er nur mit 
dem ganzen Blatte, worauf sie liegen, wegzutragen wagt? . . . Und 
vollends eine Luise und eine Beata ! - Aber ware Jean Paul nur 
euer Gerichthalter, wie ihm der Alte zugesagt, er wollt* euch 
trosten genug — 

Es ist aber auf den Alten schlecht zu bauen : schleicht er nicht in 
ganz Unterscheerau umher und voziert im voraus alle Advokaten 
zu seiner Gerichthalterei, urn uns Rechtsfreunde durch die Hoff- 
nung, unter ihm zu dienen, vom Entschlusse wegzubringen , gegen 10 
ihn zu dienen? — Inzwischen muB ers doch mit einem ehrlich 
meinen, der ich wohl bin. 

Als die boheimische Ritterschaft und ich von der Wiese ins 
SchloB eintraten: so stieB sie und ich auf etwas sehr Schones und 
auf etwas sehr Tolles. Das Tolle safi beim Schonen. Das Tolle 
hieB Oefel, das Schone hieB Beata. Der Himmel sollte einem Au- 
tor eine Zeit geben, sie zu schildern, und eine Ewigkeit, sie zu 
Heben; Oefeln kann ich in drei Terzien ausmalen und auslieben. 
Es gereichte mir und ihr zur Ehre, daB sie in ihrem alten Klavier- 
Lehrer sogleich den Bekannten wiederfand; aber es gereichte mir 20 
zu keiner Freude, daB sie am Bekannten nichts Unbekanntes ent- 
deckte und daB sie bei meinem Anblick sich nicht erinnerte, aus 
einem Kind ein Frauenzimmer geworden zu sein. - Es gibt ein 
Alter, wo man Schonen doch verzeiht, wenn sie uns auch nicht be- 
merken und nicht annehmen. O ich verzieh dir alles, und der 
groBte Beweis ist der, daB ich davon spreche. - Der junge Jung- 
ling bewundert und begehrt zugleich, der altere Jiingling ist fahig, 
bloB zu bewundern. Beatens Empflndungen und Worte sind noch 
der blendend weiBe und rekie frische Schnee, wie sie vom Himmel 
gefallen sind: noch kein FuBtritt und kein Alter hat diesen Glanz 30 
beschinutzt. Sie wurde noch schoner, weil sie heute tatiger war als 
sonst und ihre schonen Schultern den Lasten der Mutter lieh- die 
blasse Mond-Aurora, die sonst auf ihren Wangen den ganzen 
Himmel weiB lieB, uberfloB ihn mit einem Rosen- Widerschein; 
auch die fremde Freude, fur die sie heute tatig war, gab ihr das 
erhohte Kolorit, das sie sonst durch eigne verlor. - Die Madchen 



NEUNZEHNTER SEKTOR 1 69 

wissen nicht, wie sehr sie Geschaftigkeit verschonere, wie sehr an 
ihnen und den Taubenhalsen das Gefieder nur schillere und spiele, 
wenn sie sich bewegen, und wie sehr wir Manner den Raubtieren 
gleichen, die keine Beute haben wollen, welche festsitzt. 

Ihre Mutter sagte mir freudig die Ursache, weswegen der Lega- 
tionrat dasitze : er hatte Beaten eine Einladung von der Residentin 
von Bouse gebracht, auf ihr Landgut zu kommen, wo meine 
Schwester auch ist. Das neue SchloB Marienhof liegt eine halbe 
Stunde von der Stadt; am neuen hat Oefel das alte innen, das 

10 vielleicht durch geheime Tiiren mit jenem zusammenhangt. Er 
gab unhoflicherweise zu erraten, ohne sein feines Intrigieren - 
d. h. er machte, wie die Advokaten, iiber den schmalsten Bach eine 
Briicke statt eines Sprunges - war* es hinkend gegangen. Unmog- 
lich kann ein solcher eitler Narr von seinem Herzen einen Schiefer- 
Abdruck in einen so edlen Stein, als Beata ist, auspragen. Wenn 
sie auch der Faselhans kunftig alle Nachmittage im neuen Schlosse 
• umlagert, wie er tun wird : so kann ich mich doch darauf verlassen 
- ja ich wollte dafur schworen. Ein Haselant seiner Grofie kann 
zwar ein paar eckige begrasete Landfraulein (wie heute geschah) 

zo zu einem verliebten Erstaunen liber seine Glockenpclypen-Dre- 
hungen, iiber seinen Mut, iiber seinen Verstand (d.h. Witz) und 
seine Unverschamtheit zwingen, statt Damen und Schonen bloB 
zu sagen Weiber - das kann er und mehr, sag* ich; aber von Be- 
atens Herz werden ihn ewig alle ihre Tugenden trennen; sie wird 
neben seiner Liebe zur Ministerin seine zu ihr selber gar nicht 
sehen und nicht glauben; sie wird ihre Seele keinen Oefelschen 
empfindelnden Floskeln offnen, die, wie das falsche Geld, bald 
zu groB sind, bald zu klein. - Sie wird vielmehr finden, mit einem 
ehrlichen Jean Paul sei mehr anzufangen; sie wird, hofF ich, be- 

30 sagtem Paul die Ahnlichkeit, die er mit Oefel in einigen Vorziigen 
haben mag, gern verzeihen, da'er ohne seine Fehler ist und mit 
einem treuen bescheidenen Herzen vor ihr stent, das kaum den 
Mut hat, ihr das feinste Goldblatt des Lobes leise aufzuhauchen, 
und welches schweigt, auch miBverstanden, und zuriickweicht, 

auch ohne versucht zu haben Sie wird in ihrem Urteile ge- 

rade so von den alten Landfraulein abweichen wie ich von den 



170 DIE UNSICHTBARE LOGE 

jungen Landjunkern, die mit dasaBen. Denn Oefels Erscheinung 
nahm ihnen alien vorigen Witz und Verstand, und sein queck- 
silberner Anstand goB alle ihre Glieder mit Blei aus; sie zogen in 
einer Falkenbeize, wo ein solcher Vogel die weiblichen Herzen 
stieB, ihre plumpen Schwingen an sich und bewunderten vermoge 
der mannlichen Aufrichtigkeit statt der weiblichen Reize seine - 
Hingegen Jean Paul blieb, wie er war, und lieB sich nichts an- 
haben. 

Ich wiirde manchen deutschen Kreis auf die Vermutung einer 
heimlichen Eifersucht bringen, wenn ich gar nichts zum Lobe 10 
Oefels sagte: er versprach am namlichen Nachmittag meinem 
Zogling einen groBen Dienst. Er hielt sich namlich, ob er gleich 
das alte SchloB neben der Residentin zur Miete hatte, nicht darin, 
sondern im Scheerauer Kadettenhause auf und riickte von Zimmer 
zu Zimmer, um - da ihm sein hoher Stand verbot, sich sonderbar 
zu kleiden - wenigstens sonderbar zu handeln; er wollte da Men- 
schen studieren, um sie in Kupfer stechen zu lassen. Er setzte nam- • 
lich einen Roman als eine kurze Enzyklopadie fiir Erbprinzen und 
Kronhofmeister auf und schrieb'auf den Titel »Der GroBsultan« - 
Dieser Fenelon machte den Harem seines Telemachs zu einem 20 
Spiegelzimmer, das den ganzen weiblichen Scheerauer Hof wider- 
spiegelte, sein Werk war ein Herbarium vivum, eine Flora von 
allem, was auf und am Scheerauer Throne wachset, vom Fursten 
an bis, wenn er sich noch erinnert, zu mir. Wenns erscheint, ver- 
schlingen wirs alle, weil er uns selber darin verschlungen. Die 
Rezensenten werden nichts darin finden, sondernsagen : »Triviales 
Zeug!« - Da er nichts tat, was er nicht vorher und nachher aller 
Welt vortrompetete : so hatt* es sogar mein Rittmeister gehort, 
daB er beim Kadettengeneral so lange und so fein intrigiert hatte, 
bis er statt eines aufsehenden Offiziers die Zimmer des Kadetten- 30 
schulhauses bewohnen und wechseln durfte; und so kam unser 
Fiirst diesem Menschen-Naturforscher ebenso mit einer mensch- 
lichen Menagerie zu Hiilfe, wie Alexander dem Aristoteles mit 
einer tierischen. Der Rittmeister trat also mit seiner siegenden 
Menschenfreundlichkeit zu ihm und bat ihn, sich fiir seinen Gustav 
beim Kadettengeneral geschickt zu verwenden, damit er einmal 



ZWANZIGSTER SEKTOR 1 71 

unter dessen Fahne kame. Der Pfotektor Oefel sagte, nunmehr 
sei es schon so gut als richtig ; er entziickte sich selber .nit der Vor- 
stellung, einen unter der Erde erzognen Sonderling zum Stuben- 
kameraden und zum sitzenden Urbilde zu bekommen. 

Die Strahlenbrechung zeigt Schiffern das Land allezeit um et- 
liche hundert Meilen naher, als es liegt, und starkt durch so einen 
unschuldigen Betrug sie mit HofFnung und GenuB. Aber auch in 
der moralischen Welt ist diewohltatigeEinrichtung,daB Fiirsten 
und ihre Ministerien uns Bitts teller (so will Campe statt Suppli- 

io kant horen) dadurch froh und munter erhalten, dafi sie uns durch 
eine Augen-Tauschung die Hofstellen, Amter, Gnaden, die wir 
haben wollen, allzeit um einige hundert Meilen oder Monate naher 
- wir konnen sie mit der Hand erlangen, denken wir - sehen 
lassen, als sie wirklich sind. Diese Tauschung der Annaherung 
ist auch alsdann nutzlich und gewohnlich, wenn die geistliche oder 
weltliche Bank, die den Sitzern auf der langen Expektantenbank 
naher gewiesen wird, am Ende gar bloB eine - Nebelbank ist. 

»Der Kommerzien-Agent«, sagte unterwegs der Rittmeister zu 
mir, »ist doch kein so iibler Mann, als sie ihn machen - und der 

20 Legationrat braucht nur vollends in die Jahre zu kommen.« - 



ZWANZIGSTER SEKTOR 

Das zweite Lebens-Jahrzehend - Gespenstergeschichte - Nacht-Auftritt 
Lebensregeln 

Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf schrieb uns der Pro- 
fessor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. — Nun 
wurde unser bisheriger Wunsch unsre Pein. Gxistavs und mein 
Bund sollte auseinandergedehnt und verrenkt werden ; jedes Buch, 
das wir nun zusammen lasen, krankte uns mit dem Gedanken, 
daB es jeder allein zu Ende bringen wurde; ich wollte meinem 
30 Gustav kaum etwas mehr lehren, dessen Ausbau ich an fremde 
Architekten ubergeben muBte, und jeder schone Blumenplatz war 
uns die Gartentiir des Edens, die ein bewaffneter Cherub abschloB. 



172 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Die Sturmmonate seines Herzens riickten nun auch naher. Ich 
hatte ohnehin den Flugeln seiner Phantasie nicht Federn genug 
ausgerisssen und ihn aus seiner Einsamkeit nicht oft genug ver- 
jagt. In dieser trieb seine Phantasie ihre Wurzeln in alle Fibern 
seiner Natur hinein und verhing mit den Bliiten, die seinen Kopf 
auslaubten, die Eingange des auBern Lichts. - 

Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Biicher, 
d.h. weder die Gartenschere noch die GieBkanne sattigen und 
farben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen 
denen sie steht - d.h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das 10 
Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwacbset. Gesellschaft 
treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden StoBen gibt. 
Aber Einsamkeit zieht sich am besten iiber die erhabnere Seele, 
wie ein oder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter 
befreundeten Bildern und Traumen harmonischer als unter un- 
gleichartigen Nutzanwendungen. Um so mehr haben General- 
Akziskollegien darauf zu sehen, daB groBe poetische Genies - im 
Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzlei- 
verwandten - vom zehnten Jahre bis zum fiinfunddreiBigsten in 
lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet wer- 20 
den, ohne in eine stille Minute zu kommen ; sonst ist keines in einen 
Archivar oder Registrator umzusetzen. Daher halt auch das 
Marktgetose der groBen Welt alien Wuchs der Phantasie so 
gliicklich am Boden. 

Daran dacht' ich oft und warf mir manches vor. Wiirde nicht 
(hielt ich mir vor) ein grundlicherer Schulkollege deinen Gustav, 
wenn er mit dem Rucken auf dem Grase liegt und in den blauen 
Himmelkrater hinaufzusinken oder auf Flugeln an den Schulter- 
blattern durch das All zu schwimmen traumt, mit dem Spazier- 
stock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, sagt' ich, wenn ich 30 
zum griindlichern Kollegen sagte, es sei einerlei, woran eine kind- 
liche Phantasie sich aufwinde, ob an einem lackierten Stabchen, 
oder an einer lebendigen Ulme, oder an einem schwarzen Raucher- 
stecken: wiirde der Kollege nicht witzig versetzen, eben deshalb, 
es sei also einerlei? — 

Inzwischen besaB* ich meines Orts auch Witz; ich wiirde auf 



ZWANZIGSTER SEKTOR 173 

die Replik verfallen: »Glauben Sie denn, Herr Konfrater, dafi 
unter dem groBten Spitzbuben und dem groBten komischen 
Dichter, den Sie vertieren, ein Unterschied ist? - Allerdings; em 
guter Plan des Cartouche ist von einem guten Plan des Dichters 
Goldoni darin verschieden, daB der erste die Komodie selber aus- 
fiihret, die der letzte von Schauspielern ausfuhren lasset.« 

Gustav war jetzt in der Mitte des schonsten und wichtigsten 
Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nam- 
Hch. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den langsten und 

10 heiBesten Tagen; und - wie die heiBe Zone zugleich die GroBe 
und den Gift der Tiere mehrt - so kocht sich an der Jiinglingglut 
zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-£ifer, der 
Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzahnen 
und Giftblasen. In diesem Jahrzehend schleicht das Madchen aus 
ihren durchlachten Jahren weg und verbirgt das trubere Auge 
unter derselben hangenden Trauerweide, worunter der stille Jung- 
ling seine Brust und ihre Seufzer kiihlt, die fur etwas Nahers 
steigen als fur Mond und Nachtigall. Gliicklicher Jiingling! in 
dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichterischen, 

20 die weiblichen und die Natur selber, und legen ihre Unsichtbar- 
keit ab und schlieBen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. 
Ich sagte : selber die Natur; denn an ihr gliihen noch hohere Reize 
als die malerischen; und der Mensch, fiir dessen Auge sie ein mei- 
lenlanges Kniestiick voll Zaubereien war, kann ihr ein Herz mit- 
bringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches 
tausend Seelen hat und mit alien eine umschlingt — O sie kehrt 
niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, 
die mehr hat als drei hohe Festtage : ist sie voriiber, so hat eine 
kalte Hand unsre Brust und unser Auge beriihrt ; was noch in diese 

$0 dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den ersten Morgenzauber 
verloren, und das Auge des alten Menschen offnet sich dann bloB 
gegen eine hohere Welt, wo er vielleicht wieder Jiingling wird! 
Drei Tage, eh* der Professor kam, war Gespensterlarm im 
SchloB; zwei Tage vorher wahrte er noch fort; einen Tag zuvor 
machte der Rittmeister Anstalten zur Entdeckung der Schelmerei. 
Er hatte einen Wasserscheu vor Gespenstergeschichten und gab 



174 DIE UNSICHTBARE LOGE 

jedem Bedienten, der eine wie Bokaz erzahlte, als ein Honorar 
seiner Novelle nach der Bogenzahl Priigel. Die Rittmeisterin 
argerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den 
Blick von ihm, den Manner werfen, wenn die Hoffnungen oder 
Befiirchtungen ihrer Weiber Hasenspriinge wie Erdhalbmesser 
tun. - Sie hatte nachts ein dreifuBiges Gehen durch den Korridor 
gehort, ein Blitz war durch ihr Schlusselloch gefahren, und eine 
andre Taschenuhr als ihre hatte 12 geschlagen, und alles war ver- 
flogen. 

Er lud also seine Doppelpistolen, um den Teufel mit dem Pul- 10' 
ver, das er nach Milton fruher als die Sineser erfunden, anzu- 
fallen; sein Gustav muBte mit dabei sein, um mutig zu werden. 
Die SchloBuhr schlug 11, es kam nichts - sie schlug 12, wieder 
nichts — sie schlug 12 noch einmal ohne Hiilfe des Uhrwerks: 
jetzo wickelte sich auf dem SchloBboden ein hieroglyphisches 
Gepolter heran, drei FiiBe traten die vielen Treppen herab und 
erschuttern den Korridor. Er, der selten in Leiden, aber immer in 
Gefahren mutig war, ging langsam aus dem Zimmer und sah im 
langen Gange nichts als die ausgeblasene Hauslaterne an der 
Haupttreppe; etwas ging im Finstern auf ihn zu - und indem er 20 
auf das stumme Wesen feuern wollte, rief er: »Wer da?« Plotzlich 
blitzte funf Schritte von ihm - und hier faBte der Tetanus der 
Angst Gustavs Nerven - das Licht einer Blendlaterne auf ein Ge- 
sicht, das in der Luft hing und das sagte : »Hoppedizel !« Der wars ; 
warf sein Stiefelholz und andern Apparat dieser Farce weg, und 
niemand hatte etwas darwidef als der Rittmeister, weil er seinen 
Mut nicht beweisen konnte, und die Rittmeisterin, weil sie keinen 
bewiesen hatte. 

- Aber in Gustavs Gehirn riB dieses in der Luft hangende Ge- 
sicht mit der Atznadel ein verzerrtes Bild hinein, das seine Fieber- 30 
phantasien ihm einmal wieder unter die sterbenden Augen halten 
werden. BloB heftige Phantasie, nicht Mangel an Mut schafFt die 
Geisterfurcht; und wer jene einmal in einem Kinde zum Er- 
schrecken aufwiegelte, gewinnt nichts, wenn er sie nachher wider- 
legt und sie belehrt: »Es war naturlich.« Daher fiirchten sich in der 
namlichen Familie nur einige Kinder, d.h. die mit gefliigelter 



ZWANZIGSTER SEKTOR 175 

Phantasie - daher zieht Shakespeare in seinen Geisterszenen die 
Haare des Unglaubigen in der Frontloge zu Berge, offenbar ver- 
mittelst seiner aufgewiegelten Phantasie. - Die Geisterfurcht ist 
ein auflerordentliches Meteor unserer Natur, erstlich wegen ihrer 
Herrschaft uber alle Volker; zweitens weil sie nicht von der Er- 
ziehung kommt; denn in der Kindheit schauert man zugleich vor 
dem groBen Baren an der Tiire und vor einem Geiste zusammen, 
aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt die andre? - Drittens 
des Gegenstandes wegen: der Geisterfurchtsame erstarret nicht 

io vor Schmerz oder Tod, sondern vor der bio Ben Gegenwart eines 
ganz fremdartigen Wesens; er wiirde einen Mond-Insassen, einen 
Fixstern-Residenten so leicht wie ein neues Tier erblicken konnen, 
aber in den Menschen wohnt ein Schauer gleichsam vor Obeln, 
die die Erde nicht kennt, vor einer ganz andern Welt, als um 
irgendeine Sonne hangt, vor Dingen, die an unser Ich naher 

grenzen 

Ich muBte den einfaltigen Professor-SpaB aufschreiben, weil 

" er nach zwei Tagen um den fliegenden Gustav folgende Szene er- 

zeugte, die ihm ebensogut das Herz zerquetschen als erheben 

20 konnte. 

In der Frist vor seiner Abreise trug er sein schweres Herz und 
schweres Auge an alle Orte, die er liebte und verlieB, in das heilige 
Grab seiner Kinderjahre, unter jeden Baum, der ihm die Sonne 
genommen, auf jeden Hugel, der sie ihm gezeigt hatte - er ging 
zwischen lauter Ruinen des sanften Kinderlebens hindurch; uber 
seinem ganzen Jugendparadies lag die Vergangenheit wie eine 
Flut; vor ihm, hinter ihm zog sich das Marsch- und Ackerland, 

worein das Schicksal so bald den Menschen treibt Das war die 

Minute, wo ich vor der Sonne, die wie er von dannen ging, und 

30 vor der ganzen groBen Natur, die mit unsichtbaren Handen den 
blinden Menschen in weite, reine, unbekannte Regionen hebt, 
meinem geliebten Schuler das Bild seines Guido 1 , das ich ihm bis- 
her entzog, ans Herz driickte; in solchen Minuten sind Worte 
nicht notig, aber jedes, das man spricht, hat eine allmachtige Hand : 

1 Das Bild des veVlornen Kleinen, das er an seinem Halse von der Ent- 
fuhrerin mitbrachte, und das ihm so ahnlich sah. 



I7<S DIE UNSICHTBARE LOGE 

»Hier, Gustav,« (sagt* ich) »hier vor dem Himmel und der Erde 
und vor allem Unsichtbaren um den Menschen, hier iibergeb' ich 
dir aus meinen bewahrenden Handen fiinf groBe Dinge in deine: 
- ich iibergebe dir dein unschuldiges Herz - ich iibergebe dir 
deine Ehre - den Gedanken an das Unendliche - dein Schicksal - 
und deine Gestalt, die auch um Guidos Seele liegt. Die groBen 
Stunden stehen nicht auf der Erde, die dich fragen werden, obdu 
diese fiinf groBen Dinge erhalten oder verloren hast - aber sie 
werden einmal deine kunftige Seele mit deiner jetzigen ver- 
gleichen — ach! laB mich an mich nicht denken, wenn du alles 10 
verloren hast!«... 

Ich ging und umarmte ihn nicht; die besten Gefuhle haften 
starker, wenn man ihnen nicht erlaubt, sich auszudriicken. Er blieb, 
und seine Gefuhle wendeten sich an Guidos Bild; aber das konnte 
ihn nicht an seine eigne Gestalt erinnern - denn eine Mannsperson 
kann 20 Jahre alt werden, ohne ihre Zahne, und 25 Jahre, ohne 
ihre Augen-Wimpern zu kennen, indes ein Madchen dahinter 
kommt vor der Firmelung -, sondern das Bild regte alles, was in 
ihm von dem Andenken und der Liebe gegen seinen Genius, den 
ersten Erzieher, schlummerte, wieder auf; ja er fand am Bilde 20 
lauter Ahnlichkeiten mit seinem weggeflohenen Freunde aus und 
sah dessen Gestalt im gemalten Nichts wie in einem Hohlspiegel. 

Sein Gehirn brannte wie eine glimmende Steinkohlenmine im 
Traume auf dem Kopfkissen fort. Ihm kams darin vor, als zerlief ' 
er in einen reinen Tautropfen und ein blauer Blumenkelch sog' 
ihn ein - dann streckte sich die schwankende Blume mit ihm hoch 
empor und hob* ihn in ein hohes hohes Zimmer, wo sein Freund, 
der Genius, oder Guido mit dessen Schwester spielte, dem der 
Arm, sooft er ihn nach Gustav ausstreckte, abfiel und dem die 
Schwester ihn wieder reichte. Auf einmal knickte die Blume zu- 30 
sammen, und niederfallend sah er drei weiBe Mondstrahlen seinen 
Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke abwarts gegen den 
Gefallnen drehte. Ererwachte- auBerdem Bette amoffnen Fenster 
lehnend, das iiber den Garten ins schlafende Auenthal sah. Der 
Himmel sank in einem stummen Strahlen-Regen nieder - am 
leuchtenden Universum regte sich nichts als die Strahlenspitzen 



ZWANZIGSTER SEKTOR 



177 



der Fixsterne - die Hauser standen wie Grabmaler, in denen die 
Sterblichen ausschliefen - die Traume gingen in den geschlossenen 
Sinnen der Sterblichen aus und ein, und der Tod trat zuweilen 
ein Haupt und den Traum darin entzwei. Der Himmel schien 
Gustaven an sein Fenster gesunken. »0 kehr urn, komm wieder, 
Geliebter!« (defer, durch Traum und Gegenwart dahingerissen) 

- »o du warst da, du suchest mich! Erscheine mir, tote michl - 
Ach du tausendfach Geliebter! sende mir von deinem Himmel 
wenigstens deine Stimme !« - Unversehends schnitt etwas vor dem 

10 Fenster. die Luft entzwei und rief »Gustav«, und im fernen Weiter- 
fliegen riefs zweimal hoher herab »Gustav, Gustav«. Ein Eisberg 
fiel auf seine starrende Haut in der ersten Sekunde; aber in der 
zweiten gliihte er wieder an, gab seine Arme dem Tode und dem 
Freunde und schlug das Auge an einer Luftstelle unter dem Mond- 
blenden ein, um etwas zu sehen. - Die zwei Welten waren nun 
fur ihn in eine zusammengefallen; gefaBt erwartete er den Freund 
aus der Welt hinter den Sonnen und wollte an seine Atherbrust 
stiirzen mit einer von Erde. Er gliihte sich ab und ging endlich 
mit dem Schaudern der Seele und der Haut ins Bett zuruck. Aber 

ao lange werden von dieser Stunde her, wie von der Gegend eines 
Gewitters die Winde, die Bewegungen seiner Seele wehen. 

— Der alte Starmatz tats vermutlich, der, so viel ich weiB, aus 
dem Bauer entkommen war. Gustav erfuhr es nicht. Ob eine 
Seele Wellen gleich einem Setzteich, so hoch wie Hemd- Jabots, 
oder gleich dem Ozean solche wie Alpen schlage, das ist zweier- 
lei; ob diese hohen Bewegungen ein Star erregt oder ein Seliger, 
das ist einerlei. 

Der Professor lehrte ihm unter meinen Ohren giildne Brokar- 
dika der Menschenkenntnis, die er durch das Lehren selber iiber- 

$o trat - z. B. : Nicht bloB die Liebe, sondern auch der HaB der Men- 
schen ist veranderlich, und beide sterben, wenn sie nicht wachsen. 

- Die meisten reden bloB gegen die Laster, die sie selber haben. - 
Je groBer das Genie, je schoner der Korper ist, desto mehr ver- 
zeiht ihnen die Welt; je groBer die Tugend ist, desto weniger ver- 
zeiht sie ihr. - Jeder Jiingling denkt, keiner gleiche ihm in Ge- 
fuhlen etc.; aber alle Jiinglinge gleichen sich. - Man muB sich nie 



178 DIE UNSICHTBARE LOGE 

entschuldigen ; denn nicht die Vernunft, sondern die Leidenschaft 
des andern ziirnt auf uns, und gegen diese gibt es keinen Grund als 
die Zeit. - Die Menschen lieben ihre Freuden mehr als ihr Gliick, 
einen guten Gesellschafter mehr als den Wohltater, Papageien, 
SchoBhunde und AfFen mehr als nutzliche Lasttiere. - Man errat 
die Menschen, wenn man ihnen keine Grundsatze zutraut; und der 
Argwohnische hat allemal recht, er errat, wenn nicht die Handlun- 
geh des andern, doch seine Gedanken; die Niederlagen des Schlim- 
men und die Versuchungen des Guten. - Die Siinde gegen den 
heiligen Geist, die dir keiner vergibt, ist die gegen seinen Geist, 10 
d. h. gegen seine Eitelkeit ; und der Schmeichler gefallet, wenn nicht 
durch seine Oberzeugung, doch durch seine Erniedrigung etc. 
Es gibt gewisse Regeln und Mittel der Menschenkenntnis, die 
der bessere hohere Mensch verschmaht und verdammt, und die 
gerade diesen nicht erraten helfen und die ihn weder belehren noch 
erforschen. - Der Professor riet noch meinem Gustav, sein Ge- 
sicht zu formen, Tugend auf demselben zu silhouettieren, es vor 
dem Spiegel auszuplatten und es mit keinen heftigen Regungen 
zu zerknullen. Ich weiB es selber, fur Weltleute ist der Spiegel 
noch das einzige Gewissen, das ihnen ihre Fehler vorhalt und das 20 
man, wie das Gehirn, ins grofie und kleine einteilen muB; das 
groBe Gewissen sind Wand- und Pfeilerspiegel, das kleine steckt 
in Etuis und wird als Taschenspiegel herausgezogen ; fiir die Welt- 
leute; aber fiir dich, Gustav? - du, der du den obigen Dekalogus 
fiir Spitzbuben nicht annehmen, nicht einmal verstehen oder 
niitzen kannst - denn man niitzt und versteht nur solche Lebens- 
regeln, von denen man die Erfahrungen, worauf sie ruhen, so 
durchgemacht, daB man die Regeln hatte selber geben konnen - 
du, den ich gelehrt,.daB Tugend nichts sei als Achtung fur das 
fremde und fiir unser Ich, daB es besser sei, an keine Laster als an 50 
keine Tugend zu glauben, daB die Schlimmsten nur ihre eigne 
Kaste und die Besten noch eine mehr kennen?... Wenn Gustav 
nicht gegen jene Lehren, die meistens Wahrheiten sind, und gegen 
den Lehrer aufgefahren ware; wenn er nicht geschworen hatte, 
daB diese ekelhafte Kanker-Philosophie nie iiber eine Ecke seines 
Herzens sich spinnen und kleben sollte: so hatt' ich von ihm nicht 



EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 179 

einmal so gut gedacht als von der Residentin von Bouse, der das 
System des Helvetius so schon wie sein Gesicht vorkommt ; denn 
in ihrem Stande hat oft das beste Herz die schlimmste Philosophic 
Es wird kaum die Miihe verlohnen, daB ichs hersetze, daB der 
Spitzbube Robisch zum Henker gejagt wurde, weil er einen ent- 
wischten Rekruten fur einen neuen ausgab und verrechnete. Wenn 
ich sagte: zum Henker gejagt, so satirisierte ich; denn zum Herrn 
von Roper wars, der keine Bediente annimmt als die, welche 
Livree-Polyhistore wie Robisch sind, d.h. zugleich Jager, Gart- 
10 ner, Schreiber, Bauern und Bediente. - 



EINUNDZWANZIGSTER ODER MlCHAELIS-SEKTOR 
Neuer Vertrag zwischen dem Leser und Biographen - Gustavs Brief 

»Ziehe hin, Geliebter,« (sagt* ich) »den das Welt-Meer mit- 
nimmt; das Sonnenbild deines verborgen fuhlenden Herzens 
lachle aus dem Meergrund und schwimme mit dir! Dein junges 
Herz bringest du nicht mehr nach Auenthal! - O daB doch die 
Friichte am Menschen ein andres Wetter haben miissen als seine 
Bltiten - statt des Hauches des Lenzes den Stich des Augusts und 
den Sturm des Herbstes!« Ich dachte dies, solange sein Wagen in 

20 meinen Augen blieb; nachher ging ich in die Gartenhohle hin- 
unter zu den zwei Monchen; und als ich dachte: in euerer kalten 
Stein-Brust wohnt kein Wunsch, kein Sehnen, kein Schmerz, kein 
- Herz: »Eben darum«, sagt* ich in anderem Sinn. 

Heute ist Michaelis, und heute - ich kann mich nicht langer 
verstellen - bejahrt sich seine Abreise. Heute fangt zwischen mir 
und dem Leser ein ganz neues Leben an, und wir wollen ruhig 
alles miteinander vorher ausmachen. 

Erstlich bin ich zwar ein Jahr hinter Gustavs Leben zuruck; 
aber in acht Wochen gedenk' ich solches erschrieben zu haben. 

3 o Ich verhoffte freilich schon vor einem halben Jahre, nun kam' ich 
ihm nach; aber ein Leben ist leichter zu fuhren als zu schildern, 
zumal gut stilisiert. Uberhaupt kann ein Autor - ein guter - leich- 



180 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ter die Sterne des Himmels zahlen als seine zukiinftigen Bogen, 
die auch Sterne sind. SchluBlich erwartet man, daB die Literatur- 
Zeitung wenigstens so viel bedenke, daB ich ein Rechtsfreund bin 
und unmoglich fiir sie so viel zu schreiben vermag wie fur ganze 
Kollegien, Fakultafen und hochste Reichsgerichte. Kennt die 
Literatur-Zeitung meine entsetzlichen Arbeiten ? Man muB meinen 
Speiseschrank voll Manualakten gesehen haben, in denen noch 
dazu kein Wort steht, weil ich sie erst aus der Papiermuhle holen 
IieB, oder man muB in meiner Gerichthalterei in Schwenz, worin 
die 12 Untertanen und der Lehn- und Gerichtherr selber Bauern 10 
sind, gewesen sein,um von mirnicht mehr zufordernals jahrlich 
ein Buchi Wer ist um ganz Scheerau derjenige Sachwalter, der in 
einem Prozesse dient, welcher mit nachstem - der Teufel miiBte 
sein Spiel haben - zum Wetzlaer Tor unter die Sessiontische des 
Reichskammergerichts, das von gutem Stil weiB, diirfte hinge- 
trieben werden? Und doch diente der ProzeB, wie Peter der 
GroBe,-von unten auf und bestieg, wie die Styliten-Sekte, immer 
hohere Stiihle. 

Zweitens - oder das ist noch erst-lich: ich kann folglich, gleich 
den Juden, nur am Sabbat oder Sonntag auf die Plastik meines 20 
Seelen-Fotus denken; an Wochentagen wird nichts geschrieben —. 
als zwar auch Biographien, aber nur von Schelmen, man meint 
Protokolle und Klaglibelle. 

Zweitens oder drittens bin ich der InsaB eines Schulmeister- 
tums. - Der gute Rittmeister wollte mich, da sein Sohn zur Tiir 
hinaus war, mit Personalarrest belegen, der bei mir zugleich Real- 
arrest ist, weil mein Mobiliar-Vermogen in meinem Korper und 
mein Immobiliar-Vermogen in meiner Seele besteht; ich sollte 
auf seinem Schlosse so lange advozieren und satirisieren, als ich 
wollte. Es ware zu wunschen, sein alter Gerichthalter verbliche : so 30 
wiirde ichder neue ; denn abdanken kann sein gutes Herz-dem doch 
mein spitzbiibisches, an Hoffeinheiten verwohntes den Mangel 
der letzten nicht allemal vergeben mag - keinen Menschen. 
Behalte deinen gesunden Nord-Ost-Atem, behalte deine Hande 
mit dem priigelnden Stab Wehe und deine Zunge mit ihrem Paar 
Donnerwettern und tausend Teufeln, mein Falkenberg! 



EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 131 

Ich blieb auch bei ihm im Winter; aber heuer im Friihjahr zog 
ich an den Ort herab, wo ich dieses schreibe - in die obere Stube 
des Auenthaler Schulmeister Sebastian Wut^ 1 . Ich hatte vielleicht 
die drei vernunftigsten Griinde von der Welt dazu; ich schwind' 
erstlich nirgends mehr ein als in einem Vatikan voll oder Kliifte, 
in Sara-Wiisten von leeren Zimmern; ein EBsaal mit seiner 
Moblen-Armut ist fiir mich ein Patmos, und blofi in kleinen 
Stiibchen wird man groBer. Der Mensch sollte von Jahr zu Jahr 
in immer kleinere Zellen kriechen, bis er in die kleinste schliipfte, 

10 d.h. ins engste Loch dieses gequetschtenSilberdrahts.-Derzweite 
Grund war Herr Fortius (in Morhof. Polyhist. L. II. c. 8.), wel- 
cher Gelehrten anrat, alle halbe Jahre die Stadte zu wechseln, da- 
mit sie besscr schrieben ■ — und in der Tat schreibt man besser nach 
jeder Veranderung, und ware es eine des Schreibepults. Ohne 
solche auffrischende Luft schreibt sich die Seele so tief in ihren 
Hohlweg hinein, daB sie darin steckt, ohne Himmel und Erde zu 
sehen. Aus gegenwartigem Werke konnte vielleicht etwas wer- 
den; aber jeden Monat und jeden Sektor muB ich in einer andern 
Kajute schreiben. - 

20 Der dritte und vernunftigste Grund ist meine Schwester : sie ist 
wieder von der Residentin von Bouse zuriick, erstlich, weil sie 
ihre Stelle einer schonen Biicherpatientin leer zu machen hatte, 
der guten Beata namlich, welche der Vater, der Doktor, der Lieb- 
haber - der dumme Oefel (er wird aber gar nicht begiinstigt) - 
endlich mitten in diese Zusammenstromung aller Freuden und 
Visiten hinberedeten; - zweitens ist meine Schwester da, weil ichs 
so haben wollte, aber Schwester, Schwester, warum nab' ich dich 
nicht eher aus diesem ubersinternden Mineral-Strudel gerissen? 
Warum hast du dich so verandert? Wer kann dich zuriick ver- 

30 andern? Wer will dir aus dem Herzen scheuern deine Gedanken 
an fremde Blicke, deine Gier, bewundert, aber nicht geliebt zu 
werden, deine Gefallsucht, welche Liebe nur erregen, nicht er- 

1 Den ganzen Lebenslauf seines Vaters, Maria Wutz, har/ ich dem Ende 
des zweiten Bandes beigegeben. Allein ob er gleich eine Episode ist, die mit 
dem ganzen Werke durch nichts zusammenzuhangen ist als durch die Heft- 
nadel und den Kleister des Buchbinders : so sollte mir doch die Welt den Ge- 
fallen erweisen und ihn sogleich lesen nach dieser Note. 



182 DIE UNSICHTBARE LOGE 

widern will, und alles das, was dein Herz unterscheidet von dei- 
nem vorigen Herzen und von Beaten s ewigem? — Mit meiner 
Schwester wollt' ich also nicht gern das SchloB verengern, auf 
dem sie iibrigens alle Tage ein paar Stunden versitzet. 

Jetzt nab* ich dem Leser beigebracht, woran er ist: wir wenden 
uns wieder zu Gustavs Wagen und sind alle zufrieden, Leser, 
Setzer und Schreiber. 

Gustav fuhr in einer Trunkenheit des Schmerzes, die der schone 
Himmel in Tranen auf losete, nach Scheerau und hielt jede Schwalbe 
und Biene, die unserem Schlosse zuflogen, fur gliicklich; die 10 
nachsten zehn Jahre hingen als zehn Vorhange vor ihm duster 
nieder, »und liegen«, fragt* er sich, »Totengerippe, Raubtiere oder 
Paradiese hinter den Vorhangen?« - Was ohne Vorhang vor ihm 
saB und dozierte, sah er auch nicht, den Professor. Zwei Stunden 
vor Scheerau schrieb er mir mit jener flammenden Dankbarkeit, 
die aus dem Menschen nur in seinem zweiten Jahrzehend so 
strahlend bricht. Wie bei alien Seelen, die sich mehr von innen 
heraus als von auBen hinein verandern, stand in ihm der Baro- 
meter seines Herzens oft unbeweglich auf demselben Grade. Die 
Regenwolken und den Regenbogen in seinem innern Himmel 20 
brachte er nach Scheerau mit; er trug sein uberhulltes Herz in das 
weite widerhallende Kadettenhaus und in dessen Jahrmarktlarm auf 
den Treppen und in das Kadetten-Feldgeschrei wie unter die 
Schlage einer Kupferschmiede und Walkmiihle hinein - er wurde 
noch trauriger, aber mit mehr Schmerzen. 

Das Merkwiirdige im Zimmer, das er betrat und bewohnte, wa- 
ren nicht drei Kadetten-denn sie warenKurrent-Menschen, Schei- 
demunze und prosaische Seelen, d.h. lustig, witzig, ohne Gefuhl, 
ohne Interesse fur hohere Bediirfnisse und von maBigen Leiden- 
schaften -, sondern der Stuben-Ephorus, Herr von Oefel, der mit 30 
dem Degen wie einegespieBteFliegemitderNadellief. Oefel fing 
ihn sogleich zu beobachten an, um ihn abends zu beschreiben; -in 
Gesellschaften aber beobachtete er jeden, nicht umfremde PfifFezu 
erlauschen, sondern um seine vorzuweisen. So lobte er auch, ohne 
zu achten, und schwarzte an, ohne zu hassen : glanzen wollt* er bloB. 

Unter diesen Vernal tnissen, ehe Gustav den schweren Gang 



EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 183 

iiber Schmerzen zu Geschaften tat, kam der Trost in der Gestalt 
der Erinnerung zu ihm, und Gustav sah, was er nicht hatte ver- 
gessen sollen - seinen Amandus, seinen Kindheitfreund. Aber der 
gute Jiingling trat vor ihn nicht in derersten Gestalteines Blinden, 
sondern in der letzten eines Sterbenden; er hatte die Nerven- 
schwindsucht, die alles sein Mark aus der noch stehenden Rinde 
ausgezogen hatte - an der Rinde griinte nichts mehr als hangende 
Zweige mit fahlem gesenkten Laub. Er bereitete sich auf kein 
Amt und kein Leben vor, sondern erwartete und wollte empfan- 

10 gen an der Schwelle des Erbbegrabnisses den Tod, der die Treppe 
heraufstieg. - Aber dafi seine Seele in einer lebendigen Wunde 
lag, daran kann uns nichts wundern als das Geschlecht; denn die 
schonsten weiblichen Seelen wohnen selten anders; aber die 
Manner schonen diese Wunde nicht ; es erweicht sie gegen ein so 
weiches Geschlecht der Anblick nicht, daB die meisten nicht von 
einem Tage zum andern, sondern voneinem Schmerze zum andern 
leben und von einer Trane zur andern — 

In Gustav wohnte das zweite Ich (der Freund) fast mit dem 
ersten unter einem Dache, unter der Hirnschale und Hirnhaut; 

20 ich meine, er liebte am andern weniger, was er sah, als was er sich 
dachte; seine Gefuhle waren uberhaupt naher und dichter urn 
seine Ideen als urn seine Sinne; daher wurde oft die Freundschaft- 
Flamme, die so hoch vor dem Bilde des Freundes emporging, 
durch den Korperdesselbengebogenundabgetrieben.Daheremp- 
fing er seinen Amandus, weil uberhaupt eine Ankunft weniger er- 
warmt als ein Abschied, mit einer Warme, die aus seinem Innern 
nicht vollig bis zu seinem AuBern reichte- aber Oefel, der beobach- 
tete, hatte mit sechs Blicken heraus, der neue Kadett sei adelstolz. 
Unter alien Kriegs-Katechumenen hatte Gustav die meiste Not. 

30 Aus einer stillen Kartause war er in ein Polter-Zimmer verbannt, 
wo die drei Kadetten ihm den ganzen Tag die Ohren mit Rapier- 
stdfien, Kartenschlagen und Fluchen beschossen - aus einer Dorf- 
burg war er in ein Louvre geworfen, wo die Trommel das Sprach- 
organ und die Sprachmaschine war, wodurch das Scholarchat mit 
den Schulern sprach, wie die Heuschrecke alien ihren Larm mit 
einer angebornen Trommel am Bauche macht. Zum Essen, zum 



1 84 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Schlafen, zum Wachen wurden sie wie das Parterre eines Dorf- 
komodianten zusammengetrommelt. Im Marschschritt und hinter 
dem Kommandowort erstieg diese Miliz den Speisesaal als ihren 
Wall und nahm von der Festung nichts weg als die Mundportion 
auf einen halben Tag. Der Kommandozuck riB sie von ihrenStuh- 
len auf und lenkte sie zur Zitadell wieder hinaus. Man konnte 
nachts die Schritte eines einzigen Kadetten zahlen, und man wuBte 
die aller iibrigen, weil der kommandierende LuftstoB diese Rader 
auf einmal trieb. - Eben deswegen, ich meine, weil der Dank vor 
dem Essen ordentlich kommandiert wurde, hatte das ganze Korps 10 
die gleiche Andacht; keine Sekunde sprach einer langer mit Gott 
als der andre. Ich weiB nicht, in welchem scheerauischen Regi- 
mente der Kerl stand, der einmal bei der Kirchenparade, wo der 
Offizier die Seelen einmal zu Gott kommandierte, die er sonst 
zum Teufel gehen hieB, so sehr wider vernunfrige Subordination 
verstieB, daB er wenigstens vier Minuten langer dem Himmel auf 
seinem frommen Knie dankte als der Fliigelmann — ich sag' es 
deswegen, weil ich nachher, als der Beter dariiber Fuchtel bekam, 
offentlich die Frage tat, ob nicht eben auf diese Weise den Kom- 
pagnien die Logik beizubringen ware, die Linen so notig ist wie 20 
die Schnurrbarte und noch nutzlicher, da man diese, aber nicht 
jene zu wichsen braucht. Konnte man nicht kommandieren und 
das Wortchen »macht« weglassen : »Macht den Vordersatz - macht 
den Hintersatz - macht den SchluB«? So war' ich nicht zu tadeln, 
wenn ich mir eine Kompagnie kaufte und sie die drei Teile der 
BuBe etwa so durchmachen lieBe: bereuet - glaubt - bessert - 

namlich euch, oder sonst soil das Hebe in euch fahren, wie 

jungere Offiziere beisetzen. 

Der ostreichsche Soldat hatte bis Anno 1756 zweiundsiebzig 
HandgrifTe zu lernen, nicht um damit den Feind zu schlagen, son- 30 
dern den - Satan. 

In dieser Stimmung, worin Gustav gegen Krieg und seine Ka- 
meraden war, schrieb er mir einen Brief, dessen Anfang hter weg- 
bleibt, weil unser Briefsteller dabei allemal so kalt wie beim Emp- 
fang zu sein pflegte. 



EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 185 

»Das Exerzieren und Studieren machen mich zu einem 

ganz andern Menschen, aber zu keinem glucklichern. Ich argere 
mich oft selber iiber meine Weichheit, iiber meine Augen, aus 
denen ich die Spuren ingeheim wegzuwaschen suche, und iiber 
mein Herz, das bei Beleidigungen, die ich jetzo hauhg, aber gewiB 
ohne Absicht der Beleidiger erfahre, nicht hart aufschwillt, son- 
dern sich zusammenpreBt, wie zu einer groBen Trane iiber die 
unheilige Welt. Meine Stubenkameraden, unter denen ich nichts 
hore als Rapiere und Fliiche, lachen mich iiber alles aus. Sogar 

10 dieses Blatt schreib* ich nicht unter ihnen, sondern unter freiem 
Himmel im stillen Lande zu den FuBen und auf dem FuBgestell 
einer Blumengottin, von welcher Arm und Blumenkorb abge- 
brochen sind. Der gute Herr von Oefel ist unterdessen im alten 
Schlosse bei der Residentin. 

Sobald ich nicht arbeite, driickt jedes Zimmer, jedes Haus, jedes 
Gesicht auf mich herein — Und doch, wenn ichs wieder tue - zwar 
wenn triibes Wetter ist, wie in voriger Woche, mach* ich mein 
mathematisches ReiBzeug so gern wie ein Schmuckkastchen auf; 
aber wenn ein Flammenmorgen unter dem Geschrei aller Vogel, 

20 sogar der gefangenen, von den Dachern in unsere Gassen nieder- 
sinkt, wenn der Postilion mich mit seinem Horn erinnert, daB er 
aus den eckigen, spitzigen, verwitternden ? unorganisch zusammen- 
geleimten Schutthaufen der getoteten Natur, die eine Stadt heiBen, 
nun hinauskomme in das pulsierende, drangendej knospende Ge- 
wiihl der nicht ermordeten Natur, wo eine Wurzel die andre um- 
klammert, wo alles mit- und ineinander wachset und alle kleinere 
Leben sich zu einem groBen unendlichen Leben ineinander schlin- 
gen: da tritt jeder Bluttropfen meines Herzens zuriick vor den 
Pechkranzen, Trancheekatzen und vor den Wischkolben, womit 

jo die Artillerie unsere blauen Morgenstunden ausstopfet. - Dennoch 
vergess* ich die griinende Natur und die Kontraminen, womit wir 

1 So hiefi der englische Garten um Marienhof, den die Gemahlin des ver- 
storbenen Furs ten mit einem romantischen, gefuhlvollen, iiber Kunstregeln 
hinausreichenden Geiste angelegt. Der Kummer gab ihr den Namen und die 
Anlage des stillen Landes ein. Jetzt ist ihrer sterbenden Seele selbst dieses 
Land zu laut, und sie lebt verschlossen. Diejenigen Leser, die nicht da waren, 
will ich mir durch eine Beschreibung des Gartens verbinden. 



1 86 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sie in die Luft aufschleudern lernen, und sehe bloB die langen 
Flore, die an den Stan gen aus dem Hause eines Farbers gegentiber 
in die Hohe fliegen, schon wie Nachte uber den Gesichtern armer 
Mutter hangen, damit der Tau des Jammers im Dunkeln hinter 
den Leichen falle, die wir am Morgen machen lernen. - - Ach! 
seitdem es keinen Tod mehr/«r, sondern nur wider das Vaterland 
gibt; seitdem ich, wenn ich mein Leben preisgebe, keines errette, 
sondern nur eines binde : seitdem muB ich wiinschen, daB man mir, 
wenn mich der Krieg einmal ins Toten hineintrommelt, vorher 
die Augen mit Pulver blindbrenne, damit ich in die Brust nicht 10 
steche, die ich sehe, und die schone Gestalt nicht bedaure, die ich 

zerschnitze, und nur sterbe, aber nicht tote O da ich noch 

aus Kartausen, noch aus Ihrem Studierzimmer in die Welt hinaus- 
sah, da breitete sie vor mir sich schoner und groBer aus mit wo- 
genden Waldern und flammenden Seen und tausendfach gemalten 
Auen - jetzo steh' ich auf ihr und sehe das kahle Nadelholz mit 
kotigen Wurzeln, den schwarzen Teich voll Sumpf und die ein- 
mahige Wiese voll gelbes Gras und Abzuggraben. - 

Vielleicht konnt' ich aber doch meine Traume, den Menschen 
zu nutzen, mehr verwirklichen, wenn ich eine andre Laufbahn 20 
einschliige und statt des Schlachtfeldes den Sessiontisch wahlen 

und den Zweck der Aufopferung veredeln diirfte 1 Die rote 

Sonne steht vor meiner Feder und bewirft mein Papier mit laufen- 
den Schatten : o du wirkst stehend, Himmeldiamant, und machst 
licht wie der Blitz, aberohneseinen morderischen KnalHDie ganze 
Natur ist stumm, wenn sie erschafFt, und laut, wenn sie zerreifiet. 
GroBe, im Abendfeuer stehende Natur! der Mensch sollte nur 
deine Stille nachahmen und bloB dein schwaches Kind sein, das 
deine Wohltaten dem Diirftigen hinaustragt! 

Wenn Sie heute von Auenthal zu den im Sonnengolde wogen- 50 

1 Ich kann nichts dafiir, daB mein Held so dumm ist und zu nutzen hofft. 
Ich bins nicht, sondern ich zeige unten, dafi das Medizinieren eines kakochy- 
mischen Staatskorpers (z . B. bessere Polizei-, Schul- und andre Anstalten, 
einzelne Dekrete etc.) dem Arzneieinnehmen des Nerven-Schwach lings 
gleiche, der gegen die Symptome und nicht gegen die Krankkeitmaterie arbeitet 
und der sein Ubel bald wegschwitzen, bald wegbrechen oder weglaxieren 
oder wegbaden will. 



ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 87 

den Fenstern unsers Schlosses aufsehen: so schauet jetzt meine 
Seele auch hiniiber, aber mit einem Seufzer mehr.« etc. 

Die Offiziere sehen ein, daB Gustav keiner werden will; aber 
er hat seinen ganzen Vater wider sich, der bloB den stiirmenden 
Krieger liebt und ruhigere Geschaftmanner ebenso verschmahet, 
wie diese den noch ruhigerrt geschaftlosen Gelehrten verachten.- 



ZwEIUNDZWANZIGSTER ODER XVII II. TRINITATIS- SEKTOR 

Der echte Kriminalist - meine Gerichthalterei - ein Geburttag und 
eine Korn-Defraudation 

10 Als ich am Donnerstag darauf meinen Gustav besuchen und ein 
wenig belehren will : hat ihn Herr von Oefel aus einer Ursache, 
die bloB ein ganzer Sektor vor- und auswickeln kann, mit einigen 
Husaren an die Grenze verschickt, wo sie einen Frucht-Kordon 
bildeten, der kein Korn hinaus- und keinen Pfeffer hereinlieB. Da 
die meisten Bewegungen des Volks sich von peris taltischen an- 
fangen: so wollten es manche feine Leute gerochen haben, der 
Landesvater tate die Sache, damit seine Landskinder etwas zu 
brocken und zu beiBen hatten. 

Ich bekam aber am Ende die groBte Teufelei damit, und man 

20 soil es jetzo horen, aber nur von vornen an. 

Namlich so : das groBe Rittergut Maufienbach hat, wie bekannt, 
die Obergerichtbarkeit, obgleich ich und der Rittergutbesitzer, 
Herr Kommerzien-Agent von Roper, dariiber aus entgegenge- 
setzten Griinden argerlich sind. Ich bin argerlich, weil ich das 
Leben, wenigstens die Ehre von einigen hundert Menschen nicht 
in den Handen eines ganzen romischen Volks, sondern eines Amt- 
manns etc. sehe; - der Erb-, Lehn- und Gerichtherr ist argerlich, 
weil der Blutbann nichts eintragt, da es mehr kostet, das Richt- 
schwert schleifen zu lassen, als alles abwirft, was damit in den 

30 Beutel hineinzumahen ist. »Ehebruch ist fur eine malefizische 
Obrigkeit noch das einzige !« sagt der Erbherr. - Ganz das Gegen- 



I 88 DIE UNSICHTBARE LOGE 

teil sagte sein Gerichthalter Kolb\ hohe Frais war seine hohe 
Oper, peinliche Akten waren ihm Klopstocks Gesange und ein 
Scherge sein Orest und Sancho Pansa - Er hatte die Welt in zwei 
Reihen zerteilet, in die auf hangende und in die aufgehangne Reihe, 
und er ware Kriminalist geblieben - Ein unrasierter Malefikant 
im Karzer war ihm ein sinesisches Goldfischchen in einer glasernen 
Bowie, beide wurden Gasten vorgestellt - Freie Spitzbuben- 
Piirsch nur in ein paar Weltteilen ware seine Sache und Lust ge- 
wesen - Mich haBte er auf den Tod, weil ich ihm einmal einen 
vom Tode ins Zuchthaus wegdefendieret hatte - Er besaB die 10 
Sterbelisten aller Hingerichteten und eine Matrikul oder ein gene- 
alogisches Saatregister aller Rauber (Ehrenrauber ausgenommen), 
die in alien deutschen Kreisen zu ernten standen, und wahre 
Spitzbuben waren fur ihn, was fur den biographischen Plutarch 
gutgesinnte Menschen. Kurz er war ein echter Kriminalist, ganz 
wie ihn die alten deutschen oder neuen englischen Gesetze haben 
wollen; denn nach beiden soil jeder bio 8 von seinesgleichen ge- 
richtet und verdammt werden; Kolben aber muBte jeder Spitz- 
bube und Morder fur einen ebenso groBen halten, und Inkulpat 
konnte mithin sagen, daB er die Rechtswohltat genosse, von 20 
einem seinesgleichen gerichtet zu werden. Ich kenne nicht viele 
ebenbiirtige Malefizrate und Fakultisten, auf welche dieses anzu- 
wenden ware. 

Das verdroB Ropern ungemein; denn sein Maleflzrat zog ihm 
alle Monate einen kostensplitterigen Fraisfall zu; und hohen 
Frais-Gerichtherrn ist doch nicht sowohl mit der Einfangung als 
Beerbung der Inquisiten gedient. Kurz als der Amtmann eine 
neue Galgenrekruten-Aushebung im MauBenbacher Walde vor- 
zunehmen gedachte - woran vielleickt Robisch schuld war -: so 
stellte Herr von Roper diese Dieb-PreBgange dadurch ab, daB 30 
er seinem Maleflzrat so viel Grobheiten antat, als dazu vonnoten 
waren, daB der Amtmann nichts tun konnte als abdanken. 

Er tat doch noch etwas, der Schelm, er malte meine Wenig- 
keit ab. Da er mein Defensorat nicht vergessen konnte, so ver- 
waltete er das Fiskalat und sagte zu Ropern, ich taugte nichts, 
ich ware ein Mensch, der ihn und mehre Edelleute haBte und der 



ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 89 

den feinsten Hofton hatte; Paul nahme jeden ProzeB von Unter- 
tanen gegen ihre Lehnherrn an und hatte selber einmal gegen den 
Herrn Kommerzien-Agenten die Feder gefiihret. - Du elender 
Kolb! warum sollen Einbeine das nicht tun? - Meine wichtigsten 
Prozesse sind noch heute keine andern. - Und warum soil nicht 
gar ein Vorschlag wirklich werden, dtn ich sogleich tun will? Der, 
da 6 man nach dem Muster der Armen-Advokaten Untertanen- 
" Advokaten einfuhrt, die bloB gegen Patrimonialgerichte wie die 
Malteserritter gegen Unglaubige fechten. — 

10 Ich hab* es aus Ropers eignem Munde ; denn kurz, er installierte 
mich doch'zum MauBenbacher - Amtmann, die Advozier- und 
Lesewelt erstaune, wie sie will. Die Kolbischen Angriffe waren 
eben meine Wendeltreppe zu diesem Gerichtstuhle. Mein Gericht- 
prinzipal muB zu seinen ewigen Kampfen mit alien Instanzen und 
Edelleuten einen juristischen Taureador, einen hitzigen Feder- 
messer-Harpunierer haben; Kolb sagte aber, ich ware einer. Zwei- 
tens prasentierte mir Herr von Roper den Gerichtstuhl, weil ich 
weder ritt (des kurzen Beines wegen) noch fuhr (des seekranken 
Magens wegen) und mithin zur Justizpflege ohne den Pferde- 

10 Nachtrab, den sein Stall bisher zu apanagieren hatte, gegangen 
kam. Fur Rezensenten und deren Redakteurs wird der Wink kein 
Schade sein, daB sie bedenken mogen, daB sie von nun an Papier 
nehmen und einen Mann rezensieren, der nicht etwa wie sie nichts 
ist, sondern einen, der so gut richtet wie sie, aber iiber ein reelleres 
Leben als das Hterarische, und der solche Rezensenten selber 
henken kann, wenn sie in seinem Gerichtsprengel etwas anders 
stehlen als Ehre. 

Jetzt kommt die Hauptsache. Ich war zum erstenmal als Richter 
in MauBenbach und trat meine Amtmannschaft an. Es ging alles 

30 recht gut, ich und Untertanen wurden einander vorgestellt, und 
ich hatte an diesem Tage iiber funfhundert Hande in meiner. Frei- 
lich muB ich noch manches saure Gesicht wegscheuern, das sie 
mir mit machen, weil sie es meinem weniggeliebten Prinzipal 
machen; denn Volk und Adel liegen nicht bloB in Rom, sondern 
auch in heutigen Dorfern stets einander in Haaren und Zopfen 
und fechten iiber Schuldensachen. AuBer meiner Gerichthalterei 



190 DIE UNSICHTBARE LOGE 

feierte heute noch etwas seinen Geburttag - der Verleiher der- 
selben, Roper; wir a Ben also recht gut, zweierlei Dingen zu Ehren; 
erstlich weil das von ihm aufgeloste Parlament in mir heute wie- 
der zusammenberufen und zweitens weil der Berufer vor vielen 
Jahren geboren worden. Ich kann sagen, mir war wohl dabei 
trotz meiner Verschiedenheit von dem Wiedergebornen - von 
dir ist gar nicht die Rede, Luise und Gerichtprinzipalin ! - Welches 
lahme Herz schliige nicht mit deinem in sympathetischer Harmo- 
nie zusammen, wenn es dein Auge iiber das Vergnugen deines 
Mannes und von Wiinschen fiir sein Leben glanzen sieht. - Son- 10 
dern von deinem Eheherrn selber red' ich: er sei nun, wie er will, 
mir ist es unmoglich, von einem Manne, mit dem ich unter einer 
Stubendecke sitze, das Schlimme zu denken, das ich bisher von 
ihm gehort oder auch geglaubt, und es ist wahrlich nicht einerlei, 
ob uns ein Tisch oder eine KunststraBe trennt. Wenn du einen 
Menschen von Horensagen hassest: so gehe in sein Haus und 
sehe zu, ob du, wenn du in seinen Gesprachen so manchen freund- 
lichen Zug, in seinem Betragen gegen das Kind oder Weib, das 
er liebt, so manches Zeichen der Liebe aufgefunden hast, ob du da 
mit dem hineingebrachten Hasse wieder hinausgehest. War gegen- 20 
wartiger Verfasser in seinem Leben gegen etwas eingenommen, 
so waren es die GroBen; seitdem er aber in seinen Klavierstunden 
zu Scheerau Gelegenheit gehabt, mit manchem GroBen unter 
einem Deckengemalde zu stehen, seitdem er selbst unter diesen 
Riesen mit herumspringt: so sieht er, daB ein Minister, der ein 
Volk driickt, seine Kinder lieben und daB der Menschenfeind am 
Sessiontisch ein Menschenfreund am Nahpult seines Weibes sein 
kann. So haben die Alpenspitzen in der Feme ein kahles steiles 
Ansehen, in der Nahe aber Platz und gute Krauter genug. 

Ich gesteh' es also, da nach altvaterischer Sitte (an Geburttagen 30 
bei Hofe speist' ich dergleichen nie) eine Biskuit-Torte aufgetra- 
gen wurde, auf der das Vivat und der Name Roper mit Typen 
von Mandeln aufgesaet zu lesen und zu essen war - da ferner der 
Inhaber des Namens zwar sagte : »Solche dumme Streiche machst 
du nun«, aber sogleich das Auge voll bekam und beifiigte : »Schneid 
unsern Leuten drauBen auch einen Bissen«- ich gestehe, sagt' ich, 



ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 191 

ich wiinschte alsdann manche Sage von ihm aus meinem Gedacht- 
nis, die sich mit dem lapidarischen Mandelstil nicht wohl vertrug, 
und ich hatte besonders etwas darum gegeben, die Krebse am 
allerliebsten, wenn er, weniger urn das Steingut in ihren Kopfen 
besorgt, seine Luise nicht angebrummt hatte, die in der Freude 
einige Beitrage zu seiner Krebs-Daktyliothek verschiittet hatte. - 
Ich will nur aufrichtig sein : der Henker hatte mich holen mussen, 
wenn ich hart wie ein Krebsauge hatte bleiben wollen, da du, 
meine Musik-Schiilerin, geliebte Beata, welche aus der Hofyuft 1 , 

10 wie andre Blumen aus der mephitischen, nichts eingesogen als 
zartere Reize und hohern Schmelz, da du, holde Schiilerin, mit 
dem weiblichen Gefuhle des vaterlichen Ansehens hingingest und 
dem Vater, mit dem Munde auf seiner Hand, die aufrichtigsten 
Wunsche brachtest und da du erst am Halse deiner Mutter, die 
euch beide mit Blicken der Liebe uberschuttete, dein Herz in ein 
naheres ubergossest .... 

Erst jetzo kommt die versprochne Hauptsache - namlich mein 
Gustav. Ich wollt', er war' ausgeblieben. Er tritt vor zwei Husaren 
voraus, die einen Kornwagen eskortierten. Der Wagen wollte 

20 sich iiber der Grenze - das Furstentum Scheerau stoBet wie der 
menschliche Verstand iiberall auf Grenzen - abladen; die zwei 
Husaren wollten sich bestechen lassen, es war alles gut; aber 
Gustav wars nicht; der Kondukteur, der Pachter, hatte die 
Schleichware fur Roperisches Gut ausgegeben - und vor Roper 
straubte sich der ganze Gustav schon vom Vater her zuruck. 
Zweitens Iebte er jetzt mit der Tugend im Brautstand und in den 
Flitterwochen, wo man gute Werke und moralische hors d'oeuvre 
fur einerlei nimmt und wo zugleich Stil und Tugend zu viel Feuer 
haben. Kurz der Pachter und Wagen muBten zuruck; und der 

50 Kadett war ins Geburttagzimmer getreten, um es mit uberwallen- 
dem Hasse gegen Roperische Betriigereien anzusagen. — Aber 
war er dies imstande, als er mich nach vielen Wochen und meine 
Schiilerin zum ersten Male sah und unter die frohlich geroteten 
Gesichter trat, aus denen er auf einmal Blut und Freude jagen 

1 DerLeser muB sich erinnern, daB sie von der Residentin von Bouse blofi 
zur Feier des vaterlichen Geburttags hierhergereiset war. 



192 DIE UNSICHTBARE LOGE 

wollte? - Er konnte nichts als mich beiseite ziehen und mir alles 
entdecken; aber das Belauschen und das anfahrende corpus de- 
licti entdeckten dem Kommerzien-Agenten das namliche. Er ge- 
net ohne weiteres in eine schimpfende Wut gegen den Kadetten, 
den die Sache, wie er sagte, nichts angehe, und steigerte sich so 
lange darin, bis ihm ein Heilmittel gegen das ganze Ungliick bei- 
fiel. Ich muBte mit ihm vor die Haustiir hinaus, und er sagte mir, 
ich wiirde als sein Amtmann leicht einsehen, daB man das Ge- 
treide fur das Getreide seiner Pachter ausgeben muBte, weil der 
Fiirst mit einem Beamten kein Schonen hatte. Das letzte sah ich 10 
als sein neuer Amtmann ein, daB der geizige Arsenikkonig, der 
den Amter-Handel, Justiz-Unfug und ahnliches duldete, doch auf 
Ungehorsame gegen ihn wie ein giftiger Wind zufahret; aber das 
sah ich nicht ein, daB eine zweite Betrugerei der Verhack und Ad- 
vokat der ersten sein musse. Zu unserem Gefechte stieB endlich 
der Gegeristand desselben, der Pachter selber, der mit zerrutte- 
tem Gesicht und mit der stotternden Bitte zulief, »Ihro Gnaden 
sollten es nicht ungnadig vermerken, daB er in der Angst sein 
Korn fur Ihro Gnaden Ihres ausgegeben hatte«. Nun war der 
Knoten auseinander: mein Prinzipal hatte bisher bloB seine 20 
gliicklich iiber die Grenze gebrachte Schleichware mit der er- 
tappten fremden vermengt. Dem Pachter hielt er sogleich als ge- 
sunder Moralist die Bosheit vor, auf einmal ihn, das Land und den 
Fiirsten zu betrugen, »und er wiinschte, er brache jetzt das Schrei- 
ben der Regierung auf, er wiirde ihn auf der Stelle ausliefern«. 
Zu meinem Gustav eilt* er hinein und warf ihm mit der Hitze der 
verkannten Unschuld so viel Grobheiten entgegen, als man von 
einem beleidigten Halb-Millionar erwarten kann, da Besitzer des 
Goldes, wie Saiten von Gold, am allergrobsten klingen. Mich 
dauerte mein Heber Gustav mit seiner Tugend-Plethora; ihn 30 
dauerte das Ungliick des armen Pachters; und Beaten dauerte 
unsere allseitige Beschamung. Mit reiBenden Gefiihlen floh Gustav 
aus einem stummen Zimmer, wo er vom weichsten Herzen, das 
noch unter einem schonen Gesicht gezittert, von Beatens ihrem, 
die Blumen kindlicher Freude weggebrochen und herabgeschla- 
gen hatte. 



ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 93 

Im Grund ging jetzt der Henker erst los - namlich das Rope- 
rische Gebelle gegen das Falkenbergische Haus und gegen dessen 
abscheuliche Verschwendung und gegen den Kadetten. Beata 
schwieg; aber ich nicht: ich ware ein Schelm gewesen (ein groBe- 
rer, mem' ich), wenn ich dem Rittmeister die Verschwendung in 
dem Sinne, worin sie der Gegner nahm, hatte beimessen lassen — 
ich ware auch dumm (oder dummer) gewesen, wenn ich ihn nicht 
in meinem ersten Amtmanns-Aktus an Widerstand zu gewohnen 
getrachtet hatte, sondern erst im zehnten, zwanzigsten Aber 

10 das Ol, das ich herumflieBen HeB, um seine Wellen zu glatten, 
tropfte statt ins Wasser ins Feuer. Es half uns beiden wenig, daB 
uns meine Schiilerin mit den silberhaltigsten Stellen aus Bendas 
Romeo anspielte - der alte SpaB war nimmer zuruckzubrmgen — 

' wir zuckten und lenkten vergeblich an unsern Gesichtern, Roper 
sah wie ein indianischer Hahn aus und ich wie ein europaischer. - 
Ich hatte vorgehabt, gegen Abend nach Mondaufgang etwas 
sentimentalisch zu sein in Beisein von Beaten, da sie mir ohnehin 
der Hof entrifi; ich weiB gewiB, ich hatte hinlanglich empfunden 
und gefuhlt; ich wiirde unter einem Schatten oder Baum mein 

20 Herz hervorgenommen und gesagt haben : „prenez" ; ja ich schien 
sogar heute Beaten mir weit naher heranzuziehen als sonst, welches 
bei alien Madchen gelingt, mit deren Eltern man die Geschafte 
teilt. — Das war nun samtlich zum Henker; ich muBte kalt und 
zahe davongehen wie ein Kammergerichtbote und empfand 
schlecht. War der neue Amtmann verdrieBlich, den man in sein 
Amt hineingeargert hatte: so wars sein Prinzipal noch mehr, der 
in sein Jahr hineingezankt geworden. So hinkte ich davon und 
sagte unter dem ganzen Weg zu mir : »So und mit dem Gesicht 
und Aussehen ziehest du also, glucklicher Paul, von deiner 

30 MauBenbachischen Gerichthalterei heim, von der du schon in 
deinen Sektoren voraus geplaudert. — Du brauchst meinetwegen 
nicht aufzugehen, Mond, ich brauche dein Puder-Gesicht heute 
nicht - der einzige verdammte Korn-Karren! und der Fiirst! - 
und der Filz dazu! und auch die Jiinglingtugend! - Ich wollt', 
daB ihr alle.... War* ich aber nur so gescheit gewesen und 
hatte gleich vormittags gefuhlt und hatte vor dem- Essen etwas 



194 DIE UNSICHTBARE LOGE 

von meinem Herzen vorgezeigt, nur ein Herzohr, nur eine 
Faser.« 

»Ei! Herr Amtmann!« (fuhr mir mein Wiitz entgegen) »wieder 
da? Hats hubsche Ehebriiche gegeben, Hurenfalle, Raufereien, 
Injurien?« 

»BloI3 einige Injurien«, sagt' ich. 



Dreiundzwanzigster oder xx. Trinitatis-Sektor 

Andrer Zank - das stille Land - Beatens Brief- die Aussohnung - 
das Portrat Guidos 

Noch am heutigen Sonntag nab* ichs nicht heraus, warum 10 
Gustav funf Tage spater in Scheerau eintraf, als er konnte ; er wich 
sogar meinen Erkundigungen angstlicher als listig aus. Oefel liefi 
sich alles rapportieren und machte daraus ein paar Sektores in 
seinem Roman, den ich und der Leser hoffentlich noch zu sehen 
bekommen. Ich wollte, seiner kame eher als meiner in die Welt, 
so konnt' ich den Leser darauf verweisen oder vielleicht einige 
Anekdoten daraus nehmen. Gustav schien ein geistiges Wundfie- 
ber zu haben. Er trug sein vom bisherigen Bluten erkaltetes Herz 
zu Amandus, um es an des Freundes heiBer Brust wieder auszu- 
warmen und anzubruten und um die Achtung gegen sich selber, 20 
die er nicht aus der ersten Hand bekommen konnte, aus der 
zweiten zu erhalten. Und dort erhielt er sie stets - aus einem be- 
sonderen Grunde. In seinem Charakter war ein Zug, der ihn,wenn 
er unter einer Briidergemeinde ware, langst als Wildenbekehrer 
aus ihr nach Amerika hinabgerollet hatte: er predigte gern. Ich 
kann es anders sagen: seine quellende Seele muBte entweder 
stromen oder stocken, aber tropfen konnte sie nicht - und wenn 
sich ihr denn ein freundschaftliches Ohr auftat: so regnete sie 
nieder in Begeisterung uber Tugend, Natur und Zukunft. - Dann 
wehte eine heitere frische Luft durch seine Ideenwelt - die nieder- 30 
gestiirzten ErgieBungen deckten den schonen lichten tiefblauen 
Himmel seines Innern auf, und Amandus stand unter dem offnen 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 195 

Himmel entziickt. Dieser, dem die Obermacht seines herzlich 
Geliebten ein Postament war, das ihn nicht belastete, sondern em- 
porhob, genoB im fremden Wert seinen eignen; ja in seinem min- 
der ausgelichteten Kopf entstand noch groBere Warme, als im 
redenden war, wie etwa dunkles Wasser sich unter der Sonne 
starker als helles erwarmt. Gustav erzahlte ihm den Vorfall und 
sprach mit ihm so lange uber sein Recht und Unrecht dabei, bis 
sein Schmerz dariiber weggesprochen war; dies ist das freund- 
schaftliche Besprechen des innern Schadenfeuers. BloB Liebe und 

io ein wenig Schwache war es, daB Amandus mit grdBerer Teil- 
nahme eine herausgeweinte als eine hervorgelachte Trane aus 
dem geliebten fremden Auge wischte; er kam deswegen, um sich 
das Interesse an fremdem Kummer zu verlangern, nocheinmalauf 
die Sache und tat die zufallige Frage, wo mein Held die iibrigen 
ftinf Tage war. Gustav uberhorte es angstlich und rot - jener 
drang heftiger an - dieser umfaBte ihn noch heftiger und sagte: 
»Frage mich nicht, du qualest dich nur.« - Amandus, dessen 
hysterisches Gefiihl nicht so fein als konvulsivisch war, feuerte 

-* sich erst recht damit an - Gustavs Herz'war innigst bewegt, und 

20 daraus kamen die Worte: »0! Lieber, du kannst es nie erfahren, 
von mir nie!« - Amandus war wie alle Schwache leicht zur Eifer- 
sucht in Freundschaft und Liebe geneigt und stellte sich beleidigt 
ans Fenster. - Gustav, heute nachgiebiger und warmer durch das 
BewuBtsein seiner neuesten Vergehung in der Korn-Anklage, 
ging hin zu ihm und sagte mit nassen Augeh : »Hatt* ich nur keinen 
Eid getan, nichts zu sagen« - Aber an Amandus* Seele waren 
nicht alle Stellen mit jenem feinen Ehrgefuhl bekleidet, an wel- 
chem Wort- und Eidbruch fressender Hollenstein ist. Auch 
setzten in ihm wie in alien Schwachen die Bewegungen seiner 

30 Seele, sogar wenn die Ursache dazu gehoben war, wie die Wellen 
des Meers, wenn auf den langen Wind ein entgegenblasender 
folgt, noch die alte Richtung fort. - Er sah also weiter durchs 
Fenster und wollte vergeben, muBt' aber die mechanisch auf- 
springenden Wellen allmahlich zusammenfallen lassen. Hatte 
Gustav sich weniger um seine Vergebung beworben: so hatt* er 
sie friiher bekommen; beide schwiegen und blieben. »Amandus!« 



196 DIE UNSICHTBARE LOGE 

rief er endlich im zartlichsten Ton. Keine Antwort und kein Um- 
kehren. Auf einmal zog der einsame Gequalte das Portrat des 
verlornen und ihm ahnlichen Guido, das in seinen schonen Kind- 
heittagen iiber seine Brust gehangen worden und das er ihm heute 
zu zeigen willens gewesen, vom Schmerze iibermannt, hervor und 
sagte mit zerschmelzendem Herzen : »0 du gemalter Freund, du 
geliebtes Farben-Nichts, du tragst unter deiner gemalten Brust 
kein Herz, du kennst mich nicht, du vergiltst mir nichts, - und 
doch lieb* ich dich so sehr. - Und meinem Amandus war' ich 

nicht treu?« Er sah plotzlich im Glase dieses Portrats sein 10 

eignes mit seinen Trauerzugen nachgespiegelt: »0 blicke her;« 
(sagte er in einem andern Tone) »ich soil diesem gemalten Frem- 
den so ahnlich sehen, sein Gesicht lachelt in einem fort, schau 
aber in meinesk - und er richtete es auf, und weit offne, aber in 
Tranen schwimmende Augen und zuckende Lippen waren darauf. 

Die Flut der Liebe nahm beide in fester Umfassung hinweg 

und hob sie — und als Amandus erst darnach seine halbeifer- 
siichtige Frage: »er habe geglaubt, das Portrat sei Gustavs« mit 
Nein und mit der ganzen Geschichte beantwortet erhielt: so tat 
es keinen Schaden ; denn die Bewegungen seines Herzens zogen 20 
schon wieder im Bette der Freundschaft hin. 

Nach solchen Erweiterungen der Seele bietet eine Stube keine 
angemessenen Gegenstande an; sie suchten sie also unter dem 
Deckengemalde, von dem nicht ein gemalter, sondern ein leben- 
diger Himmel, nicht Farbenkorner, sondern brennende und ver- 
kohlte "Welten niederhangen, und gingen hinaus ins stille Land, 
das keine halbe Stunde von Scheerau liegt. Ach, sie hattens nicht 
tun sollen, wenn sie ausgesohnet bleiben wollten! 

Willst du hier beschrieben sein, du stilles Land, iiber das meine 
Phantasie so hoch vom Boden und mit solchem Sehnen hiniiber- 30 
fliegt - oder du stille Seele, die du es noch in der deinigen be- 
wachst und nur ein irdisches Bild davon auf die Erde geworfen 
hast? - Keines von beiden kann ich; aber den Weg will ich nach- 
zeichnen, den^unsre Freunde dadurch nahmen, und vorher teil* 
ich noch etwas mit, das den sonderbaren Ausgang ihres Spazier- 
gangs gebar t 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 197 

Ich wuBte ohnehin nicht recht, wohin ich den Brief tun sollte, 
welchen Beata sogleich nach meiner und ihrer Rtickkehr von 
MauBenbach an meine Schwester schrieb. Sie war in den wenigen 
Tagen, die sie mit meiner Philippine bei der Residentin zuge- 
bracht, ihre Freundin geworden. Die Freundschaft der Madchen 
besteht oft dariri, daB sie einander die Hande halten oder einerlei 
Kleiderfarben tragen; aber diese batten lieber einerlei freund- 
schaftliche Gesinnungen. Es war ein Gluck fiir meine Schwester, 
daB Beata keine Gelegenheiten hatte, ihrem sie halb bestreifenden 
io Widerschein von Gefallsucht zu begegnen; denn Madchen er- 
raten nichts leichter als Gefallsucht und Eitelkeit, zumal an ihrem 
Geschlecht. 

„Liebe Philippine, 

ich habe bisher immer gezogert, um Ihnen einen recht mun- 
tern Brief zu schreiben - Aber, Philippine, /tier mach' ich keinen. 
Mein Herz liegt in meiner Brust wie in einer Eisgrube und zittert 
den ganzen Tag ; und doch waren Sie hier so freudig und niemal 
betriibt als bei unserem Abschiede, der fast so lange wahrte wie 
unser Beisammensein: ich bin wohl selber schuld? Ich glaub' es 

20 manchmal, wenn ich die lachenden Gesichter um die Residentin 
sehe oder wenn sie selber spricht und ich mir in ihrer Stelle denke, 
was ich ihr mit meinem Schweigen und Reden scheinen muB. 
Ich darf nicht mehr an die HofFnungen meiner Einsamkeit den- 
ken, so sehr werd' ich von den Vorziigen fremder Gesellschaft 
beschamt - Und wenn mich eine Rolle, die fur mich zu groB ist, 
freilich niederdriickt : so weiB ich mit nichts mich aufzurichten, 
als daB ich ins stille Land wegschleiche : - da hab' ich siiBere 
Minuten, und mir gehen oft die Augen plotzlich uber, weil mich 
da alles zu lieben scheint und weil da die sanfte Blume und der 

30 schuldlose Vogel mich nicht demutigen, sondern meine Liebe 
achten; - dann sen' ich den Geist der trauernden Fiirstin einsam 
durch seine Werke wandeln, und ich gehe mit ihm und fiihle, 
was er fiihlet, und ich weine noch eher als er. Wenn ich unter dem 
schonsten blauesten Tage stehe: so schau' ich sehnend auf zur 
Sonne und nachher rings um den Horizont herum und denke: 



198 DIE UNSICHTBARE LOGE 

>Ach wenn du deinen Bogen hinabgezogen bist, so hast du doch 
auf keine Stelle der Erde geschienen, auf der ich ganz gliicklich 
sein konnte bis zu deinem Abendrot ; - und wenn du hinunter und 
der Mond herauf ist: so findet er, daB du mir nicht viel gegeben.< 
. . . Teure Freundin ! veriibeln Sie mir diesen Ton nicht; schreiben 
Sie ihn einer Krankheit zu, die mich allemal hinter diesem Vor- 
boten anwandelt. O konnt' ich Sie mit meinem Arme an mich 
ketten : so war' ich vielleicht auch nicht so. Gluckliche Philippine ! 
aus deren Munde schon wieder der Witz lachelnd flattert, wenn 
noch iiber ihm das Aug' voll Wasser stent, wie die einzige Bal- 10 
sampappel in unserem Park Gewiirzdufte ausatmet, indes noch 
die warmen Regentropfen von ihr fallen. - Alles ziehet von mir 
weg, Bilder sogar; ein totes stummes Farbenbild hinter einer 
Glastur war der ganze Bruder, den ich zu lieben hatte. Sie konnen 
nicht fuhlen, was Sie haben oder ich entbehre - jetzo scheidet 
sogar sein Widerschein von mir, und ich habe nichts mehr vom 
geliebten Bruder, keine Hoffnung, keinen Brief, kein Bild. - Ich 
vermisse dieses Portrat zwar seit meiner Riickkehr von MauBen- 
bach; aber vielleicht ists schon langer weg; denn ich hatte mich 
bisher bloB einzurichten; vielleicht nab' ichs selber mit unter die 20 
Biicher, die ich Ihnen gab, verpackt - Sie werden mich benach- 
richtigen. Ich weiB gewiB, in unserem Hause war noch ein zweites, 
etwas unahnlicheres Portrat meines Bruders; aber seit langem 

ists nicht mehr da.« etc. 

* 

Naturlich! denn der alte Roper hatt' es publice versteigert, weil 
es das von Gustav war. - Aber wir wollen wieder ins stille Land 
unsern beiden Freunden nach. 

Sie muBten vor dem alten Schlosse vorbei, das wie eine Adams- 
Rippe das neue ausgeheckt, das seinerseits wieder neue Wasser- 
aste, ein sinesisches Hauschen, ein Badhaus, einen Gartensaal, ein 3° 
Billard u.s.w., hervorgetrieben hatte. Im neuen Schlosse wohnte 
die Residentin von Bouse, die diesen architektonischen Fotus das 
ganze Jahr nicht zweimal bewunderte. Hinter dem zweken Riicken 
des Schlosses fing sich der englische Garten mit einem franzo- 
sischen an, den die Furstin stehen lassen, um den Kontrast zu 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 199 

beniitzen oder um den zu vermeiden, in welchem sich ein brillan- 
tierter Gala-Palast neben die patriarchalische Natur im Schafer- 
kleide postiert. Wer nicht vor den beiden Schlossern vorbei wollte : 
konnte durch ein Fichtenwaldchen in den Park gelangen und vor- 
her in eine Klausnerei, deren Vater der alte Furst und sein Favor it- 
Kammerherr gewesen waren. Beide waren in ihrem Leben nicht 
einen halben Tag allein gewesen, aufier wenn sie sich auf einer 
Jagd oder sonst verirrten; — daher wollten sie doch allein sein und 
setzten deswegen (was fragten sie darnach, daB sie ein Plagiat und 

io einen Nachdruck der vorigen Baireuther Eremitage veranstalte- 
ten?) neun Hauserchen aufs Papier, nachher auf den Tisch und 
endlich auf die Erde, oder vielmehr neun bemooste Klafter Holz. 
In diesen ausgehohlten Vexier-Klaftern steckte sinesisches Ameu- 
blement, Gold und ein lebendiger Hofmann, wie man etwa in 
lebendigen Baumstammen auf eine lebendige Krote mit Erstaunen 
stoBet, well man nicht sieht, wo ihr Loch ist. Die Klafter umran- 
gen eine Klause, die man - weil am ganzen Hof keine Seele zu 
einem lebendigen Einsiedler Ansatz hatte— einem holzernen an- 
vertrauete, der still und mit Verstand darin saB und so viel medi- 

20 tierte und bedachte, als einem solchen Manne moglich ist. Man 
hatte den Anachoreten aus der Scheerauischen Schulbibliothek 
mit einigen aszetischen Werken versehen, die fiir ihn recht paBten 
und ihn zu einer Abtotung des Fleisches ermahnten, die er schon 
hatte. Die GroBen oder GroBten werden entweder reprasentiert 
oder reprasentieren selber; aber sie sind selten etwas; andere 
miissen fiir sie essen, schreiben, genie Ben, lieben, siegen, und sie 
selber tun es wieder fiir andre; daher ist es ein Gliifck, daB sie, da 
sie zum GenuB einer Einsiedelei keine eigne Seele haben und 
keine fremde finden, doch holzerne Geschafttrager, welche die 

50 Einsiedelei fiir sie genieBen, bei Drechslern auftreiben; aber ich 
wiinschte nur, die GroBen, die nie mehr Langweile erleiden als 
bei ihrer Kurzweile, lieBen auch vor ihre Parks, vor ihre Orchester, 
ihre Bibliotheken und ihre Kinderstuben solche feste und unbe- 
lebte Geschaft- und Himmeltrager oder GenuB-Curatores absen- 
tis und Schonwetterableiter machen und hinstellen, entweder in 
Stein gehauen oder bloB in Wachs bossiert. 



20O DIE UNSICHTBARE LOGE 

In die Decke der Klause sollte (wie an der Decke der Grotte 
beim Kloster S. Felicita) hinlangliche Baufalligkeit, sechs Ritzen 
und ein paar Eidechsen, die daraus fallen, eingemalet werden. Der 
Maler war auch schon auf Reisen, blieb aber so lange darauf und 
aus, da6 sich die Sache zuletzt selber hinaufmalte und gleich offnen 
Menschen nichts war, als was sie schien. Allein als die kiinstliche 
Einsiedelei sich zu einer natiir lichen veredelt hatte, war sie langst 
von alien vergessen. Ich halt* es daher mehr fiir Persiflage als fur 
reine Wahrheit, daB der Kammerherr - wie so viele Oberschee- 
rauer sagten — Holzwurmer hatte zusammenfangen und in den 10 
Stuhl des Eremiten impfen lassen, damit die Tiere statt der Haar- 
sagen und Trennmesser daran arbeiteten und den Sessel friiher 
antik machten - wahrhaftig das Gewtirm beiBet jetzo Stuhl und 
Monch um 1 Noch lacherlicher ists, wenn man einem vernunftigen 
Mann weismachen will, anfangs hatte der architektonische 
Kammerherr ein kunstlich laufendes Raderwerk mit einem Maus- 
fell kuvertiert und papillotiert, damit die Kunst-Eidechse oben 
eine Korrespondenz-Maus unten hatte und so fiir Symmetric hin- 
ten und vorn gesorgt ware, hernach hatte der Herr sich der Natur 
genahert und iiber eine lebendige rennende Maus ein kiinstliches 20 
zweites Mausfell als Cberrock und Frack gezogen, damit Natur 
und Kunst ineinander steckten — lacherlich! Mause fahren zwar 
stets um den Einsiedler herum, aber sicher nur in einer Unterzieh- 
Haut.... 

Unsere zwei Freunde sind weit von uns und schon im soge- 
nannten langen Abendtal des Parks, durch welches aus der unter- 
gehenden Sonne ein schwebender Goldstrom fiel. Am westlichen, 
sanft erhohten Ende des Tales schienen die zerstreuten Baume 
auf der zerrinnenden Sonne zu griinen; am ostlichen sah man iiber 
die Fortsetzung des Parks himiber bis ans gliihende SchloB, auf 30 
dessen Scheiben sich die Sonne und das Abend-Feuerwerk ver- 
doppelten. Hier sah die alte Furstin allemal den ersten Untergang 
der Sonne; dann hob sie ein sanft aufgewundner Wegauf das hohe 
Gestade dieses Tals, wo der Tag noch in seinem Sterben war und 
noch einmal mit dem brechenden Sonnen-Auge vaterlich den 
grofien Kinderkreis anblickte, bis ihm seine Nacht das Auge zu- 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 201 

driickte und diese in ihren miitterlichen SchoB die verlassene 
Erde nahm. 

Gustav und Amandus! hier versohnet euch noch einmal - der 
rote Sonnenrand steht schon auf dem Rande der Erde — das 
Wasser und das Leben rinnen fort und stocken unten im Grabe - 
nehmet euch an den Handen, wenn ihr auf das zerstorte Ruhe- 
statt 1 hiniiberschauet und auf seine stehende Kirche, das Bild der 
unglucklichen Tugend - oder wenn ihr auf die Blumeninseln blickt, 
wo jede Blume auf ihrem grunen Weltteilchen einsam zittert und 

io ihr kein Verwandter entgegenschwankt als ihr gemalter Schatten 
im Wasser - driickt euch die Hande, wenn euere Augen fallen 
auf das Schattenreich, wo heute Licht und Schatten wie Leben und 
Schlafen nebeneinander und ineinander zitternd flatterten, bis die 
schwarze Schattenflut iiber allem, was an der Erde blinket, steht 
und den Tod nachspielt — und wenn ihr an des stummen Kabinetts 
dreifachem Gitter Alphorner und Aolsharfen lehnen sehet: so 
miissen euere Seelen die Harmonien im Einklang nachbeben — 
Es ist eine elende rhetonsche Figur, die ich aufstelle, daB ich hier 
so lange an- und zugeredet habe : sind denn nicht die zwei Freunde 

20 in einem grofiern Enthusiasmus als ich selbst? Ist nicht Amandus 
iiber freundschaftliche Eifersucht emporgehoben und halt eigen- 
handig das heutige angeredete Portrat des unbekannten Gusta- 
vischen Freundes vor sich hin und sagt: »Du koniitest der Dritte 
sein«? Ja legt er nicht in der Begeisterung das Bild ins Gras, urn 

1 Diese wenigen Partien beschreib* ich nur kurz : Rukestatt ist ein abge- 
branntes Dorf mit stehender Kirche, die beide bleiben muBten, wiesie waren, 
nachdem die Fiirstin den Einwohnern Platz und alles eine Viertelstunde da- 
von mit den groBten Kosten und durch Hiilfe des Herrn von Ottomars, dem 
es gehort und der noch nicht da ist, vergutet hatte. - Die Blumeninseln sind 
30 einzelne abgesonderte Rasenerhohungen in einem Teiche, jede mit einer an- 
dern Blume geputzt. - Das Sckattenreick besteht in einem mannigfaltigen 
Schatten-Gegitter und -Geniste, durch grofies und kleines Laub^erk, durch 
Aste und Gitterwerk, durch Biische und Baume verschieden auf den Grund 
von Kies, Gras oder Wasser gemalt. Sie hatte die tiefsten und die hellsten 
Schattenpartien angelegt, einige fiir den abnehmenden Mond, andre fur das 
Abend rot. - Das stumme Kabinett war ein schlechtes Hauschen mit zwei ent- 
gegengesetzten Tiiren, iiber deren jeder ein Flor hing und die durch aus keine 
Hand aufschlieften durfte als die der Fiirstin. Noch jetzo weiB man nicht, 
was darin ist, aber die Flore sind zerstort. 



202 DIE UNSICHTBARE LOGE 

mit der linken Hand Gustav zu fassen und mit der rechten auf ein 
Zimmer des neuen Schlosses zu deuten, und gesteht er nicht: 
»Hatt' ich auch in der rechten das, was ich Hebe: so waren meine 
Hande, mein Herz und mein Himmel voll, und ich wollte ster- 
ben«? Und da man nur in der groBten Liebe gegen einen Zweiten 
von der gegen einen Dritten sprechen kann : konnen wir unserem 
Amandus mehr ansinnen, der hier auf dem Berge seine Ver- 
liebung in Beaten bekennt? 

Das Ungluck war, daB sie eben selber heraufstieg, um am 
Sterbebette der Sonne zu stehen - noch schoner als die, die ihre 10 
Augenlust war - immer langsamer gehend, als wollte sie jeden 
Augenblick still stehen — mit einem Auge, das erst sah, nachdem 
sie es einigemal schnell auf- und zugezuckt — kein lebender eu- 
ropaischer Autor konnte Amandi Entziickung vormalen, wenn 
es dabei geblieben ware; - aber ihr kleines Erstaunen iiber die 
zwei Gaste des Berges floB plotzlich in das iiber den dritten auf 
dem Grase iiber. Eine hastige Bewegung gab ihr das bruderliche 
Bild, und sie sagte, unwillkiirlich zu Amandus gekehrt: »Meines 
Bruders Portrat! Endlich find' ichs doch !« - Aber sie konnte nicht 
vorbeigehen, ohne aus jenem weiblichen feinen Gefiihl, das in 20 
solchen Manual- Ak ten zehn Bogen durchhat, ehe wir das erste 
Blatt gelesen, zu beiden zu sagen: »sie dankteihnen, wenn sie das 
Bild gefunden hatten« - Amandus biickte sich tief und erboset, 
Gustav war weg, als stande sein Geist auf dem Berg Horeb und 
hier bloB der Leib - sie wandelte, als war' es ihre Absicht gewesen, 
gerade iiber den Berg hiniiber, mit den eignen Augen auf dem 
Bilde und mit den vier fremden auf ihrem Riicken — 

»Jetzt sind ja deine fiinf Tage heraus, und ohne deinen Mein- 
eid«, sagte Amandus erziirnet, und die hohe Oper des Sonnen- 
Untergangs riihrte ihn nicht mehr; Gustaven hingegen riihrte sie 30 
noch starker; denn das Gefiihl, Unrecht zu leiden, floB mit dem 
irrigen Gefiihle, Unrecht angetan zu haben - zarte Seelen geben 
in solchen Fallen dem andern allzek mehr Recht als sich -, in eine 
bittere Trane zusammen, und er konnte kein Wort sagen. Aman- 
dus, der sich jetzt iiber seine Versohnung argerte, wurd* in seinem 
eifersiichtigen Verdachte noch dadurch befestigt, daB Gustav in 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 203 

der pragmatischen Relation, die er ihm von der MauBenbacher 
Avanture gemacht, Beaten vollig ausgelassen; allein diese Aus- 
lassung hatte Gustav angebracht, well ihn beim ganzen Vorfall 
gerade der Zarten Gegenwart am meisten schmerzte und weil 
vielleicht in seinem warmsten Innersten eine Achtung fur sie 
keimte, die zu zart und heilig war, um in der freien harten Luft 
des Gesprachs auszudauern. »Und sie war naturlich neulich mit in 
MauBenbach?« sagte der Eifersiichtige im fatalsten Tone. - »Ja!« 
aber so viel vermochte Gustav nicht beizufiigen, dafi sie da kein 

10 Wort mit ihm gesprochen. Dieses dennoch unerwartete Ja zer- 
stiickte auf einmal des Fragers Gesicht, der seinen Stumpf in die 
Hohe gehalten (falls die Hand ware abgeschossen gewesen) und 
geschworen hatte : »es brauche weiter keines Beweises — Gustav 
halte Beaten sichtlich in seinem magnetischen Wirbel - schweig' 
er nicht jetzt? LieB er ihr das Bildnis nicht sogleich? Wird sie, da 
sie die Kopien verwechselte, nicht auch die Originate verwechseln, 
da sie sich alle vier so gleichen u.s.w.?« 

Amandus liebte sie und dachte, man lieb* ihn auch, und man 
merke, wo er hinauswolle. Er hatte Delikatesse genug in seinen 

20 eignen Handlungen, aber nicht genug in den Vermutungen, die er 
von fremden hegte. Er hatte namlich oft an der medizinischen 
Seite seines Vaters die sieche Beata in MauBenbach besucht; er 
hatte von ihr jene freimiitige Zutraulichkeit erfahren, die viele 
Madchen in siechen Tagen immer auBern, oder in gesunden gegen 
Junglinge, die ihnen tugendhaft und gleichgultig auf einmal vor- 
kommen; das gute Partizipium in dus, Amandus, mutmaBte da- 
her nach einigem Nachdenken, daB ein Brief, den Beata als ein 
Spezimen aus Rousseaus Heloise auf feinem Papier - auf grobes 
schreibt keine - verdolmetschet hatte und der an den seligen 

30 St. Preux geschrieben war, an das Partizipium selber gerichtet 
ware. Madchen sollten daher nichts vertieren; Amandus war in 
einen Liebhaber vertiert. 

In Gustavs wogendem Kopf brach endlich die Nacht an, die 
auBerihm vortrat; Sturme und Mondschein waren in seiner neben- 
einander, Freude und Trauer; er dachte an einen unschuldigen, 
vom Verdacht angefressenen Freund, an das eingebiiBte Portrat, 



204 DIE UNSICHTBARE LOGE 

an die Schwester, mit der er einmal in seiner Kindheit gespielt 
hatte, an den unbekannten abgemalten Freund, der also der Bru- 
der dieses schonen Wesens sei u.s.w. - Amandus brach einseitig 
auf; Gustav folgte ihm ungebeten, weil er heute nichts als ver- 
zeihen konnte. Noch unter dem Hinuntergehen rangen HaB und 
Freundschaft mit gleichen Kraften in Amandus, und erst ein Zu- 
fall war einem von beiden zum Siege vonnoten - der HaB errang 
ihn, und der Auxiliar-Zufall war, daB Gustav parallel an Aman- 
dus* Seite ging. Gustav hatte voraus-* (oder hochstens hinten- 
nach-)schleichen sollen, zumal mit seiner freundschaftlich . ge- 10 
beugten Seele : so hatte die Freundschaft vermittelst seines Riickens 
gesiegt, weil ein Menschenrucken durch den Schein von Abwesen- 
heit mehr Mitleiden und weniger HaB mitteilt als Gesicht, Brust 
und Bauch — Man kann die Menschen gar nicht oft genug von 
hinten sehen.... 

Ihr Biicherleser! keift nicht mit dem armen Amandus, der sein 
morsches Leben verkeift. Ihr solltet nur nachsehen, wie in einem 
Nervenschwachling der Sitz der Seele ist, verteufelt hart, ausge- 
polstert mit keinen drei Rindhaaren, einschneidend wie eine 
Schlittenpritsche; kurz alle mir bekannte Ich sitzen weicher — 20 
Dennoch wird mein Mitleiden gegen den wunden Schelm durch 
ganz andre Dinge als durch seine harte steinige Zirbeldriise der 
Seele erregt: es sind Dinge, die den Leser weich machen wiirden 
und zu denen ich mich trotz meines Austunkens nur leider noch 
nicht habe hinzuschreiben vermocht! - 

Uberhaupt versteck' ichs vergeblich, wie sehr es meiner Histo- 
ric noch mangelt an wahrem Mord und Totschlag, Pestilenz und 
teuerer Zeit und an der Pathologie der Litanei. Ich und der 
Biicherverleiher finden hier das ganze weiche Publikum im La- 
den, das aufpasset und schon das weifie Schnupftuch - dieses sen- 30 
timentalische Haarseil - heraushat und das Seinige beweinen will 
und abwischen . ; . . und doch bringt keiner von uns viel Riihren- 

des und Totes Von der andern Seite bleibt mir wieder die be- 

sondere Not, daB das deutsche Publikum seinen Kopf aufsetzt 
und sich nicht von mir angstigen lassen will; denn es bauet da- 
rauf, ich konne als bloBer platter Lebensbeschreiber es zu keinem 



DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 20J 

Morde treiben, ohne welchen doch nichts zu machen ist. Aber ist 
denn nur der Romanen-Fabrikant mit dem Blut- und Konigsbann 
beliehen, und ist nur sein Druckpapier ein Greveplatz? - Wahr- 
haftig Zeitungschreiber, die keine Romane schreiben, haben doch 
von jeher eingetunkt und niedergemacht, was sie wollten, und 
mehr, als rekrutieret war — Geschichtschreiber ferner, diese GroB- 
kreuze unter den gedachten Kleinkreuzen (denn aus ioo Zeitung- 
Annalisten extrahier' ich hochstens einen Geschichtschreiber als 
Absud), sind fortgefahren und haben so viel umgebracht, als der 

io Plan ihrer historischen Einleitungen, ihrer Abreges, ihrer Kaiser- 
historien und Reichsgeschichten durchaus erforderte .... Kurz ich 
bin nicht zu entschuldigen, wenn ich hier gar nichts tot und inter- 
essant mache; und ich erschlage am Ende aus Not einen oder ein 
paar Lakaien, die noch dazu auBer Scheerau kein Henker kennt. 
Ich fahre aber in meiner Geschichte fort und rucke aus des 
Pestilenziarius Nouvelle a la main folgenden Artikel in meine fur 
mehre Weltteile geschriebene Nouvelle a la main herein: 

»Es bestatigt sich aus MauBenbach, daB der dasige Bediente 
Robisch Todes verfahren ist wie seine Mause. Sein Tod hat zwei 

20 medizinische Schulen gestiftet, wovon die eine verficht, sein Sek- 
ten stiftender Tod komme von zu vielem Priigeln, und die andre, 
vielmehr von zu wenigem Essen.« 

Es ist nicht ein Wort daran wahr; der Mensch hat zwar Strie- 
men und Appetit, lebt aber noch dato, und der Zeitungartikel ist 
erst seit einer Minute von mir selber gemacht worden. Das kuhne 
Publikum ziehe sich aber daraus auf immer die Witzigung, daB 
es keinen Lebensbeschreiber reize und aufbringe, weil auch der 
durch die Kelchvergiftung seines Dintenfasses und durch das 
Rattenpulver seiner Streusandbuchse Robische und Fursten und 

jo jeden umwerfen und auf den Gottesacker treiben konne; es lerne 
daraus, daB ein rechtschafTenes Publikum stets unter dem Lesen 
beben und fragen mxisse : »Wie wirds dem armen Narren (oder der 
armen Narrin) ergehen im nachsten Sektor?« 



206 DIE UNSICHTBARE LOGE 

VlERUNDZWANZIGSTER ODER XXI. TRINITATIS-SEKTOR 
Oefel s Intrigen - die Infammachung — der Abschied 

Schlecht genug ergehts ihm, wenn das fragende Deutschland 
anders unsern Gustav meinte. Oefel ist daran schuld. Ich will aber 
dem erschrocknen Deutschland alles eroffnen; die wenigsten da- 
rin wissen, warum dieser ein Romanschreiber und ein Legation- 
rat ist. 

Kein empfindsamer Offizier — im Kadettenhause trug er Uni- 
form - hat weniger Kugeln und mehr Hemden und Briefe ge- 
wechselt als Oefel. Letzte wollt' er an alle Leute schreiben; denn 10 
seine Briefe lieBen sich lesen, weil er selber las, und zwar belle- 
tristische Sachen, die er noch dazu nachmachte. Er war namlich 
ein schoner Geist, hatte aber keinen andern. Samtliche franzosi- 
sche Buchhandler sollten eine narrische Dankadresse an ihn er- 
lassen, weil er ihr samtliches Zeug einkaufte — sogar gegenwartige 
Lebensbeschreibung, worin er selber steht, wird einmal Wieder 
bei ihm stehen, wenn er von ihrer Ausgabe und von ihrer Ober- 
setzungins Franzosische hort. Sich selber, Leib und Seele namlich, 
hatt' er schon in alle Sprachen iibersetzt aus seinem franzosischen 
Mutter-Patois. Die schonen Geister in Scheerau (vielleicht auch 20 
mich) und in Berlin und Weimar verachtete der Narr, nicht bloB 
weil er aus Wien war, wo zwar kein Erdbeben einen ParnaB, aber 
doch die Maulwurfs-Schnauzchen von hundert Broschuristen 
Duodez-ParnaBchen aufstieBen und wo die daraufstehenden Wie- 
ner Burger denken, der Neid blicke hinauf, weil der Hochmut her- 
unterguckt — sondern er verachtete uns samtlich, weil er Geld, 
Welt, Verbindungen und Hofgeschmack hatte. Der Furst Kau- 
nitz zog ihn einmal (wenns wahr ist) zu einem Souper und Ball, 
wo es so zahlreich und brillant zuging, daB der Greis gar nicht 
wuBte, daB Oefel bei ihm gespeiset und getanzt. Da sein Bruder 50 
Oberhofmarschall und er selber sehr reich war: so hatte niemand 
in ganz Scheerau Geschmack genug, seine Verse zu lesen, als der 
Hof; fur den waren sie; der konnte solche Verse wie die Gras- 
partien des Parks ungehindert durchlaufen, so klein, weich und 



VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 207 

beschoren war ihr Wuchs — zweitens gab er sie nicht auf Druck- 
papier, sondern auf seidnen Bandern, Strumpf bandern, Bracelets, 
Visitenkarten und* Ringen heraus. Unter andern Flohen, die auf 
dem Ohrentrommelfell des Publikums auf- und abspringen und 
sich Koren lassen, bin auch ich und donnere mit ; aber Oefel ahmte 
keinen von uns nach und verachtete dich sehr, mein Publikum, 
und setzte dich Hofen nach: »Mich«, sagt* er, »soll niemand lesen, 
wenn er nicht jahrlich iiber 7000 Livres zu verzehren hat.« 
Kunftigen Sommer reiset er als Envoye an den**schen Hof ab, 

10 um die Unterhandlungen wegen der Braut des Fiirsten, die schon 
neben ihrer Wiege angesponnen und abgerissen wurden, neben 
ihrem Doktor-Grahams-Bette wieder anzukniipfen. Der Fiirst 
muBte sich im Grunde mit ihr vermahlen, weil ein gewisser dritter 
Hof, der nicht genennt werden darf,sie dadurch einem vierten,den 
ich gern nennen mochte, entziehen wollte. Man glaube mir aber, 
es glaubt kein Mensch am ganzen Hofe des Brautigams, daB er an 
den Hof der Braut verschickt werde, weil dort etwaschone Geister 
und schone Korper gesuchte Ware sind: wahrhaftig in beiden 
Schonheiten war er von jedem zu uberbieten; aber in einer dritten 

20 Schonheit war ers nur leider nicht, die einem Envoye noch notiger 
und lieber als die moralische ist - im Geld. An einem insolventen 
Hof hat der Fiirst die erste und der Millionar die zweite Krone. 
Ich habe oft den verdammten Erbschaden des scheerauischen 
Furstentums verflucht und besehen, daB selten genug da ist, und 
wir halfen uns gern durch einen Nationalbankerutt, wenn wir nur 
vorher Nationalkredit bekamen. Aber auBer diesem Fiirstentum 
hab* ich auf meinen Reisen folgende vier Regionen nirgends an- 
getroffen als am Atna selber: erstlich die fruchtbare und zweitens 
die waldige Region unten am Throne, wo Fruchte und grasendes 

30 und jagdbares Pobelwild zu haben ist, drittens die Eisregion des 
Hofes, die nichts gibt als Schirnmer, viertens die Feuerregzon der 
Thronspitze, wo auBer dem Krater wenig da ist. Ein Thron- 
Krater kann selber Goldberge einschlucken, verkalken, auswer- 
fen als Lava. 

Zum Ungluck gefiel ihm Gustav, weil er seine jugendliche Men- 
schenfreundlichkeit fur ausschlieBende Anhanglichkeit an sich an- 



208 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sah, seine Bescheidenhekfur Demiitigung vor Oefelscher GroBe, 
seine Tugenden fiir Schwachheiten. Er gefiel ihm, weil Gustav 
fiir die Poesie Geschmack und folgHch, schloB er, fiir die seinige 
den groBten hatte: denn Oefels adeliges Blut lief wider die Natur 
in einer dunnen poetischen Ader, und in einer satirischen dazu, 
dacht' er. Vielleicht fand auch Gustav in seinen Jahren des Ge- 
schmacks, wo den Jungling die poetischen kleinern Schonheiten 
und Fehler entziicken, zuweilen die Oefelschen gut. Wie nun 
schon Rousseau sagt, er konne nur den zum Freund erwahlen, 
dem seine Heloise gefalle : so konnen Belletristen nur solchen Leu- io 
ten ihr Herz verschenken, die mit ihnen Ahnlichkeit des Herzens, 
Geistes und folglich des Geschmackes haben und die mithin die 
Schonheiten ihrer Dichtungen so lebhaft empfinden als sie selber. 

Was indessen Oefel an Gustav am hochsten schatzte, war, daB 
er in seinen Roman zu pflanzen war. Er hatte in der Kadetten- 
Arche siebenundsechzig Exemplare studiert, aber er konnte davon 
keines zum Helden seines Buchs erheben, zum Grofisultan r als 
das achtundsechzigste, Gustav. 

Und der ist gerade mein Held auch. Das kann aber unerhorte 
Leselust mit der Zeit geben, und ich wollte, ich lase meine Sachen 20 
und ein andrer schriebe sie. 

Er wiinschte meinen Gustav zum kiinftigen Erben des ottoma- 
nischen Throns auszubilden, ihm aber kein Wort davon zu sagen, 
daB er GroBherr wiirde - weder im Roman noch im Leben; - er 
wollte alle Wirkungen seines padagogischen Lenkseils nieder- 
schreiben und iibertragen aus dem lebendigen Gustav in den ab- 
gedruckten. Aber da setzte sich dem Bileam und seiner Eselin ein 
verdammter Engel entgegen; Gustav namlich. Oefel wollte und 
muBte aus dem Kadettenhause, wo seine Zwecke befriedigt waren, 
ins alte SchloB zuriick, wo neue seiner warteten. Erstlich aus dem 30 
alten SchloB konnt* er leichter in die kartesianischen Wirbel des 
neuen, der Visiten und Freuden springen und sich von ihnen dre- 
hen lassen ; - zweitens konnt' er da mit seiner Geliebten, der Mitu- 
sterin, besser zusammenleben, die alle Tage hinkam und welche 
der Liebe die Tugend und die Liebe der Assembleen-Jagd auf- 
opferte - drittens ist die zweite Ursache nicht recht wahr, sondern 



VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 2O9 

er machte sie der Ministerin nur weis, weil er noch eine dritte 
hatte, welche Beata war, die er in ihrem Schlosse aus dem seinigen 
zu beschieBen, wenigstens zu blockieren vorhatte. — Fort muBt* 
er also; aber Gustav sollte auch mit. 

»Das ist den Augenblick zu machen,« (dachte Oefel) »er soil 
mich am Ende selber um das bitten, urn was ich ihn bitte.« Ihm 
war nichts lieber als eine Gelegenheit, jemand zu seinem Zweck 
zu lenken - das Lenken war ihm noch lieber als das Ziel, wie er in 
der Liebe die Kriegziige der Beute vorzog. Er hatte als Gesandter 

10 aus Krieg Frieden und aus Frieden Krieg gemacht, um nur zu 
unterhandeln. - Er zog, um Gustaven nahezukommen, seine erste 
Parallele, d.h. er stach ihm mit seiner spitzen Zunge ein schones 
Bild der Hofe aus : daB sie allein das savoir vivre lehren und alles 
und das Sprechen, wie denn auch die Hunde,. je kultivierter sie 
sind, desto mehr bellen, der SchoBhund mehr als der Hirtenhund, 
der wilde gar nicht - daB durch sie ein Paradieses-Strom von 
Freuden brause - daB man da an der Quelle seines Gliicks, am 
Ohre des Fursten und am Knoten der groBten Verbindungen 
stehe - daB man intrigieren, erobern etc. konne. Es war in Oefels 

20 Plan, dem kleinen GroBsultan nicht einmal die Moglichkeit, ins 
alte SchloB mitzukommen, zu verraten: »Um so mehr reiz' ich 
ihn«, dacht' er. Es ging aber nicht mit dem Reizen, weil Gustav 
noch nicht aus den poetischen Idyllen-Jahren, wo der aufrichtige 
Jungling Hofe und Verstellung hasset, in die abgekiihlten hin- 
iiber war, wo er sie sucht. Oefel studierte, wie Hofleute und 
Weiber, nur Einzelwesen, nicht den Menschen. 

Nun wurde die zweite Parallele gezogen und der Festung schon 
naher geriickt. Er ging einmal an einem Vormittage mit ihm in 
den Park spazieren, als er gerade die Residentin da zu treffen 

30 wuBte. Wahrend er sie unterhielt, beobachtete er Gustavs Beob- 
achten oder errotendes Staunen, der noch in seinem Leben vor 
keiner solchen Frau gestanden war, um welche sich alle Reize 
herumschlangen, verdoppelten, einander verloren, wie dreifache 
Regenbogen um den Himmel. Und du, Blumen-Seele, Beata, 
deren Wurzeln auf dem irdischen Sandboden so selten die rechte 
Blumenerde finden, standest auch dabei, mit einer Aufmerksam- 



2IO DIE UNSICHTBARE LOGE 

keit auf die Residentin, die eine unschuldige Maske deiner kleinen 
Verwirrung sein sollte. - Gustav brachte fiir seine groBe keine 
Maske zustande. Oefel schrieb diese Verwirrung nicht wie ich der 
gegenseitigen Erinnerung an die Guido-Bildersturmerei, sondern 
die Gustavische der Residentin, und die weibliche sich selber zu. 

»So nab* ich ihn denn, wo ich ihn haben will!« sagt* er und lieB 
sich von ihm bis ins alte SchloB begleiten. »A proposl Wenn wir 
nun beide dablieben ! « sagt* er. Die aus anderen Griinden heraus- 
geseufzete Antwort der Unmoglichkeit war, was erebenbegehrte. 
»Gfeichviel! Sie werden mein Legationsekretar!« fuhr er mit sei- 10 
nem feinen, auf Oberraschung lauersamen Blicke fort, den er 
eigentlich niemal mit einem Augenlide bedeckte, weil er stets 
alles zu iiberraschen glaubte. 

— Es lief aber einfaltig fur Oefel ab : Gustav wollte nicht, son- 
dern sagte: niel sei es nun aus Furcht vor Hofen, vor seinem 
Vater, aus Scham der Veranderung, aus Liebe der Stille; kurz 
Oefel stand dumm vor sich selber da und sah den schwimmenden 
Stiicken seines gescheiterten Baurisses nach. Es ist wahr, es blieb 
ihm doch der Nutzen daraus, daB er den ganzen Schiffbruch in 
seinen Roman tun konnte - nur aber der Sekretar war fort! - Er 20 
hatte ihn auch nicht unverniinftig schon im voraus zum Gesandt- 
schaft-Sekretariat voziert; denn an den Scheerauer Thron ist eine 
Leiter mit den tiefsten und den hochsten Ehrensprossen ange- 
lehnt, die StafFeln aber stehen sich so nahe, daB man mit dem linken 
Beine auf die unterste treten und doch die hochsten noch mit dem 
rechten erspannen kann - wir hatten ja beinahe einmal einen Ober- 
feldmarschall erschaffen. Zweitens hangt und picht an Hofen wie 
in der Natur alles zusammen, und Professores sollten es den kos- 
mologischen Nexus nennen; jeder ist Last und Trager zugleich; 
so klebt am Magnet das eiserne Lineal, an diesem ein Linealchen, 30 
an diesem eine Nadel, an dieser Feilstaub. Hochstens nur was auf 
dem Throne oben sitzt und was unter ihm unten liegt, hat nicht 
Nexus genug mit der wirksamen Kompagnie: so werden in der 
franzosischen Oper nur die fliegenden Gotter und schiebenden 
Tiere von Savoyarden gemacht, alles iibrige von der ordentlichen 
Truppe. 



VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 211 

Also muBte Oefel die dritte Parallele ziehen und daraus auf 
den Kadetten schieBen. Er machte ihm namlich seine Uniform 
taglich um einen Daumen spannender und knapper, um ihn aus 
ihr hinauszuangstigen. Er hatte ihn schon neulich in dieser Ab- 
sicht zum Getreide-Kordon versenden helfen, wo dem warmen, 
nur an mildes Geben gewohnten Jiingling scharfe Neins neue und 
harte Pflichten waren; aber nun wurde der Dienst von unten auf 
noch mehr erschwert, und die militarischen Obungen zerbrachen 
beinahe seinen feinen porzellanenen Leib, so oft und strenge 

10 schleppte ihn der Romancier in die Gesellschaft des Vaters aller 
Friedenschliisse, namlich des Kriegs. - 

Wie schmerzlich muflte die rauhe AuBenwelt seine wunde 
innere beriihren! Vor ihm stand, seit seinem Zerfallen mit seinem 
sterbenden Liebling, fest jener Trauerabend mit seinen Tranen 
und wich nicht; auf sein verlassenes Herz schimmerte noch die 
blutrote Sonne und ging nicht unter. - Der stumme Abschied 
seines Amandus, der ihn und andre Wiinsche verlor, die abneh- 
menden Herbsttage seines Lebens und die vorige Liebe driickten 
sein Auge und Herz zum Trauern zusammen. Die Freundschaft 

20 duldet MiBhelligkeiten weniger als die Liebe; diese kitzelt damit 
das Herz, jene spaltet es damit. Amandus, der ihn so miBver- 
standen und betriibet und doch dessen innigste Liebe nicht vejr- 
loren hatte, verzieh ihm alles bis abends um 5 Uhr - dann hort* er 
(oder es war ihm genug, wenn er sichs nur dachte), daB Gustav 
den Park (und mithin die Spaziergangerin) besucht hatte - dann 
nahm er seine Versohnung bis auf 1 1 Uhr abends zuruck-dann legte 
die Nacht und der Traum wieder einen Mantel auf alle Fehler der 
Menschen und auf diesen. Abends um 5 Uhr fing es von vornen 
an. Lacht ihn aus, aber ohne Stolz, und mich und euch audi; denn 

30 alle unsre Empfindungen sind - ohne ihre Lowen- und Narren- 
warterin, die Vernunft - ebenso toll, wenn nicht in unserem 
Leben, doch in unserem Innern ! - Aber endlich hatte er seine Ver- 
zeihung so oft zuruckgenommen, daB ers bleiben lassen wollte, 
falls nur Gustav anklopfte und von ihm alle die Beschuldigungen 
anhorte, welche er ihm zu verzeihen vorhatte. Man schiebt oft 
das Vergeben auf, weil man das Votwerfen aufzuschieben ge- 



212 DIE UNSICHTBARE LOGE 

zwungen ist. - Aber, trauter Amandus, konnt* er denn kommen, 
Gustav, und lieB ihn der Romancier? - 

Letzter triebs noch weiter und kartete es listig ab, daB Gustav, 
dieser GroBsultan, dieser Held zweier gut geschriebner Biicher, 
an einem Abend, wo der Kadettengeneral groBes Souper gab, 
vor dessen Haus kam als - Schildwache. Beim Henker! wenn die 
schonsten Damen vorfahren, die bekannte Residentin - die mit 
einem zufalligen Blick unsre gute Schildwache ausbalgte und aus- 
gestopft unter ihrer Hirnschale aufstellte - und ihr Gesellschaft- 
fraulein Beata, und wenn man vor solchen Gesichtern das Gewehr 10 
prasentieren muB : so will mans viel Heber strecken und uberhaupt 
statt stehen knien, um nicht sowohl den Feind zu verwunden als 
die Freundin .... Beim Henker! ich werde hier mehr Witz gehabt 
haben, als wohl gem gesehen wird; aber es versuch' es einmal ein 
lebhafter Mann und schreib* iiber die Liebe und entschlage sich 
des Witzes! - Es geht fast nicht. - Ich behaupt' es nicht und 
widerleg* es nicht, daB Oefel vielleicht aus den Traumen Gustavs, 
die immer sprechend und oft nach dem Erwachen nachwirkend 
waren, die Namen der gedachten weiblichen Schonheit-Ambe 
mag vernommen haben. Der Romanschreiber hat also einen Vor- 20 
teil vor dem Lebensbeschreiber (ich bins) voraus : er schlaft neben 
semem Helden. 

Er angstigte seinen und unsern Helden, ders aber nur im asthe- 
tischen, nicht im militarischen Sinne war, mit der Herbstheer- 
schau ; denn jeder kleine Furst spielt dem groBen Soldaten auf der 
Gasse nach neben noch kleinern Kindern; daher haben wir Schee- 
rauer eine niedliche Taschen-Landmacht, eine tragbare Artillerie 
und eine verjiingte Kavallerie. Es macht ein Landesherr ohnehin 
einen SpaB, wenn er einen Menschen zu einem Rekruten macht: 
es widerfahrt dem Kerl nichts, sondern nur Bewegung soil er 50 
haben, weil jetzt 1 unsre wichtigern Kriege, wie sonst die italieni- 
schen, in nichts bestehen als in Marschieren, aus Landern in Lan- 
der. So bestehen auch die Feldziige auf dem Theater bloB in 
wiederholten Marschen um das Theater, aber in kiirzern. Ich ging 
vor einem Jahre zum Scherze V, Stunde neben einem Regimente 

1 Namlich 1791. 



VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 3 

her und machte mir weis: »Jetzt tuest du im Grunde einen halb- 
stiindigen Feldzug gegen den Feind mit; aber die Zeitungen ge- 
denken deiner schwerlich, ob du und das Regiment gleich durch 
diese kriegerische Vexier-Prozession ebensoviel Landplagen ab- 
weriden als die Klerisei durch geistlicne singende Prozessionen.« 
Er angstigte ihn, sagt* ich; er schilderte die Heerschau nam- 
lich : »Friedrich II. tat kleinere Wunder, als man da vom Kadetten- 
Korps fordern wird! Mehr Blessierte als Biessierende wird es 
geben! Unter alien Zelten und Kasernen wird man reden von der 

10 letzten Scheerauer Heerschau !« Gustav hatt' es im kleinen Dienst 
langst so weit gebracht, daB er imstande war, mit der Fortifika- 
tion seines Leibes wenigstens einen zu verwunden, diesen Leib 
selber. - Ich werde die Angst der Welt sicher nicht vermindern, 
wenn ich noch erzahle, daB Gustav regelmaBig alle sieben Wochen 
auf funf Tage verreiset, woraus seine Freunde und der Biograph 
selber gerade so klug werden als die altesten Leser -r daB Oefel 
ihm durch geheimes Intrigieren seinen Urlaub so sauer machte, 
daB er ihn um diesen Preis kein zweites Mai begehren konnte - 
daB Gustav vom letzten Verreisen an den Dr.Fenk einen Brief 

20 von Ottomar heimbrachte, den man zwar dem Leser nicht vor- 
enthalten wird, von dessen Oberkommung man ihm aber nichts 
entdecken kann, weil man selber nichts davon weiB. 

Aus alien diesen Dornen und aus der blessierenden Heerschau 
rettete unsern Gustav eine fremde Infamie. Nach der gedachten 
Riickkehr wurde in Oberscheerau ein Ofrlzier, dessen Namen und 
Regiment man hier aus Schonung seiner vornehmen Familie 
unterdriicken will, fur ehrlos erklart, weil er mit Spitzbuben Ver- 
bindung gehabt. Als der Profos ihm in der Mitte des Regiments, 
das er entehret hatte, den Degen und das Wappen zerknickte und * 

30 die Uniform abriB und ihm alles nahm, was den gebuckten Men- 
schen noch in die Hohe richtet im Ungluck: so sturzte Gustav, 
dessen Ehrgefuhl sogar aus den Wunden eines fremden blutete 
und der noch nie den schwarzen Anblick einer orTentlichen Be- 
strafung erlebt hatte, in Ohnmacht zusammen; sein erster Laut 
nach der Belebung war: »Soldat gewesen auf ewig! - Wenn der 
arme Offlzier unschuldig war oder wenn er besser wird: wer 



214 D1E UNSICHTBARE LOGE 

gibt ihm die ermordete Ehre wieder? - Nur der untrugliche Gott 
kann sie nehmen; aber der Kriegsrat sollte nichts nehmen als das 
Leben! - Die Bleikugel, aber nicht die Infamie!« rief er wie in 
einer Verzuckung. Ich denke, er hat recht. Zwei Tage war er 
krankj und seine Phantasien schleiften ihn in die Rauber-Kata- 

komben des Infamierten hinein zum neuen Beweis, da6 die 

Fieberbilder der armen, aus dem Krankenbette ins Grab hinein- 
gefolterten Menschen nicht immer die Steckbriefe und Abdriicke 
ihres Innern sind! - Gemarterte Briider! wie lieb' ich euch jetzt 
und den sanften Gustav in dieser Minute, wo meine Phantasie 10 
unter euch alle hineinblickt, wie ihr, vom Zickzack des Schicksals 
herumgetrieben, mit eueren Wunden und Tranen miide neben- 
einander stehet, einander umfasset, einander beklagt und einan- 
der — begrabet! - 

Solang' er krank war und phantasierte: hing Amandus an 
seinen gliihenden Augen und litt so viel wie er und vergab ihm 
attes. — Als der Doktor Fenk versicherte, am Morgen sei er ge- 
nesen: so kam Amandus am Morgen nicht und wollte wieder 
hartherzig sein. 

Oefel genoB den Sieg seines Plans. Er trug sich selber die Ein- 20 
lenkung des alten Falkenbergs auf und schneb eigenhandig an 
den Mann. Da er mit Dinte den guten Vater auf den mosaischen 
Berg stellete, hinter dem Berg den Prospekt des gelobten Landes 
der Gesandtschaft, und mitten ins Kanaan den jungen Legation- 
sekretar: so hatte der gute Mann die Freude vieler Eltern, die ihre 
Kinder gern das werden sehen, was sie selber zu werden hasseten 
oder nicht vermochten. Er kam zu mir mit dem Briefs und ritt 
unter mein Fenster. - Alles, was Gustav noch innerlich gegen 
" seine Versetzung ins alte Schlo B zu sagen hatte, war, daB die schone 
Beata im neuen wohnte, welches vom alten bloB durch eine 30 
halbferte Mauer abgeschieden war, und daB er Amandus' Ver- 
dacht bewahrte. Aber zum Gliick verfiel er nach dem Entschlusse 
auf den eigentlichen Beweggrund, der ihm denselben eingegeben 
hatte und der Veredlung und Erweiterung seines Wirkkreises 
war: »er konnte«, sagte er, »nach der Ablosung vom Gesandt- 
schaftposten in einem Kollegium angestellet werden und da dem 



VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 5 

Hegenden Lande aufhelfen u.s.w.« Kurz die grofite Schonheit 
Beatens hatt' ihn nun nicht dahin bringen konnen, sie zu - meiden. 
Oberhaupt schalte ihn der Romanschreiber so eifrig aus seiner 
militarischen Hiilse, daB man, da er, wie Ehemanner und Fursten, 
den Zugel ofter im passiven Munde als in den aktiven Hdnden 
hatte - hatte denken sollen, er werde gelenkt, urn zu lenken; aber 
ich denk* es nicht. 

Gustav legte den Abschiedbesuch bei Amandus ab. Ein gutes 
Mittel, dem zu vergeben, den eine eingebildete Beleidigung auf 

10 uns erbitterte, ist, ihm eine wahre anzutun - Gustav dachte in den 
freiwilligen Umwegen von Gassen, durch die er zu seinem ge- 
krankten Amandus ging, an Beata, die nun seine Wandnachbarin 
wurde, an die Liebe und den Verdacht seines Freundes, an die Un- 
moglichkeit, den Verdacht zu heben; und da gerade um 6 Uhr 
vom eisernen Orchester um den Stephansturm die abendliche 
Spharenmusik in die Gassen niederfloB: so sank sein Herz in die 
Tone hinein, und er brachte seinem Freunde das weichste mit, 
das es auBer der Brust Beatens gab. Ich und der Leser haben hier- 
uber unsre Gedanken : eben diese versohnliche Weichheit schrieb 

zo sich bloB vom versteckten BewuBtsein her, daB er halb den Ver- 
dacht der Nebenbuhlerei verdiene; denn sonst hatt* er, von Stolz 
gehoben, dem andern zwar auch vergeben, aber ihn darum nicht 
starker geliebt. - Er fand ihn in der schlimrasten Stimmung fur 
seine Absicht - in der freundschaftlichsten namlich; denn in Zart- 
lich-Kranken ist jede Empfindung ein gewisser Vorbote der ent- 
gegengesetzten, und alle haben abwechselnde Stimmen. Amandus 
war im Anatomier-Zimmer seines Vaters - der Sonnenstrahl fiel 
vor seinem Untergang in die leere Augenhohle eines Toten- 
schadels - in Phiolen hingen Menschen-Bluten, kleine Grund- 

30 striche, nach denen das Schicksal den Menschen gar ausziehen 
wollte, Menschchen mit vorhangendem groBen Kopf und groBen 
Herzen, aber mit einem groBen Kopfe ohne einen Irrtum und 
einem groBen Herzen ohne einen Schmerz - auf einer Tafel lag 
eine schwarze Farbers-Hand, an deren Farbe der Doktor Proben 

machen wollte Welche Nachbarschaft fur eine Aussohnung 

und einen Abschiedl Drei BHcke machten und versiegeltenye/ze - 



2l6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

schon Blicke reden in dieser nackten Entkorperung der Seelen 
eine zu schreiende Sprache — ; aber als Gustav diesen, vom schon- 
sten Enthusiasmus iiber Verdacht und Furcht hmiibergehoben, 
seinem Freunde ansagte; als er ihm, der noch nichts davon be- 
griff, seine neue Wandnachbarschaft und den Verlust der alten 
kundtat: - zerflogen war der Freund, und ein schwarzer Feind 
sprang aus seiner Asche heraus — diese Minute beniitzte der Tod 
und schlug die letzten Wurzelfasern seines wankenden Lebens 
gar entzwei.... Gustav stand zu hoch, um zu ziirnen - aber er 
muBte sich noch hoher stellen - er fiel um ihn und sagte mit ent- 10 
schlossener reiner Stimme: »Zurne und hasse, aber ich muB dir 
vergeben und dich lieben - mein ganzes Herz mit allem seinem 
Blut bleibet deinem getreu und sucht es auf in deiner Brust - und 
wenn du mich auch kunftig verkennest: so will ich doch alle 
Wochen kommen, ich will dich ansehen, ich will dir zuhoren, 
wenn du mit einem Fremden redest, und wenn du mich dann mit 
HaB anblickst : so will ich mit einem Seufzer gehen, aber dich doch 
lieben - ach ich werde alsdann daran denken, daB deine Augen, 
da sienoch zerschnitten waren,mich schemer anblicktenund besser 
erkannten.... o stoBe mich nicht so weg von dir, gib mir nur 20 
deine Hand und blicke weg.« - 

»Da !« sagte der zertrummerte Amandus und gab ihm die kalte 

schwarze — Farbers-Faust Der HaB uberlief wie ein Schauer 

das Hebreichste Herz, das sich noch in einer menschlichen Brust 
verblutete - Gustav zerstampfte auf der Erde seine Liebe und sei- 
nen HaB und ging verstummt mit erstickten Empfindungen aus 
dem Hause und am andern Tage aus Oberscheerau. 

Kaum hatte Amandus den gemiBhandelten Jugendfreund iiber 
die Gasse zittern sehen : so ging er in sein Zimmer, hullte sich mit 
dem Kopfkissen zu und lieB, ohne sich anzuklagen oder zu ent- 30 
schuldigen, seine Augen so viel weinen, als sie konnten. Wir wer- 
den es horen, ob er sein krankes Haupt wieder vom Kopfkissen 
erhob und wann er wieder von Gustav ins stille Land begleitet 
wurde, aus dem er ihn zuruckzustoBen suchte. O der Mensch! - 
warum will dein so bald in Salz, Wasser und Erde zerbrockelndes 
Herz ein anderes zerbrockelndes Herz zerschlagen - Ach eh* du 



FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 217 

mit deiner aufgehobnen Totenhand zuschlagst: fallt sie ab in den 
Gottesacker hin - ach eh' du dem feindlichen Busen die Wunde 
gegeben, liegt er um und fuhlt sie nicht, und dein HaB ist tot oder 
auch du. 



FUNFUNDZWANZIGSTER ODER XXII. TRINITATIS-SEKTOR 
Ottomars Brief 

Wenn wir Ottomars Brief gelesen: so wollen wir uns an Gustavs 
neues Theater stellen und ihm zuschauen. Im folgenden Briefe 
herrscht und tobt ein Geist, der wie ein Alp alle Menschen hohe- 
10 rer und edler Art driickt und oft bewohnt und den bloB - so viel 
er auch hollandische Geister iiberwiege - ein hoherer Geist Iiber- 
trifft und hinausdrangt. Viele Menschen leben in der Erdndhe, 
einige in der Erdferne, wenige in der Sonnenndke. — Fenk sehnte 
sich so oft nach seinem Ottomar, zumal nach seinem Stillschwei- 
gen von einigen Jahren, und er sprach so oft von ihm gegen 
Gustav, daB es gut war, daB die Adresse des Briefes von fremder 
Hand und an Doktor Zoppo in Pavia war: sonst hatte der Doktor 
sogleich gegen die erste Zeile des Briefes gesundigt. 

»Nenne, ewiger Freund, meinen Namen^dem Oberbringer 
20 nicht; ich mufi es tun. Auf meinem letzten Lebensjahre liegt ein 
groBes schwarzes Siegel; zerbrich es nicht, halte die Vergangen- 
heit fur die Zukunft - ich mache sie zur Gegenwart fur dich, aber 
jetzo noch nicht - und wenn ich stiirbe, ich trate vor dich und 
sagte dir mein letztes Geheimnis der Erde. 

Ich schreibe dir, damit du nur weiBt, daB ich lebe und daB ich 
im Herbste komme. Mein Reisedurst ist mit Alpen-Eis und See- 
wasser geloscht; ich ziehe nun heim in meine Ruhestatt, und wenn 
mich dann unter meiner Haustiire wieder iiber die Berge hiniiber- 
verlangt: so denk' ich: in den Guadiana- und in den Wolgastrom 
30 sieht das namliche lechzende Menschenherz hinein, das in dir ne- 
ben dem Rheine seufzet, und was auf die Alpen und auf den Kau- 
kasus steigt, ist, was du bist, und wendet ein sehnendes Auge nach 



2l8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

deiner Haustiire heriiber. Wenn ich aber hier sitze und alle Mor- 
gen auf den Nachtstuhl gehe und froh bin, daB ich hungrig, und 
nachher, dafi ich satt werde, und wenn ich alle Tage Hosen 
und Haarnadeln ausziehe und anstecke; ach! was ists denn da am 
Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit 
auf dem Stein meines Torwegs saB und sehnend dem Zug der 
Ian gen StraBe nachsah und dachte, wie sie fortliefe, iiber Berge 
schosse, immer immerfort...? und endlich?... Ach alle StraBen 
fuhren zu nichts, und wo sie abreiBen, steht wieder einer, der sich 
riickwarts heriibersehnt. - Was wollt' ich denn haben, wenn mein 10 
kleines Auge sonst auf dem Rhein mitschwamm, damit er mich 
hinnahme in ein gelobtes Land, in welches alle Strome, dacht' 
ich, zogen, ach sonst, wo ich nicht wuBte, daB er, wenn er man- 
ches schwere Herz getragen, neben mancher zerquetschten Ge- 
stalt vorbeigebrauset, die nur er von ihren Qualen erlosen konnte, 
daB er dann wie der Mensch sich zersplittere und zertrummert 
einsickere in kolldndiscke^vde? - Morgenland, Morgenland! auch 
nach deinen Auen neigte sich sonst meine Seele wie Baume nach 
Osten: ->Ach wie muB es da sein, wo die Sonne aufgeht!< dacht* 
ich; und als ich mit meiner Mutter nach Polen reiste und endlich 20 
in das nach Morgen liegende Land und unter seine Edelleute, 

Juden und Sklaven trat Weiter gibts aber auf dieser optischen 

Kugel kein Morgen-Sonnenland als das, welches alle unsere 
Schritte weder entfernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der Erde 
alle, ihr sattigt die Brust bloB mit Seufzern und das Auge mit 
Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auf- 
tut, gieBet ihr eine Blutwelle mehr! Und doch lahmen uns diese 
paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern, die damit spie- 
len, Arme und Beine. Nur keine Musik, diese Spotterin unserer 
Wiinsche, sollt* es geben: flieBen nicht auf ihren Ruf alle Fibern 30 
meines Herzens auseinander und strecken sich als so viele saugende 
Polypenarme aus und zittern vor Sehnsucht und wollen urn- 
schlingen - wen? was? . . . Ein ungesehenes, in andern Welten ste- 
hendes Etwas. Oft denk' ich, vielleicht ists gar nichts, vielleicht 
geht es nach dem Tode wieder so, und du wirst dich aus einem 
Himmel in den andern sehnen - und dann zerdrucke ich unter 



FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 9 

diesem phantastischen Unsinn die Klaviersaiten, als wollt* ich aus 
ihnen eine Quelle auspressen, als war' es nicht genug, daB der 
Druckdieses Sehnens die dunnen Saiten meines innern Tonsystems 
verstimmt und absprengt — 

In Rom wohnte ein Maler, derKirche von S.Adriano gegen- 
iiber, der unter dem Regen sich allemal unter die Dachrinnen stellte 
und sich toll lachte; der sagte oft zu mir: >Einen Hundetod 
gibts nicht, aber ein Hundeleben.< Fenk! nimm wenigstens, was 
der Mensch wird oder tut: so gar gar wenig! Welche Kraft wird 

10 denn an uns ganz ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern 
Kraften? Ists nicht schon ein Gliick, wenn nur eine Kraft wie ein 
Ast ins Treibhaus eines Hor- oder Biichersaals hineingezogen 
und mit partialer Warme zu Bliiten genotigt wird, indes der ganze 
Baum drauBen im Schnee mit schwarzen harten Zweigen steht? 
Der Himmel schneiet ein paar Flocken zu unserem innern Schnee- 
mann zusammen, den wir unsre Bildung nennen, dieErde schmelzt 
oder besudelt ein Viertel davon, der laue Wind Ioset dem Schnee- 
mann den Kopf ab - das ist unser gebildeter innerer Mensch, so 
ein abscheuliches Flickwerk in allem unser en Wisseri und Wollen ! 

20 Vom Einzelwesen auf die ganze Menschheit mag ich gar nicht 
iibergehen ; ich mag nicht daran denken, wie ein Jahrhundert unter- 
geegget und untergeackert wird zur Diingung des nachsten - 
wie nichts sich zu etwas runden will, wie das ewige Biicherschrei- 
ben und Aufschlichten des Scibile kein Ziel, kein Ende hat und 
alle nach entgegengesetzten Richtungen graben und laufen! - 
Was tut der Mensch? Noch weniger, als er weiB und wird. Sage 
mir, was verrichten denn vor dem fiirstlichen Portrat iiber dem 
Prasidentenstuhl, oder gar vor einem verschnittenen regierenden 
Gesicht selbst, dein Scharfsinn, dein Herz, deine Schnellkraft? 

50 Die zuriickgepreBten ineinander sich kriimmenden Zweige driik- 
ken das Fenster des Winterhauses, der Regent lasset in der compo- 
tiere ihre Frucht vor seinem Teller voriibergehen, der blaue 
Himmel fehlet ihnen, das Gescheiteste ist noch, daB sie verfaulen ! 
- Was tun denn die edelsten Krafte in dir, wenn Wochen und 
Monate verstromen, die sie nicht brauchen, nicht rufen, nicht 
uben? Wenn ich oft so der Unmoglichkeit zusah, in alien unsern 



220 DIE UNSICHTBARE LOGE 

monarchischen Amtern ein ganzer, ein edel tatiger, ein allgemein- 
niitzlicher Mensch zu sein — selbst der Monarch kann nicht mit 
denen unendlich vielen schwarzen subalternen Klauen und Han- 
den, die er erst a Is Finger oder Griffe an seine Hande anschienen 
muB, etwas vollendet Gutes tun - sooft ich so zusah, so wunscht' 
ich, ich wiirde gehenkt mit meinen Raubern, war' aber vorher ihr 
Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Verfassung nieder! .... 
Geliebter Fenk! dein Herz reiBet mir niemand aus meiner Brust, 
es treibet mein bestes Blut, und nie kannst du mich verkennen, 
ich sej so unkenntlich, als ich wolle! Aber, o Freund, es kommen i 
Zeiten heran, wo dir dieses Verkennen doch Ieichter werden kann ! 
Verhiillter Genius unserer verschatteten Kugel ! ach war' ich 
nur etwas gewesen, hatte meine Gehirnkugel und mein Herz nur, 
wie Luther, mit irgendeiner dauerhaften, weit wurzelnden Tat das 
Blut abverdient, das sie rotet und nahrt: dann wiirde mein hung- 
riger Stoli satte Demut, vier niedrige Wande waren fur mich groB 
genug, ich sehnte mich nach nichts GroBem mehr als nach dem 
Tode und vorher nach dem Herbst des Lebens und Alters, wo 
der Mensch, wenn die Jugend-Vogel verstummen, wenn iiber der 
Erie Nebel und fliegender Faden-Sommer liegt, wenn der Him- 20 
mel ausgeheitert, aber nicht brennend iiber allem steht, sich ent- 

schlafend auf die welken Blatter legt. Lebe wohl, mein 

Freund, auf einer Erde, wo man weiter nichts Gutes tun kann als 
in ihr liegen; im ndchsten Herbst sind wir aneinander!« 



Zu diesem Briefe, der meine ganze Seele nimmt und meine 
Irrtumer sowohl als meine Wiinsche erneuert, kann ich nichts 
mehr sagen, als daB heute der erste Mensch in dieser Geschichte 
auf einem Berg begraben worden ist. Wenn ich nach vier oder 
fiinf Sektoren von seinem abendrotlichen Tode rede : so werden 
schon die Ziige seiner Gestalt bleicher und zerrissen sein, sowohl 
im Sarge als im Herzen der Freunde! 



FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 



Extrablatt 



Von hohen Menschen - und Beweis, dafi die Leiden schaften ins zweite Leben 
und Stoizismus in dieses gehoren 

Gewisse Menschen nenn* ich hohe oder Festtagmenschen, und in 
meiner Geschichte gehoren Ottomar, Gustav, der Genius, der 
Doktor darunter, weiter niemand. 

Unter einem hohen Menschen mem* ich nicht den geraden ehr- 
lichen festen Mann, der wie ein Weltkorper seine Bahn ohne an- 
dere Abirrungen geht als scheinbare - noch mein' ich die feine 

10 Seele, die mit weissagendem Gefiihl alles glattet, jeden schont, 
jeden vergniigt und sich aufopfert, aber nicht wegwirft - noch 
den Mann von Ehre, dessen Wort ein Fels ist und in dessen von 
der Zentralsonne der Ehre brennenden und bewegten Brust keine 
anderen Gedanken und Absichten sind als Taten auBer ihr - und 
endlich weder den kalten von Grundsatzen gelenkten Tugend- 
haften, noch den Gefuhlvollen, dessen Fuhlfaden sich um alle 
Wesen wickeln und zucken in der fremden Wunde und der die 
Tugend und eine Schone mit gleichem Feuer umfasset - auch den 
bloBen grofien Menschen von Genie mein' ich nicht unter dem 

20 hohen, und schon die Metapher deutet dort waagrechte und hier 
steilrechte Ausdehnung an. 

Sondern den mein' ich, der zum groBern oder geringern Grade 
aller dieser Vorzuge noch etwas setzt, was die Erde so selten hat - 
die Erhebung iiber die Erde, das Gefiihl der Geringfugigkeit alles 
irdischen Tuns und der Unformlichkeit zwischen unserem Herzen 
und unserem Orte, das iiber das verwirrende Gebiisch und den 
ekelhaften Koder unsers FuBbodens aufgerichtete Angesicht, den 
Wunsch des Todes und den Blick iiber die Wolken. Wenn ein 
Engel sich iiber unsern Luftkreis stellte und durch dieses triibe mit 

3 o Wolkenschaum und schwimmendem Kot verfinsterte Meer her- 
niedersahe auf den Meergrund, auf dem wir liegen und kleben - 
wenn er die tausend Augen und Hande sahe, die geradeaus waag- 
rechtnach demlnhalteder Luft, nach Geprange, fangenund starren; 
wenn er die schlimmern sahe, die ^cAze/niedergebuckt werden 



222 DIE UNSICHTBARE LOGE 

gegen den FraB und Goldglimmer im morastigen Boden, und 
endlich die schlimmsten, die liegend das edle Menschengesicht 
durch den Kot durchziehen; - wenn dieser Engel aber unter den 
Seetieren einige aufrecht gehende hohe Menschen zu sich auf- 
blicken sahe - und er wahrnahme, wie sie, gedriickt von der 
Wassersaule iiber ihrem Haupte, umstrickt vom Geniste und 
Schlamm ihres FuBbodens, sich durch die Wellen drangten und 
lechzeten nach einem Atemzuge aus dem weiten Ather iiber ihnen, 
wie sie mehr liebten als geliebt wurden, das Leben mehr ertriigen 
als genossen, gleich fern von stehendem Emporstaunen und ren- 10 
nendem Geschaftleben Hande und FuBe dem Meerboden HeBen 
und nur das aufwarts steigende Herz und Haupt dem Ather auBer 
dem Meere gaben und auf nichts sahen als auf die Hand, die das 
Gewicht des Korpers, das den Taucher mit dem Boden verbindet, 
von ihm trennt und ihn aufsteigen lasset in sei i Element — o 
dieser Engel konnte diese Menschen fur untergesunkne Engel 
halten und ihre Tiefe bedauern und ihre Tranen im Meer — 
Konnte man die Graber eines Pythagoras (dieser schonsten Seele 
unter den Alten) - Platos - Sokrates* - Antonins (aber nicht so 
gut des groBen Kato oder Epiktets) - Shakespeares (wenn sein 20 
Leben wie sein Schreiben war) — J.J. Rousseaus und ahnlicher in 
einem Gottesacker zusammenrucken : so hatte man die wahre Fiir- 
stenbank des hohenAdels der Menschheit,die geweihte Erde unserer 
Kugel, Gottes Blumengarten im tiefen Norden. — Aber warum 
nehm' ich mein weiBes Papier und durchstech' es und bestreu' 
es mit Kohlenstaub oder Dintenpulver, um das Bild eines hohen 
Menschen hineinzustauben; indes vom Himmel herab das groBe, 
nie erblassende Gemalde herunterhangt, das Plato in seiner Repu- 
blik vom tugendhaften Manne aus seinem Herzen auf die Lein- 
wand trug. 30 

Die groBten Bosewichter sind einander am unkenntlichsten; 
hohe Menschen einander in der ersten Stunde kenntlich. Schrift- 
steller, die darunter gehoren, werden am meisten getadelt und am 
wenigsten gelesen, z. B. der selige Hamann. Englander und Mor- 
genlander haben diesen Sonnen-Stern ofter auf Ihrer Brust als 
andre Volker. 



FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 223 

Ottomar fuhrte mich auf die Leidenschaften : ich weiB, daB er, 
wenigstens sonst, nichts so haBte als Kopfe und Herzen, die von 
der stoischen Stein-Rinde uberzogen waren — daB er in seine 
Pulsadern Katarakten hineinwunschte und in seine Lungenfliigel 
Sturme - daB er sagte, ein Mensch ohne Leidenschaft sei noch ein 
groBerer Selbstling als einer mit heftigen; einen, den das nahe 
Feuer der sinnlichen Welt nicht entziinde, flamme das weite Fix- 
sternlicht der intellektuellen noch viel weniger an; der Stoiker 
unterscheide sich vom abgeniitzten Hofmann nur darin, daB die 

10 Erkaltung desersten von innen nach auBen fortgehe, die des andern 

aber von auBen nach ihnen Ich weiB nicht, obs bei dem innen 

brennenden, auBen glatteisenden Hofmann so ist; aber beim 
Glase ists so, daB es, wenn es von auBen und nach dem gluhenden 
Kern zu erkaltet, hohl und zerbrechlich wird; es muB umgekehrt 

sein 

Alle Leidenschaften tauschen sich nicht uber die Art oder den 
Grad, sondern uber den Gegenstand der Empfindung; namlich 
so: 

Darin irren unsere Leidenschaften nicht, daB sie irgendeinen 

20 Menschen hassen oder lieben - denn sonst verfiele alle moralische 
HaBlichkeit und Schonheit - ; auch darin nicht, daB sie uber et- 
was jammern oder frohlocken - denn sonst war' auch die kleinste 
Freuden- oder Kummertrane uber Gliick und Ungliickunerlaubt, 
und wirdiirften nichts mehr wiinschen, nicht einmal wollen, nicht 
einmal die Tugend. - Auch irren die Leidenschaften uber den 
Grad dieser Ab- und Zuneigung, dieses Freuens und Betriibens 
nicht; denn sobald ihnen die Sinne und die Phantasie den Gegen- 
stand mit tausendmal groBeren moralischen oder physischen Rei- 
zen oder Flecken vorlegen, als sie andre sehen: so muB doch das 

30 Lieben und Hassen nach Verhaltnis des auBernAnlasses zunehmen, 
und sobald irgendein auBerer Reiz den geringsten Grad von Liebe 
und HaB rechtfertigt: so muB auch der vergroBerte Reiz den ver- 
groBerten Grad der Leidenschaft rechtfertigen. Die meisten Griin- 
de gegen den Zorn beweisen nur, daB die vermeintliche moralische 
HaBlichkeit des Feindes mangle, nicht, daB sie da sei und er doch 
zu lieben - die meisten Grunde gegen unsre Liebe beweisen nur, 



224 DIE UNSICHTBARE LOGE 

daB unsre Liebe weniger den Grad als den Gegenstand verfehle 
u.s.w. Nicht bloB ein maBiger, sondern der hochste Grad der 
Leidenschaften wiirde zulassig sein, sobald sich ihr Gegenstand 
vorfande, z.B. die hochste Liebe gegen das hochste gute Wesen, 
der hochste HaB gegen das hochste bdse. Da aber alle Gegen- 
stande dieser Erde die BescharTenheit nicht haben, die solche 
Seelensturme in uns verdienen kann; da also das GroBte, was uns 
zu sich reiBen oder von sich stoBen kann, in andern Welten ste- 
hen muB: so sieht man, daB die groBten Bewegungen unsers Ich 
nur vielleicht auBerhalb des Korpers ihren vergonnten geraumi- i& 
gern Spielraum antrefFen. 

Oberhaupt ist Leidenschaft subjektiv und relativ: die namliche 
Willensbewegung ist in der starkern Seele unter groBern Wellen 
nur ein Wollen und in der schwachern auf der glattern Flache ein 
innerer Sturm. Unser ewiges Wollen flieBet immerfort durch uns 
und in uns, wie ein Strom, und die Leidenschaften sind nur die 
Wasserfalh und Springfluten dieses Stroms; sind wir aber zur 
Verdammung derselben blofi durch ihre Seltenheit befugt? Ist 
nicht dem kleinen Bach das Flut, was dem Strom nur Welle ist? - 
Und wenn wir im Feuer unsre Kalte und in der Kalte unser Feuer 20 
schelten: wo haben wir recht? Und gibt die Dauer des Scheltens 
das Recht? — 

Ich fiihle Einwiirfe und Schwierigkeiten voraus, ja ich weiB es 
und fiihle, daB auf dieser umwolkten Regen-Kugel uns nichts ge- 
gen die auBern Sturme einbauen und bedecken kann, als das Be- 
sanftigen der innern - gleichwohl ftihT ich audi, daB alles Vorige 
wahr ist. 

Sechsundzwanzigster oder xx. Trinitatis-Sektor 
Diner beim Schulmeister 

Wenn ein Autor wie ich so viele Wochen hinter seiner Geschichte 50 
zuriickgeblieben, so denkt er : mag der Henker den heutigen Post- 
Trinitatis auch gar holen - ich will also darin von nichts reden als 
vom heutigen Post-Trimtatis, von meiner Schwester, meiner 



SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 225 

Stube und von mir. Wenige Geschichtschreiber werden heute 
hinter ihren Dintenfassern einen solchen guten Tag haben wie 
ihr ZunftgenoB. 

Ich sitze hier in des Schulmeister Wutzens Empor-Stube und 
halte seit einem Vierteljahr meinen Arm als Armleuchter zum 
Fenster hinaus mit einem langen Licht, um in die zehn deutschen 
Kreise hineinzuleuchten. Ich werde in jedem Herbst und Winter 
alle meine Sektores wie den heutigen am Morgen um 4 x j 2 Uhr bei 
Licht zu machen anfangen; denn wie die erhabne Finsternis vor 

10 Mitternacht den Menschen iiber die Erde und ihre Wolken hin- 
aushebt: so legt uns die nach Mitternacht wieder in unser Erd- 
Nest herein - schon nach 1 2 Uhr nachts fuhF ich neue Lebens- 
lust, die so zunimmt, wie das heriibergegossene Morgeniicht die 
Finsternis verdunnt und durchsichtig macht. Gerade die feinsten 
und unsichtbarsten Fiihlfaden unserer Seele laufen wie Wurzeln 
unter der groben Sinnenwelt fort und werden von der entfern- 
testen Erschutterung gestoBen. Z.B. wenn der Himmel gegen 
Osten licht- und wolkenlos, gegen Westen mit Wolkenschlau- 
chen verhangen ist: so kehr' ich mich scherzhafterweise mehr als 

20 zehnmal um - steh* ich gegen Osten, so fliegen alle innern Wolken 
aus meinem Geiste weg - fahr* ich gegen Westen um, so hangen 
sie sich wieder um ihn her — und auf diese Art zwing* ich durch 
schnelles Umdrehen die entgegengesetztesten Empfindungen, vor 
mir ab- und zuzulaufen. 

An logische Ordnung ist in diesem Lust-Sektor gar nicht zu ge- 
denken; einige geschichtliche soil zu finden sein. Nur wird man- 
cher Gedanke mit tausend Schimmerecken von meiner Licht- 
schere erdruckt werden, wenn ich das Licht schneuze, oder in 
meiner Tasse ersaufen, wenn ich gestrigen Kaffee daraus trinke. 

30 Dem Publikum ist letzter mehr anzuraten : unter alien warmen 
Getranken ist kalter Kaffee zwar vom abscheulichsten Geschmack, 
aber doch von der geringsten Wirkung. Der schlafende Tag wird 
schon wie eine schlafende Schone, in der die Morgentraume glii- 
hen, rot und muB bald das Aug* aufschlagen. Sein erstes wird - 
poetisch zu reden - sein, daB er meine Schwester weckt und mit 
ihr als SchlafgenoB in meine Stube tritt. Ich sollte wie ein mah- 



226 DIE UNSICHTBARE LOGE 

rischer Bruder ein paar tausend Schwestern haben, so Heb* ich sie 
iiberhaupt alle. Wahrlich manchmal will ich mit den stoBigen 
Satyrs-BockfuBen gegen das gute weibliche Geschlecht ausschla- 
gen und lass' es bleiben, weil ich neben mir die kleinen Kirchen- 
schuhe meiner Philippine sehe und mir die schmalen weiblichen 
FiiBe hineindenke, welche in so manches Dornengeniste und 
manche Gewitterregenlache, die beide leicht durch die dtinnen 
weiblichen FuBtapeten dringen, treten miissen. Die teeren Kleider 
eines Menschen, zumal der Kinder, floBen mir Wohlwollen und 
Trauern ein, weil sie an die Leiden erinnern, die das arme Ein- 10 
schiebsel darin schon muB ausgestanden haben ; und ich hatte mich 
einmal in Karlsbad leicht mit einer Bohmin ausgesohnet, wenn 
sie mich ihre Hauskleidung, ohne daB sie darin war, hatte be- 
schauen lassen ; 

Diese Punkte stellen verrollte Zeitpunkte vor. Jetzt sind die 
Blinden heil, die Lahmen gehen, die Tauben horen - wach ist 
namlich alles; unter meinen FiiBen zerhammert der Schulmeister 
schon den Sonntagzucker; meine Schwester hat mich schon vier- 
mal ausgelacht; der Senior Setzmann hat schon aus seinem Fenster 
meinem Haus.herrn die notigsten heutigen Religionedikte zuge- 20 
pfiffen; die Uhr ist, wie Hiskias Sonnenuhr, von der Wunder- 
kraft des dekretierenden Pfeifens eine Stunde zuriickgegangen, 
und ich kann eine langer schreiben; - bin aber dadurch mit mei- 
nem Pinsel aus meinem Morgen-Gemalde gekommen. Die Sonne 
steht meinem Gesichte gegeniiber und macht mein biographisches 
Papier zu einem blanken Mosis-Angesicht ; daher ists mein Gliick, 
daB ich ein Federmesser und Ostreich oder Bohmen oder das 
Jesuiter-Deutschland nehme - namlich Homannische Karten da- 
von - und mit dem Messer diese Lander iiber meinem Fenster 
aufnagele und einpfahle; ein solches Land halt allemal die Mot- jo 
gensonne so gut ab und wirft so viel Schatten heriiber, als hatt* ich 
die Tandelschiirze oder das Pallium eines Fenstervorhangs daran. 

Meine Feder fahrt nun im Erdschatten des Globus so fort: 
Wutz fuhrt in seinem Hause nicht drei gescheite Stiihle, keine 
Fenstervorhange und Hautelisse-Tapeten. Indes mein viel zu 
prunkendes Ameublement in Scheerau steht: letz' ich mich hier 



SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 227 

an dem jammerlichsten und sage, ein Fiirst weiset kaum in einer 
Kunst-Einsiedelei ein elenderes vor. Sogar den Kalender schrei- 
ben wir uns, ich und mein Hausherr, eigenhandig, wie Mitglieder 
der Berliner Akademie - aber mit Kreide und an die Stubentiire; 
jede Woche geben wir ein Heft oder eine Woche von unserem 
Almanach und wischen die Vergangenheit aus. Auf dem vier- 
schrotigen Ofen konnen drei Paare tanzen, die er wie die jetzigen 
Tragodien trotz der unformlichen Zuriistung und Breite schlecht 
erwarmen .wiirde. Es muB beilaufig noch zu Hand- und Taschen- 

10 ofen kommen, wenn man einmal aus den Bergwerken statt der 
Metalle das Holz, womit man sie jetzt ausfuttert, wird holen 
miissen — 

Ein Schops wird entsetzlich gepriigelt, namlich sein toter 
Schenkel - die zinnernen Patenteller der zwei Wutzischen Kinder 
werden abgestaubt — mein Silber-Besteck wird abgeborgt - das 
Feuer knackt- die Wutzin rennt - ihre Kinder und Vogel schreien. 
— Alle diese Zuriistungen zu einem viel zu groBen Diner, das 
heute unten gegeben wird, hor' ich in mein Studierzimmer herauf. 
Vielleicht sind solche Zuriistungen dem Range der beiden Gaste, 

20 die dasTraktementannehmensollen,angemesseneralsdemStande 
der beiden Schulleute, die es geben. Gegenwartigem Geschicht- 
schreiber und seiner Schwester diirfen sie namlich ein Essen geben 
und selber mit am Tische sitzen. Der Schulmeister hatte viel von 
seinem ausgeraumten Ameublement eine Woche lang in meine 
Stube einpfarren diirfen, weil die seinige endlich nach langem 
Bittschreiben - denn das Konsistorium sieht Reparaturen an der 
sichtbaren wie an der unsichtbaren Kirche nicht gern - reformiert, 
d. h. repariert, namlich geweiBet wurde. - Daher invitierte er mich 
(aus Hofton) zum Dinieren, und ich nahm (ebenfalls aus Hofton) 

30 die Karte an. 

Ich werde den Sektor erst abends ausschreiben, teils um mir 
nicht die EBlust wegzudenken, teils um mir drauBen noch einige 
zu erhinken, wo ich noch dazu ein paar Emmerlinge und die 
Kirchenleute singen horen kann. Oberhaupt ist der Nachsommer, 
der heute mit seinem schonsten himmelblauen Kleide und der 
Orden-Sonne darauf auf den Feldern drauBen steht, ein stiller 



228 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Karfreitag der Natur; und wenn wir Menschen hofliche Leute 
waren: so gingen wir da ofter ins Freie und begleiteten den ver- 
reisenden Sommer hoflich bis an die Tiire. Ich seh' es voraus, ich 
wiirde mich heute an der milden Sonne, die ein sanft um uns 
schleichender Mond geworden ist, und die im Nachsommer den 
weiblichen Artikel verdient, nicht satt sehen konnen, wenn ich 
nicht mein Auge nach Scheeraus Berge richten muBte, wo meine 
Gufen wohnen und von wannen heute mein Doktor mich be- 
suchen wird. 

Unter die Erde ist nun der Tag und seine Sonne. Komme gliick- 10 
lich heim, geliebter Freund ! Auf den Silber-Grund, den der Mond 
auf deinem Weg anlegt, male deine Seek das verlorne Eden der 
Jugend, und der schwarze Schatten, den du und dein scheues RoB 
auf den Strahlenboden werfen, musse euch nachschwimmen, aber 
nicht voraus! - 

Warum sind die meisten Einwohner dieses Buchs gerade Fenks 
Freunde? - Aus zwei recht verniinftigen Grunden. Erstlich ver- 
quickt sich das humoristische Quecksilber, das aus ihm neben der 
Warme des Herzens glanzt, mit alien Charakteren am leichtesten. 
Zweitens ist er ein moralischer Optimist, Zehn metaphysische Op- 20 
ti mis ten wxird' ich fur einen moralischen auszahlen, der nicht ein 
Kraut, wie die Raupe, sondern einen ganzen Blumenflor von 
Freuden, wie der Mensch, zu gemeBen weiB - der nicht fiinf 
Sinnen, sondern tausend hat fiir alles, fur Weiber und Helden, 
fur Wissenschaften und Lustpartien, fiir Trauer- und Lustspiele, 
fiir Natur und fiir Hofe. — Es gibt eine gewisse hohere Toleranz, 
die nicht die Frucht des Westfalischen Friedens noch des Ver- 
gleichs von 1705, sondern die eines durch viele Jahre und Besse- 
rungen gesichteten Lebens ist - diese Toleranz fmdet an jeder 
Meinung das Wahre, an jeder Gattung des Schonen das Schone, 30 
an jeder Laune das Komische und halt an Menschen, Volkern und 
Buchern die Verschiedenheit und Eigentiimlichkeit der Vorziige 
nicht fur die Abwesenheit derselben. Nicht bloB das Beste muB 
uns gefallen; auch das Gute und alles. - 

Als die Leute aus der kleinen und ich aus der groBen Kirche 
zuruck waren, ring man im Wutzischen Hause das Dinieren an. 



SECHSUNDZWANZIGSTERSEKTOR 229 

Unser Brotherr empfing das Gast-Paar mit seiner gewohnlichen 
Freundlichkeit und mit einer ungewohnlichen dazu; denn er hatte 
heute aus seiner Kirchenkollekte - er kroch nach dem Gottesdienst 
in alle Stiihle und zog alle unter dem Einlegen niedergefallnen 
Pfennige magnetisch an sich - eine ansehnliche Silberflotte von 
18 Pfennigen mitgebracht. Die Pracht des Mahls erdriickte in 
dieser Stube das Vergniigen nicht. Messer und Gabel waren, wie 
schon gesagt, von Silber und von mir; aber wer sollte nicht damit 
mit Vergniigen an einer Tafel agieren, wo der Braten und die 

10 Sauce aus einer - Pfanne gespeiset werden? - Unsere Schau- 
gerichte waren vielleicht fiir einen Kurfiirsten zu kostbar : denn sie 
bestanden nicht etwa aus Porzellan, Wachs oder aus Alabaster- 
Samereicn auf Spiegelplatten und waren nicht etwa bloB wenige 
Pfund schwer: sondern die beiden Schaugerichte wogen sechzig 
und waren vom namlichen Meister und von der namlichen Materie 
wie die Kurfurstenbank, von Fleisch und Blut, namlich Wutzens 
Kinder. Ein geistlicher Kurfurst wurde vor Vergniigen keinen 
Bissen essen konnen, wenn er, wie wir, neben seiner Riesen-Tafel 
ein Zwerg-Tafelchen mit seinen Kleinen darum stehen hatte. Ihr 

20 Tisch war nicht viel groBer als eine Heringschussel; sie sahen 
aber auf Verhaltnis und speiseten auf dem lilliputischen Tafel- 
Servtee, wovon sie seit Weihnachten mehr spielenden als ernst- 
haften Gebrauch gemacht hatten. Die Kleinen waren auBer sich, 
ihr Fleisch auf Oblaten von Tellern und mit Haarsageri von Mes- 
sern zu zerschneiden; - Spiel und Ernst flossen hier wie bei essen- 
den Schauspielern ineinander; und am Ende sah ich, daB es bei 
mir auch so war und daB mein Vergniigen von erkiinstelter Klein- 
heit und Armseligkeit kame. 

An der groBen Tafel ging - andere Tafeln kehren es um - das 

30 individuelle Gesprach bald ins allgemeine iiber; ich und der Kan- 
tor sagten jeden Augenblick der Preufie, der Russe, der Turk und 
verstanden (gleich dem Premierminister) unter der Nation den 
Regenten derselben. -Ichhatte heute eine solche besondre Freude 
an erbarmlichen Sitten, daB ich mir jeden Bissen hineinpredi- 
gen HeB und daB ich iiber zwanzig Gesundheiten trank. Frauen- 
zimmer von Stande konnen sonst nicht so leicht wie Manner sich 



23O DIE UNSICHTBARE LOGE 

zu unfrisierten Leuten herunterbiicken, am wenigsten zu solchen 
von weiblichem Geschlecht; aber meine Schwester verdienet, daB 
ihr Bruder ihr in seinem Buche das Lob der schonsten liebreichsten 
Herablassung erteilt. Je weiblicher eine Frau ist, desto uneigen- 
niitziger und menschenfreundlicher ist sie; und die Madchen be- 
sonders, die das halbe menschliche Geschlecht lieben, lieben das 
ganje von Herzen. Z.B. von der Residentin von Bouse weiB man 
nicht, schenkt sie Armen oder Mannern mehr. Alte Jungfern sind 
geizig und hart. - Mein Doktor und eine Flasche Wein kamen als 
Nachtisch. Da er im gegenwartigen Buche alle Wochen lieset: so 10 
will ich ihn darin lieber schelten als preisen. Am besten ists, ich 
webe hier ein Zwitterding, was ihn bei manchen weder lobt noch 
tadelt, ein - seine herzliche Zuneigung gegen das weibliche Ge- 
schlecht, die zwischen gefiihlloser Galanterie und Feuer-Liebe 
mitten innen steht. Diese namliche Zuneigung stehetunseremGe- 
schlechte gut, aber dem weiblichen nicht, und meine Schwester 
ist doch von diesem. Die Sache kam bloB von ihrem linken Ohre 
her. Das Ohrgehenk hatte sich durch das Ohrlappchen durch- 
gerissen; sie hatte aber fuglich bis auf den Montag warten konnen, 
wo ihr Bruder das Lappchen ihr, wie einem judischen Knecht, auf 20 
die geschickteste Weise wiirde durchlochert haben. Allein heute 
sollte es sein, und sein Doktorhut war der Bettschirm ihrer Ab- 
sicht. Es hatte gemalet werden sollen, wie der arme Pestilenzia- 
rius das Ohrlappchen zwischen den drei Vorderfingern scheuerte 
und rieb - wie ein offlzinelles Blatt, an das man riechen will-, um 
es geschwollen und unempfindlich zu machen. Nichts ist mir und 
dem Medizinalrat gefahrlicher, als wenn wir nur mit zwei, drei 
Fingern an ein Frauenzimmer picken und anstreichen - mit dem 
ganzen Arm hinanzukommen, ist fiir uns ohne alle Gefahr; so 
wie etwa die Nesseln weit mehr brennen, leise bestreift als hart 50 
gefasset. Vielleicht ists mit diesem Feuer wie mit dem elektrischen, 
das durch die Fingerspitzen mit groBerem Strome in den Men- 
schen fahrt als durch eine groBe Flache. - Meine Schwester ging 
weiter und brachte einen Apfel; der Doktor muBte mit seinen 
Pulsfingern den roten Ohrzipfel an den Apfel pressen und dann 
eine Zitternadel oder was es war durch dieses Sinnwerkzeug, das 



SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 23 1 

die Madchen weit seltener als das nackste spitzen, driicken - nun 
konnte hinangeschnallet und hineingeknopfet werden, was dazu 
paBt. Der Stahl kettete beinahe den Kunstler selber an ihr Ohr. 
»Mit nichts strickt eine Schone uns mehr an sich, als wenn sie uns 
AnlaB gibt, ihr eine Gefalligkeit zu tun«, sagte der Doktor selber 
und erfuhr es selber. Daher klagte der Operateur und Ohren- 
Magnetiseur, es sei schwer, eine Schone zu heilen und doch nicht 
zu Heben, und seine erste Patientin nab* ihn beinahe zu einem 
Patienten gemacht. Gegen den Doktor nab* ich nichts; er sei 

10 immer ein Weltbiirger in der Liebe — aber, Schwester, ich wollte, 
du warest schon zu Bette, weil ich keine Minute, in der ich nur 
drei Schritte auf- und abtue, sicher bin, daB du nicht in meine 
Sektoren schielest und Hesest, was ich an dir tadle ! - Ach ich tadle 
weniger als ich bedauere deine so niedlich um fremden und eignen 
Kummer spielende Laune und dein aus den weichsten Fibern ge- 
sponnenes Herz, daB die blanke Krone scheuer Weiblichkeit, die 
alle diese Vorziige erst putzt und hebt, in den volkreichen Zim- 
mern der Residentin ein wenig schwarzlich angelaufen ist, wie 
Silber im sumpfigen Holland, und daB deiner Tugend, der nichts 

20 fehlet, die Gestalt der Tugend fehlt! - Ihr Eltern! euere Jungen 
machen sich in der Holle kaum schwarz; aber fur euere Tochter 
und ihren schneeweiflen Anzug ist kaum der Himmel gescheuert 
und sauber genug! 

Sie sind selten schlechter als ihre Gesellschaft, aber auch selten 
besser. Dieser geistige Wein zieht den Obstgeschmack der Evas- 
und Paris-Apfel, die um ihn liegen, ein; er schmeckt alsdann noch 
gut, aber nur wie Wein nicht. 

Der Doktor gab mir iiber Gustavs Lage viel Licht, das zu seiner 
Zeit den Lesern wieder gegeben werden soil. — 

30 Eine gewisse Person, die fast alle vierzehn Tage nachlieset, was 
ich geschrieben, ist satirisch und fragt mich, auf welchem Bogen, 
ob auf dem Bogen Aaa oder Zzz, der fernere Liebehandel zwischen 
Paul und Beata bearbeitet werde - sie fragt ferner, obs dem Leser 
schon erzahlt ist, daB der kokettierende Paul Verse, Schatten- 
risse, StrauBer und Adagios seitdem gemacht, um sein Herz auf 
diesen Deserttellern, auf diesen durchbrochnen Fruchttellern, in 



232 PIE UNSICHTBARE LOGE 

diesen Konfektkorbchen zu bringen und zu prasentieren - diese 
fatale mokante Personage fragt endlich, ob es der Welt schon 
berichtet ist, daB aber Beata sich nichts ausgebeten als das here 
Korbchen und den leeren Desertteller. . . . Im Grund* argert mich 
diese Maliz niemal; aber der Doktor Fenk und der Leser haben 
offenbar die boshafteste Geschicklichkeit, Herzens-Sachen falsch 
zu stellen und zu sehen - Wahrhaftig es war bisher lauter Scherz, 
meine vorgegebene Liebe; und wenn sie keiner war: so muBte sie 
einer werden, weil ich einen so schonen und so verdienstvollen 
Nebenbuhler, als ich, wie es scheint, an Gustav bekommen soil, 10 
nicht einmal iiberfliigeln und verdunkeln mcichte, wenn ich auch 
konnte oder diirfte, wie doch wohl nicht ist.... 

. Ende des ersten Teils 



ZWEITER TEIL 



SlEBENUNDZWANZIGSTER ODER XXI. TrINITATIS-SeKTOR 
Gustavs Brief — Furst mit seinem Frisierkamm 

Nun ist Gustav im alten Schlosse — sein Schauplatz hob sich 
bisher taglich, von der Erdhohle in eine Ritterburg, dann in ein 
Kadetten-Philanthropin, endlich in ein FiirstenschloB. Der reiche 
Oefel mietete es, weil es an das neue anstieB, wo der Blocksberg 
der groBen Welt von Scheerau war, Die Residentin von Bouse 
hatte beide von ihrem Bruder geerbt, der hier unter ihren Kiissen 
und Tranen verschied. Die Natur hatte ihr alles gegeben, was das 

10 eigne Herz erhebt und das fremde gewinnt; aber die Kunst hatte 
ihr zu viel gegeben, ihr Stand ihr zu viel genommen — sie hatte 
zu viele Talente, um an einem Hofe andre Tugenden zu behalten 
als mannliche ; sie vereinigte Freundschaft und Koketterie - Emp- 
fmdung und Spott - Achtung der Tugend und Philosophic der 
Welt - sich und unsern Fiirsten. Denn dieser war ihr erklarter 
Liebhaber, welchem sie ihr Herz mehr aus Ehre als aus Neigung 
HeB. Sie war zu etwas Besserem gemacht als zu schimmern; allein 
da sie zu nichts Gelegenheit hatte als zum Schimmer: so vergaB 
sie, daB es jenes Bessere gebe. Aber wer zu etwas Hoherem ge- 

20 boren ist als zur Welt- oder Hofgliickseligkeit: der fuhlt in bittern 
Stunden seine versaumte Bestimmung. - Es wird sich hieher eine 
neue Ursache anzugeben schicken, die Oefeln aus Scheerau warf : 
er sollte und wollte auf furstlichen Befehl fur den Geburttag der 
Residentin ein Drama auf der Drehscheibe seines Pultes aus- 
kneten. Das Drama sollte Beziehungen haben. Auf dem Lieb- 
habertheater zu Oberscheerau - wo der Furst nicht wie auf dem 
Kriegtheater Figurant, sondern erster Akteur war und wo er eine 
ordentliche Hoftruppe ersetzte und ersparte - sollte es vom Fiir- 
sten, von Oefel und einigen andern gespielt werden. Der Furst 

30 hatte noch Augen, die Residentin anzublicken, noch eine Zunge, 



236 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sie zu lieben, noch Tage, es ihr zu beweisen, noch ein Theater, ihr 
zu huldigen: gleichwohl haBte er sie schon, weil sie zu edel fur ihn 
war; denn seine Theaterrolle sollte (wie unten gedruckt werden 
soil) mehr ihm als ihr Dienste tun. - Oefel (welcher Ambassadeur 
und Hoftheaterdichter und Akteur auf einmal war, weil ein 
schlechter Unterschied ist) make in sein Drama Beaten hinein und 
wollte ihr durch ihr Abbild schmeicheln und verhoffte, sie werde 
mit agieren und ihr Portrat zu ihrer Rolle machen. Alles dies 
glaubte er von Gustav auch; aber unten werden wir eben sehen. 

Gustav fuhlte im alten Schlosse — indes iiber seine Ohrennerven 10 
alle Visitenrader gingen und alle Besuch-Prozessionen um seine 
Augen schwarmten — sich toten-allein. Er arbeitete sich in seine, 
kunftige Bestimmung hinein. Mehr als funfzig Gesandtschaft- 
schreiber werden daher denken, er lernte Briefe und Herzen auf- 
machen, Weiber und Berichte dechiffrieren, Amour, Cour und 
Spitzbiibereien machen - die funfzig Schreiber irren; sie werden 
ferner denken, er lernte klein schreiben, um das Porto zu schwa- 
chen, ferner ChifTern und Titel machen, ferner wissen, wessen 
Name im orTentlichen Instrument, das an drei Potenzen kommt, 
zuerst stehe - und daB jede Potenz in ihrem Instrument zuerst 20 
stehe - sie haben recht; aber er tat mehr: er lernte in der Einsam- 
keit die Gesellschaft ertragen und lieben. Fern von Menschen 
wachsen Grundsdtze; unter ihnen Handlungen. Einsame Untatig- 
keit reift auBer der Glasglocke des Museums zur geselligen Tatig- 
keit, und unter den Menschen wird man nicht besser, wenn man 
nicht schon gut unter sie kommt. 

Seine Geschafte gingen in schone Unterbrechungen iiber. Denn 
vor seinem Fenster drauBen stand xlie schone und fast kokette 
Natur von Paris- Apfel umhangen und mitten in ihr eine Spazier- 
gangerin, die die Apfel alle verdiente. Wer kann es sein als - 30 
Beata? - Ging sie in den Park: so wars ihm ebenso unmoglich, 
ihr nachzuspazieren, als ihr nicht nachzuschauen durchs Fenster, 
und seine Augen suchten aus dem Gebiische alle vorbeiblinkende 
Bander heraus. Wandelte sie riickwarts mit dem Gesichte gegen 
seine Fenster: so trat er nicht bloB von diesen, sondern auch von 
den Vorhangen so weit wie mdglieh zuriick, um ungesehen zu 



SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 237 

sehen. Vielleicht (aber schwerlich) kehrten sich die Rollen um, 
wenn er nach ihr sich auf ihre Gange wagte, die fur ihn Himmel- 
wege waren. Eine herabgewehte Rose, die er einmal in der dunkel- 
sten Nacht unter ihrem Fenster aufhob, war eine Ordenrose fiir 
ihn, ihr welker Honigkelch war das Potpourri seiner schonsten 
Traume und seines Freudenflors : - so legest du, hohes Schicksal, 
fiir den ewigen Menschen seinen Himmel oft unter ein falbes 
Rosenblatt, oft auf den Blutenkelch eines Vergifimeinnichts, oft 
in ein Stuck Land von 305 000 Quadrat-Meilen. - 

10 Wer zu viel verziehen hat: will sich nachher rachen. Gustavs 
Freundschaft gegen Amandus war in eine so hohe Flamme auf- 
geschlagen, daB sie notwendig Asche auf ihren Stoff herunter- 
brennen muBte. Wenn er Beaten nachblickte, blickteer auf Aman- 
dus zuriick und tadelte sich so oft, daB er anfangen muBte, sich zu 
rechtfertigen. Was vom Aschenberg, worunter seine Liebe 
glimmte, abgetragen wurde, wurde dem Aschenberge seiner 
Freundschaft zugeschiittet. Gleichwohl wiirde er zu jeder Stunde 
fur Amandus alles geopferthaben, was das Volk Freuden nennt;- 
denn in der neuen Zeit ei'ner ersten Freundschaft werden Opfer 

ao noch warmer gesucht, als in der spatern gebracht, und der Geber ist 
begliickter als der Empf anger. O ! die rechte Seele hat nicht bloB die 
Kraft, sondern auch die Sehnsucht, aufzuopfern. - Das Leben, das 
Gustav jetzo von Friihling und Garten und von Wiinschen der 
Liebe umgeben genofi, soil er selber malen in seinem Briefe an 
mich. Diesen Brief werden freilich die verwerfen, die vor dem 
Natur-Schauspiel als kalte Zuschauer, als entfernte Logen-Pachter 
stehen; aber es gibt bessere und seltnere Menschen, die sich fur 
hineingerissene Spieler halten und jede Grasspitze fiir beseelt an- 
sehen, jedes Kaferchen fur ewig und das unbandige Ganze fiir ein 

$0 unendliches schlagendes Adersystem, in welchem jedes Wesen als 
ein saugendes und tropfendes Astchen zwischen kleinern und 
groBern pulsiert und dessen voiles Herz Gott ist. — 



238 . DIE UNSICHTBARE LOGE 

Gustavs Brief 

»Heute stieg ich zum zweiten Male aus meiner Hohle in die unend- 
liche Welt - alle meine Adern fluten noch vom heutigen Nach- 
mittage, mein Blut mochte sich mit den Erden um die Sonnen 
drehen und mein Herz mit den Sonnen um das funkelnde Ziel, 
das neben dem Schopfer steht 

Die Nachtluft, die mein Licht umkrummt, kiihlet mich vergeb- 
lich ab, wenn ich nicht die brennende Brust vor dem Auge des 
Freundes aufdecke und ihm alles sage. Ich nahm nachmittags mein 
ReiBzeug, womit ich bisher statt der Landschaften die Festungen, 10 
die sie verwiisten, schaffen mussen, und ging ins stille Land hin- 
aus. Der Erdball glitt so leise wie der Schwan unter den Blumen- 
inseln, an die ich mich lagerte, durch den Ather-Ozean dahin, der 
freundliche Himmel buckte sich tiefer zur Erde nieder, es war dem 
Herzen, als muBt' es im stillen weiten Blau zerflieBen, als miiBt' 
es von fernen ein verhalltes Jauchzen horen, und es sehnte sich 
nach arkadischen Landern und nach einem Freund, vor dem es 

zerginge Ich setzte mich mit der ReiBfeder auf einen kiinst- 

lichen Felsen neben dem See und wollte meine Aussicht zeichnen 
— die einander umarmenden Erlenbaume, die das Ende des um- 20 
gekriimmten Sees zuhiillten und belaubten - die bunte Reihe der 
Blumeninseln, um deren jede schon ein doppeltes Blumenstiick 
ihrer geschmuckten Insulanerin gemalet schwamm, namlich das 
bunte Blumenbild, das unter dem Wasser zum Spiegel-Himmel 
hinabging, und der SchattenriB, der auf dem zitternden Silber- 
grunde schwankte - und die lebendige Gondel, der Schwan, der 
zu meinen FiiBen sich in hungriger HofFnung drehte; — aber als 
die ganze hoch aufgerichtete Natur mir saB und mich mit ihren 
Strahlen ergrifF, die von einer Sonne zur andern reichen : so betete 
ich an, was ich nachfarben wollte, und sank Gott und der Gottin 30 
zu FiiBen.... 

Ich stand auf mit gelahmter Hand und iibergab mich dem 
steigenden Meere, das mich hob. - Ich ging an alle Ecken der 
groBen Tafel mit Millionen Gedecken fur riesenhafte Gaste und 
fur unsichtbare; denn meine Brust war noch nicht voll, und ich 



SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 239 

IieB die Wellen, die hineinschlugen, leidend in mir steigen. - Ich 
drangte mich in den tiefsten Schatten der Schattenwelt, in welcher 
die in einen Stern zergangene Sonne entlegner schimmerte. - Ich 
ging im Fichtenwald vor dem Gezank der Kohlmeise und vor dem 
einsamen Wustenlaut der Drossel voriiber unter die singende 
Lerche hinaus. - Ich ging im Ian gen Abendtal an dem bewohnten 
Bach hinauf, und ein entziicktes Wesenchor wandelte mit mir, die 
hineingetauchte Sonne und die Mucke mit ihren Schrittschuh- 
FiiBen liefen neben mir auf dem Wasser weiter, die groBaugige 

10 Wasserlibelle floB auf einem Weidenblatte dahin, ich watete durch 
griines aus- und einatmendes Leben, umflogen, umsungen, um- 
hiipfet, umkrochen von freudigen Kindern kurzer warmer Augen- 
blicke, - Ich stieg auf den Eremitenberg, und meine Brust war 
noch nicht von dem Weltstrome voll, dem sie leidend ofFen stand. 

Aber dort richtete sich die liegende Riesin der Natur vor 

mir auf, in den Armen tausend und tausend saugende Wesen tra- 
gend - und als meine Seele vom Gedrange der unzahligen, bald in 
Muckengold gefaBter Seelen, bald in Fliigeldecken gepanzerter, 
bald mit Zweifalter-Gefieder uberstaubter, bald in Blumenpuppen 

20 eingeschlossener Seelen angeruhret wurde in einer unendlichen, 
unubersehlichen Umarmung — und als sich vor mir iiber die Erde 
legten Geburge und Strome und Fluren und Walder, und als ich 
dachte, alles dieses fiillen Herzen, die die Freude und die Liebe 
bewegt, und vom groBen Menschenherzen mit vier Hohlungen 
bis zum eingeschrumpften Insektenherzen mit einer und bis zum 
Wurmschlauch nieder springt ein fortschaffender, ewiger, eine 
Zeugung um die andre entztindender Funke der Liebe.... 

— Ach dann breitete ich meine Arme hinaus in die flatternde 
zuckende Luft, die auf der Erde briitete, und alle meine Gedanken 

jo riefen : o warest du sie, in deren weitem wogenden SchoB der Erd- 
ball ruht, o konntest du wie sie alle Seelen umschliefien, o reich- 
ten deine Arme um alles wie ihre, die da beugen das Fiihlhorn 
des Kafers und das bebende Gefieder des Lilien-Schmetterlings 
und die zahen Walder, die da streicheln mit ihrer Hand das Rau- 
penhaar und alle Blumen-Auen und die Meere der Erde, o konntest 
du wie sie an jeder Lippe ruhen, die vor Freude brennt, und kuh- 



24O DIE UNSICHTBARE LOGE 

lend um jeden gequalten Busen schweben, der seufzen will. — 
Ach, hat denn der Mensch ein so schmales versperrtes Herz, daB 
er vom ganzen Reiche Gottes, das um ihn thront, nichts lieben, 
nichts fuhlen kann, als was seine zehn Finger fassen und fuhlen? 
Soil er nicht wiinschen, daB alle Menschen und alle Wesen nur 
einen Hals, nur einen Busen haben, um sie alle mit einem einzigen 
Arm zu umschlieBen, um keines zu vergessen und in gesattigter 
Liebe nicht mehr Herzen zu kennen als zwei, das liebende und das 
geliebte? - Heute wurd* ich mit der ganzen Schopfung verbunden, 
und ich gab alien Wesen mein Herz 10 

Ich kehrte mich nach Osten gegen das neue SchloB und gegen 
Auenthal. Hinter dem Auenthaler Wald brausete durch einen zer- 
brochnen Regen-Schwibbogen ein aufgerichteter Ozean - ich 
stand hier einsam in einer weiten Stille - ich wandte mich zur her- 
untergegangnen Sonne, ich dachte daran, daB ich sie einmal fur 
Gott gehalten, und es fiel heute schwer auf mich, daB ich den, 
ders war, bisher so selten gedacht - >0 Du, Du!< rief so nahe an 
ihm mein ganzes Wesen - aber alien Sprachen und alien Herzen 
und alien Gefuhlen entfallt vor ihm die Zunge, und Beten ist Ver- 
stummen, nicht bloB mit den Lippen, auch mit dem Gedan- 20 
ken Aber der groBe Geist, der die Schwache des guten Men- 
schen kennt, hat ihm Mitbriider herabgesandt, damit der Mensch 
sich vor dem Menschen offne und vor ihnen das Gebet, in dem er 
verstummte, vollende. 

O Freund meiner schonsten Jahre ! der du Dankbarkeit und 
Demut in meinem Innersten befestigt hast, diese hab' ich emp- 
funden, als ich auf dem Eremitenberg mich einsam iiber das ge- 
scharTne Gewurm erhob und fiihlte, was der Mensch fiihlt, aber 
nur er auf der Erde - als ich einsam vor dem bis in das Nichts 
hinausreichenden groBen Spiegel, an den sich das Insekt mit Fiihl- 30 
hornern stoBet, mit Menschenaugen knien konnte, vor dem Spie- 
gel, aus dem der unendliche Sonnen-Riese flammt Nein! In 

Erdfarben und auf der Leinwand von Tierfellen und auf allem, 
was vor mir Hegt, ist bloB das Bild des Ur-Genius; aber im 
Menschen ist nicht sein Bild, sondern er selbst — 

Die Sonne gliihte noch halb iiber dem Erdball, der sie zer- 



SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 241 

schnitt; aber ich sah sie durch mein zerrinnendes Auge nicht mehr, 

vergangen, verstummt, yerhullt, versunken im treibenden, flam- 

menden, reiBenden, uferlosen Meere urn mich.... 

Die Sonne nahm den entziickten Tag mit hinunter; und jetzo 

steht der Ather-Diamant, den die Nacht schwarz einfasset, der 

Mond, iiber diesen zugehullten Szenen und strahlet wie andre 

Diamanten den entlehnten Schimmer aus O du stille Mitter- 

nacht-Sonne ! du schimmerst, und der Mensch ruht, deine Strahlen 

besanftigen das irdische.Toben, deine herunterrinnenden Funken 

io wiegen wie ein schimmernder Bach den liegenden Menschen ein, 

und derSchlaf bedeckt dann wie eine Graberde das ruhende Herz, 

das trocknende Auge und das schmerzenlose Angesicht — Leben 

Sie wohl, und die weiBe Luna-Scheibe zeige Ihnen alle Paradiese 

der vergangnen und alle Paradiese der zukiinftigen Jugend ...... 

Gustav.« 
* 

So weit war er, als Oefels Bedienter mit einem Paket an ihn in 
seine Stube trat, welches leichter als die kalteste Nachtluft und der 
warmste Brief die Bewegungen seiner Seele anhielt und abkiihlte. 
Ein Brief vom Doktor lag mit der Nachricht darin, daB die Frau 

20 von Roper ihm in MauBenbach gegenwartiges Portrdt mitge- 
geben, das ihre Tochter fiir ihr eignes verlornes gehalten, auf 
dessen Riicken aber der Name Falkenberg stehe, der alle ubrige 
Ahnlichkeiten widerlege. So lieb ihm das Portrat war, so arger- 
lich wars ihm, da es nun ein neuer Beweis seiner Vermutung war, 
Mutter und Tochter hasseten ihn wegen des Korn-Avertisse- 
ments. Die Spinne des Hasses, die bei jedem Menschen iiber eine 
Ecke der Herzkammer ihr Gespinste hangt - nur iiberspinnen 
groBe Kanker in manchen alle vierKammern mit ihren fiinf Spinn- 
warzen -, lief auf ihren Faden hervor, die Amandus erschiittert 

3 o hatte, und verlangte Fang; kurz die kalte Farber-Hand beriihrte 
sein Herz und macht' es ein wenig kalter gegen seinen Amandus, 
dessen seines durch das zuruckgehende Portrat warmer geworden 
war. Die gestorte Liebe macht den besten Menschen nicht besser, 
bloB die gluckliche. 

In sieben Minuten war alles vorbei; denn im geistigen Men- 



242 DIE UNSICHTBARE LOGE 

schen ist die namliche herrliche Einrichtung wie im physischen, dafi 
urn eine bittere, scharfe Idee so lange andre Ideen als mildere 
Safte zuflieBen, bis sie ihre Scharfe verdunnt und ersauft haben. 
Das Portrat wurde nun die zweite gefundene Rose; es war an- 
gehaucht mit Leben und Rosenduft durch die schonsten Augen 
und Lippen, die auf ihm gewesen waren. 

Jetzo sah er Beata einige Zeit nicht im Garten, aber dafur den 
Fiirsten mit und ohne die Residentin. — Gehet beide aus dem 
stillen Lande in euer rauschendes! Ihr genieBet doch die schone 
Natur nur als eine groBere Landschaft, die in euerem Bilderkabi- 10 
nett oder an der Leinwand euerer Operntheater hangt, oder als 
eine nur breitere Tafel- und Kamin-Verzierung, wo euch die 
Felsen von Bimsstein und die Baume von Moos geformet vor- 
kommen, hochstens als den groBten englischen Park, der neuerer 
Zeiten in Europa an irgendeinem Hofe anzutreffen ist. - In alien 
Sessionzimmern war wegen der Kanikularferien Arbeit- Wind- 
stille — im Winter konnte man wegen der Kalte Frostferien er- 
lauben und ebensogut einen Winterschlaf der Geschafte als die 
Sommer-Sieste derselben in Gebrauch setzen, wie denn auch die 
bekannten Tiere beider Extreme wegen aus Scheu vor ihrer Was- 20 
serscheu zu Hause bleiben miissen - mithin konnte der Minister 
leichter mit dem Fiirsten abkommen, und beide waren langer da. 
Ohne mich wiirde der Leser nie erfahren, warum das furstliche 
Dasein AnlaB war, daB Beata das stille Land gegen ihr stilles 
Zimmer vertauschte. So wars: Unser Fiirst ist zwar ein wenig 
hart, ein wenig geizig und weidet seine Herde ofter mit dem 
Hirtenstabe als mit der Hirtenflote; aber er wird ebensogern ein 
Schafer in einem schonern Sinne und geht gern vom Throne, wo 
ihn die Landeskinder anbeten, zu jeder StafTel desselben herunter, 
um selber ein schones anzubeten - er kann zwar das Volk, aber 30 
keine Schone seufzen horen; er wendet emsiger eine gesellschaft- 
liche Verlegenheit als eine Teuerung ab; er bleibet lieber den 
Landstanden als seinem Gegenspieler etwas schuldig und bauet 
keine abgebrannte Stadt, aber eine eingerissene Frisur willig w ; e- 
der auf. Kurz der Landesvater und der Gesellschafter sind in sei- 
nen Herzkammern Wandnachbaren, aber Todfeinde. Dieser Ge- 



SIEBENUND2WNAZIGSTER SEKTOR 243 

sellschafter subdividierte sich wieder in zwei Liebhaber, in den 
kurzen und in den langen. Seine lange oder weitergriinende Liebe 
besteht in einer kalten verachtenden Galanterie und in dem Ver- 
gntigen an der Feinheit, an dem Witze und an der Grazie, womit 
er und der geliebte Gegenstand ihre gegenseitigen Siege zu ver- 
zieren wissen. Seine kurze Liebe besteht in seinem Vergniigen an 
jenen Siegen, insofern sie jene Dekoration nicht haben. Dam it man 
dieses unschuldige Pasquill auf einen nicht fiir Satire auf die mei- 
sten GroBen halte, so will ich so fortfahren : 

10 Lange Liebe hegte er gegen die Residentin, von deren Gunst- 
bezeugungen man nicht sagen konnte : das ist die unschuldigste - 
die erste - die letzte. Eine solche Immobiliarliebe durchflocht er 
zu gleicher Zeit mit hundert kursorischen Sekunden-Enen oder 
Liebschaften, und tiber dem schleichenden Monatzeiger der lan- 
gen fixen Liebe oder Ehe wirbelte sich der fliegende Terzienweiser 
der abbrevierten Ehen unzahligemal um. 

Darwider hatte die Residentin nichts - sie konnte auf dieselbe 
Weise durchflechten - darwider hatte er nichts. 
In diesen kurzen Ehen tun die GroBen vielleicht manches Gute, 

20 uber welches Moralisten zu leicht wegsehen, die lieber ihre Druck- 
bogen als die Geburtlisten voll haben wollen. Gleich jungen Au- 
toren lassen junge GroBe ihre ersten Ebenbilder anonym oder 
unter geborgten Namenerscheinen ; und ichkann zu Montesquieus 
Bemerkung, daB das Namengeben der Bevolkerung niitze, weil 
jeder seinen fortzupflanzen trachte, nichts setzen als meine eigne, 
daB die Namenloslgkeit ihr noch besser forthelfe. In der Tat geht 
es hierin den erhabensten Personen wie den griechischen Kiinst- 
lern, die unter die schonsten Stamen, womit ihre Hand Tempel 
und Wege ausschmtickte, ihren Vaternamen nicht setzen durften ; 

30 indessen findet der pfiffige Phidias auch seine Nachahmer, der 
statt des Namens sein altes Gesicht an der Statue Minervens ein- 
hieb. 

Der Furst hatte im Sinn, Beaten, die ihm zu viel Unschuld und 
zu wenig Koketterie zu haben schien, eine kurze Liebe anzubieten. 
Ihr Widerstand machte, daB er auf eine langere dachte. Unter den 
Augen der Residentin waren vor ihm alle ihre Sinne gesichert, nur 



244 DIE UNSICHTBARE LOGE 

das Ohr nicht - im Park keiner. Die Residentin, die wuBte, daB 
ihr Geist sich fiir jede Minute in einen neuen Korper umwerfen 
konne, indes ihre Nebenbuhlerin nicht mehr hatte als einen, in 
welchem noch dazu weiter nichts als Unschuld und Liebe steckte, 
diese sah die ganze Sache mit keinen andern Augen an als mit 
satirischen. So weit wars, als der.Fiirst in dem Hundtags-Inter- 
regnum kam und am andern Morgen statt des Zepters nichts in 
der Hand hatte als den Frisierkamm und den Kopf der Residentin. 
Er hatte es an seinem Hofe Mode gemacht; jeder Kammerherr bis 
auf den Hofdentisten herunter hatte seitdem seine preteuse de 10 
tete, um an ihrem Kopfe so viel zu lernen, als er am Kopfe einer 
schonern preteuse auszuiiben hatte - Es war ebenso notwendig, 
daB man frisierte, als daB man frisiert war. 

Ich konnt' es in der Note sagen, daB eine preteuse de tete ein 
Madcheri in Paris ist, das an einemTagehundertmal frisieret wird, 
weils die Innung daran lernen will - unmoglich kann es unter 
ihrer Hirnschale so viele Veranderungen und Versuche geben als 
iiber derselben - die Koalition und Einkindschaft der unahnlich- 
sten Frisuren ist so groB, Dappieren und Auskammen kommen 
hintereinander so schnell, oder Auf bauen und UmreiBen, daB es 20 
nur auf dem Kopfe der Gottin der Wahrheit noch arger zugehen 
kann, den die Philosophen frisieren und aufsetzen, oder in ganzen 
Staatkorpern, an denen die Regenten sich iiben. 

Am namlichen Morgen, wo unserer die Regentin coiffierte, 
sagte er der traumerischen Beata, am andern Tage komm* er mit 
dem Friseur zu ihr. Die Residentin sagte nichts als: »Die Manner 
konnen alles, aber das Leichte selten; sie wirren leichter zehn 
Prozesse als zehn Haare ein,« Beata konnte nicht reden - nachts 
konnte sie nicht schlafen. Ihr ganzes Innere entsetzte sich vor des 
Fursten Frostgesicht und stechendem Feuerblick, der (so wenig 50 
sie es deutlich dachte) die Prdliminarsiege im neuen Schlosse so 
abzukurzen brannte, als war' er im Palais royal. Am andern Mor- 
gen hatte sich ihr Wunsch, krank zu werden, beinahe in die Ober- 
zeugung, es zu sein, verwandelt, Sie sah mit lebenssatter Leerheit 
zum Fenster in das stille Land hinaus, in dem zwei Kinder des 
Hofgartners eine bunte Glaskugel herumkegelten, als der Kana- 



SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 245 

rienvogel, der auf den Achseln des Fursten wohnte und der ihn 
wie eine Mucke umflog, von seinem Kopf, der durch sechs Fenster 
von ihr geschieden war, auf ihren geflattert kam. Sie zog den Kopf 
mit dem Vogel hinein - aber auch mit dem Inhaber des Tiers, der 
sogleich ohne Bedenken kam und sagte: »Bei Ihnen hat man das 
Schicksal, zu verlieren - aber meinem Vogel konnen Sie die Frei- 
heit nicht nehmen.« Leuten seiner Art entflieBet dies alles ohne 
Akzent; sie reden mit gleichem Tone vom Sternen- und vom 
Kutschen-Himmel und von der Bewegung beider. 

10 Ohne Umstande wollt* er ihr den Pudermantel umtun ; sie nahm 
ihn aber aus andern Riicksichten selber um und sagte, sie ware 
schon fiir den ganzen Tag aufgesetzt bis aufs Pudern. Allein sie 
mochte ihren Weigerungen immerhin die schonsten Gestalten 
umgeben, die ihr sein Stand und die von ihrer Mutter anerzogene 
Hochachtung gegen sein Geschlecht befahlen : am Ende sah sie, 
sein Widerlegen sei nicht viel besser als sein Frisieren. Als er das 
letzte anfing und so nahe vor ihr stand, sah sie wieder das Gegen- 
teil. Jedes Haar wurd* an ihr zu einem Fiihlfaden, und ihr war, 
als beriihrte er ihre wunden Nerven, als ginge mit ihm eine flam- 

ao meride Holle um sie. Auf einmal quoll ihre Bangigkeit, nach den 
Gesetzen der weiblichen Natur, von der mittlern Stufe zur hoch- 
sten auf- ich mochte wissen, obs von seinen eigenniitzigen Stel- 
lungen kam, die ihm nichts halfen, oder von einem Kusse, als der 
Einnahme der Benefizkomodie, die er zu seinem Besten auffiihrte, 
oder yon ihrem Blick auf die Pyramide des Eremkenbergs, der 
ihre zagende Brust mit dem Bilde und Ebenbild ihres Bruders uber- 
fiillte - genug sie sprang fieberhaft auf, und nach den Worten : 
»sie hatre so gewiB versprochen, der Residentin den Hut aufsetzen 
zu helfen, und ware noch hier !« erwartete sie gewiB, dafl ihn dieser 

30 demiitig-stolze Vorwurf forttriebe. Er war nicht fortzutreiben. 
Dieses MiBlingen zerriB ihre zarten Krafte, und sie lehnte sich 
wankend mit dem Arme und frisierten Kopfe an die Tapete. Er, 
vielleicht gelangweilt oder froh, sie an seine Nachbarschaft ge- 
wohnt zu haben, nahm seinen Vogel und sie und fiihrte sie selber 
zur Residentin; hier holte er mit ihr das Belachen der Benefiz- 
komodie nach und so fort. 



246 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Indessen hatten sich dennoch die Qualen des auBern Kopfs in 
die Migrane des innern aufgeloset; sie blieb von der Tafel und - 
solang' er dasmal da war - auch aus dem Parke. 

Welches Ietzte zu erweisen nicht sowohl als zu erklaren war. 



ACHTUNDZWANZIGSTER ODER SlMON JuDA-SeKTOR 
Gemalde - Residentin 

Vorgestern (den 26,Oktober) war dein Namentag, Amandus! 
Hast du wohl in deinem Leben einen mit freudigen Augen ge- 
feiert? Hast du je am Ende eines Jahrs gesagt : moge das neue eben- 
so sein? - Ich will nicht darauf antworten, urn nicht trauriger zu 10 
werden.... 

Gustav sah nichts mehr im Garten, als was er nicht suchte, den 
Fiirsten und dergleichen; er trug unnotiges, d.h. verliebtes Be- 
denken, sich bei jemand iiber Beaten s Unsichtbarkeit zu erkundi- 
gen - bei den zwei Gartners-Kindern ausgenommen, die nichts 
wuBten, als daB Beata, wie er, noch immer mit ihnen tandle und 
sie beschenke. Vielleicht gab sie ihnen, weil er ihnen gab; denn er 
gab ihnen, weil sie es tat. Die einzigen Reliquien von ihr, ihre 
Spazierwege, zogen ihn desto ofter an sich. O ware doch der Kies 
weicher oder das Gras langer gewesen, damit beide ihm den 20 
matten AbriB einer Spur, daB sie dagewesen, aufgehoben hatten; 
so wiirde dieser Dornengarten seiner Unsichtbaren seinen Wun- 
schen noch groBere Fliigel, und seiner Wehmut groBere Seufzer 
gegeben haben. Denn ich muB es nur einmal dem Leser und mir 
gestehen, daB er jetzt in jenem schwarmerischen, sehnenden, 
traumenden Zustand war, der vor der erklarten Liebe ist. Dieser 
Traumfior muB uber ihm gelegen haben, da er einmal statt des 
Schlangenbachs im Abendtal^ den er zeichnen wollte, die schone 
Statue der Venus, die aus diesen Wellen gezogen schien, abge- 
rissen hatte; und zweitens, da er nicht sah, wer ihn sah - die Re- 30 
sidentin. Er kam ihr vor wie ein schones Kind, das fiinf FuB hoch 
gewachsen ist; er konnte mit alien seinen innern Vorziigen noch 



ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 247 

nicht imponieren, well auf seinem Gesicht noch zu viel Wohl- 
wollen und zu wenig Welt geschrieben war. Mit jenerscherzhaften 
Koketten-Freimiitigkeit, die die erstgeborne Tochter der Koket- 
ten-Geringschatzung des mannlichen Geschlechts ist, sagte sie : 
»Ich geb* Ihnen fur die Zeichnung das Originak und nahm die erste 
und besah sie mit schoner (iiber etwas anders) denkenden Be- 
wunderung. Oefel, dem ers erzahlte, schalt ihn, daB er nicht fein 
gesagt hatte: » Welches Originalh Denn er hatte zur lebendigen 
Venus nichts gesagt. 

io Er war es auch nicht imstande; denn sie stand vor ihm mit 
alien Reizen, die einer Juno bleiben, wenn man ihr die holde 
Farbe der ersten Unschuld nimmt, mit ihrem Pliimagen-Walde, 
den ihr in Unterscheerau hundert nachtragen, well sie mit wenigen 
meiner Leserinnen, die auch mehr Federn aufset^en^ als sie in 
ihrem Leben Federn schliefien werden, so viel herausgebracht 
haben, dafl jede Juno eine Gottin und jede Gottin eine Juno sein 
und daB man Damenkopfe und Klaviere stets bekielen miisse. 

Sie fragte ihn nach dem Namen seines Zeichenmeisters (des 
Genius); seinen eignen sagte sie ihm selbst. Sie konnte Achtung 

20 sich erwerben, bei alien ihren Fehltritten, und ihre Siinden und 
der Teufel schienen ihr nur als Kammermohren nachzutreten; ihr 
Gesicht wie ihr Benehmen trug das innere BewuBtsein ihrer nach- 
gebliebnen Tugenden und ihrer Talente. Gleichwohl merkte sie 
an der scheuen Ehrfurcht, die Gustav weniger ihrem Stande und 
Werte als ihrem Geschlecht erwies, daB er wenig Welthabe. Sie 
verlieB alle Umwege und ging ihn geradezu um eine Abzeichnung 
des ganzen Parks fur ihren Bruder in Sachsen an. Ich nenne das 
Bitte, was sie eigentlich allemal im scherzhaften Tone einer Kabi- 
nettordre an Manner komponierte — und man konnte ihren weib- 

30 lichen Ukasen nichts entgegensetzen als mannliche. 

Eine Frau trage dir nur einmal ein Geschaft auf: so bist du mit 
Leib und Seele ihr; alle deine sauern Tritte, alle deine Miihwal- 
tungen fiir sie legen sich an ihrem Bilde, das du an die Beinwande 
deines Kopfes ausgebreitet, als Reize an. Eine retten - rachen - 
lehren - schiitzen ist fast nicht viel besser (bloB ein wenig) als sie 
schon lieben. Gustav horte nie eine willkommnere Bitte. Den 



248 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Park ri6 er in kurzem ab, und er konnte den Vormittag kaum er- 
warten, an dem er ihn iiber reichen durfte. Wir wissen alle, was 
er in der Residentin Zimmer noch auBer der Residentin zu er- 
blicken suchte - aber alles, was er auBer ihr da fand, war die kleine 
Elevin (Laura) der abwesenden Beata am Silbermannischen Kla- 
vier. 

Die Residentin heftete einen langen Blick in die Zeichnung. 
»Haben Sie« (sagte sie) »Stiicke von unserem Hofmaler gesehen? 
Sie sollten sein Schuler werden und er Ihrer - er hat noch kein 
schones Portrat gemalt und noch keine schlechte Landschaft - 10 
Sie machen einen schonern Fehler und geben dem Bewohner, 
was Sie der Landschaft nehmen - in Ihrer Zeichnung sind die 
Statuen schoner als der Garten — behalten Sie Ihren Fehler und 
verschonern Sie Menschen« und sah ihn an. Meines geringen ar- 
tistischen Erachtens - denn man lieB noch keines aller meiner 
Stiicke als Akzessist in eine Bildergalerie, auch suche ich mit mehr 
Ehre solche Ausstellungen lieber offentlich zu rezensieren als zu 
bereichern - ist gerade das Gegenteil wahr, und mein Held macht 
(gleich seinem Biographen) weit bessere Landschaften als Por- 
trate. - »Versuchen Sie es«, fuhr sie fort, »mit einem lebendigen 20 
Originak - er schien verlegen iiber die Absicht ihres Rats - 
»nehmen Sie eines, das Ihnen so lange sitzt, als der Maler selber 
sitzt.« - Oefels Eitelkeit mit Gustavs Voreiligkeit hatten hier eine 
dumme Hoflichkeit zusammenbringen konnen — »Hier ! das darin 
mem' ich« - und sie wies auf einen Spiegel; jetzt wollt* er doch 
mit der palingenesierten Hoflichkeit herausfahren, ihre Gestalt sei 
iiber seinem Pinsel, als sie zum Gluck dazufiigte: »Malen Sie sich 
und zeigen Sie mirs.« - Ober eine zufallig verschluckte Sottise 
wird man ebenso rot wie uber eine herausgestoBene - du schoner, 
rotgliihender Gustav! .30 

Daher schreib' ich hier fur Kinder, die noch nicht auf Winter- 
ballen getanzt, diesen Titel aus der Kleiderordnung heraus : Leu- 
ten, die euch eine Erklarung geben woHen, eine in den Mund zu 
legen, ist ebenso unhoflich als miBlich. 

»Ich will Ihnen nur zeigen warum«, sagte sie und ging mit ihrer 
Hand den halben Weg zu seiner und wieder zuriick und nahm 



ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 249 

ihn mit durch ihr Lesekabinett, durch ihr Biicherzimmer in ihr 
Bilderkabinett. Wenn sie ging: konnte man selber kaum gehen; 
weil man stehen wollte, urn ihr nachzusehen. Bilder waren neben 
ihr noch schwerer anzuschauen. Sie wies ihm im Kabinett eine 
bunte Kette Abbilder, welche die beruhmtesten Maler von sich mit 
eigner Hand gemalet hatten und welche die Residentin aus der 
Galerie zu Flprenz kopieren lassen. »Sehen Sie, wenn Sie ein be- 
ruhmter Maler wurden - und das miissen Sie werden -, so hatt* 
ich Ihr Portrat noch nicht in meiner Sammlung.« Auf dem Fenster 

10 lag der steilrechte weibliche Sonnenschirm, ein griiner Spazier- 
facher, den er vor einem gesessenen Gericht fur Beatens ihren 
eidlich erklaret hatte - Einige Heuwagen von Wouvermans Gras, 
einige Zentner von Salvatore Rosas Felsen und eine Quadratmeile 
von Everdingens Griinden hatt* er hingeschenkt fur den bloBen 
Facher. 

Aber das ihm abgedrungne Versprechen, sich selber zu malen, 
wurde einem Natursohne wie er, welchem die Kunst noch keine 
Eitelkeit gegeben, zu erfiillen auBerst schwer. Hundert jetzige 
Junglinge zeigen mehr Kraft, sich in einer Gesellschaft vor dem 

«o Spiegel zu besehen, als er hatte, es in der Einsamkeit zu tun. Er 
furchtete ordentlich, er begehe in einem fort die Siinde der Eitel- 
keit. 

Auf diese Weise wird mein Held, der sich aus dem Spiegel zu 
holen sucht, von drei Zekhenmeistern auf einmal besehen und ge- 
malet: von dem Lebensbeschreiber oder mir - vom Romancier 
oder Herrn von Oefel,der in seinen Roman einKapitel setzt, wor- 
in er von Gustavs Liebe gegen die Bouse anonymisch handelt - 
und vom Maler und Helden selber. So muB er denn wohl wohl 
getroffen werden. 

30 Von Oefels Roman »GroBsultan« erscheinet in der Hofbuch- 
handlung ktinftige Messe nichts als das erste Bandchen; und es 
wird dem minorennen Publikum, das unsre meisten Romane Heset 
und macht, angenehm zu horen sein, daB ich in den Oefelschen 
GroBsultan ein wenig geblkkt und daB darin die meisten Charak- 
tere nicht aus der elenden wirklichen Welt, die man ja ohnehin alle 
Wochen um sich hat und so gut kennt wie sich selber, sondern 



2$0 DIE UNSICHTBARE LOGE 

meistens aus der Luft gegrifFen sind, diesem Zeughaus und dieser 
Baumschule des denkenden Romanmachers; denn wenn (nach 
dem System der Dissemination) die Keime des wirklichen Men- 
schen neben dem Samenstaub derBlumen in der Luft herum- 
flattern und aus ihr, als dem Repositorium der Nachwelt, von den 
Vatern miissen niedergeschlagen und eingeschluckt werden : so 
miissen Autoren noch vielmehr die Zeichnungen von Menschen 
aus der Luft, wo alle epikurische Abblatterungen wirklicher Dinge 
fliegen, sich holen und auf das Papier Schmieden, damit der Leser 
nicht brumme. 10 

Einige Tage war die von Bouse nicht zu sprechen, als das Ori- 
ginal seine Kopie zu ihr tragen wollte. Endlich schickte sie nach 
beiden. Sein Gesicht wurde dem gemalten sehr unahnlich, als sein 
Blick bei dem Eintritt auf seine physiognomische Schwester fiel, 
die mit der kleinen Bouse am Klaviere sang, auf Beata. Wir armen 
Teufel, die wir nicht an Stammbaumen, sondern von Stamm- 
gebiisch herauswuchsen, werden von vier Wanden so nahe an- 
einander geriickt, daB wir uns warm machen; hingegen die velou- 
tierten Wande der GroBen halten ihre Insassen so sehr als Stadt- 
mauern auseinander, und es ist darin wie in Wirtzimmern, wo * 
unser Interesse nur einige vom ganzen Haufen abloset. Beata fuhr 
also fort; und erflng an: fur ihn wars so viel, als sah' er sie durch 
das Fenster im Garten. Sein Portrat fand die giinstigste Rezen- 
sentin. Sie flog damit durch einige Zimmer hindurch. Gustav 
konnte nun seine Augen dahin tun, wo seine- Ohren langst waren : 
sein einziger Wunsch war, die Elevin ware auBerordentlich dumm 
und sange alles falsch, bloB damit die reizende Diskantistin ihr 
ofter vorsange. Es war jenes gottliche „Idolo del mio cuore" von 
Rust y bei dem mir und meinen Bekannten allemal ist, als wiirden 
wir vom lauen Himmel Italiens eingesogen und von den Wellen 30 
der Tone aufgeloset und als ein Hauch von der Donna eingeatmet, 
die unter dem Sternen-Himmel mit uns in einer Gondel fahrt.... 
Durch solche verderbliche Phantasien bring' ich mich im Grunde 
um alien wahren Stoizismus und werde noch vor dem dreiBigsten 
Jahre achtzehn Jahre alt. - 

Um so leichter kann ich mir denken, wie es dem jungen Gustav 



ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 25 I 

war, der Augen und Ohren so nahe an der magnetischen Sonne 
hatte: wahrhaftig tausendmal Iieber will ich (ich weiB recht gut, 
was ich wage) mit der Schonsten im Furstentum Scheerau ganz 
durch letztes fahren und sie nicht nur in, sondern auch (was weit 
schadlicher ist) aus dem Wagen heben; - noch mehr: Iieber will 
ich ihr das Beste, was wir aus dem poetischen und romantischen 
Fache haben, geriihrt vorlesen - ja Iieber will ich mich mit ihr aus 
einem Redoutensaale in den andern tanzen und sie, wenn wir 
sitzen, fragen, ob sie heiter ist - und endlich (starker kann ichs 

[o nicht ausdriicken) Iieber will ich den Doktorhut auftun und ihre 
matte Hand an den AderlaBstock mit meiner anschlieBen, indes 
sie, um nicht den Blutbogen iiber dem Schnee-Arm zu erbliciken, 
mir in einem fort erblassend in das Auge schauet — Iieber, ver- 
sprech' ich, will ich (Wunden hoi' ich mir freilich mehre und wei- 
tere als das AderlaBmannchen im Kalender) alles das tun, als die 
Schonste singen horen; dann war' ich leek und weg; wer wollte 
mir helfen, wer wollte meine Notschiisse horen, wenn sie in der 
ruhigsten Stellung den rechten Schnee-Arm weich iiber irgend 
etwas Schwarzes hinschneiete, die Knospe der Rosen-Lippen halb 

*o voneinander schlosse, die tauenden Augen auf ihre - Gedanken 
senkte und darein verhullete, wenn der weiche Dunen-Busen 1 
wogend wie ein weiBes Rosenblatt auf den Atem-Wellen lage und 
mit ihnen auf- und niederflosse, wenn ihre Seele, sonst in den 
dreifachen Oberzug der Worte, des Korpers und der Kleider ge- 
schlagen, sich aus alien Hullen wande und in die Wellen der Tone 
stiege und im Meer des Sehnens untersanke....? Ich sprang' 

nach. 

Gustav war noch im Nachspringen begriffen, als die Residentin 
mit iwei Portraten wiederkam. »Welches ist ahnlicher?« sagte sie 

30 zu Beata und hielt ihr beide entgegen und heftete ihr Auge statt 
auf die drei Gesichter, die zu vergleichen waren, blofi auf das, 
welches verglich. Das mitkommende war namlich das echte 

1 Denn bekanntlich ist die mannliche Brust viel harter und unbiegsamer 
und dem ahnlich, was zuweilen von ihr umschlossen wird. - Sonderbar ists, 
daB die Eltern ihre Tochter Dinge mit allem Gefuhle singen lassen, die sie 
ihnen nicht erlaubten vorzulesen. 



252 DIE UNSICHTBARE LOGE 

briiderliche und verlorne, urn das Beata an meine Philippine ge- 
schrieben hatte. »0 mein Bruder !« sagte sie mit zu viel Bewegung 
und Akzent (welches zu vergeben ist, da sie erst vom Klavier her- 
kam); unter dem schnellen Ergreifen erschrak sie so lange, bis sie 
mit einem ungezwungnen Blick iiber den Riicken des Bildes her- 
untergeglitscht war und keinen Namen darauf gefunden hatte. 
Von solchen Erdstaubchen hangt das Pochen des menschlichen 
Herzens oft ab : den Zentnerdruck der ganzenLebens-Atmosphare 
tragt und hebt es, allein unter dem schwiilen Atem einer gesell- 
schaftlichen Verlegenheit fallt es kraftlos zusammen. Wer nicht 10 
hat, wohin er sein Haupt hinlegt, leidet oft kleinere Pein, als der 
nicht hat, wo er seine - Hand hinlege. 

»Ich dachte, Ihr Bruder ware ein weitlauftiger Verwandter von 
Ihnen«, sagte die Residentin vielleicht boshaft-doppelsinnig, um 
sie in die Wahl irgendeines Sinnes zu verstricken. Allerdings 
standen der Residentin alle Worte, Ideen und Glieder so behend 
zu Gebote, daB die Kraft in Beatens und Gustavs Verstand und 
Tugend kaum, wie sonst in der Mechanik, zureichte, die Ge- 
schwindigkeit zu ersetzen. Aber Beata erzahlte standhaft, ohne 
Entschuldigung, ohne Obergange alles von diesen Bildern, was 20 
die Leser aus meinem Munde wissen. Gustav hatte eine solche Er- 
zahlung nicht liefern konnen. Die Nachricht, wie es in der Resi- 
dentin Hande gekommen, vergaB die Residentin zu geben, weil 
sie hundert Antworten dazu wuBte; Beata vergaB sie zu verlan- 
gen, weil sie das eben merkte. 

»Fiir Ihr Gesicht« - sagte sie im lustigsten Tone, in dem sie 
ohne Bedenken das Gute von ihren Reizen sagte, das andre im 
ernsthaften davon sprachen - »konnt' ich Ihnen keines geben als 
mein eignes; das muB ich aber meinem Bruder in Sachsen samt 
dem Garten schicken - malen konnen Sie es mit zum Park, damit 30 
beide Stticke einen Meister hatten.« Dem scherzhaften Tone ist 
weit schwerer etwas abzuschlagen als dem ernsthaften - hochstens 
nur wieder im lustigen ; aber zu diesem waren in Gustav alle Saiten 
abgerissen. Beata hatte die Anspielung auf den Park nicht ver- 
standen; Bouse brachte die ganze Landschaftzeichnung und fragte 
sie, was ihr am meisten gefiele. Diese war fur das Schattenreich 



NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 253 

und Abendtal (warum lieB sie. den Eremitenberg aus?). »Aber 
die Menschen im Garten?« - fuhr sie fort (die arme Inquisitin 
heftete ihren stillen Blick fester aufs Abendtal); - »besonders 
die schone Venus hier im'Abendtal?«-Sie muBte endlich reden 
. und sagte unbefangen: »Der Bildhauer wird sich nicht uber den 
Zeichner zu beschweren haben, aber vielleicht der Maler uber den 
Bildhauer; vielleicht hat auch bloB der Frost diese Venus ein 
wenig verdorben.« Die Residentin machte durch ihr Lachen und 
ihr witiiges Anblicken Gustavs ein Bonmot daraus, sie ein wenig 

10 rot, ihn flammendrot, sie durch letztes wieder roter und vollends 
durch die Antwort: »So wiirde mein Bruder auch denken, wenn 
er die Venus so bekame; Sie tun mir aber den Gefallen, meine 
Liebe, und sitzen unserem Herrn Maler mit, so kommt in unsern 
Park eine schonere Venus. Es ist mein Ernst. Die zwei nachsten 
Morgen geben Sie unsern Gesichtern, Herr von Falkenberg!« Die 
Gute schwieg; Gustav, der schon eingewilligt hatte, mit seinem 
Pinsel Bousens Antlitz zu verdoppeln, ware bej einem Haare mit 
der Anmerkung losgebrochen, Beaten ihres vermog' er nicht mit 
seinem nachzudrucken. Zum Gluck fiel ihm ein, daB sie sich zur 

20 Tafel ankleiden wiirde — (Am Sonntag uber acht Tage muB ich 
meinen Sektor mit »Denn« anfangen — ). 



NEUNUNDZWANZIGSTER ODER XXII. TrINITATIS-SeKTOR 

Die Ministerin und ihre Ohnmachten - und so weiter, 

Denn er war in jenem griinen Gewolbe, das Scheeraus groBte 
Schonheiten umfing, in Bousens Zimmer, nur vormittags; nach- 
mittags und spater rauschten durch dasselbe die Strome des Ver- 
gnugens, aus den Freudenkelchen von Freuden-Najaden ausge- 
schiittet. Der halbe Hofstaat fuhr aus Scheerau her. Bekanntlich 
hat dieser, indes das Volk nur Sahbate hat, lauter Sabbatjahre^ und 
50 die nahern Diener des Fiirsten suchen sich von den Dienern 
des Staates dadurch auszuzeichnen, daB sie gar nichts arbeiten; 
so wurden auch schon in den alten Zeiten den Gottern nur Tiere, 



254 DIE UNSICHTBARE LOGE 

die noch nichts gearbeitet hatten, auf den Altar gelegt. Ich weiB es 
recht gut, daB mehr als einer der paralytischen groBen Welt Ar- 
beit zumutet, die namlich, sich und andre in einem fort zu amii- 
sieren; diese ist aber so herkulisch schwer und nutzt alle Krafte-so 
sehr ab, daB es genug ist, wenn sie samtlich nach einer Fete mor- 
gens bei dem Auseinanderfahren oder am Tage darauf sich ver- 
stellen und sagen: »Bei alledem wars heute ein delizioser Abend 
und uberhaupt alles so brillant!« GroBe Quartanten-Theologen 
haben langst bewiesen, daB Adam vor dem Falle kein Ver- 
gniigen aus dem Essen und andern Vergnugungen geschopfet 10 
habe — unsre GroBen sind vor ihrem Falle ebenso schlimm daran 
und verrichten alles das in ihrer Unschuld, ohne den geringsten 
SpaB dabei zu haben. Ich wollt', ich konnte dem Hofstaat 
helfen. 

Ein Mensch, der eine festgesetzte Arbeitstunde (und ware sie 
nur 30 Minuten lang) hat, siehet sich fur emsiger an als einer, der 
gerade heute seinem i2sturtdigen Pensum 30 Minuten abge- 
brochen. Oefel warf sich selber seine ubertriebene Anspannung 
vor und sagte, er wiifite sich nicht zu entschuldigen, daB er jeden 
Morgen eine voile Stunde schreibe am »GroBsultan«. Erst darnach 20 
waren die ernsthaften Geschafte des Tages zu Ende; er HeB sich 
nun zum ersten Male frisieren und einstauben, um als Tagschmet- 
terling gegen alle Toilettenspiegel anzuflattern* auf den Blumen- 
kopf der Defaillante (so hieB noch die Ministerin) HeB er sich 
nieder. Alsdann HeB er sich zum %weiten Mat frisieren und be- 
fliigeln, um als bestaubter Dammerung- und Nachtschmetterling 
zwischen den Spielmarken und Schaugerichten und ihren Eben- 
bildern herumzusausen. Ich wurde auf dieses Gleichnis nicht ge- 
kommen sein, wenn mich nicht sein gehorntes und in eine Kapsel 
zusammenlaufendes Abendhaar auf die Raupen der Nacht- 30 
schmetterlinge gefuhret hatte, denen auch hinten ein Horn oder 
Zopf ansitzt - den Tagraupen sitzt nichts an, so wie sein abbre- ^ 
viertes aufgestecktes Morgenhaar es verlangte, damit sie diesem 
glichen. 

Da ich die Ministerin die Defaillante genannt, und da man ihr 
uberhaupt die Einfalt zutrauen konnte, als ob sie dem Legation- 



NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 255 

rat treuerware als er ihr, so will ich alles sagen und fiir siereden. 
Die Eitelkeit, die ihn wie eine eingeschrankte Monarchin be- 
herrschte, regierte wie eine uneingeschrankte uber sie - sie hatte 
und machte kalienische Verse, Epigrammen uhd alle schone 
Kiinste - und es ist stadtkundig, dafi sie, weil sie aufgehort hatte, 
zur schonen Natur zu gehoren, sich unter die Werke der schonen 
Kunste warf und sich aus einem Modell durch Schminke in ein 
Gematde veredelte, durch Pantomime in eine Aktrice, durch Ohn- 
machten in eine Statue. 

10 Das letzte ist der Kardinalpunkt - sie starb wochentlich und 
ofter, wie jede wahre -Christin, nicht ihrer Keuschheit wegen, son- 
dern sogar vor ihrer Keuschheit, ich meine ein paar Minuten - 
sie und ihre Tugend fielen hintereinander in Ohnmacht. Wenn 
ich uber so etwas nicht weitlaufig bin : so bin ich nicht wert, eine 
Feder zu schneiden, und der Henker soil meine Produkte holen. - 
Die Tugend also war bei der Ministerin so verdammt schlimm 
daran wie bei einem Kind die junge Lieblingkatze. Ich will von 
Tagzeiten gar nicht reden, sondern nur von Wochentagen: ich 
will setzen, an jedem Tage hatte ein andrer Antichrist und Erb- 

20 feind ihrer Tugend statt der Visitenkarte seinen Leib geschickt: 
so hatt' es etwa so gehen konnen: am Montag war ihre Tugend 
im strahlenlosen Neumond fiir Herrn v. A. - am Dienstag im 
Vollmond fiir Herrn v. B., der sagte: »Zwischen ihr und einer 
Devote ist kein Unterschied als das Alter« - am Mittwoch im 
letzten Viertel fiir Herrn v. C, der sagt: »Je la touche deja«,nam- 
lich ihre ame - am Donnerstag im ersten Viertel fiir Herrn v.D., 
der sagt : »Peut-etre que« — und so fort mit den iibrigen Feinden 
der Woche; denn jeder Gegner sah, wie seinen eignen Regen- 
bogen, so an ihr seine eigne Tugend. Ehre und Tugend waren bei 

30 ihr keine leeren Worter, sondern hieBen (ganz gegeii die Kan- 
tische Schule) der Zeit-Zwischenraum iwiscken ihrem Nein und 
ikremja y oft blofi der Ort-Zwischenraum. Ich sagte oben, sie hatte 
immer eine Ohnmacht, wenn der Montag ihrer Tugend war. Es 
lasset sich aber erklaren : ihr Korper und ihre Tugend sind an einem 
Tag und von einer Mutter geboren und wahre Zwillinge,wie die Ge- 
briider Kastor und Pollux - nun ist der erste, wie Kastor, mensch- 



2^6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

lich und sterblich, und die andre, wie Pollux, gottlich und un- 
sterblich - wie nun jene mythologische Briiderschaft es pfiffig 
machte und Sterblichkeit und Unsterblichkeit gegeneinander hal- 
bierten, um miteinander in Gesellschaft eine Zeitlang tot und eine 
Zeitlang lebendig zu sein : so macht es ihr Korper und ihre Tugend 
ebenso listig, beide sterben allezeit miteinander, um nachher mit- 
einander wieder zu leben. - Das artistische Sterben sokherDamen 
lasset sich noch von einer andern Seite anschauen: eine solche 
Frau kann iiber die Starke und die Proben ihrer Tugend eine 
Freucte haben, die bis zur Ohnmacht gehen kann; ferner iiber die i< 
Leiden und Niederlagen derselben eine Betrubnis^ die auch bis zur 
Ohnmacht reichen kann: nun denke man sich, ob eine Frau beim 
vereinigten Anfall von zwei Gemutbewegungen, wovon jede 
alleiri schon toten kann, 1 noch aufrecht zu verbleiben vermoge. - 
BekanntHch stirbt die Ehre der Damen von Welt so wenig wie der 
Konig von Frankreich, und es ist das eine bekannte Fiktion; 
wenigstens ist dieser Ehre der Tod, wie den Frommen, ein Schlaf, 
der iiber 1 2 Stunden nicht dauert. Ich kenne an unserem Hofe eine 
Art Ehre oder Tugend, die gleich einem Polypen an nichts stirbt; 
sie kann, wie die alten Gotter, verwundet, aber nicht umgebracht a= 
werden — gleich Hornschrotern zappelt sie an der Nadel und ohne 
alle Nahrung fort - Naturforscher von Stand tun oft einer solchen 
Tugend, wie Fontana den AufguBtierchen, tausend Martern an, 
an denen biirgerliche weibliche Tugenden sogleich verscheiden : 
nichts! kein Gedanke von Sterben, — Es ist eine wohltatige An- 
ordnung der Natur, dafi gerade in den hohern Damen die Tugend 
eine solche achilleische Lebens- oder Wiedererzeugkraft hat, da- 
mit sie erstlich leichter die einfachen und doppelten Bruche, 
Knochensplitterungen und Gliederabnehmungen und iiberhaupt 
das Schlachtfeld jenes Standes ausdauere - zweitens dam it jene y. 
Damen (im Vertrauen auf die Unsterblichkeit und lange Lebens- 
linie ihrer Tugend) ihren Freuden, deren physische Grenzen ohne- 
hin so enge sind, wenigstens keine moralischen zu setzen brauchen. 
Ich komme wieder zu den tugendhaften Ohnmachten oder 
erotischen Sterben der Ministerin zuriick; ich will mich aber nicht 
dabei aufhalten, dafi ich etwa sagte, wie die alte Philosophic die 



NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR t$J 

Runst sterben zu lernen sei, so sei es auch die franzosische Hof- 
Philosophie, nur aber angenehmer - oder daB ich witzigerweise 
sagte : qui (quae) scit mori, cogi nequit - oder daB ich Senekas 
Ausspruch uber Kato auf die Ministerin zdge:.majori animo re- 
petitur mors quam initur; sondern ich erzahle bloB, warum sie 
ij berall in Oberscheerau die DeYaillante heiBet - bloB darum, weil 
ein gewisser Herr auf die Frage, wie sie einen wichtigen ProzeB 
trotz dem versaumten Praklusiontermin doch gewonnen hatte, 
doppelsinnig erwiderte: en deTaillant . . . . 

io Ich komme zuriick.... Aber ich ware ein gliicklicher Mann, 
wenn die Zeit sich niedersetzte und mich heranlieBe; so aber setz' 
ich ihr, in einer Entfernung von mehren Monaten, nach; die 
Avantiiren-Fracht wird taglich schwerer; ich muB Papier zu einer 
.doppelten Geschichte — zu der jetzt geschriebnen und zu der jetzt 
vorfallenden - haben, ich angstige mich ab, und am Ende werd' 
ich mit Mtihe gelesen! - 1st mir aber zu helfen? -- 

Amandus lag damals auf dem hartesten Bette von der Welt - 
die Dornen- und Stein-Matrazen der alten Monche fiihlen sich da- 
gegen wie Eiderdunen an -, auf dem Krankenbette; sein odes 

20 Auge ruhte oft auf der Stubentiire, ob sie kein Gustav offne, ob 
nicht der Tod in der Gestalt einer Freude, einer Aussohnung ein- 
trete und die Blume seines Lebens miteinem Liebe-Druck gelinde 
niederlege; - aber Gustav lag von seiner Seite auf einem Zauber- 
bette, an das ihn ein besserer Gott als Vulkan mit unsichtbaren 
Kettchen heftete; kaum regen konnt* er sich unter seinem Draht- 
geflecht. 

Am Morgen, wo er sich vorbereitete, der Residentin das Por- 
trat und die Visite zu machen, ziindete Oefel urn ihn eine Menge 
Raketen des Witzes an und gestand ihm mit der Zufriedenheit, 

3° mit welcher ein Belletrist stets die Armut an leiblichen Giitern 
und die schwerere an geistigen, an Verstand etc., ertragt, so viel 
geradezu, er habe an Gustav die Neigung zur - Residentin viel- 
leicht eher entdeckt als beide Interessenten selbst. Jede Gusta- 
vische Verneinung war ein neues Blatt in seinen Lorbeerkranz. 
»Ich will aufrichtiger sein«, sagt' er; »ich will mein eigner Ver- 
rater werden, weil ich keinen fremden habe. Im Zimmer, wo Sie 



258 DIE UNSICHTBARE LOGE 

einen Altar haben, steht einer fur mich; es ist ein Pantheon 1 ; Sie 
knien mehr vor einem Gott als einer Gottin - ich aber finde da 
meine Venus (Beata). Ihr mangelt zu einer Mediceischen nichts 
als die - Stellung-, ich weiB aber nicht, welche Hand ich ihr dann 
in dieser Stellung kussen wiirde.« . . . Vor Gustavs reiner Seele 
flog zum Gliick dieser Klumpe von boue de Paris vorbei, in die an 
Hofen sogar gute Menschen ohne Bedenken treten; selber Schrift- 
stellern aus dieser Zone hangt dieser Schmutz noch an. 

Ihm gefiel an Beaten (und an jedem Madchen) nichts als dieses, 
daB er, wie er dachte, ihr gefalle; er wiirde die fiinfhundert 10 
Millionen Weiber auf der Erde alle Heben, wenn er ihnen alien 
gefiele, er wieder keine einzige, wenn er keiner einzigen. Er er- 
zahlte jetzt dem Gustav, durch welches Fenster er im Winterhaus 
von Beatens Herzen ihre Liebe zu ihm habe bliihen sehen. AuBer 
einem gewissen Tropf, den ich in Leipzig gekannt, und auBer einer 
Katze, die neun Leben hat, hatte keinMensch mehre Leben als er — 
er biiBte eines ein : sogleich hatt* er wieder ein frisches, ich meine, 
er hatte mehr Ohnmachten als ein andrer Einfalle. Einen solchen 
Vexier-Selbstmord konnt' er begehen, wenn er wollte und wenn 
er ihn in seinen Dramen so notig hatte als ein riihrender Theater- *o 
dichter; am haufigsten aber taten er und der Tropf in Leipzig 
sich diesen Tod in efflgie an, wenn sie unter einem Bundel Frauen- 
zimmer das herauszuvisitieren hatten, das in sie am verliebtesten 
war. Denn sie unterschieden, sagten die beiden Tr.opfe, sich samt- 
lich voneinander nicht im Dasein, sondern im Grade der Liebe 
gegen beide Ohnmachtige. Der grofite Schrecken uber den pan- 
tomimischen Schlagflufi ist, sagte das ohnmachtige Paar, das 
Notariatsiegel der groBten Liebe. Da also Oefel vor drei Wochen 
Beaten seinen Sondier-Tod vormachte: so zitterte unter alien 
Schal-Fichus, die da waren, kein so zartes und mitleidiges Herz 30 
als ihres, das weder fremden Betrug noch eigne Harte kannte. 
Gleichgiiltig legte sich Oefel in den optischen Tod; verliebt stand 
er wieder auf, und er hatte mit seiner scheinbaren Ohnmacht bei- 
nahe eine wahre gewirkt. »Ich konnte sie nur seitdem nicht da- 

1 Im romischen Pantheon standen nur iwei Gotter, der Mars und die Ve- 
nus. 



NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 259 

ruber sprechen«, sagt' er. Gustav kampfte mit einem groBen 
Seufzer nicht iiber Oefels gefuhllose Eitelkeit, sondern iiber sich 
selbst und iiber Oefels Gliick. »0 Beata, in dieser Brust« - redete 
sie sein Innerstes an - »hattest du ein verschwiegneres und auf- 
richtigeres Herz gefunden, als das ist, das du ihm vorziehest - es 
wiirde sein Gliick verborgen haben, wie jetzt seine Seufzer - es 
ware dir ewig treu geblieben - ach es wird dir doch treu bleiben!« 
- Dennoch empfand er das Ekelhafte in Oefels Eitelkeit nicht 
ganz, weil ein Freund sich unserem Ich so sehr inokuliert und da- 

10 mit verwachset, dafi wir seine Eitelkeit so Ieicht wie unsre eigne 
und aus gleichen Griinden iibersehen. 

Da es meinem Gustav im Buche wie im Leben gehen kann, so 
hatt* ich folgende Anmerkung noch eher machen sollen: niemand 
war leichter zu verkennen als er - alle Strahlen seiner Seele brach 
die Wolkenhiille milder Demut, ja seitdem Oefel ihm Stolz auf 
dem Gesichte vorgeworfen, sucht* er gerade so demiitig auszu- 
sehen, als er war - sein AuBeres war still, einfach, voll Liebe, ohne 
Anspriiche; aber auch ohne durchbrechenden Witz und Humor — 
Phantasie und Verstand arbeiteten in ihm, wie in einem einsamen 

zo Tempel, Altarblatter mit groBen MaBen und lieBen mithin nicht, 
wie andre, Dosenstiicke und Medallions von der Zunge purzeln - 
er war, was Descartes von der Erde glaubt, eine inkrustierte 
Sonne, aber unter den phosphoreszierenden Lichtern des Hofes 
ein dunkler Erdkorper - er war das auBere Gegenteil von Otto- 
mar, der mit seiner Sonne seine Kruste durchgebrannt hatte und 
nun vor den Leuten stand blitzend, knisternd, gliihend, anreiBend, 
einaschernd und ausbriitend - Gustavs Seele war ein gemaBigtes 
Land ohne Stiirme, voll Sonnenschein ohne Sonnenhitze, ganz 
mit Griin und Knospen iiberzogen, ein magisches Italien im Herbst ; 

jo Ottomars seine aber war ein Polarland, das sengende Iange Tage, 
lange Eis-Nachte, Orkane, Eis-Berge und Tempische Taler-Fiille 
durchstrichen. — 

Der Gustavischen Bescheidenheit kam also nichts natiirlicher 
vor, als daB Beata einen, der seinen Geist und Korper so gut zu 
zeigen wuBte, iiber ihn stellte, der beides nicht konnte und der da- 
zu einmal ihren Vater halb tot geargert hatte. Sein Blut ging mit- 



260 DIE UNSICHTBARE LOGE 

hin langsam traurig, da er zur Residentin schlich. Es war ihm, als 
konnt' er heute sie als seine Freundin ansehen - das tat er wirk- 
lich halb, als sie ihm noch dazu ein ebenso trauriges Air und Ge- 
sicht entgegentrug, dem ahnlich, in dem eine Frau eine Woche 
nach dem Verlust ihres Geliebten mit leeren Augen und erkalteten 
Wangen am meisten riihrt. Es sei, sagte sie, der Sterbetag ihres 
jiingsten Bruders, den sie und der sie am meisten geliebt. Sie lie 6 
sich in Trauerkleidung malen. Nichts wirkt starker als der Lustige, 
der einmal in die Halbtone des Kummers fallt. Gustav hatte iiber- 
haupt zu viel Zuneigung fur Menschen, in deren Ohren das i 
Trauergelaute irgendeines Verlustes widertonte; ein Ungliick- 
licher war ihm ein Tugendhafter. Die Residentin sagte ihm, sie 
hofFe, er werde den heutigen Kummer aus ihrem wirklichen Ge- 
sichte wegmalen und ihn bloB ins gemalte bannen — sie habe des- 
wegen diese Zerstf euung auf heute verlegt - morgen sei ihr ge- 
wiB besser - sie spielte nachlassig mit der bloBen rechten Hand 
einige Tanze, aber nur ein paar Takte und mit vergeblichem 
Kampfe gegen ihren Triibsinn - er sollte ihr etwas erzahlen, eh* 
er anfinge, damit er nicht einem Gesicht, das sie nur ein paar Tage 
im Jahr truge, ein ewiges Leben in seinen Farben gabe. Aber er 20 
hatte noch am Hofe weder StofF noch Manier zu erzahlen ge- 
wonnen — endlich fiel sie auf seine unterirdische Erziehung. BloB 
ihrem heutigen Gesichte war er so etwas in dem Wolkenbruch 
von HerzergieBung, den er seit Amandus' Groll entbehret hatte, 
zu erzahlen fahig. Da er fertig war, sagte sie: »Zeichnen Sie nur; 
Sie hatten mir etwas anders erzahlen sollen.« 

Sie nahm ihre kleine Laura auf den SchoB - dem Fursten, der 
ein leidenschaftlicher Tiermaler ist, muBte sie statt mit der Kleinen 
mit einem Seidenpudel sitzen - welche Gruppe fallt aber jetzt sein 
Auge, sein Herz und seine Zeichenfeder an, um diese drei Dinge 30 
zu verrucken ! Sie zittern wenigstens alle, indem die Mutter die 
Handchen der Laura in eine malerische und kindliche Umschlin- 
gung legt - indem sie schweigend, traurend, mit den Lippen- 
wellen gegen den Kummer des Auges streitend, ihm denkend in 
das seine blickt und mit der nachsten Hand das Haar der Kleinen 
spielend krummt Wahrhaftig zehnmal dacht' er: wenn ein 



NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 26l 

Engel einen Korper umtun wollte, der menschliche ware nicht zu 
schlecht dazu, und er konnte in dieser Reise-Unifcrm in jeder 
Sonne erscheinen! 

Seine Zeichnung wurde so trefFend, daB der Residentin viel- 
leicht ein paar Unahnlichkeiten lieber gewesen waren - sie hatten 
groBere Ahnlichkeit ihres zweiten Bildes in ihm angesagt. Sie kam 
' jetzt durch sanfte, nicht wie sonst scherzhaft-springende Ober- 
gange von seinem Maler-Lohn und von den Nachteilen seiner Er- 
ziehung auf die Vorbereitungen zu seiner Legationrolle - sie 
10 deckte ihm, aber mit langsamer vertraulicher Hand, seinen Mangel 
an Welt auf- sie bot ihm ihren Zutritt zu sich an und Iud ihn zum 
Souper auf morgen ein. - »Aber vormittags«, setzte sie lachelnd 
hinzn, »kommen Sie nicht schon; Beata will durchaus nicht ge- 
malet sein.« 

Der Leser hat im ganzen Buche noch nicht drei Worte 

reden oder schreiben diirfen: jetzt will ich ihn ans Sprachgitter 
oder ins Parloir lassen und seine Fragen nachschreiben. »Was hat 
denn« - fragt er - »die Residentin vor? Will sie aus Gustav ein ge- 
zahntes Kammrad schnitzen, das sie in irgendeine unbekannte 
jo Maschine setzet? - Oder bauet sie den Jagerschirm und zwirnt 
die Prallnetze, urn ihn zu fallen und zu fangen? - Wird sie wie jede 
Kokette dem ahnlich, der ihr nicht ahnlich werden will, wie nach 
Platner der Mensch das, was er empfindet, so sehr wird, daB er 
sich mit der Blume buckt, und mit den Felsen hebt?« 

— Der Leser bemerke, daB der Leser selber hier Witz hat, und 
gehe weiter! — 

»Oder« (geht er also weiter) »geht die Residentin nicht so weit, 
sondern will sie aus Edelmut, woriiber man oft die optischen 
Kunststucke ihrer Koketterie verzeiht, den schonsten uneigen- 
50 nutzigsten Jiingling aus den schonsten uneigenniitzigsten Griin- 
denaufsuchen und ausbilden?-Oder konnens nicht auch alles bloBe 
Zufalle sein - und nichts leuchtet mir so ein -, an welche sie, als 
Rennerin durch Lusthaine, die flatternde Schlinge eines halben 
Planes fliehend befestigt, ohne in ihrem Leben am andern Tag 
nach dem strangulierten Fang der Dohnenschnait im mindesten 
zu sehen? - Oder irr' ich ganzlich, lieber Autor, und ist vielleicht 



262 DIE UNSICHTBARE LOGE 

von alien diesen Moglichkeiten keine wahr?« - Oder, lieber Leser, 
sind sie alle auf einmal wahr, und du erratest darum eine Launen- 
hafte nicht, weil du ihr weniger Widerspriiche als Reize zutrauest? 
— Der Leser bestarket mich in meiner Bemerkung, daB Personen, 
die niemals die Gelegenheit haben konnten, der groBen Welt 
tagliche Klavierstunden zu geben (wie z.B. leider der sonst treff- 
liche Leser), zwar alle mogliche Falle irgendeines Charakters vor- 
zurechnen, aber nicht den wirklichen auszuheben vermogend sind.— 
Obrigens verlasse sich der Leser auf mich (der ich schwerlich ohne 
Grund Vorziige verkleinern wiirde, die mir selber ansitzen), iib- 10 
rigens hat er die Armut an gewissen konventioncllen Grazien, an 
gewissen leichten modischen und giftigen Reizen, die ein Hof nie 
versagt, weit weniger zu bedauern, als andre Hof linge - der Autor 
wiinschte, nicht darunter zu gehoren - ihren Reichtum an der- 
gleichen GiftnSpezies wirklich zu beklagen haben; denn auf diese 
Art blieb er ein ehrlicher und gesunder Mann, der Herr Leser; 
aber wer ihn kennt, wiirde der Burge gewesen sein, daB er, falls 
alle Bander und Ziigel der groBen Welt an ihm gezuckt und ge- 
zogen hatten, auBer seiner Ehrlichkeit auch seine Unahnlichkeit 
mit den Leuten von Ton behalten hatte, die die MiBhandlung des ao 
schonsten Geschlechts mit verlorner Stimme und verlornen Wa- 
den biiBen, wie (nach den altesten Theologen) die Weiber-Ver- 
sucherin, die Schlange, die vorher reden und gehen konnte, durch 
die aktive Verfuhrung Sprache und Beine verscherzte?... 



Dreissigster oder xxiii.Trinitatis-Sektor 

Souper und Viehglocken 

Heut* arbek' ich im Hemd wie ein Hammerschmied, so abscheu- 
lich lang und schwer ist der dreiBigste Sektor. - Da Gustav von 
Oefel erfuhr, daB ein kleines Souper bei der Residentin so viel 
heiBe wie bei uns das groBte, so teilte er in seinem Kopf, eh' er es 30 
zieren half, Personen und Rollen aus, und sich die langste: - den 
einzigen Fehler beging er allemal, daB, wenn er endlich auf die 



DREISSIGSTER SEKTOR 263 

Buhne kam und spielen sollte, er nicht spielte. Eh' er in eine groBe 
Gesellschaft ging, wuBt' er Wort fur Wort, was er sagen wollte; 
kam er wieder heraus, so wuBt' er (in der Kulisse) auch, was er 
hatte sagen sollen - aber gesagt hatt' er darin weiter nichts. Es 
kam nicht von Menschenfurcht; denn es war ihm fast Ieichter, 
etwas Kiihnes als etwas Witziges zu sagen; sondern davon kams, 
daB er das Gegenteil einer Frau war. Eine Frau lebt mehr auBer 
als in sich, ihre fuhlende Schnecken-Seele legt sich fast aufien um 
ihre bunte Korper-Konchylie an, sie zieht ihre Fuhlfaden und 

10 Fiihlhorner nie in sich zuriick, sondern betastet damit jedes Luft- 
chen und krumrnt sie um jedes Blattchen - mit drei Worten: das 
Geftihl, das der Arzt Stahl der Seele von der ganzen Beschaffen- 
heit ihres Korpers zuschreibt, ist bei ihr so lebendig, da sie in 
einem fort fiihlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band 
auf liegt, welchen Zirkelbogen die gekrummte Hutfeder beschreibt 
- mit zwei Worten: ihre Seele fiihlt nicht nur den Tonus aller 
empfindlichen Teile des Korpers, sondern auch den der unemp- 
findlichen, der Haare und der Kleider - mit einem Worte: ihre 
innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck der auBern. 

20 Bei Gustav aber nicht; seine innere Welt steht weit abgerissen 
neben der auBern, er kann von keiner in die andre, die auBere ist 
nur der Trabant und Nebenplanet der innern. Seiner Seele - in 
den Gehirn-Weltglobus, den der Hut bedeckt, eingesperret - 
verbauen die bunten eignen Gewachse, auf denen sie sich wiegt 
und vergisset, die Aussicht auf die Gegenstande jenseits ihres 
Korpers, die nur diinne Schatten auf ihre Gedanken-Auen werfen; 
sie steht also die auBere Welt nur dann, wenn sie sich ihrer erinnert; 
dann ist diese in die innere versetzt und verwandelt. Kurz Gustav 
beobachtet nur das, -was er denkt, nicht was er empfindet. Daher 

30 weiB er niemals seine Ideen und Worte mit den voriiberschieBen- 
den Ideen und Worten andrer Leute zu amalgamieren. Der Hof- 
mann schraubt auf und zu, und die Kaskaden seines Witzes sprin- 
gen und schimmern - Gustav hingegen wirft erst den Eimer in 
den Ziehbrunnen und will darin den Trunk mit der Zeit heraus- 
driicken. - Eine feinere Ursache geb' ich unten an. 

Oefel riihmte ihm am Morgen dieses wichtigen Souper so viel 



264 DIE UNSICHTBARE LOGE 

von Beaten vor, er wiirde heute ihr coeur so sehr im Gleichge- 
wichte mit dem esprit der Residentin sehen, - daB er alles Sehen 
verwiinschte und einen zweiten Grund bekam, sein schweres Herz 
ins stille Land zu tragen. Sein erster war: er schickte sich allemal 
zu einer groBen Gesellschaft dadurch an, daB er vorher in die 
groBte ging - unter den groBen blauen Himmel. Hier unter ko- 
lossalischen Sternen, an der Brust der Unendlichkeit, lernt man 
sich erheben iiber metallene Sterne neben das Knopf loch genaht; 
von der Betrachtung der Erde bringt man Gedanken mit, durch 
die man die Erdstaubchen, die man Menschen nennt, kaum wir- 10 
beln sieht - und die farbigen Gold-Insekten, womit sich das Ge- 
wachsreich musivisch stickt, werden von der Gold- und Juwelen- 
stickerei der Hofpracht nicht ubertroffen, nur nachgeahmt. - 
Gegenwartiger Verfasser stattete allemal dem groBen Erd- und 
Himmelzirkel einen Besuch vor und einen nach dem Besuche ab, 
den er einem kleinern Cercle machte, damit der groBe die Ein- 
driicke des kleinen verhutete und verloschte. 

Ich werde rot, wenn ich mir denke, wie unbehiilf lich sich mein 
Gustav durch zwei Vorzimmer in einen Salon mag haben fuhren 
lassen, wo wenigstens schon an sieben Spieltischen Streiter saBen. 20 
Feinheit der Denkart ist Anlage, Feinheit des Ausdrucks ist eihe 
Frucht, wozu nicht gerade Hofgartner notig sind; aber Feinheit 
des auBern Anstands ist nirgends zu holen als da, wo sie alles gilt— 
in der grofien Welt voll Mikrokosmen. Sollt* ich von letzterer 
Feinheit mehr aufzuweisen haben, als man gewohnlich bei meinem 
Advozier-Stand sucht: so bin ich nie soeitel,sieausetwasanderem 
abzuleiten als aus meinem Leben -am Scheerauer Hof. - Die Resi- 
dentin (Beata ohnehin nicht) spielte selten, und mit Recht; eine 
Frau, die mit ihrem Gesichte andre Herzen gewinnen kann als 
lackierte auf der Karte und die den Mannern einen andern Kopf 30 
nehmen kann als den auf Metalle gedriickten, tut tibel, wenn sie 
sich mit dem Kleinern begnugt, sie miiBte denn mit den schonsten 
Fingern tailiieren und coupieren konnen, die ich noch in weib- 
lichen Handschuhen und Ringen gesehen. Vor dem funfzigsten 
Jahfe sollte keine spielen und nach ihm nur die, die der Mann und 
die Tochter verspielen sollte. - Hingegen der poetische Gladiator, 



DREISSIGSTER SEKTOR 265 

Herr von Oefel, diente unter der Armee, die (nach dem Mode- 
journal) in jeder Winternacht 12000 Mann stark ist in den vor- 
dern deutschen Reichskreisen - namlich mit und gegen L'hombre- 
Spieler. Die Residentin war eine brillante Sonne, der immer Beata 
als Abends tern nachzog. Sanfter holder Hesperus am Himmel! du 
wirfst deine Strahlen-Silberflitter auf unser Erden-Laub und 
schlieBest leise unser Herz fiir Reize auf, die so sanft wie deine 
sind! Alle Sommerabende, die mein Auge in Traumen und Er- 
innerungen auf deinen fiber mich erhohten Unschuld-Auen ver- 

, lebte, belohn* ich dir, versilberter schonster Tautropfe in der 
blauen Ather-Glockenblume des Himmels, indem ich dich zu 
einem Bilde der schonen Beata mache ! - O konnt* ich doch ihre 
Heiligengestalt aus memem Herzen heben und hieher auf meine 
Blatter legen, damit es der Leser sahe, nicht bloB begriffe, wie von 
der junonischen Bouse, aus der alle weibliche Reize brechen, 
selber seltene Uneigenniitzigkeit, doch aber Unschuld und weib- 
liche bescheidne Zuruckge^ogenheh nicht, wie von ihr alle diese 
holzernen Strahlen abfallen, wenn sich neben ihr mehr verhiillt als 
zeigt Beata, welche iiber die heftigsten weiblichen Wiinsche den 

, innern Sieg erhalt und doch weder Sieg noch Kampf verrat - die, 
ohne Bousens Trauer-Hiilse und Trauerspielen, ein erweichtes 
Herz dir gibt und deinen Blick unwiderstehlich beherrschet - und 
mit der du im Mondschein gehen kannst, ohne sie oder den Nacht- 
himmel auf der Erde minder zu genieBen ! - Gustav fiihlte noch 
mehr als ich; und ich fuhle in meinen biographischen Stunden 
wieder mehr als sonst in meinen musikalischen. — 

Bei Gelegenheit! wenn sie essen: werd* ich auch die iibrigen 
Gaste abfarben. Unter dem gesellschaftlichen Tumult, der sowohl 
Gustavs Sinnen als Ideen betaubte, fiel freilich nur Beatens halbes 
Sonnenbild in seine ISeele. Aber nachher freilich! - Vorher aber 

o 

lagen beide mit der Residentin unter dem Fensterbogen, die iro- 
nisch Gustaven vor Beaten entschuldigte, daB er heute nicht mit 
dem Pinsel gekommen - eine Menge zufalliger Zwischenredner 
zu geschweigen. Die Residentin wurde ihnen entrissen; die nahe 
und einsame Stellung notigte beide zum Sprechen und Beaten 
zum Bleiben. Gustav, der schon vor der Assemblee im Kopfe 



266 DIE UNSICHTBARE LOGE 

hatte, was er sagen wollte, sagte nichts. Aber Beata endigte das 
vorige Gesprach iiber das Abzeichnen und sagte : »Wenn Sie mich 
nicht schon entschuldigt haben, so kann ich mich nicht entschul- 
digen.« Ein andrer von mehr Wendung hatte geradezu Nein ge- 
sagt und so im Scherze, der keine Verlegenheit zulieB, die Faden 
der Vogelspinne um das arme Kolibri herumgewunden. - Gustav 
hatte zu starke Gefiihle, um hier zu scherzen. An einer Menge 
schwerer Materien, wovon euch alle Handhaben abbrechen, halt 
bloB die des Scherzes fest, und ihr konnt sie damit regieren; be- 
sonders wenn ihr mit Madchen unter Fensterbogen sprecht. 10 

Gustav suchte Iangst Gelegenheit, Beaten andre Teile seiner 
Seele zu zeigen, als damals in der Korn-Sache zum Vorschein ge- 
kommen; jetzo hatt' er die Gelegenheit, obwohl keine Mittel ge- 
habt, wenn nicht der Park mit dem Abend-Schmuck sich vor das 
Fenster gelagert hatte. Aber Natur-Schonheit war die einzige 
Sache, woriiber er mit andern Schonheiten begeisternd und be- 
geistert sprechen konnte; - und er konnte am frischesten alle 
Weltreize in einen Morgen zusammendrangen, wenn er seinen 
Eintritt aus der Erde hinauf in das hohe Weltgebaude beschrieb. 
Auf jedes Wort und Bild, das er sagte, oder sie zuriickgab, war 20 
eine Seele gepragt, die sie einander zugetrauet hatten. Plotzlich 
schwieg er mit weiten glanzenden Augen - ihm war, als gehe in 
seiner Seele ein Zauber-Mond auf und scheine iiber ein weites 
dammerndes Land und ein Engel seiner Kindheit steh* im Bluten- 
lande und nehm' ihn in seine Arme und driick' ihn so an sich, daB 
das Herz an ihm zerflosse .... Und worauf ruhte dieses innere 
Landschaftstuck? - Worauf das beriihmte StraBburger Uhrwerk 
ruht - auf einem Tierhals: dieses liegt namlich auf einem Pega- 
sus-Nacken; seines trugen die Halse des zufallig vor dem Schlosse 
heimgehenden Weideviehs, an denen solche Glocken hingen, die 30 
denen der Herde Reginens ahnlich klangen und die mithin die ganze 

Jugendszene mit ihren Tonen wieder in seine Seele setzten 

In einer solchen Stimmung hatt' er in einer National- Versamm- 
lung geredet; auch machte der Tumult, der beide einfaBte, sie ein- 
samer und vertraulicher : kurz er erzahke ihr mit Feuer und histo- 
rischen Auslassungen seine Schaferei mit einem Lamm auf dem 



DREISSIGSTER SEKTOR 267 

Berg. - Dieses Schwarmen steckte sie (wie jedes alle Weiber) so 
sehr an, daB sie anfing - zu schweigen. 

Die Not zwang beide, jetzt einen auBern Gegenstand (wie ein 
Schwert im fiirstlichen Bett) zwischen ihre zusammenflieBenden 
Seelen zu bringen - sie sahen auf die beiden Gartners-Kinder 
unten hinab, und zwar so begierig, daB sie nichts sahen. Der Junge 
sagte : »Mich hat das Fraulein (Beata) so lieb« und streckte beide 
Arme auseinander - das Madchen sagte: »Mich hat der Herr 
(Gustav) so groB lieb, wie das SchloB« - »und mich<<, replizierte 

10 er, »so groB wie den Garten« - »und mich«, exzipierte das Mad- 
chen, »so groB wie die ganze Welt.« Dariiber konnten die Fliigel 
des Jungen nicht hinaus, und hatten seine Schwanzfedern uber 
den Katheder-Horst hinausgestochen. Jedes zahlte dem andern 
die Liebepfander, die es von den oben uber gegenseitiges Lob er- 
freueten Zuhorern erhalten hatte, und sagte bei jedem Stuck: 
»Hast du das g'kriegt?« — 

Mit jenem hastigen Sprung der Kinder zu einem neuen Spiel 
sagte das Madchen: »Jetzo muBt du der Herr (Gustav) sein; und 
ich will das Fraulein (Beata) sein. Jetzo will ich dich liebhaben, 

20 nachher muBt du mich.« Sie strich ihm sanft die Backen und dann 
die Augenbraunen und endltch die Arme und manipulierfe den 
Herrn. »Jetzo mich!« sagte sie mit schnell herunterhangenden 
Af men. Der Junge warf seine Arme so eng urn ihren Hals, daB 
die zwei Ellenbogen sich durchschnitten und schurzten und als 
iiberflussige Bandschleifen uber den Liebeknoten hinausragten; 
er kiiBte sie derb. Plotzlich fand ihre kritische Feile einen ver- 
dammten Anachronismus an diesem historischen Schauspiele, 
und sie sagte fragend: »Ja, der Herr und das Fraulein haben sich 
ja nicht lieb?« ^ 

30 Das warzu viel fur die Frontloge oben, die zugleich das Audi- 
torium und das Original der kleinen Spieler war, und die Kop'te 
derselben zu werden in Gefahr geriet. Gustav hielt das Augenlid 
gewaltsam offen, damit es das Wasser, worin sein Auge stand, zu 
keiner sichtbaren auf die Wange fallenden Trane vereinigte - und 
die geriihrte Beata lieB, ohne oder mit Absicht, ihre Rose abge- 
knickt zu Boden zittern : er biickte sich nach ihr lange und lieB 



268 DIE UNSICHTBARE LOGE 

seine Trane verborgen wegsinken; aber da er ihr die Rose gab 
und beide furchtsam die gesenkten Augen auf der Blume ver- 
steckten und hefteten und da sie ein herspringender Tropf unter- 
brach: so standen plotzlich ihre aufgeschlagnen Augen einander 
wie der aufgehende Vollmond der untergehenden Sonne gegen- 
iiber und sanken ineinander, und in einem Augenblick unaus- 
sprechlicher Zartlichkeit sahen ihre Seelen, daB sie einander - 
suchten. 

Der springende Tropf war Oefel, der Beatens Arm haben 
wollte, sie in den Speisesaal zu fiihren. Jetzt, Leser, trag' ich dir 10 
statt lebendiger Rosen (wie unser Seelen-Paar ist) lauter in Butter 
gesottene Rosen auf. Sechs- oder siebenundzwanzig Gedecke, 
glaub' ich, waren. Ich will hier statt eines Kuchenzettels einen 
Passagierzettel der Gaste verfertigen. Erstlich waren am Tische 
und im Schlosse zwei keusche Menschen - Beata und Gustav; 
welches ein Beweis ist, daB schone Seelen an alien Orten wachsen, 
sogar an den hochsteni so lieB der Kaiser Joseph jahrlich einige 
Nachtigallen in den Augarten werfen, damit man da was horte. 

Nro. 2 war der Furst, der in seinem kurzen Leben mehr Weiber 
in der Nahe gesehen als der Ochs Apis, dessen Leben doch so lang 20 
war wie das agyptische Alphabet. Er war an dieser Tafel, was er 
auf seinen Reisen an mancher table d'hote nicht zu sein vermochte, 
der Bruder Redner und der Hauptwind unter 63 andern Neben- 
winden. Seine Krone hatten samtliche Damen auf. 

.Nro. 3 war sein apanag'ierter Bruder, den der gekronte haBte, 
nicht weil er zu viel Volkliebe hatte und verdiente, sondern weil er 
einmal todkrank war und nicht starb, sondern von der Apanage 
fortlebte. Das Gerippe dieses Bruders wurde den Fursten, wie ein 
jedes Gerippe Agypter und Griechen, zu einem freudigern GenuB 
des Gastmahls uberredet haben. 30 

Nro. 4 war ein Michaelisritter aus Spaa (Herr v. D.), dessen 
Ordenstern in Scheerau noch Strahlen abschickte, nachdem er in 
Paris Iangst vernichtet war. So sagt Euler, daB ein Fixstern am 
Himmel noch wegen seiner Entfernung sein Schimmern fort- 
setzen kann, ob er gleich Iangst eingeaschert worden. 

Nro. 5 war Cagliostro, der unter so vielen pointierenden Kopfen 



DREISSIGSTER SEKTOR 269 

das Schicksal der Arzte und Gespenster und Advokaten hatte, 
daB seine offentlichen Spotter zugleich seine geheimen Jiinger und 
KHenten sind. 

Nro. 6 war mein Gerichtherr von Roper, der, weil er mit dem 
Fiirsten etwas zu sprechen hatte, dageblieben war. Er war der 
einzige im ganzen EBkonvent, der zweierlei tat: erstlich da8 er 
alle Weinsortiments des Bousischen Wein-Inventariums sich 
reichen lieB, urn von alien Weingutern der Residentin denjenigen 
deutlichen oder doch klaren Begriff in seinen Magen zu bringen, 
10 worauf die altern Logiken so sehr dringen - iweitens daB er einen 
so groBen Wert auf das frikassierte, marinierte etc. Essen legte, 
als wenn ers gabe und nicht bekame, und immer hoflicher und 
gebiickter wurde, je satter und voller er wurde, gleich einer Wurst, 
die sich krummt, wenn man sie fiillet. 

Nro.7, 8, 9 waren zwei grobe Regierungrate** und eingrober 
Kammerprasident*, wovon die zwei ersten den ganzen Hof ver- 
achteten, weil er keine andern Pandekten im Kopfe hatte als tite- 
rarische^und der dritte, weil er sich es ausmalte, wie viel Pensionen 
und Gagen der ganze Hof ohne die Kammer, d.h. ohne ihn wohl 
20 hatte, und samtliche drei, weil sie glaubten, sie hielten den Thron, 
ob sie gleich nichts hatten tragen konnen als in Salomons Tempel 
das - eherne Meer. 

Nro. 10 war die Residentin, die sich nach dem Tone eines jeden 
stimmte und doch durch ihren eignen sich von alien Weibern 
unterschied - gleich dem Konig Mithridates redete sie die Sprachen 
aller ihrer Untertanen. 

Nro. 11,12 war eine durchreisende Abtissin und eine verwit- 
tibte Fiirstin von**, die ihrem Stande gemaB einsilbig und hau- 
tain waren. 
30 Nro. 13 war die Defaillante, deren groBte Reize und Anzieh^- 
kraft in den kleinen FuBen angebracht waren, wie in den zwei 
FiiBen eines armierten Magneten. Der Kopf, ihr zweiter Pol, 
stieB ab, was der untere zog. 

Nro. 00000 gehen mich nichts an ; es waren alte, in den Schmink- 
salpeter eingepokelte Damen-Gesichter, denen aus dem SchifF- 
bruch ihres untergesunknen Lebens nichts geblieben war als ein 



XJO DIE UNSICHTBARE LOGE 

hartes Brett, auf dem sie noch sitzen und herumfahren, namlich 
der Spieltisch. 

Nro.ooooo gehen mich auch nichts an; es waren eine Garbe 
Hofdamen, verschnittene Spaliergewachse an den Tapeten, oder 
vielmehr Einfassunggewachse um fruchtbare Beete - sie hatten 
Witz, Schonheit, Geschmack und Betragen, und wenn man zur 
Fliigeltur hinaus war, hatte mans schon wieder vergessen. 

Nro. oooo war eine Kompagnie Hof leute, mit roten und blauen 
Ordenbandern durchschnitten, welche an ihnen wie die rote und 
blaue Farbe des Spiritus in Thermometern stehen, damit man ihr 10 
Steigen besser sehen kbnne - die gleich dem Silber glan\ten und 
alles, was sie beriihrten, schwar^ machten - die keinen hohern und 
breitern Himmel sich denken konnten als den Thronhimmel und 
keinen groBern Tag im Jahr als einen Courtag - die in ihrem Le- 
ben weder Vater waren, noch Kinder, noch Ehegatten, noch Brii- 
der, sondern bloB Hofleute — die Verstand hatten ohne Grund- 
satze, Kenntnisse ohne Glauben daran,Leidenschaften ohne Krafte, 
satirisches Gefuhl der Torheiten ohne HaB derselben, GefalHg- 
keit ohne Liebe und Freimutigkeit zum SpaB - deren Echtheit 
man wie die des Smaragds daran priift, daB sie wie er kalt bleiben, 20 
wenn man sie mit dem Munde erwarmen will - und die, die Wahr- 
heit zu sagen, der Satan schildern mag und nicht ich.... 

Oefel war zwischen Beata und die Ohnmachtige eingemauert; 
Gustav wars ihnen gegeniiber zwischen zwei kleine witzige Dam- 
chen : aber er vergaB die Nachbarschaft seiner Arme iiber die sei- 
ner Augen. Aus Oefels Gliedern schossen Witzfunken, als wenn 
ihn die Seide, die ihn umlag, elektrisieren halfe. Die Ohnmachtige 
war ihrer Lehnherrschaft uber ihn so gewiB, daB sie es fur keinen 
Lehnfehler ansah, wenn ihr Lehnmann Beaten, seiner Teller- 
Nachbarin, die schonsten Dinge sagte; »Er wird sich« (dachte sie) 30 
»argern genug, daB er aus Hoflichkeit nicht anders kann.« Dem 
Herrn von Oefel war am Ende nie um etwas anders zu tun als um 
den Herrn von Oefel; er lobte, nicht um seine Achtung, sondern 
um seinen Witz und Geschmack auszukramen; er unterdriickte 
weder Schmeicheleien noch Satiren, wenn sie gut und ungegrun- 
det waren; er tadelte die Weiber, weil er beweisen wollte, er er- 



DREISSIGSTER SEKTOR 27I 

riete sie, und weil er das fur schwer hielt; und ich halte ihn fur 
einen Narren. 

Drei Bergbohrer setzte er gewohnlich an einem Madchenherzen 
an, um eine Liicke darein zu bringen, in die er das SchieBpulver 
legte, womit er die vererzte Liebeader aus dem Madchen hervor- 
sprengen wollte. Seine erste Miniergrube, die er heute wie allemal 
im weiblichen Herzen lud, war bei Beaten, daB er mit ihr lange 
von ihrem Anzug sprach - es ist ihnen, behauptete er, einerlei, ob 
man von ihren Gliedern oder ihren Kleidern redet; aber ich be- 

10 haupte, die HaBliche tragt ihren Anzug als ihre Frucht, die Ko- 
kette als die bloBe Gartenleiter oder den Obstbrecher und die Gute 
als das Laub def Frucht. Beata trug ihn wie Eva als Laubwerk. 

Zweitens stellte er urn Beaten die Schlag- und Garnwande der 
Metaphern, um sie darin zu jagen - er behauptete, wie die Mad- 
chen das singen, was sie nie sagen wiirden (gleich denen, die zu 
stammeln aufhoren, wenn sie zu singen anfangen), so lassen sie 
in Bildern und Allegorien alle die Gestandnisse ihres Innern aus 
sich winden, die man ihnen mit eigentlichen Worten nie abfochte, 
ob es gleich einerlei ware - ich hingegen behaupte, diese taugen 

20 nichts und die, die so viel taugen als Beata, konnen nicht mit 
Worten gefangen werden, weil ihre Gedanken nie schlimmer sind 
als ihre Worte. Freilich aus einem Zimmer (oder Herzen), wo es 
innen brennt und raucht, lodert die Flamme aus der ersten OfT- 
nung heraus, die du aufmachst. 

Seine dritte Behauptung und List war, Manner fuhlten den 
Wert des Einfachen und das Erhabene der Aufrkhtigkeit und der 
geraden Versicherung »ich habe dich lieb«, aber Madchen wollten 
tournure und Feinheit und Umschweife in diese Versicherung, 
die turkische Briefstellerei durch gewachsene Blumen war* ihnen 

30 lieber als die mit poetischen, eine tatige Schmeichelei lieber als 
eine wortliche - ich aber behaupte, daB er recht hat. Daher HeB 
er z.B. seine Repetieruhr vor der Ohnmachtigen allemal die 
Stunde ihres letzten Rendezvous repetieren, und er geflel ihr un- 
endlich; daher sah er eine allemal, wenns zu machen und zu mer- 
ken war, schielend hinter dem Riicken im Spiegel an - daher 
steckt* er gegen Beaten voll Teufeleien, die ich fast alle nennen 



272 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sollte. Zwei nenn* ich auch. Er erinnerte sich erstlich, daB er sich 
zu vergessen und auf ihre Hand die seinige im Feuer des Redens 
zu legen habe; darauf stellt* er sich, als besann' er sich, als nahm' 
er seiner Hand ein Lot urns andre in der Absicht, sie unvermerkt 
wegzuheben, sobald sie mehr nicht woge als ein Fingerglied - 
»So handelt« (sagt' er zu sich) »feinere Delikatesse immer; und ich 
werd' es sehen, was sie verfangt.« Seine zweite Teufelei war, daB 
er in der Spiegelplatte, woran er saB, ihr Gesicht (seinem eignen 
gab er statt des Preises nur das Akzessit) anschielte und bewun- 
derte, da er doch das Original naher hatte. Eine Schaferin von 
Porzellan trieb Schafchen uber den Spiegel : »Ich habe noch keine 
schonere Schaferin unter Glas gesehen«, sagt* er doppelsinnig; 
»aber ich ein schoneres Schaf«, sagte die Defaillante und meinte 
ihn. 

Diese Spiegelplatte kam mit ihrer Schaferin, die uber ein ura- 
blumtes Ufer in das glaserne Wasser sah, und mit ihrem Lamm 
und Schafer fast dem Gustavischen Kindheitspiele nahe. Beatens 
Auge verlor sich unwillkurlich zwischen diese Blumen und nahm 
ihr Ohr mit sich, in welches der Legationrat vergeblich mit seinem 
krieglistigen Witze einzubrechen trachtete. Gustavs Augen such- 
ten und mieden nur - Augen, nicht Szenen ; aus dem gesellschaft- 
lichen Gewiihl, unter dem seine innern Flugel erlagen, konnt' er 
nur durch einen Springstab von auBen in die Hohe. Denn die aus- 
genommen, die ihm ahnlich war, ritzten und beizten die andern 
alle, die es nicht waren, sein Inneres so sehr mit ihren Tischreden, 
daB er nie in grofierer Beklemmung war als heute. Ich will das 
fliegende Tischgesprach, das die Tugend betraf, in Gedanken- 
strichen abgemarket hersetzen, weil mehre Kopfe daran sprachen, 
wie am Bauern-Tischgebet die ganze Familie antiphonierend 
betet. 

»Man hat keine Tugend, sondern nur Tugenden - Die Weiber 
haben sie, die Manner bekriegen sie - Tugend ist nichts als eine 
ungewohnliche Hoflichkeit - Tugend ist un peu de pavilion joint 
a beaucoup de culasse 1 ; mais le moyen de n'etre que Tun ou que 

1 Bekanntlich heiBet an einer Doublette der in der Fassung versteckte 
Kiesel oder Bergkristall culasse, und der darauf bluhende Demant pavilion. 



30 



DREISSIGSTER SEKTOR 273 

l'autre ? - Sie ist, wie die Schonheit, uberall anders ; die Kopfe sind 
hier spitz, dort breit; so ists mit den Herzen, die darunter sind — 
Schonheit und Tugend zanken und lieben sich wie ein Paar 
Schwestern, und doch geben sie einander ihren Putz (bezog sich) 
- Man denkt nie so gern an die Tugend, als wenn man die Rosen- 
madchen in Salency sieht — Sie wird auch an andern Orten ge~ 
kront (bezog sich wieder) u.s.w.« 

Kurz jeder Ton und Blick envies nicht, sondern setzte es scrion 
voraus, daB Tugend nichts ware - als der Okonomus des Magens, 
10 die Konviktoristin der Sinne, die Offiziantin und Tochter des 
Korpers. Der Liebe gings wie der Tugend. »Die Julie des Jean 
Jaques« (sagte einer) »ist wie tausend Julien oder wie Jean Jaques 
selber: sie beginnt mit Schwarmen, endigt mit Beten - aber das 
Fallen ist zwischen beiden.« 

Niemand, als wer einmal in Gustavs Lage war, wer einmal das 
verheerende Bestiirmen seiner tiefsten Oberzeugung von der Mog- 
lichkeit und Gottlichkeit der Tugend in einem Kreise witziger 
und entscheidender Leute von Stande erlitt; wen unter solchen 
Erschiitterungen, deren jede ein RiB in die Seele ist, sein eignes 
20 Unvermogen krankte, solche Tugend- und Heiligen-Sturmer zu 
beschamen, geschweige zu bekehren; wen unter diesen Herodes- 
Beschimpfungen seiner Heitandin nicht einmal der Stolz auf- 
richtete, der zwar gern mit uns auf unserm besondern Zimmer 

isset, aber an der table d'hote aus unserem Innern eilt bloB 

also wer in solchen Lagen keuchte, kann sich Gustavs Alpdriicken 
in der seinigen denken. 

Selbst Beatens Angesicht, das die Partei der Tugend und der 
Liebe nahm, konnt* ihn nicht gegen jene persiflierenden Frost- 
gesichter decken, aus denen, wie aus Gletscher-Spalten bei wech- 
30 selnder Witterung, schneidende Winde bliesen und die das Herz 
lerphitosophierten und das Gefuhl des eignen Werts zerrissen. In 
Gustavs Alter machen die Gustave zwei grundfalsche Schlusse - 
sie suchen erstlich unter jeder tugendhaften Zunge ein tugend- 
haftes Herz, zweitens aber auch unter jeder schlimmen ein schlim- 
mes. 

Gustav wurde wenig darnach gefragt haben, daB er nicht viel 



274 DIE UNSICHTBARE LOGE 

antworten, geschweige fragen konnte, waren ihm nicht zwei 
Ohren gegeniiber gesessen, die etwas Bessers wert waren, als was 
sie zu horen bekamen. Er glitschte allemal neben der rechten Taste 
hinaus und griff Konsonanzen, wo Dissonanzen in der Partitur 
geschrieben standen, und umgekehrt. Bald erstaunte er iiber die 
fremden freimutigen Lizenzen, bald erstaunten seine Nachbarn 
iiber seine; und Witz war' ihm leichter gewesen, als einen Ton zu 
treffen, der ihm bald zu kiihn, bald zu feig vorkam. - Das wars aber 
nicht eigentlich: sondern sein wichtiger Fehler, der wie ein FuB- 
block seine FiiBe hielt, war, 10 

daB er logisch richtig dachte. - 

Den Fehler haben viele; und ich selber muBte mich viele Vor- 
mittage iiben und mit der Seele voltigieren, eh' ich einigermaBen 
unzusammenhangend und hiipfend denken konnte nur wie ein 
halber Narr. Ich hatt* es am Ende doch zu nichts gebracht, wenn 
ich mich nicht zu Weibern in die Schule und auf die Schulbank 
gesetzet hatte. Diese denken weit weniger logisch, und wer bei 
ihnen den guten Ton nicht erlernt, aus dem ist nichts zu machen - 
als ein deutscher Metaphysiker. Antworten sie wohl jemals Ja 
oder Nein, statt dessen, was nicht zur Sache gehoret? Drucken sie zo 
sich iiber das Wichtigste bedachtsam und mit prozessualischeh 
Weitlauftigkeiten aus oder iiber das Frivolste frivol? Horen und 
iiben sie Persiflieren ungern, oder legen sie - Ballkoniginnen und 
Gouvernanten der bureaux d'esprit freilich ausgenommen — wohl 
je den geringsten Akzent, Accent und Wert auf ihre Tisch-, 
Nachttisch-, Spiegel- und andre Reden? Oder legen sie einen auf 
Wahrheiten? Zum Gliick nimmt diese Feinheit des Tons, die das 
Fakultatsiegel und der HandwerkgruB der Weiber ist, mit der 
Feinheit der Stoffe zu, die eine umhat. Ein paar kleine deutsche 
Stadte, etwa Unterscheerau u. a., miissen sich mir nicht entgegen- 3 o 
werfen, wo freilich die dasigen Weiber, die sich lieber Damen 
nennen horen, mit nichts Laute von sich geben als mit dem arti- 
kulierten Facher und Schlepprock, den Insekten gleich, deren 
Stimme nicht aus dem Munde, sondern aus dem schwirrenden 
Flugwerk und Bauchtrommelfell hervorsauset. 

Viele muten mir zu, diese Ahnlichkeit des weiblichen und des 



DREISSIGSTER SEKTOR 275 

Hoftons gar hinaus zu beweisen : ich habe ja die Feder in der Hand 
und brauche bloB einzutunken. Ein Sopranist im guten Ton (ich 
werde des Wohlklangs wegen »Hof- und guter Ton« abwechselnd 
gebrauchen) wird stets den Bliti der Wahrheit durch Pointen so 
zuzuleiten und zu entkraften wissen, wie den elektrischen durch 
Spitien. Der wirkliche Sopranist schneidet aus dem ewigen Zirkel 
der Wahrheit bunte Segmente und Bogen aus, die auf nichts han- 
gen und ruhen, wie die farbigen herausgeschnittenen Fragmente 
des Regenbogens. Er ists, von dem man fordert, daB er wie 

10 Spiegelquecksilber alles, was vor ihm voruberrennt, fremde Cha- 
raktere und eigne Meinungen, abfarbend abschatte und alles 
AuBere zeige und alles Innere berge. Wird es fur einen Weltmann 
genug sein - es reiche immer fur einen Gelehrten zu -, wenn er 
ein Feld ist, das satirische Dornen umstecken, und miassen diese 
nicht vielmehr statt des Raines alle Furchen erfiillen und mehr die 
Frucht als der Zaun des Ackers sein? Und wer anders als er und 
die Schwefelleber - die sich aber nur auf Metalle einschrankt - 
muB alle Heilige und alle Teufel schwari zu prazipitieren wissen? 
- Allein Leute, die so hohe Forderungen zu machen wagen, be- 

20 denken nicht immer, daB nur ein Latitudinarier und IndifFerentist 
aller Wahrheiten sie befriedigen konne, d. h. ein Mann, der ganz- 
lich sich uber den Katheder-Eilander erhebt, welcher vielleicht 
jahrelang die namlichen Meinungen und Hosen behalt. Nichts 
verengert den Tanzplatz des Witzes so sehr, als wenn eigne Mei- 
nungen und Wahrheitliebe darin als feste dicke Saulen stehen. - - 
Dieses sind eben die Mittel, wodurch Weltleute sbwohl andre 
als sich selber im feinsten lacherlichen Lichte darzustellen wissen. 
Der Hofmann kann allerdings den deutschen Komodienstellern 
vorwerfen, daB sie das attische Salz und das feine Komische, das 

30 er stets an seiner Person zu haben weiB, unter ihren Schwielen- 
Handen meistens verfliegen lassen. Er, der Hofmann, macht sich 
stets auf eine feine, nie niedrige Weise lacherlich und wiirzet mit 
einem echten hohen Komischen, das seinem hohen Stande anpaBt, 
seine Person leicht; aber er kann fragen: »Studieren mich die 
deutschen Tropfe, oder salzet Terenz, den sie studieren, seine 
Charaktere so delikat wie ich meinen eigenen?«... 



276 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Ich denke, durch meine Verirrungen nab' ich den Umstand in 
meiner Geschichte zureichend motiviert, daB Gustav am Ende, 
weil er niederlag unter. so schnell witzigen Damen und unter dem 
zu bescheidnen Gefuhle fremder Talente und etwa, weil von ihm 
die Residentin durch ihre Gesellschaft und Beata durch ihren Herrn 
Vater abgezogen wurde — sich gar fortmachte. Aber drauBen 
richtete sich unter dem kiihlenden Nachttau die hangende Blume 
erfrischt wieder auf; im stillen Lande ging er vor dem viereckigen 
Schimmer, den die Wandleuchter ins Gras herunter warfen, ohne 
Sehnen voriiber und drehte sich rund umher, um alle Wande des 10 
weiten schwarzgemalten Ballhauses, wo das Schicksal den Sonnen- 
Ball in groBe und den Erdball in kleine Kreise wirft, ins Auge zu 
nehmen. Als er hier den groBen Schattenrifi des Tages, die Nacht, 
wie den einer weggegangnen Freundin, kiihlend und trostend an 
seinem Busen hatte: so dachte er, aber ohne Stolz: »0 zu dir, 
groBe Natur, will ich allzeit kommen, wenn ich mich unter den 
Menschen betriibe; du bist meine alteste Freundin und meine 
treueste, und du sollst mich trosten, bis ich aus deinen Armen vor 
deine FiiBe falle und keinen Trost mehr brauche.«.... 

»K6nnen Sie mich nicht berichten, wo hier der junge Herr von 2c 
Falkenberg logiert?« redete ein Nachtbote ihn an. Er iiberbrachte 
ihm einen Brief, den er eilig im Fixsternlicht der fernen Wand- 
leuchter durchlief. Aber sie schienen heute lauter triibe Auftritte 
beleuchten zu sollen. Amandus hatte ihm darin auf dem Deck- 
bette seines Krankenlagers so geschrieben : 



ElNUNDDREISSIGSTER ODER XXIHI.TRINITATIS-SEKTOR 
Das Krankenlager - die Mondfinsternis - die Pyramide 

»Wenn du wieder mein Freund geworden bist : so gehe zu deinem, 
der bald sterben wird. Sonne dich aus mit mir 3 eh* ich in das ewig 
stille Land ziehe, wie wir das letztemal taten, eh* wir in das irdische 3< 
stille Land hinausgingen. Ach unaussprechlich Geliebter ! ich habe 
dich zwar oft beleidigt, aber allezeit geliebt! O komm, lasse nicht 



EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 277 

den kurzen Atem meiner brechenden Brust, der auf dieser Erde 
aus Iauter unerfullten Seufzern bestand, mit dem letzten vergeb- 
lichen Seufzer nach dir versiegen. Du sahest mich das erste Mai, 
als meine Augen blind waren; sieh mich zum letzten Male, wenn 
sie es wieder werden !« - 

Dieses Blatt riB ihn in dieser Stunde, wo ihm die Liebe eines 
Menschen so wohl tat, aus dem Schlosse fort, aber die Stellen des 
Herzens, an denen es ihn anfaBte, bluteten. Ein solcher Gangdurch 
die Nacht beugt die Seele nieder, und seinen Freund sah er auf 

10 diesem kurzen Wege mehr als zehnmal sterben. Bei jedem Vogel, 
den sie aus dem Bette jagten, dacht* er: wie wirst du im Finstern 
dein Astchen wiederfinden? - bei jedem zerflieBenden Licht, das 
weit von ihm durch die Nacht wandelte, dacht* er: welchen Seuf- 
zern, welchen sauern Schritten wird es jetzt den langweiligen Steig 
beleuchten? und es war ihm, als sah' er das menschliche Leben 
gehen. Es machte ihn nicht frohlicher, als er einige Sonnenwagen, 
von einem Sonnenhof aus Fackeln umlegt, die unnutzen Gaste des 
Souper, das sie wie er verlieBen, so fliegend heimrollen sah, als 
fiihren sie einem sterbenden Freunde entgegen. Endlich wickelte 

10 sich die schlummernde Stadt aus den Schatten heraus; das Pharus- 
licht des Turmers und einige weit auseinander gesaete Lichter, die 
wahrscheinlich die lange Nachteines Kranken triibe und ungeputzt 
abmaBen, flelen auf den Trauer-Grund seines Innern. 

Leise pochte er am Krankenhause, leise wurde aufgemacht, leise 
stieg er hinauf; bloB die Uhr larmte wie ein Trauergelaute ins 
stumme Trauerhaus, mit ihren zwolf Schlagen, die er da so oft 
gehort. - Ach im Bett litt eine Gestalt, der man alles verzeihen 
will und die man noch ein wenig zu lieben und zu erfreuen eilt, eh' 
sie sich nicht mehr regt. Nicht das schmutzige eingedorrte Kran- 

jo kengesicht, nicht die von Fiebern weggebeizte Lebensfarbe, nicht 
die Runzeln der Lippe waren es an Amandus (oder sind es an an- 
dern Kranken) * was Gustavs Herz und Hoffnungen zerschnitt, 
sondern das schwer gedrehte, aufflackernde, wilde und doch aus- 
gebrannte verglasete Krankenauge, in das alle Leiden der vorigen 
Nachte und die Nahe der letzten so leserlich geschrieben waren, 
Amandus streckte ihm seine Totenhand weit heraus entgegen, 



278 DIE UNSICHTBARE LOGE 

als ob es moglich ware, daB jemand anders als er sich noch an die 
fremde schwarze Farber- oder Totenhand erinnerte, die er ihm 
neulich gereicht. Fiir ihn war die Wiedervereinigung siiBer als 
fur Gustav, der hinter ihr die lange Trennung warten sah. 

Der Morgen und die Freude hielten den Vorhang seines Lebens 
ein wenig im Niederfallen auf. Gustav trat als Krankenwarter an 
die Stelle der Krankenwarterin, erstlich weil diese alles so gut 
* und mit so vielen Umstanden und Randnoten zu machen wuBte, 
daB sie noch in seine letzten Minuten Galle schuttete, zweitens 
weil es ja in der Stunde, wo die ganze Natur in Gesellschaft des z 
Todes mit harten Griffen dem Menschen alien Putz und alle Klei- 
dungstiicke abzieht, die sie ihm geliehen, fiir die ohnmachtigen 
Freunde, die diese unerbittliche Hand nicht halten konnen, noch 
der einzige Trost ist, unter dem Entkleiden, Erfrieren und Ein- 
schlafen des Bekannten durch Lacheln, durch unbedingte Ge- 
falligkeit gegen alle seine Launen, durch Erfullung seines Eigen- 
sinns stille zu sein. - Auf solche Herz- und Liebedienste gegen 
arme Sterbende schauet man nach vielen Jahren mit mehr Zu- 
friedenheit zurtick als auf die gegen alle Gesunde auf einmal — 
und doch sind beide nur urn ein paar Stunden verschieden; denn 2 
du steigest nicht oft in deinem Bette aus und ein, so bleibst du 
darin Hegen.... 

Lieber Tod ! ich denke jetzt an mich. Wenn du einmal in meine 
Stube trittst; so erweise mir den Gefallen:und schiefie mich an 
meinem Secretaire oder Schreibtische Knall und Fall tot; wirf 
mich, lieber Tod, nicht hinter die Vorhange aufs Krankenbette 
und suche mit deinem Trennmesser langsam jede Ader, um sie 
vom Leben loszutrennen, so daB ich dir ganze lange Nachte ins 
zergliedernde Gesicht sehen muB oder daB unter deinem langen 
Seidenzupfen meines Seelenkleides alles herlauft und gesund zu- 5 
schaut, der Rktmeister, der Pestilenziarius und meine gute Schwe- 
ster. - Reitet dich aber der Henker, daB du keine Vernunft an- 
nimmst: so, lieber Tod - da keine Holle ewig dauert - scher' ich 
mich auch nichts darum, um die letzte Schererei nach tausend 
Scherereien. 

Der Doktor Fenk hatt* in seinem Gesicht nicht die Angstlich- 



EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 279 

keit vor einem kommenden Verlust, sondern das Trauern xiber 
einen dagewesenen; er hielt seinen Sohn fur ein zerschlagenes 
Porzellan-GefaB, dessen Scherben man noch in der alten Zusam- 
mensetzung auf den Putzschrank stellt und das von dessen klein- 
ster Erschutterung auseinanderfallt. Er verbot ihm daher nichts 
mehr. Er nahm sogar einige mannliche Patienten an, »weil er zu 
Hause einen hatte und sich den Gedanken an ihn wegkurieren 
wollte«. Der Kranke selber horte schon den Abendwind seines 
Lebens wehen. Vor einigen Wochen glaubte er zwar noch, im 
Friihlinge konnt* er den Scheerauer Gesundbrunnen in Lilienbad 
trinken, und dann wurd* es schon anders mit ihm werden. (Armer 
Kranker! es ist eher anders mit dir geworden.) Allein ein gewisses 
Fieberbild, das er nicht entdeckte, sprach ihm sein krankes Leben 
ab ; und sein Aberglaube an diesen Traum war so fest, daB er seit- 
dem seine Blumenstocke nicht mehr begoB, seine Vogel weggab 
und alle Wiinsche ausloschte, bloB den Wunsch nach Gustav 
nicht. 

Es war am andern Tage gerade Markttag. Dieses Getose hatte 
fur seine der Todesstille geweihten Ohren zu viel Leben; und 

» Gustav muBte sich an sein Bette setzen, damit er unter dem Spre- 
chen und Horen nicht auf den Markt hinunterhorchte. Gustav er- 
schrak, als er endlich lebhaft fragte : »ob er Beaten noch liebe.« Er 
wjch dem Ja aus; aber Amandus raffte das wenige Leben, das noch 
in seinen Nerven warmte, zusammen und sagte, wiewohl in langen 
Pausen zwischen jedem Satze : »Ach, nimm ihr dein Herz nicht - 
o ! wenn du sie kenntest wie ich - ich war oft bei ihrem Vater - 
ich sah, wie sie mit stummer Geduld seine Hitze trug - wie sie die 
Fehler ihrer Mutter auf sich nahm - voll Giite, voll Sanftmut, voll 
Demut, voll Verstand - so ist sie - ach ohne ihr Bild war* in mei- 

> nem Leben wenig Freude gewesen - gib mir die Hand, daB du sie 
mehr liebest wie mich.« Er nahm sie selber; aber den Freund 
schmerzte das Nehmen. 

Plotzlich drangte sich in seine eingesunkenen Wangen-Adern 
vielleicht die letzte Schamrote, die oft wie Morgenrote vor einer 
guten Tat voreilt: er verlangte seinen Vater her. An diesen tat er 
mit so viel Feuer, mit so viel Sehrisucht in Aug' und Lippe die 



280 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Bitte, Beaten herzuholen, die ja einem Sterbenden nicht die 

letzte Bitte versagen konne, daB sein Vater es auch nicht konnte; 
sondern versprach (trotz dem Gefuhle der Unschicklichkeit), zu 
ihrer Mutter zu fahren und durch diese jene herzubereden und 
beide zu bringen. - Fenk wuBte, daB in seiner ganzen Krankheit 
kein Abschlagen etwas verfing - daB er, wenn er ihn am letzten 
vergeblichen Wunsche gestorben sahe, den Gedanken nicht tragen 
konne, dem Leichnam die Todesminuten, dieer noch ausschliirfte, 
verbittert zu haben — und daB Mutter und Tochter zu gut waren, 
um nicht gegen seinen Sohn zu handeln wie er: kurz er fuhr. i 

Als der Vater hinaus war, sah der Kranke unsern und seinen 
Freund mit einem solchen Strom von lachelnd versprechender 
Liebe an, daB Gustav von der treuen muden Seele, deren Scheiden 
so nahe war, den langsten Abschied dieses Lebens nehmen wollte: 
»Meine Lippen«, dacht' er, »sollen nur noch einmal gedriickt auf 
seinen Hegen und meine Brust auf seiner - nur noch einmal will 
ich den warmen Leichnam umschlieBen, da noch eine Seele darin 
mein Umfassen fuhlt - nur noch einmal will ich seinem weg- 
ziehenden Geiste, da ich ihn noch erreiche, nachrufen, wie ich ihn 
geliebt habe und lieben werde.« Unter diesen Wiinschen heiligte 20 
das schonste Weihwasser des Menschen sein Auge. Aber er unter- 
HeB dennoch alles, weil er besorgte, unter diesem Sturm des letzten 
Liebens lie Ben die gerissenen Bande des Korpers die bewegte 
Seele los und an seinem Munde sturbe der Schwache.... 

Diese Zartlichkeit, die sich selbst aufopfert und nicht aus der 
Nonnenzelle des Herzens tritt, gefallt mir mehr als ein belletristi- 
scher und theatralischer Final-Orkan, wo man empfindet, um es 
zu weisen, um eine Tranen- und Dinten-Fistel zu haben wie andre, 
um von seinen Empfindungen, wie vom Schnupftuch, womitman 
sie trocknet, einen Zipfel aus der Tasche herauszuhenken. $c 

Der Doktor, von dem man in MauBenbach noch kein betriibtes 
Gesicht gesehen, gewann schon durch seine tiberflorte Heiterkeit 
seine traurige Bitte. Mein Gerichtherr, der sein angebornes Mit- 
leid allez&t gewaltsam dammte, weil es gleich einem Papagei sein 
Geld wegtrug, iiberlieB alles dem fremden wohltatigen Tranen- 
strom hier desto williger, weil er ihm nichts davonfuhrte als - auf 



EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 28 1 

eine Stunde Frau und Tochter. Der schlimmere Mensch hat eine 
groBere Freude iiber eine sich abgerungene gute Tat als der bes- 
sere. Roper schrieb selber an die Tochter seinen Befehl, mitzu- 
fahren, und brachte die besten Griinde dafur aus der natiirlichen 
und der theologischen Moral kurz bei. Aber der beste Grund, 
welchen der Doktor Beaten ins neue SchloB mitbrachte, war ihre 
Mutter : ohne sie hatte sie ihre scheuen, politischen und weiblichen 
Besorgnisse schwerlich iiberwaltigt. 

Sie kamen unter Gebeten in dem Sterbezimmer an, dieser Sa- 

10 kristei eines unbekannten Tempels, der nicht auf dieser Erde steht. 
Ich fahre fort, obgleich hier so manches meinem Herzen und mei- 
ner Sprache zu groB wird .... Als der Kranke die Geliebte seines 
sterbenden Herzens sah: so schimmerten seine untergegangnen 
Jugendtage mit ihren goldnen Hoffnungen tief unter dem Hori- 
zont hinauf wie das Abendrot der Juniussonne gegen Mitternacht, 
er driickte dem schonen Leben noch einmal die Hand, vom Hauch 
der letzten Freude glimmten noch einmal seine blassen Wangen 
an, und der Engel der Freude lieB ihn am Seile der Liebe langsam 
ins Grab hinab. - Ein Sterbender sieht die Menschen und ihr Tun 

20 schon in einer tiefen Entfernung verkleinert; ihm sind unsre 
kleinen Hoflichkeitregeln wenig mehr - alles ist ihm ja nichts 
mehr. Er bat, ihn mit Gustav und Beata allein zu lassen; seine 
Seele hielt noch den sich niederbeugenden Korper; mit einer ab- 
gebrochnen, aber genesenen Stimme redete er das bebende Mad- 
chen an : » Beata, ich werde sterben, vielleicht heute Nacht - in 
meinen schonern Tagen nab* ich dich geliebt, du hast es nicht 
gewuBt - ich gehe mit meiner Liebe in die Ewigkeit - O Gute! 
reiche mir deine Hand« (sie tats) »und weine nicht, sondern spreche, 
ich habe dich so lange nicht gesehen und nicht gehort - Aber 

30 weinet ihr beide nur; euere Tranen machen mich nicht mehr 
weich, in meine heiBen Augen kamen, solang ich liege, keine - o 
weinet sehr bei mir : wenn man traumt, man wein' auf einen Toten, 
so bedeutet es Gewinn. — Ja, ihr zwei schonen Seelen, ihr findet 
niemand, der euch gleichen, der euere Liebe verdienen kann, ihr 
seid allein - O Beata, auch Gustav liebet dich und sagt es nicht - 
Wenn du dein schones Herz noch hast, so gib es ihm, auf der 



282 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ganzen Erde verdient nur ers, gib es ihm - du machest ihn und 
mich gliicklich, aber gib mir kein Zeichen, wenn du ihn nicht 

lieben kannst.« Jetzt ergriff er noch die Hand Gustavs, dessen 

Gefiihle gegeneinander wehende Sturme waren, und sagte mit 
aufgerichteten Augen der begluckenden Tugend: »Du unend- 
liches giitiges Wesen! das mich zu sich nimmt, schenke diesen 
zwei Herzen alle schone Tage, die mir vielleicht hier beschieden 
waren — ja nimm sie aus meinem kunfrigen Leben, wenn ich etwa 

in diesem keine mehr zu erwarten hatte.« Hier zog der fallende 

Korper die fliegende Seele zuriick; ein Tropfen in seinem Auge u 
verkiindigte die schwere Erinnerungan seine zertriimmerten Tage ; 
drei Herzen bewegten sich heftig; drei Zungen erstarrten; diese 
Minute war zu erhaben fur den Gedanken der Liebe - bloB die 
Gefiihle der Freundschaft und der andern Welt waren groB genug 
fur die groBe Minute.... 

Ich bin jetzt nicht imstande, von den Folgen der letzten und 
von jemand anders zu reden als vom Sterbenden. Seine zuriick- 
gespannten Nerven bebten in einem entkraftenden Schlummer 
fort. Die erschopfte, betaubte Beata ging mit ihrer Mutter ab. 
Gustav sah nichts mehr, kaum jene. Der Vater hatte keinen Trost 2 < 
und keinen Troster. 

Der Fieberschlummer wahrte fort bis nach Mitternacht. Eine 
totale Mondflnsternis hob den Himmel und zog das erschrockne 
Auge des Menschen empor. Gustav sah, bewegt und gequalt, naB 
zu dem weltenhohen Erdschatten hinauf, der am Monde wie an 
einem Silhouettenbrette lag. Er verlieB die Erde, sie wurd' ihm 
selber ein Schatten: »Ach!« dacht/ er, »in dieser hohen fliegenden 
Schatten-Pyramide werden jetzt tausend roteAugen, wunde Hande 
und trostlose Herzen stehen und werden eingegraben, damit 
der Tote noch finstrer liege als der Lebendige. - Aber riickt denn 3 < 
nicht dieser Schatten-Polyphem (mit einem Mondauge) taglich um 
diese Erde herum, und wir bemerken ihn-nur dann, wenn er sich 
auf unserem Mond anlegt. . . . Und so denken wir, der Tod komme 
nicht eher auf die Erde, als bis er unsern Garten abmahet .... und 
doch ist nicht ein Jahrhundert, sondern jede Sekunde seine Sense.« 
Auf diese Art betrubte und trostete er sich unter dem beflorten 



EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 283 

Mond - Amandus wachte angstlich auf; beide waren allein; der 
Mond ruhte mit seinem Schimmer auf seinem kranken Auge; 
»Wer hat denn den Mond zerschnitten,« (sagt* er sterbheiB), »er 
ist tot bis auf ein Schnitzchen.« Auf einmal wurden die Stuben- 
decke und die entgegengesetzten Hauser flammend rot, weil die 
Leichenfackeln mit einem Edelmann, der auf sein Erbbegrabnis 
gefahren wurde, durch die stumme Gasse zogen. »Es brennt, es 
brennt«, rief der Sterbende und suchte aus dem Bette zu eilen. 
Gustav wollt' ihm verbergen, wie ahnlich ihm der sei, der unten 

o zum letzten Male iiber die Gasse ging; aber Amandus, angstlich 
als wenn ihn der Tod erdriickte, wankte iiber das halbe Zimmer 

in Gustavs Arme eh' er die Leiche sah, legte ihn ein Nerven- 

schlag tot in diese Arme — 

Gustav trug, so kalt wie der Tote, den Eingeschlafnen aufs ver- 
lassene Lager - ohne Trane, ohne Laut, ohne Gedanken setzte er 
sich ins verhiillte Mondlicht und ins herflimmernde Leichenlicht - 
der starre Freund ohne Bewegung lag ihm gegeniiber - Amandus 
war eher als die Mondkugel aus dem Erdsckatten geflogen - 
Gustav sah nicht auf den Toten, sondern auf den Mond (in der 

o dichtesten Trauerstunde sieht man vom Gegenstande weg auf den 
kleinsten hin): »Streife nur hin,« dacht* er, »Schatten der Kugel 
aus Staub, du liegst noch iiber mir .... aber ihn erreicht deine 
Spitze nicht .... alle Sonnen liegen nackt vor ihm . . . . o Eitelkeit, 
o Dunst, o Schatten, wo ich noch bin.« ... Plotzlich schlug die 
Flotenuhrein Uhrund spielteeinMorgenlieddesewigenMorgens> 
so aufrichtend, so heriibertonend aus Auen iiber dem Mond, so 
schmerzenstillend, daB die Tranen, unter denen sein Herz ertrank, 
den Schmerzendamm umbrachen und sanftern,wenigertodlichen 
Empfindungen ein Bette He Ben . . . . Es war ihm, als lage sein Kor- 

o per auch ausgeleert neben dem kalten und seine Seele rloge auf der 
breiten, durch alle Sonnen gehendenLichtstraBe der vorausgeeil- 

ten nach er sah sie vorausziehen — er sah durch den Dunst 

der paar Jahre, die zwischen ihr und ihm selber lagen, deutlich 
hindurch — 

Und mit seiner Seele im Gesicht trat er aus dem Totenzimmer 
in das Zimmer des Vaters und sagte mit irdischer Wehmut im 



284 DIE UNSICHTBAHE LOGE 

Auge und himmlischer Heiterkeit im Angesicht:»Unser Freund 
hat unter der Mondfinsternis ausgekampft und ist dort.« 

- Ach sein Leben in seinem wurmstichigen Korper war ja eine 
wahre totale Mondfinsternis; sein Austritt aus dem Leben war der 
Austritt aus dem Erdschatten und sein Verweilen im Schatten nur 
kurz. 

Gustav war durch kein Zureden im Trauerhause zu erhalten. 
Wenn dem Herzen der Korper zu enge ist : so wird es ihm auch die 
Stube. Er ging nach Marienhof. Unter dem blauen Gewolbe, an 
dem kristallisierte Sonnentropfen hangen, und unter dem kamp- ic 
fenden Monde, der wie er von seiner Beschattung rot gliihte, be- 
gegneten ihm Gedanken, die tiber die menschlichen Farben er- 
haben sind so wie uber die Erde. Wer in solchen Stunden nicht 
die Kahlheit dieses Lebens und das Bedurfnis eines zweiten so le- 
bendig funk, daB das Bedurfnis feste Hoffnung wird: mit diesem 
streite keiner uber das Hochste unsers tiefen Lebens. 

Unter dem Getummel des Sterbetages, der ihn sonst in eine 
ganz dunkle Einsamkeit fortgetrieben hatte, ging er doch nach 
Marienhof; der Verstorbene hatte ihn gebeten, es zu machen, daB 
er sein Winterlager fur seine Gebeine auf dem Eremitenberg be- 2c 
kame, den er so oft bestiegen hatte und dessen Erscheinungen uns 
bekannt sind. Gustav hofft' es leicht von der Residentin auszu- 
wirken, da sie ohnehin selten und nur gewisse Partien des stillen 
Landes betrat. Oefel sagte aber - am Morgen, wo er ihn bei seiner 
Bitte zu Rat zog, - gerade umgekehrt, wenn ihr um den Park und 
dessen bauliche Wtirden zu tun ware : so miiBte sie da etwas recht 
gern begraben lassen, weil es den besten englischen Garten an 
Toten und wahren Mausoleen so sehr fehlte, daB sie bloB nach- 
gemachte Vexier-Mausoleen hatten. Oefel erbot sich, einige Ver- 
zierungen in einem Geschmacke, daB sie der Hof goutierte, fur 3 c 
das Grabmal zu entwerfen. Gustav war bloB heute zu weich, ihn 
heute zum ersten Male zu verachten. Wie ganz anders horte die 
Residentin seiner Bitte und gedrangten Stimme zu, ob er gleich 
kein Zeichen seines Schmerzes zu geben arbeitete! Wie teil- 
nehmend - mit einer Miene, als legte sie leise eine Rose in des 
Toten Hand *- schenkte sie dem letzten das Stuckchen Erde zum 



EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 285 

Ankerplatz! Wie schon begleiteten ihre vollen Augen dieses Ge- 
schenk mit dem Geschenk aus ihrem weichen Herzen ! Und als der 
fremde Kummer seinem eignen den Sieg wiedergab : mit welchem 
schonen Trost - nie ist die weibliche Stimme schoner als im Tro- 
sten - bestritt sie ihn! - Er fuhlte hier den Unterschied zwischen 
Freundschaft und Liebe lebendig; und er gab ihr die erste ganz. 
Er war froh, den Gegenstand der let^ten nicht da zu finden, weil 
er die Verlegenheit der ersten Blicke scheuete. Beata lag krank. 
Er sperrte sich ein; er machte seine Brust jenem Schmerze auf, 

10 der nicht wohltatige blutende Wunden in sie schneidet, sondern 
ihr dumpfe Schlage gibt, jenem namlich, der in dem Zwischen- 
raum zwischen dem Todes- und dem Begrabnistage bei uns ist. 
Der letzte war am Sonntage, wo ich meinen Sektor betrubt bloB 
mit Ottomars Briefe ausfullte und wo ich so traurig schloB. Ich 
tats gerade in der Stunde, wo der Entschlafne aus dem kleinen 
Sterbebette ins groBe Bette aller Menschen getragen wurde, wie 
die Mutter die auf Banken entschlummerten Kinder in die groBere 
Ruhestatte legt. Sonntags floh Gustav aus dem Schlosse, wo die 
larmenden Staatswagen und Bedienten gleichsam uber sein Herz 

10 gingen,miteingehulltenSinnenhinauSiErfuhltezum ersten Male, 
daB er auf der Erde nicht einheimisch sei, das Sonnenlicht schien 
ihm das in unsere Nacht gewebte Dammerlicht eines groBern 
Monds zu sein. Ob er gleich jetzo seinem weggeruckten Freunde 
sich auf dieser Erde weder nahern noch entziehen konnte : so sagte 
sein Schmerz doch, es wurde ihm, wenn er auch nicht den Leich- 
nam, nicht den Sarg, sondern nur das Grabes-Beet umfaBte, das 
auf diesen Samen einer schonern Erde driickte, es wiirde ihm Tro- 
stung werden ; und er stellte sich daher auf einen entfernten Hiigel, 
um zu sehen, ob noch Leute auf dem Eremitenberge waren. 

10 Sein Auge begegnete gerade dem groBten Jammer, den es an 
diesem Abend fur ihn hienieden gab : der durch den Abend hin- 
durch blinkende weiBe Sarg wurde herausgehoben - eine ent- 
zweifallende Rose, eine durchlocherte Puppe, ein sich ausspannen- 
der Schmetterling, der jene als Wurmchen zernagt hatte, waren 
auf die Sargpuppe gemalet und kamen mit ihren beiden Urbildern 
unter die Erde ~ der kinderlose Vater stutzte sich mit Hand und 



286 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Kopf an die Pyramide und horte hinter seinen verhiillten Augen 
jede Erdscholle wie den Flug eines niederbohrenden Pfeiles - der 
kalte Nachtwind kam vora Totenberg zu Gustav heruber - Zug- 
vogel eilten wie schwarze Punkte uber sein Haupt davon, und der 
Naturtrieb, nicht die Landerkunde fuhrte sie durch kalte Wolken 
und Ndchte zu einer warmern Sonne - der Mond arbeitete sich 
aus einem Blutmeere von Diinsten ohne Strahlen herauf — endlich 
verlieBen die Lebendigen den Berg und den Toten - bloB Gustav 
blieb auf dem andern Hiigel bei ihm, die Nacht ruhteschwer hin- 
gestreckt um beide — Genug! 10 

Schenkt mir diese Totengraberszene! Ihr wisset nicht, welche 
herbstliche Erinnerungen dabei mein Blut so leichen-langsam 
machen wie meine Feder: ach in diese Geschichte schreib* ich 
ohnehin ein Blatt, ein Trauerblatt, dessen breiter schwarzer Rand 
kaum den Ziigen und Klagen mit Tranen eine weiBe enge Stelle 
lasset — ich schenk' euch diese Szene auch ; denn ich weiB auch nicht, 
Leser mit dem schonern Herzen, wen ihr schon verloren habt, ich 
weiB nicht, welche Hebe dahingegangne Gestalt, deren Grab 
schon so eingesunken ist als sie selber, ich gleich einem Traume 
wieder auf ihrer Grabplatte in die Hohe richte und eueren tranen- *o 
den Augen von neuem zeige, und an wie viel Tote ein einziges 
Grab erinnere! 

Verschwundner Amandus! in dem. groBen breiten Heer, wel- 
ches das Leben dem feindlichen Tod von Jahrhundert zu Jahr- 
hundert entgegenschickt, gingest du wenige Schritte mit, er ver- 
wundete dich oft und bald; deine Kriegkameraden legten Erde 
auf deine groBen Wunden und auf dein Angesicht - sie kampfen 
fort j sie werden dich von Jahr zu Jahr unter ihrem Kriege mehr 
vergessen - in ihre Augen werden Tranen kommen, aber um dich 
keine mehr, sondern um Tote, die erst begraben werden - und 30 
wenn deine Lilien-Mumie sich auseinander gebrockelt hat, so 
denkt man nicht mehr an dich; bloB der Traum lieset noch deine 
in denErdball gemengte Pastell-Gestalt zusammen und schmiicket 
mit ihr im graugewordnen Kopfe deines Gustavs seine hinter dem 
Leben ruhenden Jugend-Auen,die wiederVenusstern am Himmel 
des Leben-Morgens der Morgenstern und am Himmel des Leben- 



EINUNDDRE1SSIGSTER SEKTOR 



287 



Abends der Abendstern sind und flimmern und zittern und die 
Sonne ersetzen — Ich mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum 
Leichnam, sagen: Amandus! liege sanft. Du lagst in ihr nicht 
sanftj o noch jetzo dauert mich dein unsterblkhes Ich, daB es 
mehr in seinem knappen Nervengebaude als im weiten Weltge- 
baude leben muBte, daB es den edeln Blick nicht zu Sohnenkugeln 
auf heben, sondern auf seine qualenden Blutkiigelchen einkriim- 
men und fur die groBe Harmonie des Makrokosmus seltner Wal- 
lungen fuhlen als fiir die MiBlaute seines Mikrokosmus! - Die 

10 Kette der Notwendigkeit schnitt tief in dich em, nicht bloB ihr 
Zug, auch ihr Druck fuhrte dich Narben zu. . . . So jammerlich ist 
der Lebendige! Wie konnen von ihm die Toten ein Andenken 

verlangen, da er schon, indern er dariiber redet, ermattet 

Als nun Gustav zu Hause war, setzte er einen Brief an den 
Doktor auf; der ringende Kummer, worin dieser sich an die Py- 
ramide gelehnt und gehalten hatte, bewegte ihn unaussprechlich; 
und er fiel im Briefe ihm an diese zersplitterte wunde Brust und 
mehrte ihre Schmerzen durch seinen Liebedruck, indem er ihn 
bat, ihn zum Sohne anzunehmen und sein vaterlicher Freund zu 

20 werden. 

Mit der hohen Flut der Traurigkeit entschuldige man es, daB 
Gustav, der bisher immer die Paroxysmen seiner Empfindungen 
zum Besten des andern versteckte, sie hier auf Kosten eines andern 
hervorbrechen lieB. Sein Schmerz ging so weit, daB er vom Vater 
den Alltagrock und Hut des Seligen statt seines Kniestikkes be- 
gehrte; er fiihlte wie ich, daB Alltagkleider die besten Schatten- 
risse, Gipsabgiisse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb 
gehabt und der aus ihnen und dem Korper heraus ist. - Die Ant- 
wort des Doktors lautet so : 



30 »Ich habe mich oft an die Polster meines medizinischen Wagens 
gelehnt und mir vorgestellt und vorgenommen, wenn ich einmal 
graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe - 
wenn mir alle Jahrzeiten immer kurzer und alle Nachte darin im- 
mer langer vorkommen, welches vor der Annaherung der lang- 
sten vorausgeht - wenn ich dann in den ersten Friihlingtagen ins 



288 DIE UNSICHTBARE LOGE 

stille Land hinausgehe, urn meinen kalten interpolierten Korper 
zu sonnen - wenn ich dann auBen die klebenden treibenden Knos- 
pen sehe, unter denen ein ganzer Sommer steckt, und in mir innen 
das ewige Abblattern und Umbeugen, das kein Erdenfruhling 
heilt - wenn ich mich dann doch an meine eigne Jugend erinnere, 
an meine Spazier-Gallopaden um Scheerau, an die in Pavia und an 
die Leute, die mit mir gingen - wenn ich mich dann naturlicherr 
weise nach denen umsehe, die mir vom gefallnen Tempel meiner 
Jugend noch als hohe Ruinen stehen geblieben — und wenn mich 
dann, weil ich mich umdrehe, um zu schauen, ob keiner aus Wal- to 
dern, uber Wiesen, von Bergen an einem so schonen Tage zu mir 
gegangen kommt, der Gedanke wie Herzklopfen anfallt, daB nach 
alien vier Welt-Ecken, wohin ich mich gedrehet, Gottesacker und 
Kirchen liegen, in denen die, die mich jetzo trosten und begleiten 
sollen, unter der undurchsichtigen Erdrinde und ihrem Blumen- 
werk mit geraden Armen versteckt und gefangen liegen, und daB 
bloB ich allein auBen geblieben und den Herbst in meiner Brust 
hier im Fruhling herumtrage : so werd* ich gar nicht ins stille Land 
gehen, sondern einsam nach Hause gehen und mich einschlieBen 
und meinen Kopf auf den Arm mit den Augen legen und wiin- *o 
schen, daB mir das Herz breche, so gut wie meinen Bekannten; 
ich werde sagen, ich wollt',jes ware vorbei. Dann, geliebter Sohn, 
geliebter Freund (der du als der jiingste meiner Freunde mich 
schon iiberleben wirst), wird deine Gestalt vor meine satten mii- 
den Augen treten, dann werde ich sie auswischen und mich an 
alles erinnern, und deine Hand wird mich doch ins stille Land 
hinausfuhren, ich werde den Fruhling der Erde so lange genieBen, 
als ich ihn besehen kann, und ich werde dir mit driickender Hand 
ins Gesicht sagen : es tut mir heute recht wohl, daB ich dich vor 
vielen Jahren zum Sohne angenommen.... $c 

Morgen will ich kommen, um meinen Freund zu einer Reise 
auf die nachsten Tage mitzunehmen, damit wir den vergangnen 
aus dem Wege gehen.« - Am andern Morgen geschahs. 



ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 289 

ZWEIUNDDREISSIGSTER ODER 1 6. NoVEMBER-SEKTOR 
Schwindsucht - Leichenrede in der Kirche des stillen Landes - Ottomar 

Es ware mir vielleicht auch besser, ich suchte beiden wenigei mit 
der Feder nachzukommen als zu FuB. Die Lesewelt kann jetzt an 
meinen Sachen kosten und naschen, indes ich der Ostermesse ent- 
gegenhuste, weil ich mir an jenen Sachen und am Schreibtisch, 
woran ich mich niederkriimme, eine hiibsche vollstandige Hektik 
in die zwei Lungenfliigel geschrieben. Das samtliche Publikum 
sagt nicht »hab Dank« zu mir, dafi ich mich um meinen gesunden 
1 Atem und um meine sedes gedacht und empfunden: es ist fast 
alles an mir iu, und es kann wegen der doppelten Sperrordnung 
nach entgegengesetzten Richtungen wenig durch mich passieren. 
Ich wandele daher hinter den Pflugscharen aller Auenthaler, um 
den Broden der Furchen - wie die besten britis.chen Hektiker tun 1 
-einzuziehen als Mittel gegen meine Luftsperre und andere Sperre. 
Gleichwohl wiirde mich das einfaltige Publikum, in dessen Dienst 
ich mich so elend gemacht, auslachen, wenn es mich den Pflug- 
Ochsen wie eine Krahe nachschreiten sahe. Ist das Rechtschaffen- 
heit? - MuB ich nicht ohnehin alle Nacht zwischen den Armen 
I ao von zwei Pudeln schlafen, die ich mit meiner Lungensucht an- 
stecken will, wie ein Ehemann von Stande? Bin ich aber dann, 
wenn ich die zwei Beischlafer durch Nacht- und Morgengabe mit 
meinem Obel dotiert habe, des Malums selber los, oder sagt nicht 
vielmehr Herr Nadan de la Richebaudiere, neue Hunde 0106^ ich 
kaufen und infizieren, weil eine halbe Hunde-Menagerie zum Aus- 
lader eines einzigen Menschen notig ist? So kann ich mein Hono- 
rar bloB in Hunden vertun. Ich will den Schaden sogar verschmer- 
zen, den meine Rechtschaffenheit dabei leidet, weil ich mich gegen 
die armen einsaugenden Hunde, deren Lungenfliigel ich lahmen 

1 Die drei Kuren, die ich oben im Texte gegen meine Lungensucht ge- 
brauche, hab* ich von drei Volkern: das Nachspazieren in frisch gepflugten 
Furchen ratendieEnglander- dasStarken durch eineHunde-Schlafgenossen- 
schaft rat ein Franzos (de la Richebaudiere) -das Atmen der Luft in Vieh- 
stallen wird schwedischen Hektikern vorgeschrieben. 



29° DIE UNSICHTBARE LOGE 

und beschneiden will, so freundlich wie GroBe gegen die Opfer 
ihrer Rettung stellen muB. 

Inzwischen ist doch das noch das verdrufilichste Skandal, daB 
ich gegenwartig im - Viehstall schreibe; denn dieser soil auch 
(nach neuern schwedischen Buchern) eine Apotheke und einen 
Seehafen gegen kurzen Atem abgeben. Meiner wollte sich indes 
noch nicht verlangern, ob ich gleich schon drei Trinitatis hier 
sitze und drei lange Sektores (gleichsam Josephs-Kinder) am Ge- 
burtorte viel diimmerer Wesen in die Welt setze. Man muB selber 
an einem solchen Orte der Hektik wegen im juristischen oder t 
asthetischen Fache (weil ich beides Belletrist und Rechtskonsulent 
bin) gearbeitet haben, um aus Erfahrung zu wissen: daB da oft 
die ertragHchsten Einfalle viel starkere Stimmen als die der litera- 
rischen und juristischen Richter gegen sich haben und dadurch 
zum Henker gehen. 

Wahrend Fenk und Gustav mehr Traungkeit als Geld ver- 
reiseten, ob sie gleich nicht so lange ausblieben wie alle meine in- 
rotulierten Akten: so ging auch Oefel weiter, namlich in seinem 
romantischen GroBsultan, und tockierte mit dem groBten Ver- 
gniigen den Kummer seines Freundes hinein. Oefel dankte Gott i 
fur jedes Ungliick, das in einen Vers ging, und er wunschte zum 
Flor der schonen Wissenschaften, Pest, Hun gemot und andre 
GraBlichkeiten waren ofter in der Natur, damit der Dichter nach 
diesen Modellen arbeiten und groBere Illusion daraus erzielen 
konnte, wie schon den Malern, welche gekopfte Leute oder auf- 
gesprengte Schiffe malen wollten, mit den Urbildern dazu bei- 
gesprungen wurde. So aber muBt' er oft aus Mangel an Akade- 
mien selber seine sein und war einmal einen ganzen Tag genotigt, 
tugendhafte Regungen zu haben, weil dergleichen in seinem Werk 
zu schildern waren - ja oft muBt' er eines einzigen Kapitels wegen ; 
mehre Male ins B- gehen, welches ihn verdroB. 

Es geht andern Leuten auch so: der Gegenstand der Wissen- 
schaft bleibt kein Gegenstand der Empfindung mehr. Die Inju- 
rien, bei denen der Mann von Ehre flutet und kocht, sind dem 
Juristen ein Beleg, eine Glosse, eine Illustration zu dem Pandek- 
ten-Titel von den Injurien. Der Hospital-Arzt repetiert am Bette 



ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



291 



des Kranken, iiber welchen die Fieberflammen zusammenschla- 
gen, ruhig die wenigen Abschnitte aus seiner Klinik, die herpassen. 
Der Offizier, der auf dem Schlachtfeld — dem Fleischhacker- 
StockderMenschheit-iiberdiezerbrochnenMenschenwegschrei- 
tet, denkt bloB an die Evolutionen und Viertel-Schwenkungen 
seiner Kadettenschule, die norig waren, ganze Generationen in 
physiognomische Fragmente auszuschneiden.Der Bataillenmaler, 
der hinter ihm geht, denkt und sieht zwar auf die zerlegten Men- 
schen und auf jede daliegende Wunde; aber er will alles fur die 
> Diisseldorfer Galerie nachkopieren, und das reine Menschen-Ge- 
fuhl dieses Jammers weckt er erst durch sein Schlachtstiick bei 
andern und wohl auch bei - sich. - So zieht jede Erkenntnis eine 
Stein-Kruste iiber unser Herz, die philosophische nicht allein. - 
Beata opferte fast ihre Augen dem Anteil auf, den sie an nie- 
mand anderem (wie sie dachte) nahm als an dem Hingeschiednen. 
Ihre schweren Blicke waren oft nach dem Eremitenberg gerichtet ; 
abends besuchte sie ihn selbst und brachte dem Schlafenden das 
Letzte, was die Freundschaft dann noch zu geben hat, im Ober- 
maB. So dringen also die Griffe des Ungliicks in weiche Herzen 

1 20 am tiefsten; so sind die Tranen, die der Mensch vergieBet, desto 
groBer und schneller, je weniger ihm die Erde geben kann und je 
hoher er von ihr stent, wie die Wolke, die hoker als andre von der 
Erde sich entfernt, die grofiten Tropfen wirft. Nichts richtete 
Beaten auf als die Ve^dopplung des Almosens, das sie gewissen 
Armen wochentlich oder nach jeder Freude gab ; und der einsame 
Umgang mit der Residentin/mit ihrer Laura und den beiden 
Gartners-Kindern. 

Die zwei Reisenden waren besser daran. Da der Doktor Fenk 
die Arzte des Landes ex officio visitierte, weiche Arzneien mach- 

I30 ten, nebst den Apothekern, die Repressalien gebrauchten und Re- 
lepte machten : so argerte er sich zum Gliick so oft, daB er keine 
rechte Stunde hatte, sich zu betriiben; auf diese Weise brachten 
Landphyski, die immer auf dem Lande waren (es miiBten denn 
gerade Seuchen grassieret haben), und Hebammen,dieinderNot- 
taufe die Wiedergeburt junger Nichtchristen noch besser besor- 
gen als deren Geburt, und weiche Pharao hatte haben sollen, diese 



292 DIE UNSICHTBARE LOGE 

brachten den bekiimmerten Pestilenziarius wieder etwas auf die 
Beine. Zorn ist ein so herrliches Abfuhrmittel der Betriibnis, daB 
Gerichtpersonen, die bei Witwen und Waisen versiegeln und in- 
ventieren, diese nicht genug argern konnen ; daher Iegier* ich kiinf- 
tig meinen Erben, die mein Tod zu sehr krankt, nichts testamenta- 
risch als das Mittel dagegen, Erbosung uber den Seligen. 

Beide kehrten endlich unter entgegengesetztem Herzklopfen 
wieder zuriick, und ihr Weg fuhrte sie vor Ruhestatt, dem Ritter- 
sitze Ottomars, und neben dem verwaiseten Tempel des Parks 
vorbei. Der Tempel war aber erleuchtet; es war weit in die Nacht; i< 
um den Tempel hing ein summender Bienenschwarm von Jagd- 
kleidern, in denen der halbe Hof steckte. Fenk und Gustav drang- 
ten sich also durch immer groBere Herren und Pferde hindurch, 
gingen wie Kometen vor einem Stern nach dem andern vorbei und 
in die Kirche hinein : darin waren ein oder zwei unerwarteteDinge 

- der Fiirst und ein Toter; denn das hinten am Altar fechtende 
Ding war kein unerwartetes, sondern der Pastor. Gustav und 
Fenk hatten sich in den Beichtstuhl gestopft. Gustav konnte sein 
Auge kaum vom Fursten reiBen, der mit jenemedeln gleichgiilti- 
gen Gesicht, das Leuten von Ton oder aus groBen Stadten und 2 < 
Leichenbittern selten mangelt, uber den Toten wegstreifte — der 
Furst hatte jenes Herz der GroBen, das ein Petrefakt im guten 
Sinne und unter ihren festen Tellen der erste ist und das recht 
schon verrat, daB sie sich an die Unsterbliehkeit der Seele halten 
und daB sie, wenn sie einen von den Ihrigen begraben lassen, 
nicht zu Hause sind. * 

Auf einmal Iegte sich der Doktor auf das Pult des Beichtstuhls 
nieder und bedeckte das Gesicht; er stand wieder auf und sah mit 
einem Auge, das er nicht abtrocknen konnte, nach dem aufge- 
deckten Leichnam hin und suchte vergeblich zu sehen. Gustav 3 
schauete auch hin, und die Gestalt war ihm bekannt, aber kein 
Name, um welchen er vergeblich den sprachlosen Doktor fragte 

— endlich nennte der Leichenredner den Namen. Ich brauch* es 
nicht erst in Doppelfraktur zu sagen, daB der Tote, auf dem 
jetzo so viele harte Augen und ein Paar trostlose ruhten, so aus- 
sah wie der Schauspieler Reinecke, dessen edle Bildung nun auch 



ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



*93 



der schwere Grabstein auseinanderdruckt- ich hab' es nicht notig, 
dem Pastor den Namen Ottomar nachzusprechen. Der arme Dok- 
tor schien seit einiger Zeit bestimmt zu sein, daB der Schmerz 
seine Nerven zu einem Nerven-Prdparat herauslosete und sich 
daran iibte. Sonderbar wars, daB Gustav nicht am gestorbenen, 
sondern bloB am traurenden Freunde Anteil nahm. 

Der gute Medizinalrat kntillte das Gesangbuch, das unter seiner 
Hand lag, gewaltsam zusammen; er horte nicht das Abreiten des 
Fiirsten, der nur drei Minuten dagewesen, um sich den Toten- 

> schein zu holen, aber jedes Wort des Pastors vernahm er, um von 
der neuesten Krankheitgeschichte seines Freundes etwas zu er- 
fahren; allein er erfuhr nichts als seine Todesart (hitziges Fieber). 
Endlich war alles vorbei, *und er ging stumm und zwischen die 
Trauerkerzen hineinstarrend auf die Bahre zu, schob, ohne Blick 
und Laut, was ihn hindern konnte, weg mit der linken Hand und 
zuckte hin nach des Schlafers seiner mit der rechten. Als er end- 
lich die Hand, welche Alpen und Jahre von seiner abgerissen hat- 
ten, wieder damit umschlossen hielt, ohne doch dem naherzu sein, 
nach dem er sich so lange gesehnet, und ohne die Freude*des 

■ Wiederfindens : so war sein Schmerz noch dicht, dunkel und warf 
sich schwer iiber seine ganze Seele her, ohne eine Gestalt zu haben* 
- Aber als er in jener Hand zwei Warzen wiederfand, die er sonst 
bei ihrem Druck so oft gefuhlet hatte: so nahm def Schmerz die 
Schleiergestalt der Vergangenheit an ; Mailand ging mit den Blii- 
ten seiner Weinberge und mit den Gipfeln seiner Kastanien und 
mit den schonen Tagen unter beiden voruber und sah traurig die 
zwei Menschen an, die nichts mehr hatten - Hier war' er mit den 
zwei gieBenden Aiigen auf die zwei ewig trocknen gefallen, wenn 
nicht der Leichenmarschall gesagt hatte: »Das tut man nicht gern, 
I30 es ist nicht gut.« BloB eine Locke gab ihm das Grab vom ganzen 
geraubten Freunde zuriick, eine Locke, die fur das Auge so wenig 
und fiir den fiihlenden Finger so viel ist Er schlichtete die Hand, 
die den letzten Brief so traurig geschlossen, sanft wieder iiber die 
unberiihrte und verlieB seinen Ottomar auf lange. 

Er hatte nicht bemerkt, daB des Verstorbnen Spitzhund und 
zwei tonsurierte fremde Menschen da waren, wo von der eine sechs 



294 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Finger hatte. - AuBer der Kirche auf dem Wege, dessen eine 
Richtung nach dem Ottomarschen SchloB und dessen andre urn 
den Eremitenberg lief, sahen Gustav und Fenk einander mit einer 
stummen trostlosen Frage an - sie antworteten einander durch 
den Abschied. Der Doktor kehrte um und setzte seine Reise fort 
- Gustav ging in den Park und dachte unten am FuBe des Ere- 
mitenberges dem Schicksale — nicht seines Freundes noch seinem 

eignen, sondern dem — aller Menschen nach 

Und wann schreib* ich dies? Heute, am i6.November, wo der 
Namentag des eingesargten Ottomars ist. - 



Dreiunddreissigster oder xxv.Trinitatis-Sektor 

Grofie Aloe-Bliiten der Liebe: oder das Grab - der Traum - die Orgel 
nebst meinem SchlagfluB, Peizstiefel und Eis-Liripipium 

In Gustav riickten die hochsten Lichter aus des Freundes Bild 
langsam in das der Geliebten iiber. Jetzt trat erst ihr Gesicht, das 
am Totenbette ewige Strahlen in ihn geworfen hatte, aus dem 
Zypressen-Schatten vor. Die einsame Pyramide stand erhaben 
als Wach-Engel neben dem Begrabnen. Er trug sich hinauf, mit 
Schmerzen , aber mit sanftern ; er hatte nun doch den unbeschreib- 
lich suBen Trost, den Menschen in der Erde nie gekrankt, und z . 
ihm oft verziehen zu haben; er wunschte, Amandus hatte seine 
Verzeihung noch ofter veranlasset; sogar dies deckte seinen wun- 
den Busen mit warmem Troste zu, daB er jetzt ihn so liebe, so be- 
trauere, ungesehen, unbelohnet. 

Oben trat er noch in einige Leidens-Dornen, woruber man laut 
aufschreiet; aber bald flogen seine Augen sehnend auf der Licht- 
Briicke, die von einer Lampe aus Beatens Zimmer iiber den Gar- 
ten zum Berg hiniiberlief, gleich andern Phalanen ihren hellen 
Fenstern nach. Er sah nichts als bald das Licht, bald einen Kopf, 
der es verbauete ; aber diesen Kopf schmiickte er im seinigen scho- $ 
ner aus als irgendeine Frau den ihrigen. Er legte und lehnte sich, 
halb kniend und halb stehend, mit dem Blick gegen den langen 



DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



2 95 



Lichtstrom zugewandt, an das Postement der Pyramide an. Mii- 
digkeit und schlaflose Nachte hatten seine Tranen-Driisen mit 
jenen driickenden und doch reizenden Tranen gefullet, die oft 
ohne AnlaB und so bitter und so suB kurz vor Krankheiten oder 
nach Ermattungen ausstromen. - Dieselben Ursachen breiteten 
zwischen ihn und die auBere Welt gleichsam einen dunkeln Nebel- 
tag oder Heerrauch; seine innere Welt hingegen wurde aus einer 
Federieichnung ohne seine Anstrengungein gleiBendes Olgematde, 
dann ein musivisches, endlich eines in erhobner Arbeit — Welten 

10 und Szenen bewegten sich vor ihm auf und ab — endlich schloB 
der Traum die ganze nachtliche Au Ben welt mit seinen Augen- 
lidern zu und machte hinter ihnen eine neu geschaffne paradiesi- 
sche auf; gleich einem Toten lag sein schlummernder Korper 
neben einem Grabmal und sein Geist in einer iiber den ganzen 
Abgrund hinuberreichenden Himmel-Au. Ich werde den Traum 
und sein Ende sogleich erzahlen, wenn ich dem Leser die Person 
gezeigt habe, die den Traum zugleich verlangerte und endigte. 

Namlich Beata - kam. Sie konnte weder seine Wiederkunft 
noch seine letzte Station wissen. Die Nahe des Ottomarschen 

20 Leichenbegangnisses, die Entfernung Gustavs, dessen Bild seit 
dem letzten Auf tritt tief in und gleichsam durch ihr Herz gepresset 
war, und die Entfernung des Sommers, der sein buntes bliihendes 
Gemalde taglich um einige Zoll wieder zusammenrollte, alles das 
hatte sich in Beatens Brust zu einem driickenden Seufzer gesam- 
meltjdendaslaute JagdschloB mit seinen Dunstkreiseneinklemmte 
und mit dem sie reinere Atherkreise suchte, um ihn an einem 
Grabe auszuhauchen und aus ihm den Stoffzu neuen einzuatmen. 
— Schwarmerisches Herz! du treibest mit deinen fieberhaften 
Schlagen freilich dein Blut zu reiBend um und spiilest mit deinen 
1 3 o Giissen Ufer, Blumen und Leben fort; aber dein Fehler ist doch 
schoner, als wenn du mit phlegmatischem Getriebe aus dem 
stehenden Wasser des Blutes bloBen Fett-Schlamm anlegtest! 

Die Nachtwandlerin fuhr zusammen, da sie den schonen Schla- 
fer sah; sie hatte im ganzen Garten, den sie in diesen stillen Minu- 
ten durchstrichen hatte, niemand vermutet und gefunden. Er lag 
auf einem Knie sanft zusammengesunken; sein blasses Gesicht 



296 DIE UNSICHTBARE LOGE 

wurde von einem schonen Traum, vom aufgehenden Monde und 
von Beatens Auge angestrahlt. Ihr fiel nicht ein, daB er sich viel- 
leicht nur schlafend stelle; sie zitterte also um einen halben Schritt 
naher, um erstlich gewiB zu sein, wers ware, und um zweitens mit 
vollem Auge auf der Gestalt zu ruhen, vor der sie bisher nur vor- 
iiberstreichen durfte. Unter dem Anschauen wuBte sie nicht recht, 
wann sie es eigentlich endigen sollte. Endlich wandte sie ihrem 
Paradiese den Riicken, nachdem sie noch einmal ganz an ihn ge- 
treten war; aber unter dem tragen Riickwartsgehen fiel ihr {ohne 
Schrecken) ein: »Er wird doch nicht gar tot sein?« Sie kehrte also ic 
wieder um und behorchte seine wachsenden Atemzuge. Neben 
ihm lagenzwei spitze Steinchen, so groB wie mein DintenfaB; 
sie buckte sich \weimal neben ihm nieder (sie wollt' es nicht auf 
einmal oder auch mit dem FuBe tun), um sie wegzunehmen, da- 
mit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . . . 

Wahrhaftig ein Alphabet oder 23 Bogen solk* ich mit diesem 
Auftritt vollzumachen haben; zum Gliick geht er erst recht an, 
wenn er erwacht, und der Leser ist heute der gliicklichste Mann — 

Sie war nun schon wie ein Veteran vertrauter mit der Gefahr 
und war so gewiB, er wiirde nicht erwachen, daB sie aufhorte, es « 
zu befurchten, und beinahe anfing, es zu wiinschen. Denn es fiel 
ihr ein: »die Nachtluft konnt* ihm schadlich sein.« - Es fiel ihr 
ferner ein, wie beide Freunde so erhaben nebeneinander ruhten; 
und ihr blaues Auge befreiete sich von einem Tautropfen, von 
welchem ich nicht weiB, ging er fur das auBer der Erde pochende 
oder fur das in ihr stillstehende Herz herab. Endlich machte sie 
ernsthafte Anstalten abzugehen, um iiberhaupt in der Entfernung 
ihn durch ein Gerausch zu wecken und um ihren Riihrungen ohne 
Furcht seines Erwachens nachzuhangen. Sie wollte bloB noch 
bei ihm vorbeigehen (denn 4*/, Schritte stand sie ab), weil sie auf y 
der andern Seite des Berges hinunter mufite (sie hatte denn um- 
kehren wotlen). Sein Lacheln verkiindigte immer groBere Ent- 
ziickungen, und sie war freilich begierig, wie es noch auf seinem 
Gesichte ablaufen wiirde, aber sie muBte den lachelnden Traumer 
verlassen. Da sie also zwei zogernde Schritte sich ihm genahert 
hatte, um sich mehre von ihm zu entfernen : so fing auf einmal die 



DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



297 



Orgel der einsamen Kirche von Ruhestatt, wo heute Ottomar be- 
graben worden, mitten in der Nacht so ernst und klagend zu gehen 
an, als wenn der Tod sie spielte; und Gustavs Angesicht wurde 
plotzlich vom Widerschein eines innern Elysiums verklart; und 
er richtete sich mit zugeschloBnen Augen auf, erhaschte schnell 
die Hand der erstarrenden Beata und sagte schlaftrunken zu ihr: 
»0 nimm mich ganz, gluckliche Seele, nun hab* ich dich, geliebte 
Beata, auch ich bin tot.« 

Der Traum, der mit diesen Worten ausging, war der gewesen : 

10 Er sank in eine unabsehliche Aue nieder,die iiber schone, aneinan- 
der gestellte Erden hinuberlief. Ein Regenbogen von Sonnen, die 
wie zu einer Perlenschnur aneinander gereihet waren, faBte die 
Erden ein und drehte sich urn sie. Der Sonnenkreis sank unter- 
gehend dem Horizonte zu und auf dem Rande der grofien runden 
Flur stand ein Brillanten-Gurtel von tausend roten Sonnen und 
der liebende Himmel hatte tausend milde Augen aufgetan. - Haine 
und Alleen von Riesen-Blumen, die so hoch wie Baume waren, 
durchzogen im durchsichtigen Zickzack die Aue; die hochstam- 
mige Rose bewarf diese mit einem goldroten Schatten, die Hya- 

20 zinthe mit einem blauen, und die zusammenrinnenden Schatten 
von alien bereiften sie mit Silberfarbe. Ein magischer Abend- 
schimmer wallete wie ein freudiges Erroten zwischen den Schat- 
tenufern und durch die Blumenstamme iiber die Flur, und Gustav 
fuhlte, das sei der Abend der Ewigkeit und die Wonne der Ewig- 
keit. - Begliickte Seelen tauchten sich, weit von ihm und naher 
den weggleitenden Sonnen, in die zusammengehenden Abend- 
strahlen und ein gedampftes Jauchzen stand verhallend wie eine 
Abendglocke iiber dem himmlischen Arkadien; - nur Gustav lag 
verlassen im Silberschatten der Blumen und sehnte sich unend- 

jo lich, aber keine jauchzende Seele kam heriiber. Endlich dufteten 
in der Luft zwei Leiber in eine diinne Abendwolke auseinander 
und das fallende Gewolk entbloBte zwei Geister, Beata und Aman- 
dus - dieser wollte jene in Gustavs Arme fuhren, aber er konnte 
nicht in den Silberschatten hinein - Gustav wollte ihr in die ihrigen 
entgegen fallen, aber er konnte nicht aus dem Silberschatten hin- 
aus. - »Ach, du bist nur noch nicht gestorben,« rief Amandus* 



298 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Seele, »aber wenn die Ietzte Sonne hinunter ist: so wird dein 
Silberschatten iiber alles flieBen und deine Erde von dir flattern 
und du wirst an deine Freundin sinken« - eine Sonne urn die 
andre zerging — Beata breitete ihre Arme hernieder — die Ietzte 
Sonne versank - ein Orgelton, der Welten und ihre Sarge zer- 
zittern konnte, klang wie ein fliegender Himmel heriiber und 
losete durch sein weites Beben die Faser-Hiille von ihm ab und 
iiber den ausgebreiteten Silberschatten wehte ein Entzucken und 
hob ihn empor und er nahm — die wahre Hand von Beata und 
sagte, indem er wachte und traumte und nicht sah, die Worte zu 10 
ihr: »0 nimm mich ganz, gliickliche Seele, nun nab' ich dich, ge- 
liebte Beata, auch ich bin tot.« Ihre Hand hielt er so fest wie der 
Gute die Tugend. Ihr versuchtes Loswinden zog ihn endlich aus 
seinem Eden und Traum; seine gliicklichen Augen gingen auf und 
vertauschten die Himmel; vor ihnen stand erhaben der weiBe, 
vom Monde iiberschwemmte Grund und die Aue des Parks und 
die tausend zu Sternen verkleinerten Sonnen und die geliebte 
Seele, die er vor dem Untergange aller Sonnen nicht erreichen 
konnte. - Gustav muBte denken, der Traum sei aus seinem 
Schlafe ins Leben iibergezogen und er habe nicht geschlafen; 20 
sein Geist konnte die groBen steilen Ideen vor ihm nicht be- 
wegen und nicht vereinigen. »In welcher Welt sind wir?« fragte 
er Beata, aber in einem erhabnen Tone, der beinahe die Frage be- 
antwortete. Seine Hand war mit ihrer ziehenden fest verwachsen. 
»Sie sind noch im Traume«, sagte sie sanft und bebend. Dieses Sie 
und die Stimme stieB auf einmal seinen Traum in den Hinter- 
grund aus der Gegenwart zuriick; aber der Traum hatte ihm die 
Gestalt, die an seiner Hand kampfte, Heber und vertrauter ge- 
macht und die getraumte Unterredung wirkte in ihm wie eine 
wahre und sein Geist war noch eine erhaben-fortbebende Saite, in 30 
die ein Engel seine Entziickung gerissen - und da jetzt driiben im 
oden Tempel die Orgel durch neues Ertonen die Szene iiber den 
irdischen Boden erhob, wo beide Seelen noch waren; da Beatens 
Stellung schwankte, ihre Lippe zitterte, ihr Auge brach; - so war 
ihm wieder, als wiirde der Traum wahr, als zogen die groBen 
Tone ihn und sie aus der Erde weg ins Land der Umarmung hin- 



DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



299 



auf, sein Wesen kam an alle seine Grenzen - »Beata«, sagt' er zu 
der schonen, an bekampfenden Empfindungen dahinsterbenden 
Gestalt,»Beata, wir sterben jetzt - und wenn wir tot sind, so sag' 
ich dir meine Liebe und umarme dich — der Tote neben uns ist mir 
im Traum erschienen und hat mir wieder deine Hand gegeben.<< 
...Sie suchte auf das Grab desselben aufzusinken — aber er hielt 
den fallenden Engel in seinen Armen auf- er lieB ihr entschlum- 
mertes Haupt unter seines fallen und unter ihrem stockenden 
Herzen gliihten die Schlage des seinigen - es war eine erhabne 

10 Minute, als er, die Arme um eine schlummernde Seligkeit gelegt, 
einsam ansah die auf der Erde schlafende Nacht, einsam anhorte 
die allein redende Orgel, einsam wachte im Kreise des Schlafs. . . . 
Die erhabne Minute verging, die seligste fing an: Beata erhob 
ihr Haupt und zeigte Gustav und dem Himmel auf dem zuriick- 
gebognen Angesicht das irre iiberweinte Auge, die erschopfte 
Seele, die verklarten Zuge und alles, was die Liebe und die Tu- 
gend und die Schonheit in einen Himmel dieser Erde drangen 
konnen. — Da kam der uberirdische durch tausend Himmel auf 
die Erde fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick, wo 

20 das menschliche Herz sich zur hochsten Liebe erhebt und fiir zwei 
Seelen und zwei Welten schlagt - der Augenblick vereinigte auf 
ewig die Lippen, auf denen alle Erdenworte erloschen, die Her- 
zen, die mit der schweren Wonne kampften, die verwandten 
Seelen, die wie zwei hohe Flammen ineinanderschlugen. . . . 

- Begehrt kein Landschaftstiick der bluhenden Welten von 
mir, uber welche sie in jenem Augenblicke hinzogen, den kaum 
die Empflndung, geschweige die Sprache fasset. Ich konnte eben- 
sogut einen SchattenriB von der Sonne geben. - Nach jenem 
Augenblicke suchte Beata, deren Korper schon unter einer groBen 

30 Trane wie ein Bliimchen unter einem Gewktertropfen umsank, 
sich aufs Grab zu setzen; sie bog ihn sanft mit der einen Hand von 
sich, indem sie ihm die andre lieB. Hier schloB er seine weite Seele 
auf und sagte ihr alles, seine Geschichte und seinen Traum und 
seine Kampfe. Nie war ein Mensch aufrichtiger in der Stunde sei- 
nes Gliicks als er; nie war die Liebe bidder nach der Minute der 
Umarmung als hier. Bei Beaten schwamm, wie allemal, das 



300 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Freudenol diinn auf dem Tranenwasser; ein vor ihr stehendes 
Leiden sah sie mit trocknen festen Blicken an, aber kein erinnertes 
und keine vor ihr stehende Freude. Sie hatte jetzo kaum den Mut 
zu reden, kaum den Mut, sich zu erinnern, kaum den Mut, ent- 
ziickt zu sein. Zu ihm hob sie das scheue Auge nur hinauf, wenn 
der Mond, der iiber eine durchbrochne Treppe von Wolken stieg, 
hinter einem weiBen Wolkchen verschattet stand. Aber als eine 
dickere Wolke den Mond-Torso begrub: so endigten beide den 
schonsten Tag ihres Lebens, und unter ihrer Trennung fuhlten 
sie, daB es fur sie keine andre gebe. — u 

Im einsamen Zimmer konnte Beata nicht denken, nicht empfin- 
den, nicht sich erinnern; sie erfuhr, was Freudentranen sind; sie 
lieB sie stromen, und als sie sie endlich stillen wollte, konnte sie 
nicht, und als der Schlaf kam, ihre Augen zu verschlieBen, lagen 
sie schon unter himmlischen Tropfen bedeckt. — 

Thr unschuldigen Seelen, zu euch kann ich besser wie zu Ver- 
storbnen sagen: schlaft sanft! Gemeiniglich gefallen uns, namlich 
mir und dem Leser, die Bravour- und Force-Rollen der Roma- 
nen-Liebhaber schlecht, weil entweder die eine Person nicht wiir- 
dig ist, solche Lichtwolkenbruche der Freude zu gemeBen, oder zc 
die andere, sie zu veranlassen; hier aber haben wir beide gegen 
nichts etwas. . . . Wollte nur der Himmel, ihr Liebenden, euer lah- 
mer Lebensbeschreiber konnte seine Feder zu einem Blanchards- 
Fliigel machen und euch damit aus den Grubenzimmerungen und 
Grubenwettern des Hofes in irgendeine freie Pappelinsel tragen, 
sie sei im Slid- oder im Mktelmeer! - Da ichs nicht kann, so denk* 
ich mirs doch; und sooft ich nach Auenthal oder Scheerau gehe, 
so zeichne ich mir es aus, wie viel ich euch schenkte, wenn ihr in 
jenem Pappel- und Rosental, das ich in Wasser gefasset hatte, 
ohne den deutschen Winter, unter ewigen Bliiten, ohne die 30 
Schneide-Gesichter der moralischen Febrikanten, ohne ein ge- 
fahrlicheres Murmeln als das der Bache, ohne festere Verstrickun- 
gen als die in verwachsenen Blumen und ohne den EinfluB harterer 
Sterne als der friedlichen am Himmel, in schuldloser Wonne und 
Ruhe Atem holen diirftet - nicht zwar immerfort, aber doch die 
paar Blumenmonate eurer ersten Liebe hindurch. 



DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



3OI 



Das ist aber unmenschlich schwer, und ich bin am wenigsten 
der Mann dazu. Ein solches Gliickist schwer zu steigern und eben 
darum schwer zu halten. Werde lieber hier ein Wort vom Gliicke 
eines schreibseligen Kranklings vorzubringen erlaubt, der doch 
auch eines haben will und der eben der Beschreiber der vorigen 
Seligkeit selber ist, ich meine namlich ein Wort von meiner kran- 
ken Personlichkeit. Vom Kuhstall bin ich wieder herauf und von 
der Lungensucht glucklich genesen ; nur der SchlagfluB setzet mir 
seitdem mit Symptomen zu und will mich erschlagen wie einen 

10 Maulwurf, gerade indem ich, wie letzter seinen Hiigel, so den 
babylonischen Turm meines gelehrten Ruhmsaufwerfe. ZumGliick 
geb' ich mich gerade mit Hallers groBer und kleiner Physiologie 
ab und mit Nikolais materia medica und mit allem Medizinischen, 
was ich geborgt bekomme, und kann also mit meinen medizini- 
schen Kenntnissen auf den SchlagfluB ein tiichtiges Kartatschen- 
feuer geben. Das Feuer mach' ich an meinen FuBen, indem ich das 
lange Bein in einen groBen Pelzstiefel wie eine Vorholle setze, und 
das zusammengegangne in ein Pelz-Schnurstiefelchen : ich habe 
die altesten Mond-Doktores und Pestilenziarien auf meiner Seite, 

20 wenn ich mir einbilde, daB ich gleich einem Demokraten durch 
diese Stiefel - und ein breites Senfpflaster, womit ich wie mehre 
Gelehrte meine FtiBe besohle - die materia peccans aus den obern 
Teilen in die niedern heruntertreiben konne. Gleichwohl gen' ich 
weiter, wenns gefriert. Ich schabe und kerbe mir namlich eine 
hohe Eismutze 1 aus und denke unter der gefrornen Schlafmiitze: 
alsdann wirds kein Wunder sein, wenn die Apoplexie und ihre 
Halbschwester, die Hemiplexie - durch mich angefallen von oben 
und unten, am einen Pol durch den heiBen FuB-Sokkus, am an- 
dern durch den Eis-Knauf oder die gefrorne Marterer-Krone — 

30 hingeht, wo sie herkam, und mich der Erde schenkt, deren einer 
Pol gleichfalls unten Sommer hat, wenn der andre oben Winter. 
....Der Leser werfe aber einmal von guten Buchern ein philan- 
thropinisches Auge auf uns, deren Verfasser: wir Verfasser stren- 
gen uns an und verfertigen Fibeln, Mordpredigten, periodische 

1 Ausgehohltes Eis wird bekanntlich auf den Kopf gelegt, wenn Kopf- 
schmerzen, Schwindel, Tollheit darin sind. 



302 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Blatter oder Reinigungen, Ausschnitte und andern aufklareriden 
Henker; aber unsern Madensack zerzausen und schaben wir ja 
dariiber entsetzlich ab - und doch meints kein Teufel ehrlich mit 
uns. So steh' ich und die ganze schreibende Innung aufrecht da 
und verschieBen gern lange Strahlen fiber die ganze Halbkugel 
(denn mehr ist auf einmal von Welt- und andern Kugeln nicht zu 
beleuchten, und dem ganzen Amerika fehlen unsre Kiele), indes 
wir doch den ersten Christen gleichen, die das Licht, womit sie, 
in Pech und Leinwand eingeklemmt, als lebendige Pechfackeln 
iiber Neros Garten schienen, zugleich mit ihrem Fett und Leben ic 
von sich gaben.... 

»Und hier« - sagen Romanen-Manufakturisten - »erfolgte ein 
Auftritt, den der Leser sich denken, ich aber nicht beschreiben 
kann.« Das kommt mir viel zu dumm vor. Ich kann es auch nicht 
beschreiben, beschreib' es aber doch. Haben denn solche Autoren 
so wenig Rechtschaffenheit, daB sie bei einer Szene, nach der die 
Leser schon im voraus geblattert haben, z.B. bei einem Todes- 
fall, auf den alle, Eltern und Kinder, lauern wie auf einen Lehn- 
fall oder Hangtag, vom Sessel aufspringen und sagen: das macht 
selber? Es ist so, als wenn die Schikanedrische Truppe vor den 20 
verzerrendsten Auftritten des Lears an die Theater-Kiiste ginge 
und das Publikum ersuchte, es mochte sich Lears Gesicht nur 
denken, sie ihres Orts konnte es unmoglich nachmachen. - Wahr- 
haftig was der Leser denken kann, das kann ja der Autor - beim 
vollen Puis aller seiner Krafte - sich noch leichter denken und es 
mithin schildern; auch wird des Lesers Phantasie, in deren Spei- 
chen einmal die vorhergehenden Auftritte eingegriffen und die sie 
in Bewegung gesetzt, leicht in die starkste durch jede Beschrei- 
bung des letzten Auftritts hineinzureiBen sein - auBer durch die 
jammerliche nicht, daB er nicht zu beschreiben sei. 30 

Von mir hingegen sei man versichert, ich mache mich an alles. 
Ich redete es daher schon auf der Ostermesse mit meinem Ver- 
leger ab, er sollte sich urn einige Pfund Gedankenstriche, um ein 
Pfund Frage- und Ausrufungszeichen mehr umtun, damit die 
heftigsten Szenen zu setzen waren, weil ich dabei um meinen apo- 
plektischen Kopf mich so viel wie nichts bekiimmern wurde. 



VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR 3O3 

VlERUNDDREISSIGSTER ODER I. AdVENT-SeKTOR 

Ottomar - Kirche - Orgel 

Am andern Morgen warfein Larm im Schlosse iiber eine Sache, 
die der Doktor Fenk um eine Woche spater durch einen Brief von 
— Ottomar erfuhr. 

- Nie hab' ich einen Sektor oder Sonntag so traurig angefangen 
als heute; mein vergehender Korper und der folgende Brief an 
Fenk hangen wie ein Hutflor an mir. Ich wollt', ich verstande den 
Brief nicht - ach es ware dann eine unvergeBliche November- 
» stunde nie in mein Leben getreten, die, nachdem so viele andre 
Stunden bei mir vorubergegangen, bei mir stehen bleibt und mich 
immerfort ansieht. - Dunkle Stunde ! du streckest deinen Schatten 
iiber ganze Jahre aus, du stellest dich so vor mich, daB ich den 
phosphoreszierenden Nimbus der Erde hinter dir nicht flimmern 
und rauchen sehen kann, die 80 menschlichen Jahre sehen in dei- 
nem Schatten wie der Ruck des Sekundenweisers aus - ach nimm 
mir nicht so viel! ...Ottomar hatte dieselbe Stunde nach seinem 
Begrabnis und beschreibt sie dem Doktor so : 



»Ich bin seitdem lebendig begraben worden. Ich habe mit dem 
1 20 Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als 
ihn. - Als ich aus meinem Sarg heraus war, so hat er die ganze 
Erde dafiir hineingelegt und mein biBchen Freude oben darauf. 
...Ach guter Fenk! wie bin ich verandert! Komm nur bald zu- 
riick! Seitdem stehen vor mir alle Stunden wie leere Graber hin, 
die mich oder meine Freunde auffangen ! Ich hab' es wohl gehort, 
wer meine Hand noch einmal am Sarge gedruckt .... komm recht 
bald, Teurer! 

WeiBt du nicht mehr, wie ich mich von jeher vor dem leben- 
digen Begrabnis gefurchtet? Mitten im Einschlafen fuhr ich oft 
1 30 auf, weil mir einfiel, ich konnte ohnmachtig und so beerdigt wer- 
den und meine aufwollenden Arme triebe dann der Sargdeckel 
nieder. Auf Reisen drohte ich iiberall, wo ich kranklich wurde, 



304 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ich wollte ihnen, wenn sie mich innerhalb acht Tagen beisetzten, 
als Gespenst erscheinen und auflasten. Diese Furcht war mein 
Gluck: sonst hatte mich mein Sarg getotet. 

Vor Wochen kam meine alte Krankheit wieder zu mir, das 
hitzige Fieber. Ich eilte mit ihr nach meinem Ruhestatt, und mein 
erstes Wort zu meinem Hausverwalter - da ich dich nicht haben 
konnte — war, mich sogleick, als ich ohne Leben ware, zu beerdi- 
gen, weildie Gewolbluft leichter erweckt, abernichts zuzusperren, 
weder Sarg noch Erbgruft — die einsame Kirche am Park steht 
ohnehin offen. Auch sagt* ich ihm, meinen Spitzhund, der nicht 10 
von mir bleibt, uberall mitzulassen. Noch in der Nacht nahm das 
Fieber zu; aber beim Blutlassen bricht meine Zuriickerinnerung 
ab. Ich weiB bloB noch, dafi ich das Blut mit einigem Schauder 
um meinen Arm sich krUmmen sah; und daB ich dachte: >Das ist 
das Menschenblut, das uns heilig ist, welches das Kartenhaus und 
das Sparrwerk unsers Ichs auskiittet und in welchem die unsicht- 
baren Rader unsers Lebens und unserer Triebe gehen.< Dieses 
Blut spriitzte nachher an alle Phantasien meiner Fiebernachte; das 
eingetauchte All stieg blutrot daraus herauf, und alle Menschen 
schienen mir an einem langen Ufer einen Strom zusammenzublu- 20 
ten, der uber die Erde hinaus in eine saufende Tiefe hinabsprang — 
Gedanken, haBliche Gedanken nickten vor mir grinsend voriiber, 
die kein Gesunder kennt, keiner nachschafft, keiner ertragt, und 
die bloB liegende Krankenseelen anbellen. Ware kein Schopfer: 
so muBt' ich vor den verborgnen Angst-Saiten erzittern, die im 
Menschen aufgezogen sind und an denen ein feindseliges Wesen 
reiBen konnte. Aber nein! du allgiitiges Wesen! du haltst deine 
Hand uber unsre Anlagezur Qualund legest dasErden-Herz, wor- 
iiber diese Saiten aufgewunden sind, auseinander, wenn sie zu 
heftig beben ! . . . 30 

Der Kampf meiner Natur wurde endlich zu einem ohnmachti- 
gen Schlummer, aus dem so viele blofi erwachen, um unter der 
Erde zu sterben. Darin trug man mich in die einsam stehende 
Kirche. Der Furst und mein Spitz waren mit dabei; aber blofi der 
erste ging wieder fort. Ich lag vielleicht die halbe Nacht ; bis das 
Leben durch mich zuckte. Mein erster Gedanke riB die Seele immer 



VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



305 



auseinander. Von ungefahr trat der Hund auf mein Gesicht; plotz- 
lich senkte sicheine Beklemmung, wie wenn eine Riesenhand meine 
Brust boge, tief auf mich herein, und ein Sargdeckel schien mir 
wie ein aufgehobnes Rad iiber mir zu stehen.... Schon die Be- 
schreibung schmerzt mich, weil die Moglichkeit der Wiederho- 
lung mich angstigt .... Ich stieg aus der sechseckigen Brutzelle des 
zweiten Lebens ; der Tod streckte sich vor mir weit hin mit seinen 
tausend Gliedern, den Kopfen und Knochen. Ich schien mir unten 
im chaotischen Abgrund zu stehen, und oben weit iiber mir zog 

10 die Erde mit ihren Lebendigen. Mich ekelte Leben und Tod. Auf 
das, was neben mir lag, sogar auf meine Mutter sah ich starr und 
kalt wie das Auge des Todes, wenn er ein Leben zerblickt. Ein 
rundes Eisengitter in der Kirchenmaucr schnitt aus dern ganzen 
Himmel nichts heraus als die schimmernde zerbrochne Scheibe 
des Mondes, der als ein himmlisches Sarglicht auf den Sarg, der 
die Erde heifiet, herunterhing. Die ode Kirche, dieser vorige 
Markt des redenden Gewimmels, stand ausgestorben und unter- 
graben von Toten da - die langen Kirchenfenster legten sich, vom 
Mond abgeschattet, iiber die Gitterstuhle hinuber - an der Sa- 

20 kristei richtete sich das schwarze Toten-Kreuz auf, das Orden- 
kreuz des Todes - die Degen und Sporen der Ritter erinnerten 
an die zerbrockelten Glieder, die sie und sich nicht mehr beweg- 
ten, und der Totenkranz des Sauglings mit falschen Blumen hatte 
den armen Saugling hieher begleitet, dem der Tod die Hand ab- 
gebrochen, eh' sie wahre pfliicken konnte - steinerne Monche und 
Ritter machten das langst verstummte Gebet an der Mauer mit 
verwitternden Handen nach - nichts Lebendiges sprach in der 
Kirche als der eiserne Gang des Perpendikels der Turmuhr, und 
mir war, als hort* ich, wie die Zeit mit schweren FiiBen iiber die 

jo Welt schritt und Graber austrat als FuDstapfen... 

Ich setzte mich auf eine Altarstufe, um mich lag das Mondlicht 
mit triibenden eilenden Wolkenschatten; mein Geist stand hoch: 
ich redete das Ich an, das ich noch war: >Was bist du? was sitzt 
hier und erinnert sich und hat Qual? - Du, ich, etwas - wo ist denn 
das hin, das gefarbte Gewolk, das seit dreiflig Jahren an diesem 
Ich voriiberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieB? - Mein 



3<><5 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Ich zog durch diesen bemalten Nebel hindurch — ich konnt' ihn 
aber nicht erfassen - weit von mir schien er etwas Festes, an mir 
versickernde Dufttropfen oder sogenannte Augenblicke - Leben 
heiftet also von einem Augenblick (diesem Dunstkugelchen der 
Zeit) in den andern tropfen .... Wenn ich nun ware tot geblieben : 
so war' also das, was ich jetzo bin, der Zweck gewesen, weswegen 
ich fur diese lichtervolle Erde und sie fur mich gebauet war? - 
Das ware das Ende der Szenen? - und uber dem Ende hinaus? - 
Freude ist vielleicht dort — hier ist keine, weil eine vergangne keine 
ist, und unsre Augenblicke verdunnen jede gegenwartige in tausend 10 
vergangne - Tugend ist eher hier; sie ist uber die Zeit - Unter mir 
schlaft alles; aber ich werd* es auch tun, und wenn ich mir noch 
dreiBig Jahre weismache, daB ich lebe, dann legen sie mich doch 
wieder hieher - die heutige Nacht kommt wieder - ich bleibe aber 
in meinem Sarg: und dann? ...Wenn ich nun drei Augenblicke 
hatte, einen zur Geburt, einen zum Leben, einen zum Sterben: zu 
was hatt' ich sie denn? wurd' ich sagen — Alles aber, was zwischen 
der Zukunft und Vergangenheit steht, ist ein Augenblick - wir 
haben alle mir drei.< . . . GroBes Urwesen - ring ich an und wollte 

beten du hast die Ewigkeit, ... aber unter dem Gedanken an 20 

den, der nichts als Gegenwart ist, erhalt sich kein menschlicher 
Geist aufrecht, sondern beugt sich an seine Erde wieder, - >0 ihr 
abgeschiedenen Lieben,< dacht* ich, >ihr waret mir nicht zu groB, 
erscheinet mir, hebt das Gefuhl der Nichtigkeit von meinem Her- 
zen ab und zeigt mir die ewige Brust, die ich lieben, die mich 
warmen kann.< Von ungefahr sah ich meinen armen Hund, der 
mich anschauete; und dieser ruhrte mich mit seinem noch kiirzern, 
noch dumpfern Leben so, daB ich bis zu Tranen weich wurde und 
mich nach etwas sehnte, womit ich sie vermehrte und stillte. 

Das war die Orgel uber mir. Ich ging zu ihr wie zu einer 30 
loschenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren groBen Tonen 
die nachtliche Kirche und die tauben Toten erschxitterte und als 
der alte Staub um mich flog, der auf ihren stummen Lippen bisher 
gelegen war: so zogen alle vergangliche Menschen, die ich geliebt 
hatte, nebst ihren verganglichen Szenen voriiber, du kamest und 
Mailand und das stille Land; ich erzahlte ihnen mit Orgeltonen, 



VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



307 



was zu einer hloBen Erzahlung geworden war, ich liebte sie alle 
im Fluge des Lebens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen 
sterben und in ihre Hand meine Seele driicken - aber nur Holz- 
tasten waren unter meiner driickenden Hand. - Ich schlug immer 
wenigere Tone an, die urn mich wie ein ziehender Strudelgingen - 
endlich legt' ich das Choralbuch auf einen tiefen Ton und zog die 
Balge in einem fort, um nicht den stummen Zwischenraum zwi- 
schen den Tonen auszustehen — ein summender Ton stromte 
fort, wie wenn er hinter den Fliigeln der Zeit nachginge, er trug 

10 alle meine Erinnerungen und Hoffnungen und in seinen Wellen 
schwamm mein schlagendes Herz.... Von jeher machte ein fort- 
bebender Ton mich traurig. 

Ich verlieB meine Auferstehungstatte und sah nach der weiBen 
Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferstand und wo das 
Leben fester schlief; die Pyramide stand in Mondschimmer ge- 
taucht, und mit mir wandelte ein langer Wolkenschatten. Blatter 
und Baume krummte der Herbst; iiber die stachlichten Wiesen- 
stoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr, die im Maule des 
Viehs verging; die Schnecke sargte sich in ihr Haus und Bett mit 

20 Geifer ein; und als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten 
fleckigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: so funk* ich, 
daB ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, sondern daB ich 
sie auf immer in der Gruft gelassen, und die Menschen, die ich 
wiederfand, schienen mir Leichname, die der Tod hergeliehen und 
die das Leben aufrichtet und schiebt, um mit diesen Figuren zu 
agieren in Europa, Asia, Afnka und Amerika.... 

So denk* ich noch. Ich werde auch zeitlebens den Trauer-Ein- 
druck von dieser GewiBheit herumtragen, daB ich sterben muB. 
Denn das weiB ich erst seit acht Tagen; ob ich mir gleich vorher 

30 recht viel auf meine Empfindsamkeit an Sterbebetten, an Theatern 
und Leichenkanzeln einbildete. Das Kind begreift keinen Tod, 
jede Minute seines spielenden Daseins stellet sich mit ihrem Flim- 
mern vor sein kleines Grab. Geschaft- und Freuden-Menschen 
begreifen ihn ebensowenig, und es ist unbegreifiich, mit welcher 
Kalte tausend Menschen sagen konnen : das Leben ist kurz. Es ist 
unbegreifiich, daB man dem betaubten Haufen, dessen Reden ar- 



308 DIE UNSICHTBARE LOGE 

tikuliertes Scbnarchen ist, das dicke Augenlid nkht aufziehen 
kann, wenn man von ihm verlangt: sieh doch durch deine paar 
Lebenjahre hindurch bis ans Bett, worin du erliegst - sieh dich 
mit der hangenden plumpen Toten-Hand, mit dem bergigen 
Kranken-Gesicht, mit dem weiBen Marmor-Auge, hore in deine 
jetzige Stunde die zankenden Phantasien der letzten Nacht her- 
iiber - diese groBe Nacht, die immer auf dich zuschreitet und die 
in jeder Stunde eine Stunde zuriicklegt und dich Ephemere, du 
magst dich nun im Strahl der Abendsonne oder in dem der Abend- 
Dammerung herumschwingen, gewiB niederschlagt. Aber die 10 
beiden Ewigkeiten tiirmen sieh auf beiden Seiten unsrer Erde in 
die Hdhe, und wir kriechen und graben in unserem tiefen Hohlweg 
fort, dumm, blind, taub, kauend, zappelnd, ohne einen groBern 
Gang zu sehen, als den wir mit Kaferkopfen in unsern Kot ackern. 

Aber seitdem ists auch mit meinen Planen ein Ende : man kann 
hienieden nichts vollenden. Das Leben ist mir so wenig, daB es 
fast das Kleinste ist, was ich fur ein Vaterland hingeben kann; ich 
trefFe und steige bloB mit einem groBern oder kleinern Gefolge 
von Jahren in den Gottesacker ein. Mit der Freude ists aber auch 
vorbei; meine starre Hand, die einmal den Tod wie einen Zitter- 20 
aal beruhrt hat, reibet den bunten Schmetterlingstaub zu Ieicht 
von ihren vier Fliigeln, und ich lasse sie bloB urn mich flattern, 
ohne sie zu greifen. BloB Ungluck und Arbeit sind undurchsichtig 
genug, daB sie die Zukunft verbauen; und ihr sollt mir will- 
kommen in meinem Hause sein, zumal wenn ihr aus einem andern 
ausziehet, wo der Mietherr die Freude lieber hineinhat. - O euch, 
ihrarmenbleichen,ausErdfarbengemachten Bilder, ihr Menschen, 
lieb' und duld' ich nun doppelt; denn wer anders als die Liebe 
zieht uns durch das Gefuhl der Unverganglichkeit wieder aus der 
Todesasche heraus? Wer sollt' euch euere zwei Dezembertage, 30 
die ihr 80 Jahre nennt, noch kalter und kiirzer machen? Ach wir 
sind nur zitternde Schatten! Und doch will ein Schatten den an- 
dern zerreiBen? - 

Jetzo begreif ' ich, warum ein Mensch, ein Konig in seinen alten 
Tagen ins Kloster geht: was will er an einem Hofe oder auf einer 
Borse machen, wenn die Sinnenwelt vor ihm zuriickweicht und 



VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



309 



. alles aussieht wie ein ausgespannter groBer Flor, indes bloB die 
hohere zweite Welt mit ihren Strahlen in dieses Schwarz herein- 
hangt? So leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Bergen 
besieht, sein Blau ab und wird schwarz, weil jenes nicht seine, 
sondern unsrer Atmosphare Farbe ist; aber die Sonne ist dann wie 
ein brennendes Siegel des Lebens in diese Nacht gedriickt und 
flammt fort.... 

Ich schauete gerade zum Sternenhimmel auf; aber er erhellet 
meine Seele nicht mehr wie sonst : seine Sonnen und Erden ver- 

10 wittern ja ebenso wie die, wo rein ich zerfalle. Ob eine Minute den 
Maden-Zahn, oder ein Jahrtausend den Haifisch-Zahn an eine 
Welt setze: das ist einerlei, zermalmt wird sie doch. Nicht bloB 
diese Erde ist eitel, sondern alles, das neben ihr durch den Himmel 
flieht und das sich nur in der GroBe von ihr trennt. Und du holde 
Sonne selber, die du wie eine Mutter, wenn das Kind gute Nacht 
nimmt, uns so zartlich ansiehest, wenn uns die Erde wegtragt und 
den Vorhang der Nacht um unsre Betten zieht, auch du fallest 
einmal in deine Nacht und in dein Bette und brauchst eine Sonne, 
um Strahlen zu haben I - 

20 Es ist also sonderbar, daB man hohere Sterne oder gar die Pla- 
neten und ihre Tochterlander zu Blumenkiibeln macht, in die uns 
der Tod steckt, wie etwa der Amerikaner nach dem Tode nach 
Europa zu fahren hofft. Die Europaer wiirden seinen Wahn er- 
widern und Amerika fiir die Walhalla der Abgeschiednen halten, 
wenn nur unsre zweite Halbkugel statt 1000 Meilen etwa 60000, 
wie die bekannte des Mondes, entfernt von uns hinge. O mein 
Geist begehrt etwas anders als eine aufgewarmte, neu aufgelegte 
Erde, eine andre Sattigung, als auf irgendeinem Kot- oder Feuer- 
Klumpen des Himmels wachset, ein langeres Leben, als ein zer- 

30 brockelnder Wandelstern tragt ; aber ich begreife nichts davon 

Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke 

genommen : solange ich lebe, soil die Seite, an der du den Locken- 

raub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne 

Zierde bleiben. etc. ' 

Ottomar.« 



3IO DIE UNSICHTBARE LOGE 

Dichtende Genies sind in der Jugend die Renegaten und Verfolger . 
des Geschmacks,spater aber Proselyten und Aposteldesselben,und 
den verzerrenden, mikroskopischen und makroskopischen Hohl- 
spiegel schleift das Alter zu einem ebnen ab, der die Natur bloB ver- 
doppelt, indem er siemalt. So werden die handelnden und empfin- 
denden Genies aus Feinden der Grundsatze und aus Sturmern der 
Tugend groBere Freunde von beiden,als fehlerlosere Menschen 
niemals werden. Ottomar wird einmal die ubertreffen,dieihn jetzo 
tadeln konnen. Obrigens werd' ich ihn im Verfolge dieser Viel- 
Lebensbeschreibung nicht schelmischbehandeln,sondernehrlich, 10 
ob ers gfeich nieht hofft; denn vor seiner Reise, wo ich einigemal in 
denheiBenBrennpunkt seiner Fehlergeriet,zerfielenwireinwenig 
miteinander : - seitdem glaubt er, ich hass* ihn von Herzen ; allein 
ich glaube, ich lieb' ihn von Herzen, nab' aber, wie hundert andre, 
eine besondre Freude an meiner verheimlichten leidenden Liebe. 



FUNFUNDDREISSIGSTER ODER ANDREAS-SEKTOR 
Tage der Liebe - Oefels Liebe - Qttomars SchloB und die Wachsfiguren 

Ich tunke heute schon wieder in mein biographisches DintenfaB, 
wetl ich nunmehr mit meinem Gebaude bald an die Gegenwart 
stofle — am heiligen Weihnachtfeste hofFich nach zu sein — ; ferner 2 o 
weil heute Andreastag ist und weil mein Hausherr unter dem Ge- 
schrei seiner Kinder einen Birkenbaum in die Stube und in einen 
alten Topf eingestellt hat, damit er zu Weihnachten die silbernen 
Friichte trage, die man ihm anbindet. Ober so etwas vergess' ich 
Gerichttage und Termine. 

Gustav wachte am Morgen nach der Liebeerklarung, nicht aus 
seinem Schlafe — denn darein konnte nach diesem Konigschufi im 
Menschenleben nur ein menschlicher Dachs oder eine Dachsin 
fallen -, sondern aus seinem brausenden Freuden-Ohrenklingen 
auf. Entziickungen zogen im Ringeltanz um sein inneres Auge, 50 
und sein BewuBtsein langte kaum zu seinem GenieBen zu; wel- 
cher Morgen! In einem solchen Brautschmuck trat die Erde nie 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



3 II 



vor ihn. Es gefiel ihm alles, sogar Oefel, sogar das Oefelsche 
Prahlen mit Beatens Liebe. Das Schicksal hatte heute - den Ver- 
lust seiner Liebe ausgenommen - keine giftige Spitze, keinen 
eiternden Splitter, den er nicht gleichgiiltig in seine von der gan- 
zen Seligkeit bewohnte und gespannte Brust eingelassen hatte. 
So ersetzt oft die hochste Warme die hochste Kalte oder Apathie; 
und unter der Taucherglocke einer heftigen Idee - sei es eine fixe 
oder eine leidenschaftliche oder eine wissenschaftliche - stecken 
wir beschirmt vor dem ganzen auBern Ozean. 

> Beaten gings ebenso. Diese sanfte fortvibrierende Freude war 
ein zweites Herz, das ihre Adern fullte, ihre Nerven beseelte und 
ihre Wangen ubermalte. Denn die Liebe steht - indes andre Lei- 
denschaften nur wie ErdstoBe, wie Blitze an uns fahren - wie ein 
stiller durchsichtiger Nachsommertag mit ihrem ganzen Himmel 
in der Seele unverriickt. Sie gibt uns einen Vorschmack von der 
Seligkeit des Dichters, dessen Brust ein fbrtbliihendes, tonendes, 
schimmerndes Paradies umfangt und der hineinsteigen kann, indes 
sein auBerer Korper das Eden und sich xiber polnischen Kot, hoi- 
landischen Sumpf und siberische Steppen tragt. - 

» O ihr Wolliistlinge in Residenzstadten ! wo reicht euch die Ge- 
genwart nur eine solche Minute, als hier die Vergangenheit "meinem 
Paare ganze Tage vorsetzt; euch, deren harte Herzen vom hoch- 
sten Feuer der Liebe, wie der Demant vom Brennspiegel, nur 
verfluchtigt, aber nicht geschmob(en werden? 

Aber wie Abendrot am Himmel so umherflieBet, daB es die 
Wolken des Morgenrots besaumt: so war auf Beatens Wangen 
neben dem Rot der Freude auch das der Schamhaftigkeit - wie- 
wohl nicht langer, als bis des Geliebten Gestalt, wie ein Engel, 
durch ihren Himmel flog. - Beide sehnten sich, einander zu sehen; 
30 beide fiirchteten sich, von der Residentin gesehen zu werden; die 
Entdeckung und noch mehr die Beurteilung ihrer Empflndungen 
hatten sie gern gemieden. Es gibt einen gewissen stechenden Blick, 
der weiche Emphndungen (wie der Sonnenblick das Alpen-Tier- 
chen Sure) zersetzt und umbringt; die schonste Liebe schlagt ihre 
Blumenblatter zusammen vor dem Gegenstande selber; wie sollte 
sie den sengenden Hofblick ausdauern? 



312 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Mit Einsicht ergreift hier der Lebensbeschreiber diese Gelegen- 
heit, die Ehen der GroBen mit zwei Worten zu loben; denn er 
kann sie mit den unschuldigen Blumen vergleichen. Wie Florens 
bunte Kinder bedecken GroBe ihre Liebe mit nichts - wie sie 
gatten sie sich, ohne sich zu kennen oder zu lieben - wie Blumen 
sorgen sie fur ihre Kinder nicht - sondern bruten ihre Nach- 
kommen mit der Teilnahme aus, womit es ein Briitofen in Agyp- 
ten tut. Ihre Liebe ist sogar eine dem Fenster angefrorne Blume, 
die in der Warme zerrinnt. Unter alien chymischen und physio- 
logischen Vereinigungen hat also bloB eine unter GroBen das 10 
Gute, daB die Personen, die miteinander aufbrausen und Ringe 
wechseln, eine entsetzliche Kalte verbreiten: so findet man die 
namliche Merkwiirdigkeit und Kalte bloB bei der Vereinigung 
des mineralischen Laugensalzes und der Salpetersaure, und Herr 
de Morveau sagt aus Einfalt, es fall' auf. — 

Da Beata sich so sehr sehnte, ihren und meinen Helden zu sehen : 
so - ging sie, um ihren Wunsch zu verfehlen, einige Tage nach 
MauBenbach zu ihrer Mutter. Ich will ihr Schirmvogt sein und fur 
sie reden. Sie tat es, weil sie ihm niemals anders aufstoflen wollte 
als von ungefahr; bei der Residentin aber wars' allemal mit Ab- 20 
sicht gewesen. Sie tat es, weil sie sich gern selber krankte und wie 
Sokrates den Becher der Freude erst weggoB, eh' sie ihn ansetzte. 
Sie tat es, weswegen es selten eine tate - um ihrer Mutter um den 
Hals zu fallen und ihr alles zu sagen. Endlich tat sie es auch, um 
zu Hause das Portrat Gustavs, das der Alte versteigert hatte, auf- 
zusuchen. 

Ich erfuhr alles schon am Tage ihrer Riickreise, da ich in Mau- 
Benbach als eine ganze adlige Rota anlangte, um eine arme Wirtin 
weniger zu bestrafen als zu befragen, weil sie - wie man in der 
Pariser Oper fur wichtige Rollen die Spieler doppelt und dreifach 30 
in Bereitschaft halt - die erhebliche Rolle ihres Ehemannes anstatt 
mit einem Double sogar mit zwolf Leuten aus der Gegend vor- 
sichtig besetzt hatte, damit fortgespielet wiirde, sooft er selber 
nicht da ware. Und hier war es, wo ich abnehmen konnte, wie 
wenig mein Herr Gerichtprinzipal zum Ehebruch geneigt sei, 
sondern vielmehr zur Tugend; er war ordentlich froh, daB das 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



313 



ganze Floz von eingepfarrten Ehebrechern gerade vor seinem 
Ufer vorbeikam und daB er das Werkzeug wurde, womit die 
Gerechtigkeit diese geheime Geseltschaft heimsuchte und aus- 
wichste. Daher suchte er in der Wirtin wie in Jochers Gelehrten- 
Lexikon mit Lust nach den Namen wichtiger Autoren, und sie war 
seinem tugendhaften Ohr ein Homer, der die verwundeten Helden 
samtlich bei Namen absingt; daher schenkte er ihr aus Mitleiden, 
weil sie gar nichts hatte, seine Geldstrafe ganz; aber die ehe- 
brechende Union und Truppe wurde unter die Stampfmuhle und 

10 in die Kelter gebracht, oder ihr Saugwerke und Pumpenstiefel 
angelegt. - 

Also in MauBenbach beim Auspressen des ehebrechenden Per- 
sonal erzahlte mir die Gerichtprinzipalin, was ihr die Tochter 
erzahlet - um mich zu bitten, daB ich als voriger Mentor des Lieb- 
habers das Paar auseinanderlenken sollte, weil ihr Mann die Liebe 
nicht litte. Ich konnte ihr nicht sagen, daB ich liber der Biographie 
vom Paare und ihrer eignen ware und daB die Liebe das Heft- 
pflaster und der Tischlerleim sei, der die ganze Lebensbeschrei- 
bung und das Paar verkittete, und ohne welchen mein ganzes 

20 Buch in Stucken zerfiele, daB ich also die Jenaer Rezensenten be- 
leidigen wurde, wenn ich ihm seine Liebe nehmen wollte. - Aber 
so viel konnt* ich ihr wohl sagen, es sei unmoglich, denn die Liebe 
eines solchen Paars sei feuerfest und wasserdicht. Ich kam ihr mit 
meinem Gefuhl ein wenig einfaltig vor; denn sie dachte an ihre 
eigne Erfahrung. Ich fiagte verschlagnerweise hinzu : »das Falken- 
bergische Haus hefce sich seit einigen Jahren und tue hubsche 
Kapitalien aus.« Sie antwortete mir bloB darauf : »zum Gliick er- 
fahr' es ihr Mann nie« (denn eine Menge Geheimnisse sagte sie 
alien Menschen, aber nicht ihrem Manne) - »denn der habe ihrer 

30 Beata schon eine ganz and re Partie zugedacht.« Mehr konnt' ich 
nicht erforschen. 

- Aber eine hubsche Suppe wird da fur den Helden nicht bloB, 
sondern auch fur den Lebensbeschreiber eingebrockt; denn letzter 
hat am Ende doch das meiste wegen der Schilderung heftiger Auf- 
tritte auszubaden und muB oft an solchen Sturm-Sektoren ganze 
Wochen verhusten. Ich wills dem Leser nur aufrichtig voraus- 



3 1 4 DIE UNSICHTBARE LOGE 

gestehen : ein solcher Schwaden und Sturmwind ist schon am vo- 
rigen Freitag iiber das neue SchloB gesauset und am Sonnabend 
durch Auenthal und meine Stube gefahren, wo Gustav zerstoret 
zu mir kam und bei mir Nachricht einzog, ob die Rittmeisterin von 
Falkenberg, die mit ihrer Mitteltinten-Katze meinen ersten Sek- 
tor einnimmt und die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die - sie 
wirklich sei . . . . Inzwischen wird doch mutig fortgeschritten; denn 
ich weiB auch, daB, wenn ich mein biographisches Eskurial und 
Louvre ausgebauet und endlich auf dem Dache mit der Baurede 
sitze, ich etwas in die Biicherschranke geliefert habe, dergleichen i 
die Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vorubergehende 
Rezensenten reizen muB, zu sagen : »Tag und Nacht, Sommer und 
Winter, auch an Werkeltagen sollte ein solcher Mann schreiben; 
wer kann aber wissen, obs keine Dame ist?« 

Nun fallet also auf alien nachsten Blattern das Wetterglas von 
einem Grad zum andern, eh' der gedrohte Sturmwind empor- 
fahrt. Wie Gustav die abwesende Beata Hebte, errat jeder, der 
empfunden hat, wie die Liebe nie zartlicher, nie uneigennutziger 
ist, als wahrend der Abwesenheit des Gegenstandes. Taglich ging 
er zum Grabe des Freundes wie zum heiligenGrabe,an den Ge- 20 
bur tort seines Gliicks, mit einem seligen Beben aller Fibern; tag- 
lich tat ers um eine halbe Stunde spater, weil der Mond, das ein- 
zige offne Auge bei seiner Seelen-Vermahlung, taglich um eine 
halbe spater kam. Der Mond war und wird ewig die Sonne der 
Liebenden sein, dieser sanfte Dekorationmaler ihrer Szenen : er 
schwellet ihre Empfindungen wie die Meere an und hebt auch in 
ihren Augen eine Flut. - Herr von Oefel warf den Blick des Be- 
obachters auf Gustav und sagte : »Die Residentin hat aus Ihnen 
gemacht, was ich aus dem Fraulein von Roper.« Hier rechnete er 
meinem Helden die ganze Pathognomikder Liebe vor, dasTrauern, 30 
Schweigen, Zerstreuetsein, das er an Beaten wahrgenommen und 
woraus er folgerte, ihr Herz sei nicht mehr leer - er sitze drin, 
merk* er. Mit Oefeln mochte eine umgehen, wie sie wollte, so 
schloB er doch, sie lieb* ihn sterblich. - Gab sie sich scherzend, 
erlaubend, zutraulich mit ihm ab, so sagte er ohnehin : »Es ist nichts 
gewisser, aber sie sollte mehr an sich halten«; - bediente sie sich 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



3M 



des andern Extrems, wiirdigte sie ihn keines Blicks, keines Be- 
fehls, hochstens ihres Spottes und versagte sie ihm sogar Kleinig- 
keiten, so schwor er: »unter joo Mann woll' er den herausziehen, 
den eine liebe: es sei der, den sie allein nicht ansehe.« - Schlug 
eine die MittelstraBe der Gleichgultigkeit ein, so bemerkt' er : »die 
Weiber wuBtensich so gut zu verstellen, daB sie nur der Satan 
oder die Liebe erraten konnte.« Es war ihm unmoglich, so viele 
Weiber, die in die Rotunda seines Herzens wollten, darin unter- 
zubringen ; daher steckt' er den OberschuB sozusagen in den Hern- 
ia beutel, worin das Herz auch hangt, wie in einen Verschlag hinein 

- mit andern. Worten, er verlegte den Schauplatz der Liebe vom 
Herzen aufs Papier und erfand eine dem Brief- und Papier-Adel 
ahnliche Brief- und Papier- Liebe, Ich habe viele solche chiro- 
mantische Temperamentblatter von ihm in Handen gehabt, wo 
er wie Schmetterlinge bloB auf- poetischen Blumen Liebe treibt 

- ganze Rotuln von solchen Madrigalen und anakreontischen Ge- 
dichten an Damen, welche (die Madrigale, nicht die Damen) so- 
wohl die Siifiigkeit als die Kalte der Geleen haben. So ist der Herr 
von Oefel und fast die ganze belletristische Kompagnie. 

20 Da man nur vor Leuten, vor denen man nicht rot wird, sich 
selber lobt, vor gemeinen, vor Bedienten, vor Weib und Kindern; 
und da ers gegen Gustav im Punkte der Liebe tat: so war seine 
Eitelkeit einer lauteren Rache wert, als Gustav an ihm nahm; 
dieser make sich blofi im stillen vor ? wie gliicklich er sei, daB er, 
indes andre sich tauschten oder sich bestrebten, das Herz seiner 
Geliebten zu haben, zu sich zuversichtlich sagen konne: »Sie hat 
dirs geschenk£.« Aber diese auBergerichtliche Schenkung dem 
Nebenbuhler und Botschafter zu notifizieren, oder iiberhaupt je- 
manden, das verbot ihm nicht bloB seine Lage, sondern auch sein 

30 Charakter; nicht einmal mir erofTnete er sie eher, als bis er mir 
ganz andre Dinge zu erofFnen und zu verbergen hatte. - Ich weiB 
recht gut, daB diese Diskretion ein Fehler ist, dem neuere Ro- 
mane nicht ungeschickt entgegenarbeiten; hat darin ein Roman- 
held oder Romanschreiber ein Herz bei einer Romanheldin er- 
standen (und das gibt sie so leicht her, als saB' es vorn wie ein 
Kropf daran) : so zwingt der Held oder Schreiber (die meistens 



316 t DIE UNSICHTBARE LOGE 

einer sind) die Heldin, das Herz heraus- und hineinzutun wie der 
Stockfisch seinen Magen - ja der Held holet selber das Herz aus 
der verhullenden Brust und weiset den eroberten Globus iiber 
zwanzig Personen, wie der Operateur ein geschnittenes Gewachs 
- handhabt den Ball wie eine Lorenzodose - fuhrt ihn ab wie einen 
Stockknopf und versteckt das fremde Herz so wenig wie das 
eigne. Ich gesteh' es, daB die Ziige solcher Gottinnen von den 
Schreibern aus keinen schlechtern Modellen zusammengetragen 
sein konnen, als die waren, wornach die griechischen Kiinstler 
ihre Gottinnen oder die romischen Maler ihre Madonnen zusam- 10 
menschufen, und man mtiBte wenig Weltkenntnis haben, wenn 
man nicht sahe, daB die Fiirstinnen, Herzoginnen etc. in unsern 
Romanen sicher nicht so gut getroffen waren, wenn nicht dem 
Autor an ihrer Stelle Stuben- und noch andere Madchen gesessen 
hatten; und so, indem sich der Verfasser zum Herzog und sein 
Madchen zur Fiirstin machte, war der Roman fertig und seine 
Liebe verewigt, wie die der Spinnen, die man gleichfalls in Bern- 
stein gepaaret und verewigt antrifft. Ich sage dies alles, nicht um 
meinen Gustav zu rechtfertigen, sondern nur zu entschuldigen; 
denn diese Romanschreiber sollten doch auch bedenken, daB die *o 
angenehme Sittenroheit, deren Mangel ich an ihm vergeblich zu 
bedecken suche, auch bei ihnen fehlen wurde, wenn sie so wie er 
mehr durch Erziehung, Umgang, zu feines Ehrgefuhl und Lek- 
tiire (z.B. Richardsons) waren verdorben worden. 

Ich schame mich, daB Gustav eine solche Ignoranz in der Liebe 
hatte, daB er in einigen der besten Romanen nachsehen wollte, ob 
er jetzt einen Liebebrief an Beata zu schreiben har^e - ja daB ihre 
Abwesenheit ihn in Sorgen wegen ihrer Gesinnung und in Ver- 
legenheit iiber sein Betragen setzte. Aber die Starke der Gefiihle 
macht so gut die Zunge arm und schwer als der Man^e/derselben. 30 
Zum Gliick hiipfte ihm oft die kleine Laura - nicht im Park (denn 
nichts macht mehr Dinteh- und Kaffeekleckse auf eine schone 
Haut als die schone Natur), sondern unter vier Mauern - ent- 
gegen, und die Schiilerin ersetzte die Lehrerin. 

Aber eine auferstandene hohere Gestalt betrat jetzo das Land 
seiner Liebe. Ottomar, von dessen beidlebigem Korper - als 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



317 



Amphibium zweier Welten - bisher so viel Redens in Vorzim- 
mern gewesen, trat damit selber im Zimmer der Residentin auf. 
Sein erstes Wort zu dieser war: »sie mog* ihm verzeihen, daB er 
nicht eher in ihrem Vorzimmer erschienen — er ware beerdigt 
worden und hatte nicht eher gekonnt. Aber er sei der erste, der 
nach dem Tode so bald ins Elysium« (hier sah er schmeichelhaft 
an den Landschaftstiicken der Tapeten herum) »und zu den Got- 
tern kame.« Das war bloB satirische Bosheit. Bekanntlich ists 
schon ein bewahrter Paragraph in der Asthetik aller Elegants, daB 

, sie - und ist mein Bruder in Lyon anders? - den Schmeicheleien, 
die sie den Weibern sagen rmissen, den Ton und die Miene der 
Aufrichtigkeit vollig zu benehmen haben, v. omit die antiken 
Stutzer sonst ihre Fleuretten versahen. In diese Spott-Schmeiche- 
leien kleidete er seinen Unmut uber Weiber und Hofe. Die 
Weiber brachten ihn auf, weil sie — wie er glaubte - in der Liebe 
nichts suchten als die Liebe 1 , indes der Mann damit noch hohere, 
religiose, ehrgeizige Empfindungen zu verschmelzen wisse - weil 
ihre Regungen nur Eilboten und jede weibliche Hitze nur eine 
fliegende ware und weil sie, wenn Christus selber vor ihnen do- 

» zierte, mitten aus den groBten Ruhrungen auf seine Weste und 
seine Striimpfe gucken wiirden. Die Hofe erzurnten ihn durch 
ihre Gefuhllosigkeit, durch seinen Bruder, durch den Volkdruck, 
dessen Anblick ihn mit uniiberwindlichen Schmerzen erfullte. 
Daher war seine Reisebeschreibung anderer Lander eine Satire 
seines eignen, und wie die franzosischen Schriftsteller unter den 
Sultanen und Bonzen des Orients einige Zeit die des Okzidents 
abmalten und abstraften: so war in seinen Erzahlungen der Suden 
der Lehntrager und Pasquino des Nordens. Die sanfte Menschen- 
Duldung, die er sich in seinem letzten Briefevorgesetzt, hielt er 

* nicht langer, als bis er ihn gestippt und gesiegelt hatte - oder so- 
lang* er spazieren ging - oder wahrend der sanften Nerven-Herab- 
schraubung nach einem Weinrausch. Auch war ihm wenig daran 

1 Desto schoner, antwortet ihm die Note zur zweiten Auf lage, daB sie sich 
die Empfindung der Liebe rein und dadurch allmachtig erhalten; andere 
Empfindungen schwimmen darin, aber aufgelost und undurchsichtig; beiden 
Mannern stehen jene blofi neben ihr und selbstandig. 



318 DIE UNSICHTBARE LOGE 

gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete ; 
mitten unter groBen philosophischen, republikanischen Ideen 
oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart un- 
sichtbar und verachtlich, jetzt zumal, wo die kunftige Welt oder 
die kiinftigen Welten die diinne verfinsterte, auf der er.nach jenen 
hinsah, wie man durch das geschwarzte Sehrohr keinen Gegen- 
stand erblickt als die Sonne. So brachte er z.B. funf groteske Mi- 
nuten bei der Residentin damit zu, daB er - da den eigentlichen 
Korper der Seele nur Gehirn und Ruckenmark und Nerven aus- 
machen - den vernunftigsten Hofdamen und den schonsten Hof- 10 
herrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen 
herauszog und das wenige Fleisch und Gedarm, was sie umlag, 
wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saB als ein Mark- 
Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. Darauf lieB er diese 
umgekehrten Kloppel oder aufgerichteten Schwanze gegeneinan- 
der anlaufen und agieren und Fleuretten sagenund lachteinnerlich 
iiber die gescheitestenLeute von Geburt, die er selber skalpiert und 
abgeschuppet hatte. Das nennen viele dasphilosophische Pasquill. 
Aus dem neuen SchloB eilt* er ins alte zu Gustav, der ihn zu 
fiiehen schien. Aber auf welche Art er mit Gustav schon langst be- 20 
kannt geworden, wie er ihm den ersten Brief geben konnen, war- 
urn er wie Gustav (noch jetzt) sich an einen unbekannten'Ort 
regelmaBig verfiigte, warum er von ihm geflohen wurde, und was 
sie miteinander im alten Schlosse fur ein dreistiindiges Gesprach 
gehalten, das sich mit der warmsten Liebe in beiden Herzen 
schloB - dariiber deckt sich noch ein langer Schleier, den meine 
MutmaBungen nicht aufheben konnen; denn ich habe allerdings 
verschiedene, aber sie klingen so auBerordentlich, daB ichs nicht 
wage, sie dem Publikum eher vorzulegen, als bis ich sie besser 
rechtfertigen kann. JedeAder,jederGedankeundHerzundAuge 30 
wurden in Gustav weiter und vergroBerten sich fiir eine neue 
Welt, da er mit dem genialen Menschen sprach. O was sind die 
Stunden der seelenverwandtesten Lektiire, selbst die Stunden der 
einsamen Emporhebung, gegen eine Stunde, wo eine groBe Seele 
lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und 
deine Ideale verdoppelt und deine Gedanken verkorpert? - 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



319 



Gustav nahm sich vor, sich aus dem Schlosse zu Ottomar zu 
begeben, urn es zu vergessen, wer noch weiter darin fehle. Es war 
ein stummer ausgewolkter Abend, ein Schatte nicht des schon weit 
weggezognen Sommers, sondern des Nachsommers, als Gustav 
aufbrach, nachdem er vergeblich auf die Ruckkehr und Gesell- 
schaft des Doktors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die 
keine gefiederteTone, keine klopfende Herzenmehr flogen, zeigte 
sich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbst 
bleicht und fallet und die ewig ofFen unsern Erdball immerfort 

10 ansieht, indes unter ihr tausend Augen sich offnen und tausend 
sich schlieBen. An einem solchen Abend springt der Verband von 
alten Wunden auf, die wir in uns tragen. Gustav kam still im 
Dorfe an ; am Eingange des Gartens, der das Ottomarsche Schlofi 
halb umlief, stand ein Knabe, der die erhabene Melodie eines er- 
habenen Lieds 1 auf einer Drehorgel dem Gehor eines Kanarien- 
vogels vordrehte, der sie singen lernen sollte. »Ich krieg' schon 
viel, wenn ers pfeifen kann«, sagte der winzige Organist. An einen 
Baum gelehnt stand Ottomar der weiten Abendrote und diesen 
Abendtonen gegeniiber; die Sonne auBer ihm ging, hinter einer 

ao bleifarbenen groBen Wolke in ihm, unter. Gustav muBte, eh* er 
ihn erreichte, vor einer dichten Nische und einem alten Gartner 
darin vorbei, an welchem ihn zweierlei wunderte, daB er ihm erst- 
lich mit keinem Worte fur seinen Gutenabend dankte, und zwei- 
tens, daB so ein alter verniinftiger Mann ein Kindergartchen auf 
dem SchoBe hatte und besah. Durch die Laube nahm er an einer 
Sonnenuhr eine Erhohung wie ein Kindergrab und einen Regen- 
bogen von Blumen wahr, der es umbliihte und iiberlaubte; auf 
der Erhohung lagen die Kleider eines Kindes so geordnet, als war' 
etwas darin und hatte sie an. Ottomar empfing ihn mit einer Sanft- 

30 heit, die man nur in heftigen Charakteren in so unwiderstehlichem 
Grade flndet, und sagte mit leiser Stimme : »er feiere den Todes- 
tag aller Jahrszeiten, und heute ware des Nachsommers seiner.« 
Sie kamen, indem sie ins SchloB gingen, vor dem Gartner vorbei, 

1 »Jungling, den Bach der Zeit hinab schau' ich, in das Wellengrab des 
Lebens, hier versank es etc.« Der Anfang heiBet eigentlich: »>Traurig ein 
Wandrer saB am Bach, sah den fliehenden Wellen nach.« Volkslieder. 



320 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und er nahm den Hut nicht ab - ferner vor dem leeren Kleid auf 
dem Grab, und es lag noch unter den Blumen, und vor dem Kla- 
vieristen, der noch das Lied spielte: »Jiingling, den Bach der Zeit 
etc.« Da wir das Feierliche nur in Buchern, selten im Leben fin- 
den : so wirkt es im letzten nachher desto starker. 

Man muB noch merken, daB in Ottomar der Ausdruck der 
starksten Gefuhle durch eine gewisse Sanftheit, womit sein Welt- 
umgang und sein Alter sie brach, unwiderstehlich in den stillen 
Strudel zog. Er offnete - Kinder waren die Lakaien - ein Zimmer 
des dritten Stockwerks. Die Hauptsache waren nicht darin die ic 
Gemalde mit schwarzen Griinden und weiBen Sargen, oder die 
Worte iiber den Sargen : »Darin ist mein Vater, darin meine Mut- 
ter, darin meine Friihlinge«, - auch der sehr groBe gemalte Sarg 
nicht, woriiber stand: »Darin Hegen sechs Jahrtausende mit alien 
ihren Menschen.« - Sondern das Wichtigste war das Ungemalte, 
wovor sich Gustav tief buckte : eine schone Frau, die sich zu einem 
unserm Gustav fast ahnlichen Kinde herabneigte, weil es ihr et- 
was leise sagen wollte; ferner biickt' er sich vor einem alten Offl- 
zier in Uniform, der eine zerrissene Landkarte, und vor einem 
schonen jungen Italiener, der ein fliegendes Stammbuch hielt. 10 
Das Kind hatte einen VergiBmeinnicht-Straufi auf der Brust, die 
Frau und die zwei Manner hatten einen schwarzen StrauB. Aber 
was noch mehr ihn uberraschte, war der Doktor Fenk am Fen- 
ster, mit einer Rose an der Brust. — 

Gustav eilte ihm zu; aber Ottomar hielt ihn. »Es ist alles von 
Wachs«, sagt' er, nicht mit einem kalten, gegen das Schicksal er- 
bitterten Ton, sondern mit einem ergebenen. »Alles, was mir in 
meinem Leben Liebe und Freude gab, steht und bleibt in diesem 
Zimmer - wer gestorben ist, dem gab ich schwarze Blumen - bei 
meinem verlornen Kinde weiB ichs noch nicht, und seine Kleider 5 o 

liegen drauBen im Garten O wem Gott Ruhe in den Busen 

schickt, daB sie das nackte Herz umwickele und seine Zuckungen 
besanftige, dem ist so wohl wie denen, die er betrauert - er tut 
sanft und fest sein Auge auf, wenn ihm das Schicksal holde Ge- 
stalten zuschickt, und wenn sie wieder gehen und graBliche heran- 
fahren, so schlieBt ers ruhig wieder zu.« 



FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



3 2I 



O Ottomarl das kannst du nicht, bevor deine wogenden Krafte 
am Alter sich gebrochen haben! Mach immer dein Herz drei Tage 
lang fur die Ruhe weit ; am vierten zieht es der Krampf der Freude 
oder des Schmerzens zusammen und driickt sie tot! 

Manche Menschen konnen ohne Schauder keine Wachsfiguren 
sehen: Gustav gehorte darunter; er nahm Ottomars Hand, urn 
sich gleichsam ans Leben zu klammern gegen so viel Spiele und 
Nachaffungen des Todes — Plotzlich larmt etwas durch das stille 
SchloB... die Treppen herauf, ins Zimmer hinein . . . an Ottomars 

> Hals hinan .... Fenk wars, der ihn hier nach der Auferstehung 
von Toten zum ersten Male umfing und dem unter der engen Um- 
armung keine Entfernung von dem, zwischen welchem und ihm 
sich Lander und Jahre und Tod gelegt hatten, klein genug zu sein 
vermochte. Gustav, noch an der Hand Ottomars, wurde in den 
Bund der Liebe mit hineingeschlungen, und ware der Tod selber 
vorbeigegangen, er hatte seine kalte Sichel nicht durch drei eng, 
sprachlos und warm verkniipfte Herzen gedrangt. — »Rede, Otto- 
mar,« sagte der Doktor, »das letztemal war.st du stumm.« — Otto- 
mars Ruhe war nun zergangen: »Auch die (die Wachsfiguren) 

> reden ewig nimmer« (sagt* er mit zerdruckter Stimme) - »sie sind 
nicht einmal bei uns - wir selber sind nicht beisammen - Fleisch- 
und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch 
kann der Mensch wahnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, 
da nur Gitter zusammen sto Ben und hinter ihnen die eine Seele 
die andre nur denkth 

Alle wurden still - die Abendglocke sprach iiber das schwei- 
gende Dorf hinuber und tome klagend auf und nieder- Ottomar 
hatte wieder seine erschreckliche Vernichtung-Minute, wie er sie 
nennt - er trat zur wachsernen Frau und nahm das schwarze To- 
■ des-Bouquet und steckt* es iiber sein Herz - er besah sich und 
seine zwei Freunde und sagte kalt und eintonig : »Sonach leben 
wir drei - das ist das sogenannte Existieren, was wir jetzt tun -wie 
still ists hier, iiberall, um die ganze Erde - eine recht stumme 
Nacht steht um die Erde herum, und oben bei den Fixsternen wills 

nicht einmal lichter werden.« Zum Gliick trabte und wald- 

hornierte der Furst und seine Jagd-Genossenschaft durch das 



322 DIE UNSICHTBARE LOG1 

Dorf und verscheuchte die Nacht aus drei Menschen : so sehr han- 
gen wir vom Gehor ab, so sehr gibt die au Bere Welt unsrer innern 
Lichter und Farben. — 

Ich habe von allem, was sie nachher in andern»Zimmern taten, 
keine Merkwiirdigkeit, und von allem, was sie darin sahen^ nur 
dreie einzuriicken - die, dafi Ottomar fast lauter Kinder zu Be- 
dienten, lauter ganz junges Vieh und lauter Blumen um sich hatte : 
denn hefrige Charaktere hangen sich gern ans Sanfte. - 

Das Schulmeisterlein Wutz tritt eben in meine Stube herein 
und sagt, er fur seine Person habe noch an keinem Andreastage 
so viel geschrieben.. Nun, so soil denn aufgehort werden. 



Sechsunddreissigster oder ii. Advent-Sektor 

Kegelschnitte aus, vornehmen Korpern - Geburttag- Drama - Rendezvous 
(oder, wie Campe sich ausdriickt, Stell dich ein) im Spiegel 

Auf dem Steindamm nach dem neuen Schlosse furchtete Beata 
sich, in diesem ihren Gustav zu finden ; im Schlosse selber wiinschte 
sie das Gegenteil, sobald sie hbrte, er sei in Ruhestatt. Ihre Mutter 
hatte ihr, indem sie mit ihr die Regimenter der Roben, Mantel etc. 
teils reduzierte, teils iiberkomplett machte, so viel bewiesen, Beata 
werde von ihrer eignert Empfindung getauscht und das Paradies 2 
ihrer unschuldigsten Liebe sei nach ihrer mutterlichen Empfindung 
blutschlecht und wirklich ein pontinischer Sumpf - die Bliiten- 
baume darin seien Giftbaume - der Blumenflor bestehe teils aus 
giftigen Kupfer-, teils aus falschen Porzellan-Blumen - auf den 
Grasbanken darin sitze man sich Schnupfen an und das sanfte 
Wiegen des magischen Bodens sei eine Erd-Erschutterung. Diese 
Eidesverwarnung nach dem Eide der Liebe lieB sich noch horen; 
aber dafi sie noch Beatens Jugend einwandte - die gewohnlichste, 
einfaltigste, unwirksamste und am meisten auf bringende Einwen- 
dung gegen eine lebendige Empfindung -, das begann den kleinen 3 
Eindruck ihrer Wochenpredigt zu schwachen, den die Nutzan- 
wendung gar wegloschte : daB ihr Vater ihr schon den Gegen- 



SECHSUNDDIipISSIGSTER SEKTOR 



323 



stand ihrer Liebe halb und halb gewahlt — Meine Gerichtprinzi- 
palin war recht gescheit; aber, meinem Gerichtprinzipal zuliebe, 
auch oft recht dumm. 

Beata brachte also dem Gustav ein durch dieses Zersetzen 
auBerst weiches und zartliches Herz iiber den Steindamm mit — 
und er kam auch mit einem solchen wunden an, um welches kein 
Blattchen eines Kallus mehrhing. Ottomars salomonische Predig- 
ten uber und gegen das Leben hatteri seine Puis- und Blutadern 
mit einer unendlichen Sehnsucht gefiillet, die armen zerfallenden 
1 Menschen zu lieben und mit seinen zwei Armen, eh' sie auf die 
Erde fielen, das schonste Herz an sich zu ziehen und zu pressen, 
eh' es unter die Erdschollen niedersanke. Die Liebe heftet ihre 
Schmarotzerpflanzen-Wurzeln an alle andre Empfindungen. 

Es war Zeit, daB sie kamen, des Herrn von Oefels wegen. Denn 
am Hofe vermiBte man sie, wie uberhaupt jeden, gar wenig. Ein 
russischer Fiirst v6n *** - ein Mulatte und Deponens von Hof- 
mann und Vieh, dessen sichtbare Extremen sich in die unsichtbaren 
Extreme von Kultur und Wildheit endigten - war samt einem Ru- 
del von Franzosen und Italienern dagewesen, die samtlich wie ihr 
1 20 Altmeister die fur die groBe Welt alltagliche Sonderbarkeit hat- 
ten, daB sie - nicht gani waren; - fur einen Weltmann ist heutzu- 
tage nichts schwerer, als aus seinem Korper nicht das zu machen, 
was ich mit Recht aus meiner Lebensbeschreibung mache - einen 
Sektor oder Ausschnitt. In der Tat sah diese fragmentarische Di- 
vision wie ein Phalanx von Kriippeln aus, der zu einem Wunder- 
tater reiset. Der meisten Glieder, die wir bei der Auferstehung 
nicht wiederkriegen, z.B. Haare, Magen, Fleisch, H- und andre 1 
-daher freilich der groBe Connor leicht verfechten kann, ein auf- 
erstandner Christ falle nicht groBer aus wie eine Stechfliege - 
> solcher Glieder hatte sich die amputierte Junta schon vor der Auf- 
erstehung entladen oder doch viel davon weggetan. 

Ich nab* oft daruber nachgedacht, warum tuns die GroBen und 

1 Nach den altern Theologen (z.B. Gerhard loc. theol. T. VIII. p. 1161) 
stehen wir ohne Haare, Magen, MilchgefaBe etc. auf. Nach Origenes stehen 
wir auch ohne Fingernagel und ohne das, was er selber schon in diesem Leben 
verloren, auf. Nach Connor, med. mystic, art. i3kommenwirmitnichtrnehr 
Materie aus dem Grabe, als wir bei der Geburt oder Zeugurjg umhatten. 



324 DIE UNSICHTBARE LOGE 

machen sich zu Kleinen im physischen Sinn; aber ich war zu un- 
wissend, andre Griinde zu erraten als folgende : der Sitz des Zorns 
(wofur nachWinckelmann die Griechen die menschliche Nase 
hielten) kann nicht bald genug ausgerottet werden, weil weder 
ein Hofmann noch ein Christ Zorn beweisen soil. - Zweitens: 
verkleinerte Korper sind wenig von bucklichten, auch in der 
GroBe, verschieden; diese aber, wie wir an Asop, Pope, Scarron, 
Lichtenberg und Mendelssohn sehen, haben viel Witz. Nun zieht 
der Weltmann aus den starken Fassern unserer Vorfahren ge- 
schickt den Spiritus auf kleine Korper-Flaschen, und solche Ein- 10 
schnitte und optische Verkurzungen und Kuren des Leibes machen 
unfahig, etwas anders zu werden als witzig oder hochstens stupid : 
so kann eine Flote, in die Risse kamen, keine andre Tone von sich 
geben z\s feine und hohe. Witz wird aber bekanntlich in der groBen 
Welt, wenn nicht mehr, doch ebensoviel geschatzt wie Unmora- 
litat. — Drittens: wie die alten Patriarchen darum ein langes Leben 
bekamen, um die Erde zu bevolkern, so haben sich viele Kosmo- 
politen in der namlichen Absicht ein kur^es vorgenommen und 
gern das Leben von andern Menschen mit einem Curtius-Sturz 
in den todlichen Schlund erkauft. Es ist aber noch die Frage, ob « 
ich recht habe. - Die vierte Ursache kenn* ich aus geheimen mysti- 
schen Gesellschaften, wo eben jene Menschen-Segmente sie ken^ 
nen lernten. Heutiges Tages muB jede Seele von - Stand desorga- 
ntsiert und entkorpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als 
zwei ganz verschiedne Operationen. Die kurzeste und schlechteste 
meines Erachtens ist die, daB sich der Mensch - aufhenkt und daB 
so die Seele den Korper von sich wie eine Warze abbindeu Ich 
wiirde keinen GroBen deshalb tadeln, wenn ich nicht wiiBte, daB 
er die weit bessere und sanftere Operation vor sich habe, wodurch 
er seinen Leib gleichsam als die Form, worein die geisdge Statue y 
gegossen ist, bloB gliedweise ablosen kann. Ich will hier nicht in 
den Fehler der Kiirze, sondern lieber in den entgegengesetzten 
fallen. Also ; der Korper ist nach Philosophen, die auch eine Seele 
haben, bloB ein Werkzeug, ihre und unsre auszubilden und sie an 
die Entbehrung dieses Werkzeugs zu gewohnen. Die Seele muB 
alle Faden, die sie an den Kiumpen schnuren, nach und nach zer- 



SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



3*5 



fressen und abbeifien. Er ist ihr das, was den Kindern, die schwim- 
men lernen, der korkene KuraB 1 ist: taglich muB siediesenKiiraB 
zu verkleinern suchen, um endlich ohne ihn zu schwimmen. Der 
philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer des- 
organisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer 
anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen beiseite. 
Das ist noch wenig. Darauf brennt er durch Gluhfeuer Gehirn, 
Nerven und anders Zeug weg, weil sie das Kuchenfeuer aushielten. 
Die Haare oder das menschliche Rauchwerk bringt jeder ohne 

10 Miihe weg. Der wichtigste Schritt bei dieser KiiraB-Sektion ist 
der, daB man ohne das Barbiermesser des Origenes so viel be- 
werkstellige - nur sanfter - wie er. Ist das vorbei: so hat man zu 
jener volligen Ertotung nicht mehr weit, wo der ganze KiiraB rein 
herunter ist und wo die Seele im Meere des Seins endlich schwim- 
men gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel, als 
man zum Verkorken einer Flasche bedarf, noch um sich zu haben. 
Nachher wird man beerdigt. So wenigstens tragt man in geheimen 
Gesellschaften von Ton die menschliche Entkorperung vor. 
Diese zerbrochne Gesellschaft deckte unsern und jeden Hof so 

20 schon wie zerbrochne Porzellan-GefaBe hollandische Beete ; zwei- 
tens hatte sie die hoflichste Art von der Welt, grob zu sein. Ware 
unter diesen Leuten ein gewisses je ne sais quoi nicht der Unter- 
schied zwischen Laune und Grobheit, zwischen Feinheit und Be- 
■leidigung-: so fehlte er. 

Ich sagte oben, es war Zeit, daB unser Paar ankam, des Herrn 
von Oefels wegen. Denn das Geburtfest der Residentin riickte 
heran, gleichwohl hatte noch kein Mensch eine Seite von seiner 
Rolle memoriert. Die Leser haben noch ebensowenig vom Ge- 
burttag-Drama im Kopfe als die Spieler; daher soil ihnen hier 
1 30 ein dunner Absud dieser Oefelschen Pflanze vorgesetzt werden. 



1 Ziickert in seiner Diatetik schlagt einen korknen KiiraB vor, der iiber 
dem Wasser aufrecht erhalt und den man, so wie die Fertigkeit, oben zu 
schweben, wachse, beschneiden konne. 



326 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Dekokt aus dem Geburttag-Drama 

In einem franzosischen Dorfe waren zwei Schwestern so gut, 
daB jede verdiente, das Rosenmadchen zu werden,undso uneigen- 
niitzig, daB jede wollte, die andre wurd* es. Marie hieB die eine 
und Jeanne die andre. Am Tage vor der Austeilung der Preis- 
medaille von Rosen stritten sie sich dariiber, wer sie - ausschlagen 
sollte: denn sie wuBten von recht guter Hand, daB bloB auf eine 
von ihnen die Rosenkrone fallen wurde. Jeanne - von der Ministe- 
rin gespielt — wischte durch den schonen Einfall unter der Laub- 
krone hinweg, daB sie ihren Liebhaber Perrin - Oefel stellte den 10 
vor - ofter und offentlicher um sich hatte, als eine Rosen-Kompe- 
tentin soil. Marie (die Rolle von Beata) konnte also die Kronung 
nicht von sich, wie es schien, abwenden; indessen bat sie ihren 
Bruder Henri (Gustav wars), der sie besonders Hebte und der seit 
seiner Kindhek aus ihrem Hause durch seine Reisen weggewesen, 
diesen bat sie um Sieg in diesem uneigennutzigen Wettstreite. Er 
suchte sie zum entgegengesetzten Siege zu bereden; endlich aber, 
da er die Unerbittlichkeit ihrer schwesterlichen Liebe so ent- 
schieden sah, versprach er, fur eine rechte Belohnung ihr die 
ihrige zu ersparen. »Aber du muBt noch groBere Liebe fiir mich 20 
haben«, sagt' er; — »die schwesterliche«, sagt sie; - »eine noch 
starkere«, sagte er; — »die freundschaftlichste«, sagte sie; - »eine 
noch viel starkere«, sagt* er; - »weiter gibts keine gr6Bexe«, sagte 
sie; - »o doch! ich bin ja dein Bruder nicht«, sagt' er und fiel mit 
liebetrunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein Papier, das sie 
aus ihrem bisherigen Irrtum zog und sie dafur in eine kleine Freu- 
den-Ohnmacht sturzte. Sie erschienen alle vier vor dem Guts- 
herrn und Kranz-Kollator (der Fiirst spielte diese Rolle sogar auf 
dem — Theater), und jede kam seiner Wahl durch eine Bitte und 
Lobrede fiir ihre Schwester und durch feine Invektiven auf sich 30 
selber zuvor. Der kokettierende Wicht Perrin quastionierte : sollte 
die Liebe andre Rosen brauchen als ihre eigne? - Marie gab eine 
fliegende Schilderung von den Vorziigen, denen eine solche Be- 
kronung gebuhre und die zum Teil feine Ziige aus Bousens Bilde 
waren. Der Gutsherr sagte : diese schwesterliche Unparteilichkeit, 



SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 



327 



die so sehr zu bewundern sei wie die Verdienste, die sie zu be- 
lohnen suche, verdiene zwei Rosenkronen, eine, um belohnt zu 
werden, und eine, um selber zu belohnen; (niemand, fiel der 
scheinbar den Damen und wirklich dem Fiirsten schmeichelnde 
Oefel ein, teilt Kronen schoner aus, als wer sie selber tragt;) und 
sie wtirden sich von ihm in nichts als in der Unparteilichkait und 
Schonheit unterscheiden, wenn sie an seiner Statt vielleicht wie er 
wahlten, wem der Rosenkranz, eh* der Schmetterling von ihm 
floge — einer von Brillanten war mit einer Zitternadel in die groBte 

10 Rose gesteckt — , aufzusetzen sei »Unserer Rosen-Konigin!« 

riefen die Schwestern und brachten den Kranz der Residentin hin. 



So weit das Drama. Oefel war nichts lieber und glucklicher als die 
schmeichelnde Folie des andern. Ubrigens sah sein Stuck wie eine 
Idylle von Fontenelle aus. Die Phantasie, die den von der Kultur 
dunn geschliffnen Leuten gefallen will, muB schimmern, aber 
nicht brennen, muB das Herz kitzeln, aber nicht bewegen; die 
Aste einer solchen Phantasie werden nicht von schweren gedrang- 
ten Friickterty sondern von Schneelast niedergebogen. An solchen 
Hof-Poeten und an Ohrwurmern sind die Fliigel gleichsam un- 

20 sichtbar und winzig, aber beide findea leichter die Wege zum 
Ohr. An deutschen Gedichten ist nichts; hingegen die meisten 
franzdsischen riechen nicht nach der Studier- und Sparlampe, 
sondern eher nach parfumierten Strumpfbandern, Handschuhen 
u.s.w., und je weniger sie haben, was den Menschen interessiert, 
desto mehr haben sie, was den Weltmann reizt, weil sie nicht mehr 
die Natur und Himmel und Holle, sondern ein paar Besuchzimmer 
abmalen und so nicht ungeschkkt in immer engere Windungen 
des Schneckenhauses sich zuriickdrangen. 

Oefel war zugleich Theater-Dichter, Spieler und Rollen- 

30 Schreiber. Er zog aus dem Drama die Rolle Beatens heraus, die er 
mit den feinsten Anspielungen auf ihr gegenseitiges Liebever- 
standnis (dacht* er) oder auf ihr einseitiges (denk* ich) in die Welt 
gesetzet hatte. Die zartlichsten Winke hatt* er in den Stellen, wo 
er mit Beata zusammen spielte, hinein versteckt. Er zog deswegen 



328 DIE UNSICHTBARE LOGE 

unter manche feine Liebeerklariing und Empfindung bei dem Ab- 
schreiben eine exegetische Linie und 6e{ijferte verstandig seinen 
Generalbafl. »Ober tausendmal wird die Schalkhafte das uberlesen«, 
sagt' er zu sich. 

Darauf iiberreichte er ihr bald nach ihrer Ankunft ihre Rolle mit 
weit mehr scheuer Ehrfurcht, als er selber wuBte. Zum Ungluck 
fiir unsern guten dramatisierenden Hasen fiel Beata in zwei Fehler 
auf einmal aus einerUrsache. Die Ursache war bloB, der Amor 
hatte in ihrem Herzen sein Laboratorium aufgerichtet und hatte 
seine chemischen Ofen und alles hineingesetzt: daraus muBte ihr 10 
erster Fehler entstehen, daB sie schoner aussah als sonst ohne diese 
Warme; denn jede Empfindung und jede innere Streitigkeit nahm 
auf ihrem Gesicht die Gestalt eines Reizes an. Von der Liebe kam 
auch ihr zweiter VerstoB, daB sie sich gegen Oefel heute weit zu- 
traulicher und freimiitiger betrug als sonst; denn ein liebendes 
Madchen hat von alien ubrigen Gegenstanden (d.h. von den eig- 
nen Empfindungen fiir sie) nichts mehr zu befahren. Herr von 
Oefel aber addierte auf seiner Rechenhaut ein ganz andres Fazit 
heraus; er nahm alles fiir Freude, daB er nun wieder - zu haben 
sei. Er ging folglich mit einem Herzen fort, das der Amor so mit 20 
lilliputischen Pfeilen vollgeschossen hatte wie ein Nahkissen mit 
Nadeln. 

Er sagte noch an jenem Tage : »Ist das Herz einer Frau einmal so 
weit, so braucht man nichts zu tun, als daB man sie tun lasset.« 
Das war ihm herzlich lieb; denn es ersparte ihm die - Bedenk- 
lichkeit, sie zu verfuhren. Sooft er Lovelacens oder des Cheva- 
liers 1 Briefe las: so wiinschte er, sein einfaltiges Gewissen liefi' 
ihm zu, ein ganz un'schuldiges widerstrebendes Madchen nach 
einem feinen Plane zu verfuhren. Aber sein Gewissen nahm keine 
Vernunft an, und er muBte sein ganzes Kaper-Vergniigen auf die 3 c 
Verfiihrung solcher unschuldigen Personen, die er in seinem 
Kopfe oder in seinem Roman agieren lieB, einschranken: so sehr 
herrschet im schwachen Menschen die Empfindung uber die Ent- 
schlieBungen der Vernunft, sogar in philosophischen Damen. 
Mithin blieben der Weiberkenntnis Oefels statt der Fangeisen fiir 

1 In den Liaisons dangereuses. 



SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 329 

die Unschuld nur die fur die Schuld zu legen iibrig, und das ein- 
zige, wo er noch mit Ruhm arbeiten konnte, war das, der Ver- 
fiihrer von Verfuhrerinnen zu sein. 

Man erlaube mir, eine scharfsinnige Bemerkung zu machen. 
Der Unterschied zwischen Lovelace und dem Chevalier ist der 
moralische Unterschied zwischen den Nationen und Jahrzehenden 
von beiden. Der Chevalier ist mit einer solchen philosophischen 
Kalte ein Teufel, daB er bloB unter die Klopstockschen Teufel 
gehort, die nie zu bekehren sind. Lovelace hingegen ist ein ganz 

10 anderer Mann, bloB ein eitler Alcibiades, der durch einen Staats- 
oder Ehe-Posten halb zu bessern ware. Sogar dann, wo seine Un- 
erbittlichkeit gegen die bittende, kampfende, weinende, kniende 
Unschuld ihn mehr den Modellen aus der Holle zu nahern scheint, 
mildert er seine gleiBende Schwarze durch einen KuhstgrifT, der 
seinem Gewissen einige und dem Genie des Dichters die groBte 
Ehre macht und welcher der ist, - daB er, um seine Unerbittlich- 
keit zu beschonigen, den wirklichen Gegenstand des Mitleidens, 
die kniende etc. Klarisse, fur ein theatralisches, malerisches Kunst- 
werk ansieht und, um nicht geriihrt zu werden, nur die Schonheit, 

20 nicht die Bitterkeit ihrer Tranen, nur die malerische, nicht die 
jammernde Stellung bemerken will. Auf diesem Wege kann man 
sich gern gegen alles verharten; daher schorie Geister, Maler und 
ihre Kenner bloB oft darum fur das wirkliche Ungluck keine oder 
zu viele Tranen haben, weil sie es fur artistisches halten. 

Ich muB aber schneller zum Festtage der Residentineilen, des- 
sen Gewebe unsern Gustav mit Faden so vieler Art beriihrt und 
ankittet. 

Er brachte mit dem groflten Vergniigen seine Rolle im Drama, 
wovon noch viel wird gesprochen werden, seinem Gedachtnis bei 

50 und wiinschte nichts, als er konnte sie noch nicht auswendig. 
Beata macht' es auch mit der ihrigen so : der Grund war, ihre Rol- 
len waren auf dem Theater aneinander gerichtet, mithin waren es 
jetzt ihre Gedanken auch; und fiir die scheue Beata war es be- 
sonders suB, daB sie zarte Gedanken der Liebe fiir ihn, die sie 
kaum zu haben und nicht zu auBern wagte, mit gutem Gewissen 
memorieren konnte. Um nicht immer an ihn zu denken, zer- 



330 DIE UNSICHTBARE LOGE 

streuete sie sich oft durch das Geschaft des Auswendiglernens der 
besagten Rolle. Gute Seele! suche dich immer zu tauschen; es ist 
besser, es zu wollen, als gamichts darnach zu fragen! - Ihr Adop- 
tiv-Bruder konnte bisher durchaus kein Mittel finden, ihr zu be- 
gegnen; die Residentin hatte ihn und dadurch dieses Mittel iiber 
den russischen Sektor und Torso vergessen; er selber hatte nicht 
Zudringlichkeit genug, noch weniger den Anstand, der sie schon 
und pikant macht — bis ihm Herr von Oefel mit einer feinen Miene 
sagte, die Residentin woll' ihm einige Gemalde, die der Knase da- 
gelassen, zu sehen geben. »Ich wollt' ohnehin schon lange das 10 
Kopieren im Kabinett anfangen«, sagt* er und tauschte weniger 
jenen als sich. t)ber seine errotende Verwirrung sagte Oefel zu 
sich: »Ich weiB alles, mein lieber Mensch!« 

Endlich fuhrte ein schoner Vormittag die zwei Seelen, die sich 
leichter als ihre Korper fanden, bei der Residentin zusammen. Das 
Taglicht, die bisherige Trennung, die neue Lage und die Liebe 
machten an beiden alle Reize neu, alle Ziage schoner und ihren 
Himmel groBer als ihre Erwartungen - aber schauet euch weder 
zu viel noch zu wenig an, man blickt auf euer Anblicken! Oder 
tut es nur: einer Bouse verbirgst du es doch nicht, Gustav, daB 20 
dein Auge, das der Scharfsinn nicht zusammenzieht, sondern die 
Liebe aufschlieBet, immer nur bei benachbarten Gegenstanden 
sich auf halt, um ein Streiflicht von ihr wegzufangen; - es hilft 
auch dir nichts, Beata, daB du es mehr wie sonst vermeidest, ihm 
nahe zu stehen und ihn zu veranlassen,daBseineStimmeund seine 
Wangen seine Verrater werden! Es half dir, wie du selber sahest, 
nichts, daB du der Wiederholung des „Idolo del mio cuore" bei sei- 
ner Ankunft auszuweichen suchtest; denn bat ihn nicht die Resi- 
dentin, deiner Stimme auf dem Klaviere mit den Fingern nach- 
zuflieBen und seinen innern Freuden-Sturm durch den Schimmer 30 
des Auges und durch den Druck der Tasten und durch die Siin- 
den gegen den Takt zu offenbaren? - Diejenigen meiner Leser, 
die die Residentin frisiert oder bedient oder gesprochen oder gar 
geliebt haben, konnen mir es gegen andre Leser bezeugen, daB 
unter anderen Kaminverzierungen ihres Toilettenzimmers - weil 
die GroBen nichts als Zieraten essen, bewohnen, anziehen, be- . 



3 o 



SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 33 1 

Sitzen und beschlafen etc. mogen - auch Schweizerszenen waren 
und unter diesen eine tragantene Kopie des Eremitenberges: auf 
diesen Freuden-Olymp stiegen vor den Augen Gustavs Beatens 
ihre nicht mehr, sooft diese auch vorher den Berg beschienen 
hatten - endlich befeuchteten sich auch beider Augen, wenn 
Amandus* Name beide durchtonte, mit einer siiBern lebhaftern 

Running, als die iiber einen Dahingegangnen ist. Kurz sie 

wurden sich wie alle Liebende weniger verraten haben, wenn sie 
sich weniger verborgen hatten. Die Residentin schien heute, was 
sie allemal schien: sie hatte eine stille, denkende, nicht leiden- 
schaftliche Verstellung in ihrer Gewalt, und auf ihrem Gesicht sah 
man nicht die falschen Mienen die aufrichtigen erst verjagen. - 
Das schonste Gemalde aus dem Nachlasse des Russen war nicht 
zu Hause, sondern unter dem Kopierpapiere des Fiirsten. - 

So stumm und doch so nahe muB Gustav der Geliebten gegen- 
iiber bleiben; nur mit drei Worten, nur mit einem Druck der 
ziehenden Hand wenn er seine von Empfindungen elektrisierte 
Seele zu entladen wuBte! - Warum wollen alle unsere Empfin- 
dungen aus unserem Herzen in ein fremdes hiniiber? - Und warum 
hat das Worterbuch des Schmerzens so viele Alphabete und das 
der Entziickung und der Liebe so wenige Blatter? — BloB eine 
Trane, eine driickende Hand und eine Singstimme gab der Welt- 
Genius der Liebe und der Entziickung und sagte: »Sprecht da- 
mit!« - Aber hatte Gustavs Liebe eine Zunge, als er (bei einem 
Abwenden der Residentin auf 7 Sekunden) im Spiegel, dem er am 
Klavier gegeniibersaB, mit seinen diirstenden Augen das darin 
flatternde Bild seiner teuren Sangerin kiifite - und als das Bild ihn 
ansah - und als das blode Bild vor dem Feuerstrom seines Auges 
das Augenlid niederschlug — und als er sich plotzlich nach dem 
nahen Urbild des wegblickenden Farben-Schattens umdrehte und 
sitzend in das gesenkte Auge der stehenden Freundin mit seiner 
Liebe eindrang und als er in einem Augenblicke, den Sprachen 
nicht malen, sich nicht einmal in eine> nicht einmal in einen Laut 
ergieBen durfte? - Denn es gibt Augenblicke, wo der tief aus der 
fremden Seele emporgehobne Schatz wieder zurucksinkt und im 
Innersten verschwindet, wenn man redet - ja wo das zarte, be- 



33 2 DIE UNSICHTBARE LOGE 

wegliche, schwimmende, brennende Gemalde der ganzen Seele 
sich kaum in oder unter dem durchsichtigen Auge wie das zer- 
stiebende Pastellgebilde unter dem Glase beschutzt N 

Deswegen wars meiner Einsicht nach recht wohl getan, daB er 
zu Hause sofort einen Liebebrief verfaBte. Durch einen solchen 
Assekuranzbrief des Herzens verbriefte der Lebensbeschreiber 
von jeher seine Liebe im eigentlichen Sinne. Aber als ihn Gustav 
fertig hatte, wuBt' er nicht, wie er zu insinuieren sei, auf welcher 
Penny-Post. Er trug ihn so lange herum, bis er ihm nicht mehr 
gefiel — dann schrieb er einen neuen bessern und trug ihn wieder 10 
so lange bei sich, bis er den besten schrieb, den ich im nachsten Sek- 
tor hereinschreiben will. Bei dieser Gelegenheit kiindige ich dem 
Publikum auf Ostern meinen »expediten und allzeitfertigen Liebe- 
brief-StelIer« an, den alle Eltern ihren Kindern bescheren sollten. 

Apropos! Der Pelz-Kurierstiefel und der Beschlag fnit Senf 
und die Eis-Krone haben gliicklich mein Blut in die Fiifie gefullet 
und dem Kopfe nicht mehr davon gelassen, als er haben muB, um 
fur ein deutsches Publikum anmutige Ab- oder Ausschnitte auf- 
zusetzen. 

SlEBENUNDDREISSIGSTER ODER HEIL.WeIHNACHT-SeKTOR 

20 

Liebebrief- Comedie - Souper - bal pare* - zwei gefahrliche Mitternacht- 
szenen - Nutzan wen dung 

Ich habe in dieser frohlichen Zeit keinen recht frohlichen Sinn: 
vielleicht weil mein auseinander wollender Korper so wenig wie 
eine Langen- und Seeuhr richtig geht - vielleicht liegt mir auch 
der Inhalt dieses Sektors im Kopfe - vielleicht schleicht auch, 
beim Anblick der allgemeinen Kinderfreude, das Blut so traurig 
fort zwischen dem Wintergriin und Herbstflor jener Erinnerung, 
wie es sonst war, wie die Freuden des Menschen dahinrollen, wie 
sie ihre Entfernung von uns durch einen aus fernen Ufern her- 30 
iiberblinkenden Widerschein bezeichnen und wie unsre langsten 
Tage uns selten so viel geben, als dem Kind der kiirzeste oder die 
Christnacht im GenieBen oder Hoffen gibt. — 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 333 

Von Gustavs herzlichem Brief hatte ich vor vierzehn Tagen 
hicht so leichtsinnig reden sollen, als ich tat. Er heiBt so: 



»Eh* ich dieses schrieb, gingen Sie, unaussprechlich Teuere, mit 
Lauren den Park hinauf, um die ermattende Sonne, die zwischen 
zwei groBen Wolken herabschien, noch ein wenig zu geniefien; 
zu Ihren Seiten flogen Wolkenschatten dahin, aber mit Ihnen ging 
der Sonnenschein. Ich dankte dem Laube, daB es zu Ihren Ftifien 
lag und mir Sie nicht verdecken konnte; aber ich hatte alle dor- 
nichte Blatter von der Stechpalme pfliicken wollen, hinter denen 

10 Sie verschwanden und von mir gingen. >0 konnt' ich ihr< - dacht* 
ich - >den herbstlichen Weg mit jungen Blumen und Schmetter- 
lingen bestreuen, konnt* ich sie mit Bluten und Nachtigallen um- 
zingeln und vor ihr die Berge und die Walder mit dem Friihling 
iiberdecken: ach! wenn sie dann vor Freude bebte und mich an- 
sehen und mir danken miiBte . . .< Aber diese Bluten, diese Nachti- 
gallen, diesen Friihling haben Sie mir gegeben; Sie haben iiber 
mein Leben einen ewigen Mai gesandt und aus einem Menschen- 
Auge Freudentranen gepresset - allein was vermag ich zu geben? 
- Ach, Beata, was nab* ich Ihnen zu geben fur dieses ganze Ely- 

20 sium, womit Sie das schwarze Erdreich meines Lebens durch- 
winden und uberbliimen, und fur Ihr ganzes, ganzes Herz? — 
Meines — das hatteh Sie ja schon ohne das, und weiter hab' ich 
nichts; fiir alle schone Stunden, fur alle Ihre Reize, fur alle Ihre 
Liebe, fiir alles, was Sie geben, hab' ich nichts als nur dieses treue, 
gliickliche, warme Herz .... 

Ja, ich habe nur dieses ; aber wenn der gottliche Funke der hoch- 
sten Liebe im Menschen-Herzen gliihen kann, so ruht er in mei- 
nem und brennt fiir die, die ich nur lieben, aber nicht belohnen 
kann. - Du hoherer Funke wirst in meinem Herzen fiir sie fort- 

jo glimmen, wenn es Tranen iiber schwemmen, oder Ungliick zu- 
sammendriickt, oder der Tod einaschert.... Beata! auf der Erde 
kann kein Mensch dem andern sagen, wie er ihn liebe. Die Freund- 
schaft und die Liebe gehen mit verschlossenen Lippen iiber diese 
Kugel, und der innere Mensch hat keine Zunge. - Ach, wenn der 



334 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Mensch drauBen im ewigen Tempel, der sich bis an die Unend- 
Hchkeit hinaufwolbt, mitten im Kreise von singenden Choren, 
heiligen Statten, opfernden Altaren, vor einem Altare betaubt 
niederfallen und beten will: o so sinkt er ja so gut wie seine Trane 
zu Boden und redet nicht ! - Aber die gute Seele weiB, wer sie liebt 
und schweigt, sie ubersieht das stille Auge nicht, das sie begleitet, 
sie vergisset das Herz nicht, das starker klopft und doch nicht 
reden kann,und den Seufzer nicht, der sich verbergen will.— Aber, 
Beata, doch! - wenn einmal dieses Auge und dieses Herz ihr 
Schweigen geendigt, wenn sie in der seligsten Stunde mit alien 10 
Kraften der liebenden Natur zur geliebten Seele haben sagen diir- 
fen: >Ich Hebe dich<: so ists hart und schwer, wieder stumm zu 
werden, es tut so wehe, das emporgehobne flammende drangende 
Herz wieder in eine enge kalte Brust zuruckzudrucken — dann 
will im Innersten die stille Freude in stillen Kummer zerrinnen 
und schimmert traurig in diesen, wie der Mond in den Regen- 

bogen, den die Nacht aufrichtet Beata! ich kann keine Bitten 

haben und keine wagen; ich kann mir das Eden malen, das mir 
Beatens Blicke und Worte geben konnen, aber ich darf es nicht 
begehren; ich muB ans Ufer des Silberschattens, der uns schon im zo 
Traum und jetzo wie ein breiter Strom im Leben scheidet, mich 
mit alien meinen Wiinschen heften ; aber, Teuere, wenn ichs nicht 
zuweilen hore, wem das kostbarste Herz sich geschenket hat, wie 
soil ich den Mut behalten, es zu glauben? - Wenn ich dieses holde 
Herz unter so viel guten und erhohten Menschen erblicke und 
dann zu mir sagen muB : ach ihr alle verdientes gleichwohl nicht: 
so sinkt ein freudiges Staunen auf mich, daB es meiner Seele sich 
gegeben, und ich glaub' es kaum. Geliebte! tausend waren Deiner 
wiirdiger; aber keiner ware durch Dich gliicklicher geworden, 

als ich es bin !« 3° 

* 

Das Schwerste war jetzt, den Brief auf andern Flugeln als unter 
denen einer Brieftaube - Venus hing wahrscheinlich einen Post- 
zug Brieftauben ihrer Gondel vor - an Ort und Stelle zu schaffen. 
Zu so etwas sah er keine Moglichkeit, weil er unter alien Moglich- 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 335 

keiten solche am schwersten sieht. - Meine Schwester sieht solche 
am leichtesten. 

- Es gab sich alles in der Komodienprobe. 
Ordentliche Komodien werden namlich nicht, wie ihre Schwe- 
stern, die politischen, aufgefiihrt, ohne probiert zu sein. Ich will 
gern zwischen der Komodienprobe und der Komodie einen so 
schmalen papiernen Zwischenraum als moglich lassen ; aber der 
Leser muB seines Orts auch behend zublattern und nicht sowohl 
die Hande in den SchoB legen als das Buch. Die Probe war im 

10 alten Schlosse - Oefel machte seine Sache gut genug - Beata noch 
besser - und Gustav am aller - schlechtesten. Denn die Geskhter 
des Fursteri und der Ohnmachtigen setzten wie Salpetersaure und 
Salz sein Herz fast zu einem Eiskegel urn; vor manchen Menschen 
ist man schlaff und unfahig, begeisterte Gefuhle zu haben. - 
Sonderbar! nur die seinigen, aber nicht Beatens ihre wurden von 
dieser durchs Theater streichenden Nordluft erkaltet. Es ist aber 
doch nicht sonderbar; denn die Liebe wirft den Jiingling aus sei- 
nem Ich hinaus unter andre Ich, das Madchen aber aus fremden in 
das ihrige hinein. Kaum oder wenig nahm Beata die Approchen 

20 des regierenden Akteurs oder agierenden Regenten wahr - Oefel 
aber sah es und dachte seinem Siege iiber den hohen Nebenbuhler 
nach — , welcher sich ihr in einer nicht sehr groBen Schneckenlinie 
naher drehte, was er an Hofdamen gewohnt war, die nur in der 
Jugend ihre Tugend a la minutta weggeben, im Alter hingegen 
einen groBern Handel damit in grosso treiben. Ich sagte eben et- 
was von einer Schneckenlinie, weil ich einen Einfall im Kopfe 
hatte, der so heiBet: daB Weiber von Welt und die Sonne die 
Planeten unter dem Schein, sie in einem Kreise um ihre Strahlen 
herumzulenken, in der Tat in einer feinen Schneckenlinie zu ihrer 

50 brennenden Oberflache hinanreiBen. 

Mitten im Probe-Drama, gerade als Gustav oder Henri der 
Marie das leere Papier als ein Diplom hinreichte, das ihre Ver- 
wandtschaft fur null erklarte, fiel ihm das als Henri ein, was einem 
andern langst als Gustav eingeijallen ware, daB auf dem leeren Pa- 
pier etwas konnte geschrieben stehen, und zwar das beste Etwas, 
sein Liebebrief, den wir schon langst gelesen haben. Kurz er nahm 



336 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sich vor, seinen Brief in der Gestalt jenes Diploms ihr im Drama 
zuzustecken, wenns nicht anders zu machen ware. Sogar das Ro- 
mantische des Entschlusses, seine theatralische Rolle in seine wirk- 
liche hineinzuziehen und so vielen Zuschauern eine andre Tau- 
schung zu machen als eine poetische, hielt ihn nicht ab, sondern 
trieb ihn an, Ich will es nur gestehen, lieber Gustav - und fiele 
mein Gestandnis selber in deine Hande -, auf deine himmlische 
Bescheidenheit war der Honigtau des Beifalls, den du an einem 
solchen Orte nicht einmal fur Schmeichelei, sondern bloB fur eine 
Fagon zu reden berechtigt warest anzusehen, zerstorend gefallen! 10 
Unter alien Dingen ist menschliche Bescheidenheit am leichtesten 
totgerauchert oder totgeschwefelt, und manches Lob ist so schad- 
Hch wie eine Verleumdung. Im Narrenhause sehen wir, daB der 
Mensch andern aufs Wort glaubt, er sei narrisch 1 , und in Palasten 
sehen wir, daB er ihnen aufs Wort glaubt, er sei weise. - Ober- 
haupt war Gustav - denn ein Mann ist oft an einem Abend be- 
stimmt, nicht nur lauterschlechteSpielehintereinanderzu machen, 
sondern auch oft lauter unbedachtsame Streiche - am Komo- 
dienabend fast zu letztem ausersehen. 

— Endlich ist Bousens Geburtfest da ... . Mein Gustav ! - Noch ZQ 
heute weinen deine Augen nach! 

Das Fest zerspallt sich in drei Gange - Comedie - Souper - 
und bal pare. Im Grunde ist noch ein vierter Gang: ein Fall. 

Am Tage des Drama leerte sich das neue SchloB in das furst- 
liche zu Oberscheerau aus. Gustav dachte unterwegs (im Wagen 
Oefels) an seinen Brief, den er ubergeben wollte, und an den guten 
Doktqr Fenk ein wenig; aber die abgekiirzten Tage gaben ihm 
zu Besuchen keine MuBe. Sein Fehler war, daB die Gegenwart 
vor ihm allemal wie ein Wasserfall alle feme Laute uberrauschte, 
- und er ware vielleicht nicht einmal zu mir gekommen, wenn 30 

1 Denn man konnte einen Menschen durch die Versicherung narrisch 
machen, er sei narrisch. Die Freunde vom jiingern Crebillon beredeten sich 
einmal, an einem geselligen frohen Abende iiber keinen Einfall von ihm zu 
lachen, sondern nur mitleidig zu schweigen, als hab* er nun alien Witz ver- 
loren. Und die Sache wurd' ihm auch glaublich gemacht. Wieder andere 
Schriftsteller werden durch ihre Freunde gerade mit dem umgekehrten Irrtum 
noch lebhafter getauscht, dafi sie glauben, Witz zu haben. 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 337 

mich mein beschwerter juristischer Arbeittisch in die Stadt ge- 
lassen hatte. 

Er sah seine Marie - zehnmal hunderttausend neue Reize .... 
ich will aber iiber mich herrschen : so viel ist psychologisch wahr, 
daB ein bekanntes Madchen uns an einem fremden Orte auch 
fremd, aber nur desto schoner wird. Dieses hatte Beata mit der 
strahlenden Residentin gemein, aber ein gewisser Hauch von be- 
scheidner Furchtsamkek verschonerte sie mit seinem Schleier all- 
ein. Warum war Gustav diesesmal von ihr verschieden? Darum: 
10 die mannliche Blodigkeit liegt bloB in der Erziehung und in Ver- 
haltnissen; die weibliche tief in der Natur — der Mann hat inner- 
lichen Mut und bloB oft auBerliche Unbehulflichkeit; die Frau 
hat diese nicht und ist dennoch scheu - jener driickt seine Ehr- 
furcht durch Hinzutreten, diese durch Zuriickweichen aus. 

Die Ohnmachtige, die sogenannte Defaillante, oder die Mi- 
nisterin heute ausgenommen! Ihr Winken und Blinken, ihr Lis- 
peln und Zappeln, ihr Witzeln und Kitzeln, ihr Fiirchten und Wa- 
gen, ihr Kokettieren und Persiflieren — wie soil das der einbeinige 
Jean Paul biographisch kopieren in gemeiner schlechter Prose? - 
20 Gleichwohl ists gar nicht anders zu machen, und er muB. Wenn 
die bunten Kopje der Weiber im groBen Garten der Natur die 
blauen, roten Glaskugeln auf lackierten Stativen vorzustellen 
hatten (welches unter hundert Mannern nicht einer glaubt): so 
wiird' ich in meiner Schilderung so fortfahren: der Ministerin 
ihrer war nicht tibel, sondern bunt; dieser Kopf war ein kurzer 
pragmatischer Auszug aus zehn andern Kopfen, die namlich Haare, 
Zahne, Federn dazu zusammenschossen. 

Sie war eine Antike von groBer Schonheit, die aber nach den 
Verwiistungen der Jahre und Menschen nicht mehr unbeschadigt 
30 zu haben war ; sie muBte also durch geschickte Bildhauer mit neuen 
Gliedern - z.B. Busen, Zahnen - erganzet werden. 

Auf den Wangen war die Legierung mit Rot, die tiefere Nach- 
barschaft wurde mit Weifi x legiert. 

Diejenigen Zahne, die den Menschen in die Reihe der gras- 

1 Legierung des Goldes mit Kupfer heiBet die mit Rot y die mit Silber heiBt 
die mit Wcifi. 



33^ DIE UNSICHTBARE LOGE 

fressenden Tiere setzen, die Schneidezahne, .waren um so mehr so 
weiB wie Elfenbein, weil sie selber eines waren, und waren aus 
dem Munde eines grasfressenden Tieres; - ich mag nun darunter 
einen Elefanten oder einen gemeinen Mann verstehen,der die Zah- 
ne, die er als Ableger einem edlern Stamm einimpfet, selten in et- 
was anders als Vegetabilien setzet: so ist doch so viel gewiB, da6 
kein andrer Nachsatz dieses Periodens herpasset als der; sie hatte 
noch einmal so viel Zahne als andre Christinnen, und zwei Gold- 
faden dazu, weil der Zahnarzt die einen allemalim Hause und unter 
der Biirste hatte, wahrend die andern die Dental-Buchstaben aus- 10 
sprachen. 

Da man nach den neuesten Lehrbiichern die Trigonometric und 
die Busen bloB in ebene und spharische einteilen kann, und da sie 
ganz die scheinbare Wahl vor sich hatte: so zog ihr meBkunst- 
licher Geist diejenigen GroBen, die dem MeBkunstler die meiste 
Anstrengung und das meiste Vergniigen geben, vor — die sphari- 
schen. 

Der Anzug selber suchte, von den Schuhrosetten bis zu den 
Hutrosetten, seinen Wert in der Form weit weniger als in der 
Materie und konnte mithin weniger mit den Augen als auf Juwe- 20 
lier-Waagen geschatzet werden, weniger nach Schonheitlinien als 
nach Karats - es blieb also zwischen ihr und ihrer gesetzgebenden 
Puppe immer ein Unterschied ; iibrigens muBte sie sich nach dieser 
so gut wie jede andre tragen. Ich will nur ein Wort zu seiner Zeit 
iiber die Puppen sagen. 



Das Wort uber die Puppen 

Diese Holzer haben bekanntlich die gesetzgebende Macht iiber 
den schonern Teil der weiblichen Welt in Handen; denn sie sind 
die Legaten und Vizekoniginnen, welche aus Paris von der im 
Putz regierenden Linie abgeschickt werden, damit sie die weib- 5 o 
lichen deutschen Kreise regieren - und diese holzernen Plenipo- 
tentiare senden wieder ihre Kopje (Haubenkopfe) als missi regii 
weiter herunter, damit diese die gemeinern Honoratiorinnen be- 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 339 

herrschen. Konnen diese regierenden Haupter von Holz nicht 
selber kommen : so schicken sie - wie lebende Fiirsten im gehei- 
men Rate ihre Stelle durch ihr Portrdt versehen lassen — ihre Ge- 
setie und ihre Bildnisse in SchmauBens Corpus aller Reichsab- 
schiede der Mode, welches Corpus wir alle unter dem Namen 
Modejournal in Handen haben. Bei solchen Umstanden - da ein 
Holz dem andern in die Hande arbeitet, aber uneigenniitziger als 
ganze Kollegien, da ferner jahrlich neue wie die Prokonsule ge- 
wahlet werden — wunder* ich mich nicht, dafl es mit dem Regi- 

10 mentwesen an den Toiletten gut bestellet ist, und daB das ganze 
weibliche gemeine Wesen, das Manner nicht beherrschen konnen, 
von den in BaBgeigenfutteralen geschickten Wahlregentinnen, 
die in dieser Aristokratie von Petersburg bis nach Lissabon stehen 
und lenken, vortrefflich in Ordnung und unter Gesetzen erhalten 

wird. 

Ich bin der Mann nicht, dem man es erst zu sagen braucht, daB 
die Puppen, auch die holzernen, iiberkleidete Statuen sind, die 
man verdienten Frauen (in Riicksicht des Anzugs) setzet; - viel- 
mehr bin ich iiberzeugt, daB diese offentlichen Denkmaler, die 

20 man dem ankleidenden Verdienste errichtet, schon recht viele zur 
Nacheiferung angefrischet haben und hoffentlich noch mehre an- 
frischen werden, da ein groBer Mann selten so viel Gutes wirkt 
als seine Statue, die man verehrt; aber ein Hauptpunkt, ohne den 
sonst alles hinkt, ist offenbar der, daB die Statuen zu - sehen sein 
miissen. Ohne den geb' ich keinen Deut fur alles. Was Sokrates 
an der Philosophic tat, indent' ich an den besten Puppen tun und 
sie vom Himmel der GroBen auf die Erde des Pobels ziehen. Ich 
meine, daB, wenn man die Marienbilder oder auch selber Apostel 
und Heilige, die man in katholischen Kirchen bisher ohne den ge- 

50 ringsten Nutzen und Geschmack aus- und anzog, vernunftiger 
und zweckmaBiger ankleidete, namlich so wie die franzosischen 
Puppen - wenn die Kirche sich allemal jedes Monat des Mode- 
journals kommen HeBe und nach dessen farbigen Vorbildern die 
Marien (als Damen) und die Apostel (als Herrn) umkleidete und 
urn die Altare stellte: so wurden diese Leute mit mehr Lust nach- 
geahmet und verehret werden, und man wiiBte doch, weswegen 



34° DIE UNSICHTBARE LOGE 

man in die Kirche ginge und was sie gerade in Paris oder Versail- 
les anhaben ; — man wiirde die Moden zu rechter Zeit erfahren, und 
selbst der Pobel wiirde etwas Vernunftigeres umlegen, die Apostel 
wiirden die Flugelmanner des Anzugs und die Marie die wahre 
Himmel-Konigin der Weiber werden. So miissen kirchliche Vor- 
urteile zu Staats-Vorteilen geniitzet werden; ebenso wendete der 
Dominikaner-Monch Rocco in Neapel (nach Miinter) die Ver- 
schwendung, am Altar der Maria auf der StraBe Lampen zu bren- 
nen, zur Vermehrung dieser Gassen-Altare und zur - StraBen- 
Erleuchtung an. ic 

Ende des Worts iiber die Puppen 

Ich bin dem Leser noch die Ursache schuldig, aus der die Mi- 
nisterin sich zur Jeannen-Rolle drangte - es war, weil ihre Rolle 
ihr einen kiirzern Rock erlaubte, - oder mit ahdern Worten, weil 
sie alsdann ihre lilliputischen Grazien-FuBe leichter spielen lassen 
konnte. An ihrer Schonheit waren sie das einzige Unsterbliche, 
wie am Achilles das einzige Sterbliche; in der Tat hatteri sie, wie 
des Damhirschchen seine, zu Tabakstopfern getaugt. 

Wie viel besser nahm sich Oefel aus! Der ist ein Narr gerade- 
zu, aber in gehorigem MaBe. Die Residentin uberholte jene in *< 
jeder Biegung des Arms, den ein Maler, und in jeder Hebung des 
FuBes, den eine Gottin zu bewegerf schien ; sogar im Auf legen des 
Rots, woran die Bouse ihre Wangen bei einer Fiirstin angewohnen 
muBte, welche von alien ihren Hofdamen diese nuchtige Fleisch- 
gebung zu fodern pflegte - ihr Rot bestreifte, wie der Widerschein 
eines roten Sonnenschirms, sie nur mit einer leisen Mitteltinte .... 
In Riicksicht der Schonheit unterschied sich die ihrige von der 
ministeriellen, wie die Tugend von der Heuchelei . . . . 

Das Drama wurde von den fiinf Spielern nicht im Operhause, 
sondern in einem Saale des Schlosses, der die Kronung der Resi- 3c 
dentin begiinstigte, in die Welt geboren. Ich war nicht dabei; aber 
man hinterbrachte mir alles. Die gute Marie, Beata, hatte zu viele 
Empfindung, um sie zu zeigen; sie fuhlte, daB sie die Wiederho- 
lung ihres Schicksals dramatisiere, und sie besaB zu viele von den 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 34I 

guten Grundzugen des weiblichen Charakters, Um sie vor so vielen 
Augen zu entbloBen. Ihre beste Rolle spielte sie also innerlich. 
Henri , Gustav, spielte auBer der innerlichen auch die auBerliche 
gut, aus der namlichen Ursache. Nebst der Musik isolierte und 
hob ihn gerade die Menge, die ihn umsaB, aus der Menge; und das 
Feierliche gab seinen innern Wellen die Starke und Hohe, um die 
auBern zu uberwaltigen. Der Brief, den er uberreichen wollte, 
verwirrte seine Rolle mit seiner Geschichte, die ich schreibe; und 
das falsche Lob, das die Ministerin seiner neulichen Proberolle aus 

£0 eben der unuberzeugten Affektation gegeben hatte, woraus sie 
die ihrige iiberspannte, half ihm wahres ernten. - Der blodeste 
Mensch ist, wenn viel Phantasie unter seinen Taten glimmt, der 
herzhafteste, wenn sie emporlodert. - 

Es ware lacherlich, wenn mein Lob von der Warme seines 
Spiels bis zur Feinheit desselben ginge; aber die Zuschauer ver- 
gaben ihm gern, weil die Armut an letzter 1 sich mit dem Reich- 
turn an erster verband, um sie in die Tauschung zu ziehen, er sei 
von - Lande und bloB Henri. - 

Dieses Feuer gehorte dazu, um seiner geliebten Marie Beata 

w an der Stelle, wo er ihr die Bruderschaft aufkiindigt,< den wahren 
Liebebrief zu geben - sie faltete ihn zufolge ihrer Rolle auf- un- 
endlich schon hatt* er die sein ganzes Leben umschlingende "Worte 
gesagt: »0 doch, ich bin ja dein Bruder nicht« - sie blickte auf 
seinen Namen darin - sie erriet es schon halb aus der Art der Ober- 
gabe (denn sicher mankierte noch kein Madchen einer mannlichen 
List, die es zu vollenden hatte) - aber es war ihr unmoglich, in eine 
verstellte Ohnmacht zu fallen - denn eine wahre befiel sie - die 
Ohnmacht iiberschritt die Rolle ein wenig - Gustav hielt alles fur 
SpaB, die Ministerin auch und beneidete ihr die Gabe der Tau- 

\o schung. - Henri weckte sie bloB mit Mitteln, die ihm sein Rollen- 
Papier vorschrieb, wieder auf, und sie spielte in einer Verwirrung, 
die der Kampf aller Empfindungen, der Liebe, der Bestiirzung 
und der Anstrengung, gebar,und in einer andern als theatralischen 

1 Namlich blofl an konventioneller; denn es gibt eine gewisse bessere, von 
der nicht allemal jene, aber wohl allemal gebildete Giite des Herzens und 
Kopfes begleitet wird. 



342 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Verschonerung bis zu Ende Henris Geliebte, um nicht Gustavs 
seine zu spielen. Nach dem Spiele muBte sie alien iibrigen Lustig- 
keiten des heutigen Abends entsagen und in einem Zimrrier, das 
ihr der Fiirst so wie der Doktor mit vielem empressement auf- 
drang, Ruhe fur ihre nachzitternden Nerven und im Briefe Unruhe 
fiir ihren schlagenden Busen suchen. Ich hebe, Teure, den Vor- 
hang immer hoher auf, der damals noch das verhullte, was jetzt 
deinen Nerven und deiner Brust die Ruhe nimmt! 

Gustav sah nichts; an der Tafel, woran er sie vermiBte, hatt* er 
nicht den Mut, seine fremden Nachbarinnen um sie zu fragen. i 
Andre Dinge fragt* er kiihner heute; nicht bloB der heutige Bei- 
fall war eine Eisen- und Stahlkur fur seinen Mut gewesen, sondern 
auch der Wein, den e'r nicht trank, sondern aB an den narrischen 
Olla Potridas der GroBen. Dieses gegessene Getrank feuerte ihn 
an, die Bonmots wirklich zu offenbaren, die er sich sonst nur 
innerlich sagte. Und hier bezeug* ich offentlich, daB es mich noch 
bis auf diese Minute krankt, daB ich sonst bei meinem Eintritte in 
die groBe Welt ein ahnlicher Narr war und Dinge dachte, die ich 
hatte sagen sollen. - Besonders bereu* ich dies, daB ich zu einer 
Tranchee-Majorin, die ihr kleines Madchen an der Hand und eine : 
Rose, aus deren Mitte eine kleine gesprosset war, am Busen hatte, 
nicht gesagt habe: Vous voila! und daB ich nicht auf die Rose ge- 
wiesen, ob ich gleich das ganze Bonmot schon fertig gegossen im 
Kopfe liegen hatte. Ich fiihrte nachher die Saillie lange in den Ge- 
hirnkammern herum und paBte auf, brennte sie aber zuletzt doch 
auf eine recht dumme Weise los und darf die Person hier nicht 
einmal nennen. 

Da eine Winterlandschaft mit einem kunstlichen Reife, der in 
der Warme des Zimmers zerfloB und einen belaubten Friihling 
aufdeckte, unter den Schau-Genchten, den optischen Prunk-Ge- > 
richten der GroBen, mit stand: so hatte Gustav einen hiibschen 
Einfall dariiber, den man mir nicht mehr sagen konnte. Gleichwohl 
ob er gleich unter dem schonsten Deckenstucke und auf dem nied- 
lichsten Stuhle aB : so nahm er doch, als ein bloBer Hof-Anhanger, 
an allem Anteil, was er sagte, und an jedem, mit dem er sprach; 
dir war noch, du Seliger, keine Wahrheit und keinMensch gleich- 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 343 

giiltig. Aber er steht dir noch bevor, jener herbe Obergang von 
HaB und Liebe zur Gleichgiiltigkeit, welchen alle auszustehen 
haben, die mit vielen Menschen oder mit vielen Satzen, fiir die sie 
kalt bleiben miissen, sich abgeben! 

Die Residentin zog seine scheuen Talente heute mehr als sonst 
ans Licht und beschonigte den Anteil, den sie an ihm nahm, leicht 
mit seinen Theater- Verdiensten um sie. - Endlich fing das dritte 
Schauspiel an, worin mehre als in den beiden andern glanzen 
konnten; denn es wurde nur mit den FiiBen gespielt - der Ball 

:o kam. Tanzen ist der weiblichen Welt das, was das Spielen der 
groBen ist — eine schone Vakanzzeit der Zungen, die oft unbe- 
holfen, oft gefahrlich werden. Fiir einen Kopf wie der Gustavische, 
der so viele Besturmungen seiner Sinne heute zum ersten Male 
erfahren, war ein Tanzsaal ein neues Jerusalem. - In der Tat ein 
Tanzsaal ist etwas; sehet in den hinein, wo Gustav springt! Jedes 
Saiten- und Blasinstrument wird zum Hebebaum, der die Herzen 
aus dem kargen miBtrauischen Alltagleben aufhebt: - die Tanze 
mengen die Menschen wie Karten in- und auseinander, und die 
tonende Atmosphare um sie fasset die trunkne Masse in eines ein - 

:o so viele Menschen und zu einem so freudigen Zwecke verkniipft, 
durch umringende Helldammerung geblendet, durch ihre klop- 
fenden Herzen begeistert, miissen den Freudenbecherwenigstens 
kredenzen, welchen Gustav gar austrank; denn ihn, dem jede 
Dame eine Dogaressa 1 ist, begeisterte jede Hand-Beruhrung, und 
der Tumult von auBen weckte seinen ganzen innern so auf, daB 
die Musik, wie zuriickprallend, ihren auBern Geburtort verlieB 
und nur in seinem Innern unter und neben seinen Gedanken zu 
entspringen und herauszutonen schien .... Wahrhaftig wenn man 
seine Ideen um einen lodernden Kronleuchter herumtragt, so 

o werfen sie ein ganz anderes Licht zuriick, als wenn man damit vor 
einer okonomischen Lampe hockt! In phantasiereichen Menschen 
liegen, wie in heiBen Landern oder auf hohen Bergen, alle Ex- 
treme enger aneinander: bei Gustav wollte jeden Augenblick die 
Entziickung zur Wehmut werden und die Freude zur Liebe, und 
alle die Empfindungen , die ihm die Tanzerinnen einflofiten, wollt* 
1 Frau des Doge. 



344 DIE UNSICHTBARE LOGE 

er seiner Einzigen bringen, die einsam wegstand. Gleichwohl war 
ihm, als wiirde sie durch diese alle nicht sowohl als durch die Re- 
sidentin ersetzt. Sogar durch das Drama, das mit dieser sich ge- 
schlossen und worin er fiir ihre Kronung gespielet, wurde sie ihm 
lieber; ja ihr heutiger Geburttag selber war einer ihrer Reize in 
seinen Augen. Anders oder vernunftiger empfindet der Mensch 
nie. Kurz die Residentin gewann bei allem, wessen ihn heute das 
Wegsein seiner Beata beraubte. Er hatte heute zum ersten Male 
von der Residentin, die er auBerordentlich achtete, mehr ange- 
fasset als einen Handschuh - mehr, namlich ihre Arm- und i< 
Riickenschienen, mit andern Worten ihr Kleid dariiber: an Arm 
und Riicken, obwohl nicht an Handen, ist Bekleidung so viel wie 
keine. Gustav! philosophiere und schlafe lieber — 

Aus ist der bal pare - aber der Teufel geht erst an. Oefels Wa- 
gen fuhr hinter dem Bousischen; am letzten entzundet sich eine 
versaumte Radachse unter der unnutzen Eiligkeit. Freilich wars 
Zufall, aber gewisse Menschen kennen keinen schlimmen, und 
ihre Absichten legen sich um jeden an. Oefel muBt' ihr seinen an- 
bieten. Die gute Beata war in ihrem Krankenzimmer mit einer 
kleinen weiblichen Dienerschaft gelassen. Er nahm ein Pferd von 2 < 
dem Wagen der Residentin; ihr lieO er (ich weiB nicht, ob aus 
Galanterie gegen ihr Geschlecht oder aus Scharfsinn und Freund- 
schaft fiir seines und fur seinen Roman) meinen und ihren Hel- 
den. Ich wollt* es vor einem akademischen Senat ausfuhren, daB es 
fiir einen, der erst ein Engel werden will, nicfrts Fataleres gibt als 
mit einer, die er schon fiir einen halt, nachts aus einem Tanzsaale 
nach Hause zu fahren - dennoch wurde meinem Helden kein Haar 
gekriimmt, und er kriimmte auch keines. 

Aber verliebter wurd' er, ohne zu wissen in wen. 

Beata hatte keine ebenso gefahrliche Mitternacht oder Nach- 3 < 
mitternacht; aber ich will erst seine abfertigen. Er kam mit der 
Residentin in ihrem - Zimmer an. Er konnte und wollte von sei- 
nen heutigen Szenen gar nicht los. Dieses Zimmer stellte ihm alle 
die vergangnen dar, und in den Saiten des Klaviers verbarg sich 
eine feme geliebte Stimme und hinter der Folie des Spiegels eine 
feme geliebte Gestalt. Sehnsucht reihete sich wie eine dunkle 



S1EBENUNDDREISSIGSTER SEKT0R 345 

Blume unter den bunten Freuden-StrauB; die Residentin gewann 
auch bei dieser dunkeln Blume. Sie war keine von den Koketten, 
welche die Sinne friiher zu bewegen suchen als das Herz; sie fiel 
erst in dieses mit dem ganzen Heer ihrer Reize ein und fuhrte nach- 
her aus diesem, gleichsam in Feindes Land, den Krieg gegenyette. 
Sie selber war nicht anders zu erobern, als sie bekriegte. Wenn 
die Weiber der hohern Klasse, wie die Epigrammen, in solche, 
die Wiv^ und in andre, die Empfindung haben,.einzuteilen sind: 
so glich sie mehr dem griechischen als dem gallischen Sinngedicht, 

io wiewohl die griechische Ahnlichkeit taglich kleiner wurde. Die 
Maienluft ihres fruhern Lebenshatte einmal eine weiBe Bliite edler 
Liebe an ihr Herz geweht, wie oft ein Blutenblatt zwischen die 
gebeizten Federn oder Brillanten-Blumen des Damenhuts her- 
unterzittert - aber ihr Stand formte bald ihren Busen zu einem 
Potpourri urn, auf dem gemalte Blumen der Liebe und in welchem 
ein faulender Bliiten-Schober ist. Alle ihre Verirrungen blieben 
jedoch in den engern und schonern Grenzen, an denen eine un- 
sichtbare Hand eines unausloschlichen Gefuhles sie anhielt. Die 
Ministerin hatte dieses Gefiihlnie gehabt, und ihre Herzens- 

20 Schreibtafel wurde immer schmutziger, je mehr sie hineinschrieb 
und herauswischte. Diese konnte durchaus keinen edlen Menschen 
blenden; jene konnt' es. 

Jetzo nach dieser Abschweifung kann der Leser nicht mehr irre 
werden, wenn Bousens Betragen gegen Gustav weder aufrichtig 
noch verstellt, sondern beides ist. Sie zeigte ihm das Nachtstuck, 
das der russische Furst dagelassen und das sie der richtigern Be- 
leuchtung wegen in ihrem Kabinette aufgehangen hatte. Es stellte 
bloB eine Nacht, einen aufgehenden Mond, eine Indianerin, die 
ihm auf einem Berge entgegenbetet, und einen Jungling vor, der 

30 auch Gebet und Arme an den Mond, die Augen aber auf die ge- 
liebte Beterin an seiner Seite richtete; im Hintergund beleuchtete 
noch ein Johanniswurmchen eine mondlose Stelle. Sie blieben im 
Kabinett, die Residentin verlor sich in die gemalte Nacht, Gustav 
sprach daruber; endlich erwachte sie schnell aus ihrem Schauen 
und Schweigen mit den schlaftrunknen Worten: »Meine Geburt- 
feste machen mich allemal betrubt.« Sie zeichnete ihm zum Be- 



346 DIE UNSICHTBARE LOGE 

weise fast alle dunklern Partien ihrer Lebensgeschichte vor; das 
Trauer-Gemalde nahm seine Farben von ihrem Auge und ihrer 
Lippe, und seine Seele von ihrem Ton, und sie endigte damit: 
»Hier leidet jeder alleinAi Er ergriff in mitfuhlender Begeisterung 
ihre Hand und widerlegte sie vielleicht durch einen leisen Druck. 

Sie lieB ihm die Hand mit der unachtsamsten Miene; schien 
aber bald eine Laute neben ihnen, die sie ergrifT, zum Vorwand zu 
nehmen, um die schone Hand zuriickzufiihren. »Ich war nie un- 
gliicklich,« fuhr sie bewegt fort, »solange mein Bruder noch lebte.« 
Sie nahm nun das Bild desselben, das sie auf ihrem schwesterlichen i 
Busen trug, nach einer leichten, aber notwendigen Enthiillung 
hervor und teilte es karg seinen Augen mit, und freigebig den 
ihrigen. Ob Gustav bei der Enthiillung so verschiedner Geheim- 
nisse bloB auf das gemalte Brustbild hingesehen - das beurteilt 
mein Konrektor und sein Fuchspelzrock am verniinftigsten, wel- 
cher glaubt, es gebe keine schonere Riinde als der Perioden ihre, 
und keine neuern Evas-Apfel als die im AltenBunde. MeinPelz- 
Konrektor hat gut vordozieren; aber Gustav, der der trauernden 
Residentin gegeniiberskzt, welche sonst blofl die Form, nie die 
Farbe jener umlaubten verbotnen Frucht erraten lieB, hat schwer x < 
lernen. 

Die wenigsten waren, wie ich und der Konrektor, imstande ge- 
wesen, ihr das Bild eigenhandig wieder einzuhandigen. 

»Dieses Kabinett«, sagte sie, »lieb' ich, wenn ich traurig bin. 
Hier uberraschte mich mein Alban (Name des Bruders), da er aus 
London kam - hier schrieb er seine Briefe - hier wollt* er sterben, 
aber der Arzt lieB ihn nicht aus seinem Zimmer.« Sie lieB unbe- 
wuBt einen in die Luft versinkenden Akkord aus ihrer Laute 
schliipfen. Sie blickte Gustav traumerisch an, ihr Auge umzog sich 
mit immer feuchterem Schimmer. »Ihre Schwester ist noch gliick- 3c 
lich !« sagte sie mit einem Trauerton, der allmachtig ist, wenn man 
ihn das erstemal von schonen und sonst lachenden Lippen hort. 
»Ach ich wollte,« (sagte er mit sympathetischem Kummer) »ich 
hatte eine Schwester.« - Sie sah ihn mit einer kleinen forschenden 
Verwunderung an und sagte : »Auf dem Theater machten Sie heute 
gerade die umgekehrte Rolle gegen die namliche Person.« Dort 



SIEBENUNDDREISSIGSTER $EKTOR 347 

namlich gab* er sich falschlich fur einen Bruder der Beata, hier 
falschlich fur keinen aus, oder vielmehr, hier kiindige er ihr seine 
Liebe auf. Sein fragendes Erstaunen hing an ihrem Munde und 
schwebte angstlich zwischen seiner Zunge und seinem Ohre. Sie 
fuhr gleichgiiltig fort : »Freilich sagt man,<daB leibliche Bruder und 
Schwestern skh selten lieben; aber ich bin dieerste Ausnahme; 
Sie werden die zweite sein.« Sein Erstaunen wurde Erstarren — 
Es wurde dem Publikum auch so gehen, wenn ich nicht einen 
Absatz machte und es belehrte, daB die Residentin gar wohl die 

) Luge geglaubt haben kann (im Grunde muB), die sie ihm sagte. — 
Leute ihres Standes, denen das Furioso der Lustbarkeiten-Kon- 
zerts immer in die Ohren reiBet, horen unebenbiirtige Neuigkeiten 
nur mit tauben oder gar halben — sie kann mithin noch leichter 
als der Leser (und wer steht mir fiir den}) den verlornen Sohn der 
Roperin und des Falkenbergs mit dem gegenwartigen der Ritt- 
meisterin und des Falkenbergs vermenget haben. - Ihr bisheriges 
Betragen ist so wenig wider meine Vermutung, als das bisherige 
des angeblichen Geschwisterpaars gegen ihre war; gleichwohl 
kann ich mich verrechnen. 

, Dieses Verrechnen wird aber durch ihr weiteres Betragen ganz 
unwahrscheinlich. Seine Verlegenheit gebar ihre; sie bedauerte 
ihre Voreiligkeit, ein Geschwisterpaar fiir glucklich und liebend 
gepriesen zu haben, das sich meide und ungern von seinen Ver- 
haltnissen spreche. Sie verbarg mit ihren Mienen ihre Absicht 
nicht, das Gesprach abzulenken, sondern icigte sie mit FleiB; aber 
zu ihrem Kummer, keinen Bruder zu haben, gesellete sich der 
Kummer, daB Gustav zwar eine Schwester habe, aber nicht liebe, 
und sie driickte ihre Sympathie mit dem ahnlichen Ungliick auf 
ihrer Laute immer schoner und leiser aus. Gustavs getauschte 

» Seele, auf der noch das heutige Fest mit seinem Glanze stand, 

. uberzogen die heftigsten und unahnlichsten Wogen - MiBtrauen 
kam nie in sein Herz, ob er gleich in seinem Kopfe genug davon 
zu haben meinte - jetzt hatt' er die Wahl zwischen dem Throne 
und dem Grabe seiner heutigen Freude. 

Denn starke Seelen kennen zwischen Himmel und Hoik nichts 
- kein Fegefeuer, keinen limbus infantum. 



348 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Die Residentin entschied sein Schwanken. Sie nahm sein 
Mienen-Chaos (- oder schien es, weil ich nicht das Herz habe, der 
Schoppenstuhl und die letzte Instanz so vieler tausend Leser zu 
sein -) fur die doppelte Verlegenheit und Betrubnis uber die Kalte, 
womit seine (angebliche) Schwester ihn behandle, und iiber seine 
Familiengeschichte. Sie hatte bisher in seinen Augen ein Sehnen 
gefunden, das schonere Reize suchte als die ubrigen Hof- Augen - 
sie hatte den Morgen, wo er Amandus* Grab erbat, und die Augen 
voll Liebe, die er vor ihr trocknete, in ihrem gefuhlvollen Herzen 
aufbewahrt - folglich gofi sie den zartlichsten Blick auf seinen u 
heiBen - zog die zartlichste Stimme ihrer sympathetischen Brust 
aus ihren Lauten-Saiten - wollte zuhiillen ihr pochendes Herz - 
und konnte nicht einmal sein Schlagen verstecken - und fiel, als er 
die Bewegung des heftigsten AfTektes machte, verloren, hinge- 
rissen, mit zitterndem Auge, mit uberwaltigtem Herzen , mit irren- 
der Seele und mit dem einzigen groBen langsamen, tief herauf- 
geseufzeten Laute: »Bruder!!« an - ihn. 

Er an sie!... Sie fuhlte das erstemal in ihrem Hofleben eine 
solche Umarmung; er das erstemal eine empfangne; denn an Bea- 
tens reinem Herzen hatt' er ihre Arme nie gefuhlt. O Bouse! 2C 
hattestduihrdoch geglichen und warest eine Schwester geblieben! 
Aber — : du gabest mehr, als du bekamest, und reizetest zum Nek- 
men - du rissest ihn und dich in einen verfinsternden Gefiihl- 
Orkan — an deinem Busen verlor er dein Gesicht - dein Herz - 
sein eignes - und als alle Sinne mit ihren ersten Kraften sturmten, 
alles, alles 

Schutzgeist meines Gustavs! Du kannst ihn nicht mehr retten; 
aber heil ihn, wenn er verloren ist, wenn er verloren hat, alles, 
seine Tugend und seine Beata! Ziehe, wie ich, den traurigen Vor- 
hang um seinen Fall und sage sogar zur Seele, die so gut ist wie 3 o 
seine: »Sei besser!« 

Ehe wir zur Seele gehen, der ers sagt, zu Beata, wollen wir 
wenigstens einen einzigen Verteidiger fur den armen Gustav ver- 
nehmen, damit man ihn nicht zu tief verdamme. Der Verteidiger 
gibt bloB dieses zu bedenken: wenn die Weiber so leicht zu be- 
siegen sind, so ist es, weil in alien Krieg-Verhaltnissen der an- 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 349 

greifende Teil die Vorteile vor dem angegriffenen voraushat; 
kehret sich aber einmal der Fall urn, und tritt eine Versucherin 
statt eines Versuchers auf: so wird derselbe Versuchte, der nie 
eine Unschuld angefeindet hatte, die seinige verlieren in der un- 
gewohnlichen Umkehrung der Verhaltnisse, und zwar um so 
leichter, je mehr die weibliche Versuchung zarter, feiner und 
durchdringender ist als die mannliche. Daher verfuhren zwar 
Manner; aber Junglinge werden gewohnlich anfangs verfuhrt - 
und eine Versucherin bildet zehn Versucher. 

io Verzeihe, reine Beata, uns alien den Obergang zu dir! - Du 
hiitest in dieser Spatnacht ein Zimmer des furstlichen Schlosses 
ganz einsam, aber mit Freuden an Freuden; denn du hattest 
Gustavs Brief an dich in der Hand und an der Brust; und im gan- 
zen Palast war heute die kranklichste Seele die gliicklichste; denn 
der Brief, den sie einsam lesen, kussen, ohne innere und auBere 
Sturme ausgenieBen konnte, leuchtete ihrem zarten Auge milder 
als die Gegenwart des Gegenstandes, dessen Gliihfeuer erst durch 
eine Entfernung zur wehenden Warme fiel ; seine Gegenwart iiber- 
haufte sie mit GenuB zu sehr, und sie umarmte da jeden Augen- 

20 blick den Genius ihrer Tugend, wenn sie glaubte, bloB ihren 
Freund zu umfassen. - In dieser Lenz-Entziickung, als sie in der 
einen Hand den Brief und in der andern den Genius der Tugend 
hatte, storte sie der scheerauische - Fiirst. So schiebt sich auf dem 
Bauch eine Krote in ein Blumenbeet. 

Einer Frau wird ihr Betragen in solchem Fall nur dann schwer, 
wenn sie noch unentschlossen zwischen Gleichgiiltigkeit und 
Liebe schwankt; oder auch wenn sie trotz aller Kalte aus Eitelkeit 
doch gerade so viel bewilligen mochte, daB die Tugend nichts 
verlore und die Liebe nichts gewonne; - hingegen im Fall der 

30 vollendeten tugendhaften Entschlossenheit kann sie sich frei der 
innern Tugend iiberlassen, die fur sie kampfet, und sie braucht 
kaum uber Zunge und Mienen zu wachen, weil diese schon ver- 
dachtig sind, wenn sie eine Wache begehren. - Die Art, wie Beata 
den Brief einsteckte, war der einzige kleine Halbton in dieser vol- 
len Harmonie einer geriisteten Tugend. Der scheerauische Thron- 
InsaB entschuldigte seine Erscheinung mit seiner Sorgfalt fur ihre 



3 JO DIE UNSICHTBARE LOGE 

Gesundheit. Er setzte sein folgendes Gesprach aus der franzo- 
sischen Sprache - der besten, wenn man mit Weibern und mit 
Witzigen sprechen will - und aus jenen Wendungen zusammen, 
mit denen man alles sagen kann, was man will, ohne sich und den 
andern zu genieren, die alles nur halb und von dieser Halite wieder 
ein Viertel im Scherze und alles mehr verbindlich als schmeichelnd 
und mehr kiihn als aufrichtig vortragen. 

»So nab* ich Sie« - sagt* er mit einer verbindlichen Verwunde- 
rung — »heute den ganzen Abend in meinem Kopfe abgemalt ge- 
sehen; meine Phantasie hat Ihnen nichts genommen, auBer die 10 
Gegenwart. - Wenn das Schicksal mit sich reden lieBe: so hatt' 
ich auf dem ganzen Ball mit ihm gezankt, daB es gerade der Per- 
son, die uns heute so viel Vergniigen gab, das ihrige nahm.« 

»0« - sagte sie - »das gute Schicksal gab mir heute mehr Ver- 
gniigen, als ich geben konnte.« Obgleich der Fiirst unter die Per- 
sonen gehort, mit denen man iaber nichts sprechen mag: so sagte 
sie dieses doch mit Empfindung, die aber nichts als ein Dank ans 
Schicksal fiir die vorherige frohe Lese-Stunde war. 

»Sie sind« (sagt' er mit einer feinen Miene, die einen andern Sinn 
in Eeatens Rede legen sollte) »ein wenig Egoistin. - Das ist Ihr 20 
Talent nicht - Ihres muB sein, nicht allein zu sein. Sie verbargen 
bisher Ihr Gesicht wie Ihr Herz; glauben Sie, daB an meinem 
Hofe niemand wert ist, beide zu bewundern und zu sehen?« - Fiir 
Beata, die glaubte, sie hatte nicht notig bescheiden zu sein, son- 
dern demiitig, war ein solches Lob so groB, daB sie gar nicht da- 
ran dachte, es zu widerlegen. Sein Blick sah nach einer AntWort; 
aber sie gab ihm uberhaupt so selten als moglich eine, weil jeder 
Schritt die alte Schlinge mit in die neue tragt. Er hatte ihre Hand 
anfangs mit der Miene gesucht, womit man sie einem Kranken 
nimmt: sie hatte sie ihm gleichgiiltig gelassen; aber wie einen jo 
toten Handschuh hatte sie ihre in seine gebettet - alle seine Ge- 
fuhlspitzen konnten nicht das geringste Regsame an ihr aus- 
horchen; sie zog sie weder langsam noch hurtig bei der nachsten 
Erweiterung aus der rostigen Scheide heraus. 

Der Tanz, der Tag, die Nacht, die Stille gaben seinen Worten 
heute mehr Feuer, als sonst darin lag. »Die Lose« - sagt* er und 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 35 I 

spielte pikiert mit einer Miinze der Westentasche, um die ge- 
fiohene Hand zu ersetzen - »sind ungliicklich gefallen. Die Per- 
sonen, die das Talent haben, Empfindungen einzufloBen, haben 
zum Ungluck oft das feindselige, selber keine zu erwidern.« Er 
heftete seinen Blick plotzlich auf ihre Hemdnadel, an der eine 
Perle und das Wort „ramitie" glanzte ; er sah wieder auf seine bo- 
lognesische Miinze, auf der wie auf alien bolognesischen das Wort 
„libertas" (Freiheit) stand. »Sie gehen mit der Freundschaft wie 
Bologna mk der Freiheit um - beide tragen das als Legende, was 

io sie nicht haben.« - Die edleren Menschen konnen die Worte 
» Freundschaft, Empfindung, Tugenda auch von den unedelsten 
nicht horen, ohne bei diesen Worten das GroBe zu denken, wozu 
ihr Herz fahig ist. Beata bedeckte einen Seufzer mit ihrer steigen- 
den Brust, der es nur gar zu deutlich sagen wollte, was Empfin- 
dung und Freundschaft ihr fur Freuden und fiir Schmerzen gaben ; 
aber den Fiirsten ging er nichts an. 

Sein haschender Blick, den er nicht seinem Geschlecht, sondern 
seinem Stande verdankte, erwischte den Seufzer, den er nicht 
horte. Er machte auf einmal wider die Natur der Appellation und 

20 der Natur einen dialogischen Sprung : »Verstehen Sie mich nicht?« 
sagt* er mit einem Tone voll hoffender Ehrerbietung. Sie sagte 
kalter, als der Seufzer versprach,siekonneheutemitihremkranken 
Kopfe nichts tun, als ihn auf den - Arm stiitzen, und bloB der 
mache ihr es schwef, die Ehrfurcht einer Untertanin und die Ver- 
schiedenheit ihrer Meinungen von den seinigen mit gleicher 
Starke auszudriicken. - Gleich Raubtieren haschte er, wenn 
Schleichen zu nichts fiihrte, durch Spriinge. »0 doch!« (sagt* er 
und machte Henris Liebeerklarung zur seinigen) »Marie! ich bin 
ja Ihr Bruder nicht.« Eine Frau gewinnt, wenn sie zu langc ge- 

30 wisse Erklarungen nicht verstehen will, nichts als — die deutlich- 
sten. Er lag noch dazu in Henris Attitude vor ihr. »Erlassen Sie 
mir«, antwortete sie, »die Wahl, es fiir Scherz oder fiir Ernst zu 
halten - auBer dem Theater bin ich unfahiger, den Rosen-Preis 
zu verdienen oder zu vernachlassigen; aber Sie sinds, die Sie ihn 
uberall bloB geben mussen.« - »Wem aber?« (sagt* er, und man 
sieht daraus, daB gegen solche Leute keine Grunde helfen) - »ich 



352 DIE UNSICHTBARE LOGE 

vergesse iiber die Schonen alle HaBlichen und uber die Schonste 
alle Schonen - icn gebe Ihnen den Preis der Tugend, geben Sie 
mir den der Empfindung — oder darf ich mir ihn geben ?« und 
hastig zuckten seine Lippen nach ihren Wangen, auf denen bisher 
mehr Tranen als Kusse waren; allein sie wich ihm mit einem kal- 
ten Erstaunen, das er an alien Weibern warmer gefunden hatte, 
weder um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reichte bei 
ihm in einem Tone, in dem man zugleich die Ehrfurcht einer Un- 
tertanin, die Ruhe einer Tugendhaften und die Kalte einer Uner- 
bittlichen fand, kurz in einem Tone, als hatte ihre Bitte mit dem 10 
Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf diese Art reichte sie 
ihre untertanige Supplik ein, er mochte allergnadigst sich, da ihr 
der Doktor gesagt hatte, sie konne heute nichts Schlimmers tun 
als wachen, sich — wie ich mich ausgedruckt haben wiirde - zum 
Henker scheren. Eh' er so weit ging: badinierte er noch einige 
Minuten, kam daruber beinahe wieder in den alten Ton, legte 
seine Inhasiv-Pro-Reprotestationen ein und zog ab. 

Nichts als die Ruhe, die sie aus den Handen der Tugend und 
der - Liebe und des Gustavischen Briefes hatte, gab ihr das Gluck, 
daB dieser Jakob oder Jack sich an diesem Engel eine Hiifte aus- 20 
renkte; — was freilich den matten Jaques um so mehr verdroB, 
je mehr der Engel sich unter dem Ringen verschbnerte, da jede 
weibliche Unruhe bekanntlich ein augenblickliches Schmink- und 
Schonheitmittel wird. 

In euerem ganzen Leben, Gustav und Beata, schluget ihr eure 
Augen nie mit so verschiednem Gefiihl vor einem Morgen auf als 
an dem, wo sich Beata nichts und Gustav alles vorzuwerfen hatte. 
tJber den ganzen versunkenen Friihling seines Lebens schlichtete 
sich ein langer Winter; er hatte auBer sich keine Freude, in sich 
keinen Trost und vor sich statt der Hoffnung Reue. 3 o 

Er riB sich mit so vieler Schonung, als seine Verzweiflung zu- 
lieB, von den Gegenstanden seines Jammers los und jagte sein 
sprudelndes Blut nach Auenthal zu Wutz - in meine Stube. Ich sah 
an nichts mehr, daB er noch Gefiihl und Leben hatte, als am Ge- 
witterregen seiner Augen. — Er ring vergeblich an; unter Blut, 
Ideen und Tranen sanken seine Worte unter - endlich wandte er 



SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 353 

sich, hochaufgliihend, von mir gegen dasFenster underzahltemir, 
aufeinen Ort blickend, seinen Fall, den er von sich selbst herunter 
getan. - Darauf, urn sich an sich selber durch seine Beschamung 
zu rachen, lieB er sich ansehen, hielt es aber nicht langer aus, als 
bis er zum Namen Beata kam; hier, wo er mich zum ersten Male 
vor den gewichnen Blumengarten seiner ersten Liebe fuhrte, muBt' 
er sich das Gesicht zuhullen und sagte: »0 ich war gar zu gluck- 
lich und bin gar zu unglucklich.« 

Die Tauschung der Residentin, welche ihn fur den Bruder 

io Beatens gehalten, konnt' ich ihm leicht aus der Ahnlichkeit der 
Bildnisse von ihm und dem ersten Sohne ihrer Mutter erklaren. - 
Zuerst sucht' ich ihm den wichtigsten Kredit wieder zu geben — 
den, den man bei sich selber finden muB : wer sich keine mora- 
Hsche Starke zutrauet, buBet sie am Ende wirklich ein. Sein Fall 
kam bloB von seiner neuen Lage; an einer Versuchung ist nichts 
so gefahrlich als ihre Neuheit; die Menschen und die Pendul- 
Uhren gehen bloB in einerlei Temperatur am richtigsten. - Obri- 
gens bitt* ich die Romanenschreiber, die es noch leichter finden, 
als das Gefiihl und die Erfahrung es hestatigen, daB ^weiganz reine 

*o seelenvolle Seelen ihre Liebe in einen Fall verwandeln, nicht mei- 
nen Helden zum Beweise zu nehmen ; denn hier mangelte die %weite 
reine Seele ; hingegen die Vereinigung aller Farben von iwei scho- 
nen Seelen (Gustavs und Beatens) wird immer nur die weifie der 
Unschuld geben. 

Sein EntschluB war der, von Beaten sich auf immer in einem 
Briefe abzureiBen - das SchloB mit alien Gegenstanden, die ihn 
an seine schonen Tage oder an seinen ungliicklichen erinnerten, 
zu verlassen - den Winter bei seinen Eltern, die ihn allemal in der 
Stadt zubrachten, zu verleben oder zu verseufzen und dann im 

jo Sommer mit Oefel die Karten zum Spiel des Lebens von neuem 
zu mischen, um zu sehen, was es noch, wenn die Seelenruhe ver- 
loren ist, zu gewinnen oder einzubuBen gabe.... Schoner Un- 
glucklicher! warum legt gerade jetzt deine gegenwartige Ge- 
schichte, da ich mit ihr meine geschriebne zusammenfuhren 
konnte, Flore um? Warum fallen gerade deine kurzentriiben Tage 
in die kurzen triiben des Kalenders hinein? O in diesem Trauer- 



354 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Winter wird mich keine Himmelleiter des Enthusiasmus mehr in 
die Hohe richten, um die Bluten-Landschaft deines Lebens zu iiber- 
schauen und abzuzeichnen, und ichwerde wenigvondirschreiben, 
um dich ofter in meine Arme zu nehmen! 

Und ihr entsetzlichen Seelen, die ihr einen Fehltritt, an dem 
Gustav sterben will, unter eure Vorziige und eure Freuden rech- 
net, die ihr die Unschuld nicht, wie er, selber verliert, sondern 
fremde mordet, darf ich ihn durch eure Nachbarschaft auf dem 
Papier besudeln? - Was werdet ihr noch aus unserem Jahrhundert 
machen? - Ihr gekronten, gestirnten, turnierfahigen, infulierten 
Hamlinge! Davon ist die Rede nicht und ich nab' es nie getadelt, 
daB ihr aus euren Standen die sogenannte Tugend (d. h. den Schein 
davon), die ein so sproder Zusatz in euren weiblichen Metallen 
ist, mit so viel Glasfeuer, als ihr zusammenbringen konnt,heraus- 
brennt und niederschlagt - denn in euren Standen hatVerfuhrung 
keinen Namen mehr, keine Bedeutung, keine schlimme Folgen, 
und ihr schadet da wenig oder nicht - aber in unsere mittleren 
Stande, auf unsere Lammer schifeBet, ihr Greif- und Lammergeier, 
nicht herab ! Bei uns seid ihr noch eine Epidemie (ich falle, wie ihr, 
in eine Vermischung, aber nur der Metaphern), die mehr weg- : 
reiBet, weil sie neuer ist. Raubet und totet da lieber alles andre als 
eine weibliche Tugend! - Nur in einem Jahrhundert wie unsers, 
wo man alle schonen Gefuhle starkt, nur das der Ehre nichi, kann 
man die weibliche, die bloB in Keuschheit besteht, mit FiiBen tre- 
ten und wie der Wilde einen Baum auf immer umhauen, um ihm 
seine ersten und letzten Friichte zu nehmen. Der Raub einer weib- 
lichen Ehre ist so viel als der Raub einer mannlichen, d.h. du zer- 
schlagst das Wappen eines hohern Adels, zerknickst den Degen, 
nimmst die Sporen ab, zerreiBest den Adelbrief und Stammbaum; 
das, was der Scharfrichter am Manne tut, vollstreckest du an einem 3 
armen Geschopfe, das diesen Henker liebt und bloB seine unver- 
haltnismaBige Phantasie nicht bandigen kann. Abscheulich! - 
Und solcher Opfer, welche die mannlichen Hande mit einem ewi- 
gen Halseisen an die Unehre befestigt haben, stehen in den Gassen 
Wiens zweitausend, in den Gassen von Paris dreiBigtausend, in 
den Gassen von London funfzigtausend. — Entsetzlich! Todes- 



ACHTUNDDREI SSI GSTER SEKTOR 355 

Engel der Rache! zahle die Tranen nicht, die unser Geschlecht aus 
dem weiblichen Auge ausdriickt und brennend aufs schwache 
weibliche Herz rinnen la'Bt ! MiB die Seufzer und die Qualen nicht, 
unter denen die Freuden-Madchen verscheiden und an denen den 
eisernen Freuden-Mann nichts dauert, als daB er sich an ein andres 
Bett, das kein Sterbebette ist, begeben muB! 

Sanftes, treues, aber schwaches Geschlecht! Warum sind alle 
Krafte deiner Seele so glanzend und groB, daB deine Besonnen- 
heit zu bleich und klein dagegen ist? Warum beweget sich in dei- 
10 nem Herzen eine angeborne Achtung fiir ein Geschlecht, das die 
deinige nicht schont? Je mehr ihr eure Seelen schmiicket, je mehr 
Grazien ihr aus euren Gliedern machet, je mehr Liebe in eurem 
Herzen wallet und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu 
Engeln umzaubert: desto mehr suchen wir diese Engel aus ihrem 
Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert eurer Verschone- 
rung vereinigen sich alle, Schriftsteller, Ktinstler und GroBe, zu 
einem Wald von Giftbaumen, unter denen ihr sterben sollt, und 
wir schatzen einahder nach den meisten Brunnen- und Kelchver- 
giftungen fiir eure Lippen! 



2 ° ACHTUNDDREISSIGSTER ODER NeUJAHR-SeKTOR 

Nachtmusik - Abschiedbrief- mem Zanken und Kranken 

Ich hatte auf heute vor, SpaB zu machen, meine Biographie 
einen gedruckten Neujahrwunsch an den Leser zu nennen und 
statt der Wiinsche scherzhafte Neujahr-Fliiche zu tun und der- 
gleichen mehr. Aber ich kann nicht und werd* es uberhaupt bald 
gar nicht mehr konnen. Welches plumpe ausgebrannte Herz miis- 
sen die Menschen haben, welche im Angesichte des ersten Tages, 
der sie unter 364 andre gebuckte, ernste, klagende und zerrinnende 
hineinfuhret, die tobende schreiende Freude der Tiere dem 
,0 weichen stillen und ans Weinen grenzenden Vergnugen des 
Menschen vorzuziehen imstande sind! Ihr musset nicht wissen, 
was die Worter »erster« und »letzter« sagen, wenn ihr nicht daruber , 



356 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sie mogen einem Tage oder einem Buche oder einem Menschen 
gegeben werden, tiefern Atem zieht; ihr musset noch weniger 
wissen, was der Mensch vor dem Tiere voraushat, wenn in euch 
der Zwischenraum zwischen Freude und Sehnsucht so grofi ist 
und wenn nicht beide in euch eine Trane vereinigt! - Du Himmel 
und Erde, eure jetzige Gestalt ist ein Bild (wie eine Mutter) einer 
solchen Vereinigung: die in unser frierendes Auge trostend hin- 
einblickende Lichtwelt, die Sonne, verwandelt den blauen Ather 
um sich in eine blaue Nacht, die sich iiber den blitzenden Grund 
der beschneiten Erde noch tiefer schattiert, und der Mensch sieht 10 
sehnend an seinem Himmel eine herubergezogene Nacht und eine 
Licht-Ritze: die tiefe Offnung und Strafie gegen hellere Welten 
hin — 

Die vergangne Nacht fuhrt noch meine Feder. Es ist namlich 
in Auenthal wie an vielen Orten Sine, daB in der letzten feierlichen 
Nacht des Jahrs auf dem Turm aus Waldhornern gleichsam ein 
Nachhall der verklungnen Tage oder eine Leichenmusik des um- 
gesunknen Jahrs ertont. Als ich meinen guten Wutz nebst einigen 
Gehulfen in der untern Stube einiges Gerausch und einige Probe- 
Tone machen horte, stand ich auf und ging mit meiner langst 20 
wachen Schwester ans enge Fenster. In der stillen Nacht horte 
man den Hinauftritt der Leute auf den Turm. t)ber unser Fenster 
lag jener Balken, unter dem man in prophetischen Nachten hin- 
aushorchen muB, um die Wolkengestalten der Zukunft zu sehen 
und zu horen. Und wahrhaftig, ich sah im eigentHchen Sinn, was 
der Aberglaube sehen will - ich sah wie er Sarge auf Dachern und 
Leichengefolge an der einen Tiire und Hochzeitgaste und Braut- 
kranz an der andern, und das Menschen-Jahr zog durch das Dorf 
und hielt an seiner rechten Mutterbrust die kleinen Freuden, die 
mit dem Menschen spielen, und an seiner linken die Schmerzen, 3c 
die ihn anbellen; es wollte beide nahren, aber sie fielen sterbend 
ab, und sooft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte, so oft schlug 
einer von den zwei Kloppeln zum Zeichen an die Turmglocken 
an — Ich sah nach dem weiBen Wald hiniiber, hinter welchem 
die Wohnungen meiner Freunde liegen. O junges Jahr, sagt* ich, 
zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freu- 



ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 357 

den aus deinen und nimm die zuruckgebliebnen zahen Schmerzen 
des alten mit, die nicht sterben wollen! Geh in alle vier Welt- 
straBen und verteile die SaugHnge deiner rechten Brust und mir 
lasse nur einen - die Gesundheit! — 

Die Tone des Turms verstromten in die weite mondlose Nacht 
hin, die ein groBer, mit Sternbluten iibersaeter Wipfel war. Bist 
du gliicklich oder unglucklich, kleiner Schulmeister Wutz, daB 
du auf deinem Turm der weiBen Mauer und einem weiBen Stein 
des Auenthaler Gottesackers entgegen stehest und doch nicht da- 

io ran denkest, wen Mauer und Stein verschliefien, denselben nam- 
lich, der sonst an deinem Platze in dieser Stille auch wie du das 
neue Jahr begriiBte, deinen Vater, der wieder ebenso ruhig wie du 
uber die verwesenden Ohren des seinigen hiniiberblies? . . . Ruhi- 
ger bist du freilich, der du am neuen Jahre an kein anderes Ab- 
nehmen als an das der Nachte denkst; aber lieber ist mir meine 
Philippine, die hier neben mir ihr Leben von neuem uberlebt und 
gewiB ernsthafter als das erstemal, und in deren Brust das Herz 
nicht bloB Frauenzimmer-Arbeit tut, sondern auch zuweilen zum 
Gefuhl anschwillt, wie wenig der Mensch ist, wie vieler wird und 

zo wie sehr die Erde eine Kirchhof-Mauer und der Mensch der ver- 
puffende Sal peter ist, der an dieser Mauer anschieBet! Gute wei- 
nende Schwester, in dieser Minute fragt dein Bruder nichts dar- 
nach, daB du morgen - nicht viel darnach fragest; in dieser 
Minute verzeihet er dirs und deinem ganzen Geschlechte, daB 
eure Herzen so oft Edelsteinen gleichen, in denen die schonsten 
Farben und eine - Mxicke oder ein Moos nebeneinander wohnen; 
denn was kann der Mensch, der dieses verwitternde Leben 
und seine verwitternden Menschen besieht und beseufzet, mitten 
in diesem Gefuhle Bessers tun, als sie recht herzlich lieben, 

»o recht dulden, recht... LaB dich umarmen, Philippine, und wenn 
ich einmal dir nicht verzeihen will, so erinnere mich an diese 
Umarmung!... 

Meine Lebensbeschreibung sollte jetzo weiterrxicken; aber ich 
kann meinen Kopf und meine Hand unmoglich dazu leihen, wenn 
ich nicht auf der Stelle mich aus der gelehrten Welt in die zweite 
schreiben will. Es ist besser, wenn ich bloB den Setzer dieser Ge- 



358 DIE UNSICHTBARE LOGE 

schichte mache und den schmerzhaften Brief abschreibe, den 
Gustav seiner verscherzten Freundin schickte. 



»Treue tugendhafte Seele ! Die jetzige dunkle Minute, die nur ich 
verdienet habe, aber nicht du, quale dich nicht lange und verziehe 
sich bald! O! zum Gliick kannst du doch nicht mein Auge, nicht 
meinen von Schmerzen zitternden Mund und mein zertriimmertes 
Herz erblicken, womit ich nun alien meinen schonen Tagen ein 
Ende mache. - Wenn du mich hier schreiben sahest: so wiirde die 
weichste Seele, die noch auf der Erde getrostet hat, sich zwischen 
mich und meinen schlagenden Kummer stellen und mich bedecken n 
wollen; sie wiirde mich heilend anblicken und fragen, was mich 
quale,,.. Ach, gutes treues Herz! frage mich es nicht; ich miiBte 
antworten : meine Qual, meine unsterbliche Folter, meine Vipern- 
Wunde heiBet verlorne Unschuld — Dann wiirde sich deine 
ewige Unschuld erschrocken wegwenden und mich nicht trosten; 
ich wiirde einsam liegen bleiben, und der Schmerz stande aufrecht 
mit der Geifiel bei mir; ach ich wiirde nicht einmal das Haupt auf- 
heben, urn alien guten Stunden, die sich in deiner Gestalt von mir 
wegbegeben, verlassen nachzusehen. - Ach es ist schon so, und 
du bist ja schon gegangen! - Amandus! trennt dich der Himmel u 
ganz von mir, und kannst du, der du mir die Lilien-Hand Beatens 
gegeben, nicht meine befleckte sehen, die nicht mehr furdiereinste 
gehort? - Ach, wenn du noch lebtest, so hatt' ich ja dich auch 
verloren.... O daB es doch Stunden hienieden geben kann, die 
den vollen Freudenbecher des ganzen Lebens tragen und ihn mit 
einem Fall zersplittern und die Labung aller, aller Jahre ver- 
schiitten diirfen! 

Beata! nun gehen wir auseinander; du verdienst ein treueres 
Herz, als meines war, ich verdiente deines nicht - ich habe nichts 
mehr, was du lieben konntest - mein Bild in deinem Herzen muB 3 < 
zerrissen werden - deines steht ewig in meinem fest, aber es sieht 
mich nicht mehr mit dem Auge der Liebe, sondern mit einem zu- 
gesunknen an, das iiber den Ort weint, wo es steht — Ach, Beata, 
ich kann meinen Brief kaum endigen; sobald seine letzte Zeile 
steht, so sind wir auseinander gerissen und horen uns nie mehr 



ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 359 

und kennen uns nimmer. — O Gott! wie wenig hilft die Reue 
und das Beweinen! Niemand stellet das heiBe Herz des Menschen 
her, wenn nichts in ihm mehr ist als der harte groBe Kummer, den 
es, wie ein Vulkan ein Felsenstiick, empor- und herauszuwerfen 
sucht und der immer wieder in den lodernden Kessel zuriicksturzt ; 
nichts heilt uns, nichts gibt dem entblatterten Menschen das ge- 
fallne Laub wieder; Ottomar behalt recht, daB das Leben des 
Menschen, wie ein Vollmond, iiber lauter Nachte ziehe... 
Ach es muB doch sein! Lebe nur wohl, Freundin! Gustav war 

to der Stunde, die du haben wirst, nichtwert.DeinheiligesHerz, 
dem er Wunden gegeben, verbinde ein Engel, und im Bande der 
Freundschaft trage du es still I Meinen letzten freudigen Brief, wo 
ich mich nicht mit meinem iiberschwenglichen Gliick begnugte, 
leg in diesen trostlosen, in dem ich nichts mehr habe, und ver- 
brenne sie miteinander ! Kein Voreiliger sage dir kunftig nach vie- 
len Jahren, daB ich noch lebe, daB ich den langen Schmerz, mit 
dem ich mein versunknes Gliick abbiiBe, wie Dornen in meine 
verlassene Brust gedriickt und daB in meinem triiben Lebenstage 
die Nacht fruher komme, die zwischen zwei Welten liegt! Wenn 

10 einmal dein Bruder mit einem schoneren Herzen an deines sinkt: 
so sag es ihm nicht, so sag es dir selber nicht, wer ihm ahnlich sah 

- und wenn einmal dein Tranen-Auge auf die weiBe Pyramide 
fallt: so wend es ab und vergiB, daB ich dort so gliicklich war. 

- Ach! aber ich vergess' es nicht, ich wende das Auge nicht ab, 
und konnte der Mensch sterben an der Erinnerung, ich ginge zu 
Amandus' Grabe und stiirbe - Beata, Beata, an keiner Menschen- 
brust wirst du starkere Liebe finden, als meine war, wiewohl star- 
kere Tugend leicht - aber wenn du einmal diese Tugend gefun- 
den hast, so erinnere dich meiner nicht, meines Falles nicht, bereue 

10 unsre kurze Liebe nicht und tue dem, der einmal unter dem Sternen- 
Himmel an deiner edlen Seele lag, nicht unrecht.... O du meine, 
meine Beata! in der jet%igen Minute gehorest du ja noch mir zu, 
weil du mich noch nicht kennest; in der jetzigen Minute darf noch 
mein Geist, mit der Hand auf seinen Wunden und Flecken, vor 
deinen treten und um ihn fallen und mit erstickten Seufzern zu 
dir sagen : liebe mich ! . . . Nach dieser Minute nicht mehr — nach 



360 DIE UNSICHTBARE LOGE 

dieser Minute bin ich allein und ohne Liebe und ohne Trost - das 

lange Leben liegt weit und leer vor mir hin, und du bist nicht da- 

rin aber dieses Menschen-Leben und seine Fehltritte werden 

voriibergehen, der Tod wird mir seine Hand geben und mich weg- 

fiihren — die Tage jenseits der Erde werden mich heiligen fur die 

Tugend und dich dann komm, Beata, dann wird dir, wenn 

dich ein Engel durch dein irdisches Abendrot in die zweite Welt 

getragen, dann wird dir ein hienieden gebrochnes, dort geheiligtes 

Herz zuerst entgegengehen und an dich sinken und doch nicht an 

seiner Wonne sterben, und ich werde wieder sagen: >Nimm mich « 

wieder, geliebte Seele, auch ich bin selig< - alle irdischen Wunden 

werden verschwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird uns umfassen 

und verbinden ! . . . Ach, wir miissen uns ja erst trennen, und dieses 

Leben wahret noch lebe langer als ich, weine weniger als ich 

und — vergiB mich doch nicht ganzlich. — Ach hast du mich denn 

sehr geliebt, du Teure, du Verscherzte?... 

Gustav F.« 
* 

Abends unter dem Zusiegeln des Briefs fuhr Beata zum SchloB-Tor 
hinein. Als er ihre Lichtgestalt, die bald mit so vielen Tranen sollte 
bedeckt werden, heraussteigen sah: prallte er zuriick, schrieb die 2c 
Aufschrift, ging zu Bette und zog die Vorhange zu, um recht sanft 
-zu weinen. Dem Romanen-Steinmetz Oefeleilteer vorziiglichaus 
dem Wege, weil seine Mienen und Laute nichts als unedle Trium- 
phe seines weissagenden Blickes waren ; und sogar Gustavs Nieder- 
geschlagenheit rechnete er noch unedler zu seinen Triumphen — 
Im Grunde wollt' ich, der Henker holte alle Weltteile und sich 
dazu; denn mich hat er halb. Wenige wissen, daB er mich diese 
Biographie nicht zu Ende fiihren lasset. Ich bin nun iiberzeugt, 
daB ich nicht am Schlage (wie ich mir neulich unter meinem ge- 
frornen Kopfzeug einbildete) noch an der Lungensucht (welches 3< 
eine wahre Grille war) sterben kann; aber biirgt mir dieses dafiir, 
daB ich nicht an einem Her^polypen scheitern werde, wofiir alle 
menschliche Wahrscheinlichkeit ist? - Zum Gluck bin ich nicht 
so hartnackig wie Musaus in Weimar, der das Dasein des seinigen, 
den er so gut wie ich den meinigen mit kaltem Kaffee groB geatzet, 



ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 361 

nicht eher glaubte, als bis der Polype sein schones Herz verstopft 
und ihm alle Wiegenfeste und alle Wunsche fur die seiner Gattin 
genommen hatte. Ich sage, ich merke besser auf Vorboten von 
Herzpolypen : ich verberge mir es nicht, was hinter dem aussetzen- 
den Pulse steckt, namlich eben ein wirklkher Herzpolype, der 
Ziindpfropf des Todes. Die fatale literarische Feme, der Rezen- 
senten-Bund, schleicht mit Stricken urn uns gutwillige Narren 
herum, die wir schreiben und gleich Schmetterlingen an der Um- 
armung der Musen sterben - aber keine Kreuzer-Piece, nicht eine 

10 Zeile sollten wir edieren fiir solche gewissenlose StoBvogel: wer 
dankt mirs, daB ich Szenen aufstelle, die den Prospektmaler bei- 
nahe umbringen, und biographische Seiten schreibe, die auf mich 
nicht viel besser wirken als vergiftete Briefe? Wer weifi es - nach 
Scheerau komm* ich jetzo seiten - als meine Schwester, daB ich 
in diesem biographischen LustschloB, das mein Mausoleum wer- 
den wird, oft Zimmer und Wande ubermale, die mir Puis und 
Atem dergestalt benehmen, daB man mich einmal tot neben mei- 
ner Malerei liegen finden raufl? MuB ich nicht, wenn ich so in die 
Schlagweite des Todes gerate, aufspringen, durch die Stube zirku- 

20 lieren und mitten in den zartlichsten oder erhabensten Stellen ab- 
schnappen und die Stiefel an meinen Beinen wichsen, oder Hut 
und Hosen auskehren, damit es mir nur den Atem nicht versetzt, 
und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte 
Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwichsen wechseln? - 
Ihr verdammten Kunstrichter allzumal! 

Dazu gesellen sich noch tausend Plackereien, die mich seit ei- 
niger Zeit viel ofter zwicken, weil sie etwa merken, daB der Po- 
lype mir bald den Garaus versetzen und sie mich nicht lange mehr 
haben werden. Meinen MauBenbacher Hummer, der mich immer 

3° zwischen seine gerichtherrlichen Scheren nimmt und der glaubt, 
ein armer Gerichthalter musse an nichts anderm sterben als an 
Arbeiten ex officio, diesen agyptischen Fronvogt will ich uber- 
springen; auch meine Schwester und Wutzen unter mir, die beide 
wider alles MaB lustig sind und mich fast tot singen. Aber was 
mich driickt, ist der Druck der Untertanen, das metallene Druck- 
werk, das man unsern Fiirsten nennt. 



362 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Ich hatte mich beinahe neulich in einer Exzeptionschrift in einen 
ehrenvollen Festungarrest hineingeschrieben. Hier aber auf dem 
biographischen Papiere kann ich schon eher meine Orangen ohne 
Karzer-Gefahr an den gekronten Kopf werfen. Pfui! bist du dar- 
um Fiirst, um eine Wasserhose zu sein, die alles, woriiber sie 
riickt, in ihren Krater hinaufschlingt? Und wenn du uns einmal 
bestehlen willst, tu es mit keinen andern Handen als mit deinen 
eignen, fahre terminierend vor alien Hausern durch das Land und 
erhebe selber die ordentlichen Steuern in deinen Wagen : aber so 
wie bisher, langen unsre Abgaben nach dem Transrtozoll, den sie ic 
den Handen aller deiner Kassenbedienten geben miissen, so mager 
wie weitgereisete Heringe oben in deiner Schatulle an, daB du im 
Grunde von beschwerlichen Summen nicht mehr bekommst als 
bequeme Logarithmen. Die Fiirsten haben, wie die ostindischen 
Krebse, eine Riesen-Schere zum Nehmen, und eine Zwerg-Schere, 
den Fang an den Mund zu bringen. 

Und so ist die ganze Hauptstadt, wo jeder sich fur regierendes 
Mitglied ansieht und doch jeder dariiber schreiet, daB der andre 
sich ins Regieren mengt und daB die Kinder unter den Hermelin 
wie unter den vaterlichen Schlafrock kriechen und vereinigt den 20 
Vater nachmachen — wo die Palaste der GroBen aus Hollensteinen 
gemauert sind, die wie aussatzige Hauser kleinere zernagen - wo 
der Minister den Fiirsten auf seiner unempfmdlichen Hand, wie 
der Falkonier den Falken auf der beschuhten, tragt - wo man die 
Laster des Volks fur die Renten ihrer Obern ansieht und alles 
moralische Aas, wie die Bienen ihr physisches, bloB mit Wachs 
umklebt, anstatt es aus dem Bienenkorb zu tragen, d.h. wo die 
Polizei die Moral ersetzen will - wo, wie an einem jeden Hofe, eine 
moralischeFigur so unausstehlichund so steif gefunden wird als in 
der Malerei eine geometrische - wo der Teufel vollig los und der 30 
heilige Geist in der Wiiste ist und wo man Leuten, die in Auen- 
thal oder sonst krumme Sonden in den Handen halten und damit 
die fremden Korper und Splitter aus den Wunden des Staates 
heben wollen, ins Gesicht sagt : sie waren nicht recht gescheit .... 

Ich wollt', es war* wahr: so war' ich wenigstens recht gesund. 
Nach einem solchen Klumpen von Ich, woraus ein Staatskorper 



ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 363 

wie aus Monaden besteht, ist das meinige zu winzig, urn vorge- 
nommen und besehen zu werden. Sonst konnt* ich jetzo nach den 
Besorgnissen um den Staat die um mich selber erzahlen. 

- Und doch will ich dem Leser meine Qualen oder Sieben Worte 
am Kreuze sagen, wiewohl er selber mich an das Kreuz, unter wel- 
chem er mich bedauern will, hat schlagen helfen. Im Grunde fragt 
kein Teufel viel nach meinem Siechtum. Ich sitze hier und stelle 
mir aus unvergoltener Liebe zum Leser den ganzen Tag vor, daB 
Feuer kann geschrien werden, das gleich einem Autodafe alle 

to meine biographischen Papiere in Asche legt und vielleicht auch 
den Verfasser. - Ich stelle mir ferner vor und martere mich, daB 
dieses Buch auf dem Postwagen oder in der Druckerei so ver- 
dorben werden kann, daB das Publikum um das ganze Werk so 
gut wie gebracht ist, und daB es auch nach dem Druck in ein Hetz- 
haus und eine Marterkammer geraten kann, wo ein kritischer 
Brotherr und Kunstrichter-Ordengeneral seine Rezensenten mit 
ihren langen Zahnen sitzen hat, die meiner zarten Beata und ihrem 
Amanten Fleisch und Kleider abreiBen und deren Stube jener 
Stube voll Spinnen gleicht, die ein gewisser Pariser hielt und die 

20 bei seinem Eintritt allemal auf seine ausgezognen blutigen Tau- 
benfedern zum Saugen von der Decke niederfuhren und aus deren 
Fabrikaten er mit Miihe jahrlich einen seidnen Strumpf erzielte. 
. . . Alle dtese Martern tu' ich mir selber an, bloB des Lesers wegen, 
der am meisten verlore, wenn er mich nicht zu lesen bekame; aber 
es ist diesem harten Menschen einerlei, was die ausstehen, die ihn 
ergotzen. - Hab* ich endlich meine Hand von diesen Nageln des 
Kreuzes losgemacht: so ekelt mich das Leben selber an als ein so 
elendes langweiliges Ding von Monochord, daB jedem Angst 
werden muB, ders ausrechnet, wie oft er noch Atem holen und 

30 die Brust auf- und niederheben muB, bis sie erstarret, oder wie oft 
er sich bis zu seinem Tode noch auf den Stiefelknecht oder vor den 
Rasierspiegel werde heben miissen. — Ich betrachte oft die groBte 
Armseligkeit im ganzen Leben, welche die ware, wenn einer alle 
in dasselbe zerstreuet umhergesaete Rasuren, Frisuren, Anklei- 
dungen, Sedes hintereinander abtun miiBte. - Der dunkelste 
Nachtgedanke, der sich iiber meine etwa noch griinenden Pro- 



364 DIE UNSICHTBARE LOGE 

spekte lagert, ist der, daB der Tod in diesem nachtlichen Leben, 
wo das Dasein und die Freunde wie weit abgeteilte Lichter im 
finstern Bergwerk gehen, mir meine teure Geliebten aus den ohn- 
machtigen Handen ziehe und auf immer in verschiittete Sarge ein- 
sperre, zu denen kein Sterblicher, sondern bloB die groBte und 
unsichtbarste Hand den Schlussel hat.... Hast du mir denn nicht 
schon so viel weggerissen? Wtird' ich von Kummer oder von 
Eitelkeit des Lebens reden, wenn der bunte Jugend-Kreis noch 
nicht zerstiickt, wenn das Farbenband der Freundschaft, das die 
Erde und ihren Schmelz noch an den Menschen heftet, noch nicht : 
voneinander gesagt ware bis auf ein oder zwei Faden? - O du, den 
ich jetzo aus einer weiten Entfernung weinen hore, du bist nicht 
ungliicklich, an dessen Brust ein geliebtes Herz erkaltet ist, son- 
dern du bists, der ists, der an das verwesende denkt, wenn er sich 
iiber die Liebe des lebendigen Freundes freuen will, und der in 
der seligsten Umarmung sich fragt: »Wie lange werden wir ein- 
ander noch fuhlen?«... 



Neununddreissigster oder i ter Epiphania-Sektor 

Erst jetzt ists toll: die Krankheit hat mir zugleich die juristische 
und die biographische Feder aus der Hand gezogen, und ich kann « 
trotz alien Ostermessen und Fatalien in nichts eintunken 



VlERZIGSTER ODER 2 tct EPIPHANIA-SEKTOR 

Mich wird, wie es scheint, nebenbei auch der schwarze Star 
befallen; denn Funken und Flocken und Spinnweben tanzen 
stundenlang um meine Augen; und damit - sagen Plempius und 
Ritter Zimmermann - meldet sich stets besagter Star an. Schielen 
- sagt Richter, der Starstecher, nicht der Starinhaber, in seiner 
Wundarzeneikunst (B.III, S426) - lauft untriiglich dem Stare 
voraus. Wie sehr ich schiele, sieht jeder, weil ich immer rechts und 



EINUNDVIERZIGSTER SEKTOR 365 

links zugleich nach allem blicke und ziele. - Werd' ich denn wirk- 
lich so stockblind wie ein Maulwurf: so ists ohnehin um mein 
biBchen Lebensbeschreiben getan.... 



EINUNDVIERZIGSTER ODER 3 ter EPIPHANIA-SEKTOR 

Ich besitze ein paar Fieber auf einmal, die bei andern gliick- 
lichern Menschen sonst einander nicht leiden konnen: das drei- 
tagige Fieber - das Quartanfieber - und noch ein Herbst- oder 
Friihlingfieber im allgemeinen. - Indessen will ich, solang' ich 
noch nicht eingesargt bin, dem Publikum alle Sonntage schreiben 
■ und es etwa zu zwei oder drei Zeilen treiben* Auch der Stil sogar 
wird jammerlich; hier wollen sich die zwei Verba reimen.... 



ZWEIUNDVIERZIGSTER ODER 4 ter EpIPHANIA-SeKTOR 

O ihr schonen biographischen Sonntage! ich erlebe keinen wie- 
der. Zu den Obeln, die ich schon bekannt gemacht habe, stoBet 
noch eine lebendige Eidechse, die sich in meinem Magen aufhalt 
und deren Laich ich im vorigen Sommer aus einem ungliicklichen 
Durst muB eingeschluckt haben.... 



Dreiundvierzigster oder 5 tet und 6 ter Epiphania-Sektor 

Von Kirschkernen, die im Magen aufgekeimt, wie von Erbsen 
20 im Ohre hat man Beispiele. Noch aber nab' ich nicht gelesen, daB 
der Same von Stachelbeeren, den man gewohnlichmit einschluckt, 
in den Gedarmen getrieben hatte, wenn diese durch Verstopfung 
etwa zu wahren Lohbeeten des gedachten Staudengewachses ge- 
diehen waren. - O guter Himmel, was wird endlich meine Krank- 
heit sein, deren unsichtbare Tatze meine Nerven ergreift, erdriickt, 
ausdehnt, entzweischlitzt .... 



366 DIE UNSICHTBARE LOGE 

VlERUNDVIERZIGSTER ODER SePTUAGESIMA-SeKTOR 

Wenns eine Krankheit gibt, die aus alien Krankheiten, aus alien 
Kapittln der Pathologie auf einmal kompiliert ist: so hat sie nie- 
mand als ich. Apoplexie - Hektik - Magenkrampf oder eine Ei- 
dechse - dreierlei Fieber - Herzpolypus - aufgehende Stachel- 
beerstauden : — das sind die wenigen sichtbaren Bestandteile und 
Ingredienzien, die ich bisher an meinem Obel auskundschaften 
konnen; eine verniinftige tiefere Sektion meines armen Leibes 
wird auch gar die unsicktbaren, wenn ihn beide Bestandteile erlegt 
haben, noch dazu gesellen.... 



FONFUNDVIERZIGSTER ODER SeXAGESIMA-SeKTOR 

Eine bedenkliche Pleuresie - wenn man anders der ganzen Se- 
miotik und den harten Pulsschlagen und Bruststichen glauben 
kann - umarmt und halt mich seit vorgestern und ist willens, mein 
gemiBhandeltes Leben und diese Lebensbeschreibung zu schlie- 
Ben - es muBte denn durch eine gliickliche Kur der Tod in em 
Empyema gemildert werden - oder in eine Phthisis - oder Vomica 
- oder in einen Scirrhus oder auch in einen Ulkus. — Nach 
dieser Heilung braucht man bloB meine Brust anzubohren, um 
aus ihr, aus der einmal ein Buch voll Menschenliebe kam, das Le- : 
ben und die Krankheitmaterie miteinander herauszuziehen.... 

Sechsundvierzigster oder Esto Mihi-Sektor 

Ihr guten Leser! die ihr mit eurem vergebenden Auge vom 
Schachbrett des ersten Sektors an bis zum Sterbelager des letzten 
mir nachgezogen seid, meine Bahn und unsre Bekanntschaft haben 
ein Ende - das Leben mog' euch niemals driicken - euer Geschaft- 
blick moge nie iiber das kleine Feld das groBe vergessen, uber das 
erste Leben das zweite, iiber die Menschen euch - euer Leben mo- 
gen Traume bekranzen, und euer Sterben mogen keine erschrek- 



SIEBENUNDVIERZIGSTER SEKTOR 367 

ken .... Meine Schwester soil alles beschlieBen .... Lebt froh und 
entschlaft froh ! 



SIEBENUNDVIERZIGSTER ODER InVOKAVIT-SeKTOR 

Mein guter und gemarterter Bruder will haben, da 6 ich dieses 
Buch ausmache. Ach, seine Schwester wiird' es ja vor Schmerzen 
nicht vermogen, wenns so ware. Ich hofF aber zum Himmel, dafi 
mein Bruder nicht so kranklich ist, als er meint. - Nach dem Essen 
denkt ers wohl. - Und ich muB ihn, wenn wir beide Friede haben 
sollen, darin bestarken und ihn fur ebenso krank ausgeben, wie er 

io sich selber. Gestern muflt' ihm der Schulmeister an die Brust 
klopfen, damit er horte, ob sie hallete, weil ein gewisser Avenbrug- 
ger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge 
an. Zum Ungliick hallete sie wenig; und er gibt sich deshalb auf; 
ich will aber ohne sein Wissen an den Herrn Doktor Fenk schrei- 
ben, damit er seine Qualen stille. — Ich soil noch berichten, daB 
der junge Herr von Falkenberg krank in Oberscheerau bei seinen 
Eltern ist und dafi meine Freundin Beata auch kranklich bei den 
ihrigen ist. ... Es ist fur uns alle ein flnstrer Winter. Der Fruhling 
heile jedes Herz und gebe mir und den Lesern dieses Buchs mei- 

ao nen lieben Bruder wieder! 



ACHTUNDVIERZIGSTER ODER MAI-SEKTOR 

Der hammernde Vetter - Kur - Bade-Karawane 

— Er ist wieder zu haben, der Bruder und Biograph! Frei und 
froh tret' ich wieder vor; der Winter und meine Narrheit sind 
voriiber, und lauter Freude wohnt in jeder Sekunde, auf jedem 
Oktavblatt, in jedem Dintentropfen. 

Es ging so. Eine jede eingebildete Krankheit setzt eine wahre 
voraus; aber eingebildete Krankheitursachen gibts dennoch. Mein 
Wechsel zwischen Gesund- und Siechsein, zwischen Froh- und 



3<58 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Traurig-, zwischen Weich- und Hartsein war mit seiner Schnellig- 
keit und seinen Abstichen aufs hochste gekommen : ich konnte 
vor Mangel an Atem kein Protokoll mehr diktieren, und die Sze- 
nen dieser Lebensbeschreibung durfV ich mir nicht einmal mehr 
denken: als ich an einem rotgliihenden Winterabend durch den 
rotgeschminkten Schnee drauBen herumschritt und in diesem 
Schnee das Wort »heureusement« antra f. 

Ich werde an dieses Wort der Schnee- Wachstafel immer den- 
ken; es war mit einem Bambusrohr lapidarisch schon hineinge- 
zeichnet. »Fenk!« rief ich mechanisch. »Weit kannst du nicht weg n 
sein«, dacht* ich; denn da jeder Europaer (sogar auf seinen Plan- 
tagen) den Schnitt seiner Feder an einem eignen Worte priifet und 
da der Doktor schon ganze Bogen mitdem Probierlaut»heureuse- 
ment« als erstem Abdrucke seiner Feder vollgemacht: so wuBt' 
ich sogleich, wie es war. 

— Und bei mir saB er; und lachte (sicher mehr iiber die Krank- 
heithistorie von meiner Schwester als iiber meine Invaliden-Ge- 
stal^michsolangeauSjdaBichjdaichnichtwuBte^ollt'ichlachen 
oder ziirnen, am besten eines um das andre tat. - Aber bald kam er 
in meinen Fall und muBte auch eines um das andre tun - bei einer 2 < 
Historie, die uns, namlich dem ganzen hypochondrischen Wohl- 
fahrtausschusse, zur Schande gereicht und die ich doch erzahle. 

Es befand namlich ein naher Vetter von mir, Fedderlein ge- 
nannt, sich auch in der Stube, der beides ein Scheerauer Schuster 
und Turmer ist; er sorgt fur die Stiefel und fur die Sicherheit der 
Stadt und hat mit Leder und Chronologie (wegen des Lautens) 
zu tun. Mein naher Vetter war kohlschwarz und betriibt, nicht 
iiber meine Krankheit, sondern iiber die seiner Frau, weil sie dar- 
an verstorben war. Diesen Krankheit- und Totenfall wollt* er 
mir und dem Doktor auch hinterbringen, um den letzten zu be- 5G 
lehren und den ersten zu ruhren. Es ware auch gegangen, hatt* er 
nicht zum Ungliick ein Trennmesser meiner Philippine erwischt 
und damit, wahrend seiner eignen Aufmerksamkeit auf die Todes- 
post, sehr auf den Tisch gehammert. Ich setzte mirs sogleich vor, 
es nicht zu leiden. Meine Hand kroch daher - meine Augen hielten 
seine fest - dem gedachten Hammer naher, um ihn zu hindern. 



ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 369 

Aber des Vetters Hand wich ihr hof lich aus und klopfte fort. 
Ich hatte mich gern tief geriihrt, denn er kam den letzten Stunden 
meiner seligen Base immer naher - aber ich konnte meine Ohren 
vom Messer-Hammerwerk nicht wegbringen. Zum Gliick sah ich 
den kleinen Wutz dort stehen und lieh eiligst dem Klopfer das un- 
gluckliche Trennmesser ab und schnitt dem Kinde damitein paar 
halbe - Fastnachtbrezeln vor in der Angst. 

Nun stand ich gerettet da und hatte selber das Messer. Aber er 
begann jetzt auf der Klaviatur des Tisches rait den enrwaffneten 

10 Fingern zu spielen und versah in seiner Novelle seine Frau mit 
dem heiligen Abendmahl. Ich wollte mich und meine Ohren iiber- 
winden ; aber da mich teils der innere Krieg, teils meine horchende 
Aufmerksamkeit auf seine trornmelnden Finger, die ich nur mit 
der groBten Muhe vernehmen konnte, ganzlich von meiner guten 
Base wegzogen, die gewiB eine Frau und Turmerin war wie we- 
nige, so hatt* ichs satt und ring nach seiner orgelnden Qual-Hand, 
legte sie in Arrest und brach aus: »0 mein lieber Herr Vetter 
Fedderlein!« Er mutmaBte, ich sei geriihrt; und wurd* es selber 
immer mehr, vergaB sich und schnipsete mit den linken, noch 

20 arrestfreien Fingern zu stark an den Tisch. 

Ich wollte mir wie ein Stoiker auf dieser neuen Ungliick-Sta- 
tion von innen heraus helfen und stellte mir wahrend des auBern 
Schnipsens hinter mir meine gute Base und ihr Totenlager vor: 
»Und so« (sagt* ich beredt zu mir selber) »liegst du arme Abge- 
bliihte denn drunten und bist steif und unbeweglich und sozu- 
sagen tot!« - Er schnipsete jetzo ganz toll. - Ich konnte mir hicht 
helfen, sondern ich zog auch die linke Hand des Historikers ge- 
fanglich ein und driickte sie halb aus Riihrung. »Sie konnen beide 
denken,« (sagt* er) »wie mir erst war, als fiele der Turm auf mich, 

30 da sie einer wie einen Sack auf den Riicken fassen muBte und sie 
die sieben Treppen so heruntertrug.« - Ich war auBer mir, erst- 
lich dariiber und zweitens weil ich in meiner Hand die Anstren- 
gung der seinigen zu neuem Schnipsen verspiirte; uberwaltigt 
sagt* ich: »Ums Himmels willen, mein teurer Herr Vetter, um der 
guten Seligen willen, wenn Er seinen eignen Vetter lieb hat. . .« 
»Ich will schon auf horen,« sagt' er, »wenn Sie's so angreift.« - 



37° DIE UNSICHTBARE LOGE 

»Nein,« sagt* ich, »schnips' Er mir nur nicht so! - Aber so eine 
Base bekommen wir beide schwerlich so bald wiederk Denn ich 
besann mich nicht mehr. 

Und doch besteht das Leben wie ein Miniaturgemalde aus sol- 
chen Punkten, aus solchen Augenblicken. Der Stoizismus halt oft 
die Keule der Stunde, aber nicht den Miickenstachel der Sekunde 
ab. 

Mein Doktor nahm mich ernsthaft (unter dem unbefangnen 
Fragen meines Vetters: »Wie wollte mein Herr Vetter?«) aus der 
Stube hinaus und sagte: »Du bist, lieber Jean Paul, mein wahrer i 
Freund, ein Regierungadvokat, eine MauBenbacher Audienza, 
ein Schriftsteller im lebensbeschreibenden Fache - aber ein Narr 
bist du doch, ich meine ein HypochondristA 

Abends tat er mir beides dar. O an jenem Abend zogest du 
mich, guter Fenk, aus dem Rachen und aus den Giftzahnen der 
Hypochondrie heraus, die ihren beiBenden Saft auf alle Minuten 
spriitzen ! Deine ganze Apptheke lag auf deiner Zunge! Deine Re- 
zepte waren Satiren und deine Kur Belehrung! 

»Setz in deine Biographie,«- fing er an und steckte seine Hande 
in seinen Muff - »daB es bei dir keine Nachahmung des Herrn 20 
Thiimmels und seines Doktors und ihres medizinischen Kolle- 
giums ist, das halb aus dem Patienten, halb aus dem Arzte be- 
stand — daB ich dich auch ausfilze ; denn ich will es in der Tat tun. 
- Sag mir, wo hast du bisher deine Vernunft, ja nur deine Ein- 
bildkraft gehabt, daB du des Henkers lebendig warest? Antworte 
mir nicht, daB die Gelehrten hier zu verschiedner Meinung waren 
—daB Willis die Einbildkraft in die Hirnschwiele verlegte - Posi- 
donius hingegen in die Vorderkammer, wie auch Aetius — und 
Glaser ins eiformige Zentrum. Die Sach' ist nur eine lebhafte 
Redensart; weil du mich aber damit irre machst: so will ich dich 30 
anders angreifen. Sag mir - oder sagen Sie mir, Hebe Philippine, 
wie konnten Sie zulassen, daB der Patient bisher so viel erhabne, 
riihrende und poetische Empfindungen hatte und niederschrieb 
fur andre Menschen? Hatten Sie ihm nicht das DintenfaB oder 
den Kaffeetopf umwerfen konnen oder den ganzen Schreibtisch? 
Die Anstrengung der empfindenden Phantasie ist unter alien gei- 



ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 37 1 

stigen die entnervendste; ein Algebraist uberlebt allemal einen 
Tragddiensteller.« 

»Und auch«, sagt* ich, »einen Physiologen: Hallers verdammte 
und doch vortreffliche Physiologie hatte mich beinahe niederge- 
arbeitet, die acht Bande hier.« — 

»Eben darum,« - fuhr er fort - »diese anatomische Oktapla 
spannt die Phantasie, die sonst nur uber flieBende poetische Auen 
zu schweben pflegte, auf scharf abgeschnittene und noch dazu kleine 
Gegenstande an; daher...« 

to »Zum Gliick«- unterbrach ichihn-»richteteichmichundmeine 
Phantasie ziemlich durch braunes Bier 1 wieder auf, das ich 
(wenn ich Atem holen wollte) so lange nehmen muBte, als ich 
liber dem Herrn von Haller saB. In diesern Vehikel und in 
dieser Verdimnung bracht' ich diese Arznei des Geistes, die 
Physiologie, leichter hinein. Ich kann also, wenn ich nicht der 
groBte Trinker werden will, unmoglich der groBte Physiolog 
werden.« 

»Es ist gut,« - sagt* er ungeduldig und zog aus seinem Muff den 
Schwanz heraus - »aber so wird nichts. Ich und du stehen hier in 

to lauter Ausschweif-Reden, anstatt in vernunftigen Paragraphen; 
die Rezensenten deiner Biographie mussen glauben, ich ware 
wenig systematisch. 

Ich will jetzt reden wie ein Buch oder wie eine Doktordisputa- 
tion; ich sollte ohnehin eine fur einen Doktoranden mit der Dok- 
torsucht schreiben und wollte darin entweder den nervus ischia- 
ticus oder den nervus sympatheticus durchgehen ; ich wills bleiben 
lassen und hier und in der Disputation von schwachen Nerven 
uberhaupt reden. 

Jeder Arzt muB eine Favorit-Krankheit haben, die er ofters 

(o sieht als eine andre - die meinige ist Nervenschwache. Reizbare, 
schwache, uberspannte Nerven, hysterische Umstande und deine 

1 Da keine Leser weniger Ernst verstehen als die, die keinen SpaC ver- 
stehen: so merk* ich fur diese Klasse hier unten an, da3 die Sache oben wirk- 
lich so ist und dafi ich (als gleich unmaBiger Wasser- und Kaffeetrinker) kein 
andres neryenstarkendes Mittel gegen aussetzenden Puis und Atem und andre 
Schwachen, die mir alle innere Anstrengung verbitterten, von solcher Wir- 
kung fand als - Hopfen-Bier. 



37^ DIE UNSICHTBARE LOGE 

Hypochondria - sind viele Taufnamen meiner einzigen Liebling- 
krankheit. 

Man kann sie so zeitig wie den Erbadel bekommen - der Erb- 
adel selber, fast die hohern Weiber und hochsten Kinder haben 
sie aus dieser ersten Hand - dann kann sie durch alle Doktor-Hute 
gleich den ewigen Hollenstrafen nicht weggenommen, sondern 
nur gelindert werden. 

Du aber hast sie dir wie den Kaufadel durch Verdienste er- 
worben.« 

»Sie ist vielmehr selber ein Verdienst,« - sagt' ich - »und ein i, 
Hypochondrist ist der Milchbruder eines Gelehrten, wenn er nicht 
gar selber dieser ist; so wie die Blattern, die den Affen so gut wie 
uns befallen, auf seine Verwandtschaft mit dem Menschen das 
Siegel drticken.« — 

»Aber dein Verdienst« - fuhr er fort - »ist viel leichter zu ku- 
rieren. Wenn man dir dreierlei, namlich deine pathologischen 
Fieberbilder — deine Arineiglaser - und deine Bucket nimmt: so 
wird die Krankheit mit dreingegeben. Ich vergesse immerfort, 
daB ich wie eine Disputation reden will. Also die Fieberbilder! - 
Die jammerlichste Semiotik ist sicherlich nicht die sinesische, son- * 
dern die hypochondrische. Deine Krankheit und eine stoische 
Tugend gleichen sich darin, daB, wer eine hat, alle hat. Du stan- 
dest als eine tragende P fancier statue da, der die Pathologie alle 
ihre Insignien und Schilde aufpackte und umsteckte - jammerlich 
schrittest du herum unter deinem medizinischen Gewehrtragen 
und deiner semiotischen Landfracht von Herzpolypus, mazerier- 
ten Lungenflugel, Magen-Insassen u.s.w.« 

»Ah!« versetzte ich, »alles ist abgeladen, und ich trage bloB noch 
auf der Gehirnkugel ein Kapillar- oder Haarnetz von geschwoll- 
nen Blutadern, oder so eine Art Taucherkappe des Todes, welche 3< 
die Leute sehr gemein einen SchlagfluB benamsen.« 

»Eine Narrenkappe hast du innen auf; denn die Sache ist nicht 
anders als so : im Hypochondristen sind zwar alle Nerven schwach, 
aber die am schwachsten, die er am meisten gemiBbraucht. Da 
man sich diese Schwache meistens ersitzt, erstudiert und erschreibt 
und mithin gerade dem Unterleib, der doch der Moloch dieser 



ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 373 

Geisteskinder sein soil, alle die Bewegung nimmt, die man den 
Fingern gibt: so vermengt man den siechen Unterleib mit siechen 
Nerven und hon% Kampfs Viszeral-Spriitze sei zugleich eine 
Doppelflinte gegen jenen und gegen diese. Glaub es aber nicht; 
es kann ein hypochondrisches Bruststuck auf einem rustigen Un- 
terleib sitzen. Nicht deine Lungenflugel sind zerknickt, wenn sie 
zuweilen erschlaffen, sondern deine Lungennerven sind entseelt, 
von denen sie gehoben werden sollten, oder auch deine Zwerch- 
fellnerven. Spannen sich deine Magennerven ab, so hast du so 
10 viel Schwindel und Ekel, als lage wirklich diatetischer Bodensatz 
im Magen oder irgendeine Aderflut im Kopfe. Sogar der schwache 
Magen ist nicht immer im Gefolge schwacher Nerven ; sieh nur zu, 
wie ein matter Hektiker friBt und verdaut eine halbe Stunde vor sei- 
nem Sterben. - Daher hat deine gelbe Herbstfarbengebung, deine 
fleischlose Knochen-Versteinerung, dein auf horender Puis, sogar 
deine Ohnmachten haben - nichts zu sagen, mein lieber Paul.« 

»Ei! den Henker!« sagte der Patient. 

»Denn«, sagte der Doktor, »da alles durch Nerven, wovon oft 
Gelehrte nicht einmal die Definition wissen, worunter ich gehore, 
20 ausgefuhret wird: so mussen die periodischen und wandernden, 
aber fliichtigen Krampfe und Ermattungen der Nerven nach und 
nach die ganze Semiotik durchlaufen, aber nicht die ganze Patho- 
logic Jetzt tritt mein zweiter Paragraph in der umgoldeten Dis- 
putation hervor.« - 

»Wo war denn der erste?« fragt* ich. 

»Schon da gewesen! Daher wirft det zweite alle Arzneiglaser 
auf die Gasse, blaset alle Pulver in die Luft, legt mit Bannstrahlen 
alle verdammte Magen-Arzneien in Asche, giefiet sogar warme 
und oft kalte Badewannen aus und schiebt Kampfs Klistier-Ma- 
30 schinen weit unter das Krankenbett und tobt sehr — Denn die 
Nerven werden so wenig in einer Woche (es sei die beste Eisen- 
kur da) gestarkt, als in einer Woche (es sei die groBte Ausschwei- 
fung da) entmannt; ihre Starke kehret mit so langsamen Schritten 
zuriick, als sie sich entfernte. Die Arzneien mussen sich also in 
Speisen und - da dieses schadet - mithin die Speisen sich in Arz- 
neien verwandeln.« 



374 DIE UNSICHTBARE LOGE 

»Ich esse vom Wenigsten.« 

»Das istdie unangenehmste UnmaBigkeit; und der Magentreibt 
alsdann nach seinen Kraften eine Art von Skeptizismus oder Fohis- 
mus oder doch Apathie. Kehre lieber die literarische Regel (mul- 
tum, non multa) um und esse vielertei, aber nicht vieL Die Diatetik 
hat in Essen, Trinken, Schlafen etc. nichts iiber die Art y aber alles 
tiber den Grad zu befehlen. Hochstens hat jeder seinen eignen 
Regenbogen, seinen eignen Glauben, seinen eignen Magen und 
seine eigne - Diatetik. Und doch ist das alles nicht mein dritter 
Doktoranden-Paragraph, sondern erst dieses : bloB Bewegung des 10 
Korpers ist erster Unterarzt gegen Hypochondrie; - und - da ich 
schon Hypochondrie und Bewegung vereinigt im beweglichen 
tiers etat gesehen - blofi Mangel aller Bewegung der Seele ist der 
erste Leibarzt gegen den ganzen Teufel. Leidenschaften sind so 
ungesund wie ihr Feind, das Denken, oder ihr Freund, das Dich- 
ten; bloB ihre samtliche Koalition ist noch giftiger.« 

»Unter den Leidenschaften« - fuhr er fort - »loset Kummer wie 
Tauwetter alle Krafte auf- so wie Vergniigen unter alien Nerven- 
Hebmitteln das starkste ist. - Jetzo will ich alle deine medizini- 
schen Schnitzer und Waldfrevel auf einen Haufen bringen, damit 20 
du nur horest, was du bist.«... 

»Ich hore nicht darauf«, sagt' ich. 

»Du hast aber doch, wie alle Hypochondristen und alle lecke 
Weiber, fatal gehandelt und bald den Magen, bald die Lunge, d.h. 
bald das Kammrad, bald das Hebrad, bald das Zifferblattrad olend 
eingeschmiert, indes der treibende Gewicht-Stein abgerissen oder 
abgelaufen auf der Erde lag. Du sogest dich, wie die einbeinige 
Muschel, an deinen Studierfelsen an; und - dies war im Grunde 
das einzige Schlimme — driicktest dich mit der brennenden und 
matten Brust einer Bruthenne auf deine biographischen Eier und 30 
Sektores und wolltest den Lebenden nachkommen. Wo blieb dein 
Gewissen, deine Schwester, dein gelehrter Ruhm, dein Magen?«. . . 

»Wedele nicht so heftig, Fenk, mit dem Muff-Schwanz und wirf 
ihn lieber ins Bett!« 

»Meine Doktor-Disputation und deine Krankheit sind auch aus, 
wenn deine Tatigkeit sich, wie in einem Staate, von oben herab 



ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 375 

vefmindert; - den Kopf untatig, das Herz in heiteren Schlagen, 
die Fiifie im Laufe, und dann komme der Marz nur heran.«... 

Ich tats einige Monate kintereinander, urn den armen Leib wie- 
der in integrum zu restituieren - und als ich mich so des gelben 
Ratzenpulvers und Mehltaues fur die Nerven, namlich des Kaffees 
und des Witzes enthielt und statt zu beiden zu braunem Bier und 
zu meinem Wut\e griff, so wurde einmal plotzlich die Stube hell, 
Auenthal und der Himmel flammend, die Menschen legten ihre 
Fehler ab, alle Flachen griinten, alle Kehlen schlugen, alle Herzen 

10 lachelten, ich niesete vor Licht und Wonne und dachte: entweder 
eine Gottin ist gekommen oder der Friihling — es war gar bei- 
des, und die Gottin war die Gesundheit. 

Und bloB auf deinem Altar will ich meine biographischen Blat- 
ter weiterschreiben ! - der Pestilenziar leidet es nicht anders ; seine 
Schlusse und Rezepte sind die : »Ich wurde« - sagt* er - »in meiner 
Biographie, gleich der heiBen Zone, den ganzen Winter mit alien 
seinen Tatsachen iiberspringen, da er ohnehin nur, wie der in je- 
ner Zone, im Regnen (der Augen) besteht. Ich wurde, wenn ich 
an deiner Stelle saBe, sagen, der Doktor Fenk wills nicht haben, 

20 nicht leiden, nicht lesen, sondern ich soil, statt in einer Entfernung 
von 365 Stunden der vorausschreitenden saenden Geschichte 
keuchend mit der Feder nachzueggen, lieber hart hinter der Ge- 
genwart halten und sie ans Silhouettenbrett andriicken und so- 
gleich abreiBen. Ich wiirde« (fuhr Fenk fort) »dem Leser raten, 
bloB den Doktor Fenk anzupacken, der allein schuld sei, daB ich 
vom ganzen Winter nur folgenden schlechten Extrakt gabe: Der 
gute Gustav verschmerzte den Winter in des Professor Hoppe- 
dizels Hause bei seinen Eltern, welche da ihr gewohnliches Win- 
terquartier hatten - er mattete seinen Kopf ab, um sein Herz ab- 

jo zumatten und ein anderes zu vergessen; bereuete seinen Fehler, 
aber auch seinen voreiligen Abschiedbrief; setzte seine Wunden 
dem philosophischen Nordwind des Professors aus, der auf einem 
zarten Instrument, wie Gustav, wie auf einem Pedal mit den 
FiiBen orgelt; und zehrte durch Einsperren, Denken und Sehnen 
seine Lebenbluten ab, die kaum der Friihling wieder nachtreiben 
oder iibermalen kann. 



37<> DIE UNSICHTBARE LOGE 

Beata wiirde zu Hause — denn ihr weibliches Auge fand wahr- 
scheinlich die Parze ihrer Freuden leicht heraus, von der sie sich 
unter dem ihr verdankten Vorwand der Kf anklichkeit ohne Miihe 
geschieden hatte — noch mehr sich entblattert und umgebogen 
haben, ware mein romantischer Kollege Oefel nicht gewesen: der 
argerte sie hinlanglich und mischte ihrem Kummer die Erfrischun- 
gen des Zornes bei, indem er immer kam und im schpnsten ge- 
brochnen eingeschleierten Auge der verlornen Liebe seine eigne 
aufsuchte und herausforderte. Jetzt trinkt sie, auf Fenks Treiben, 
den Brunnen in Lilienbad \m& lebt allein miteinem Kammermad- 10 

chen der Mai hebe die gesenkte BIumen-Knospe deines Gei- 

stes empor, den dein Flockenleib, wie Blumen neu gefallner 
Schnee, umlegt und drtickt und aus dessen aufgerissenen Blumen- 
Blattern die Schnee-Rinde erst unter der Fruhlingsonne des ent- 
fernten zweiten Himmels rinnen wird! - 

Ottomar hat den Winter verzankt und verstritten; hat viele 
Korrespondenz; advoziert wie ich, aber gegen jeden giftigen 
Stammbaum und Hundstern auf dem Rock, am meisten gegen den 
Fiirstenhut seines Bruders, der damit Untertanen wie Schmetter- 
linge erwirft und fangt. Er glaubt, ein Advokat sei der einzige 20 
Volktribun gegen die Regierung; nur sei das bisherige Lesen der 
Advokaten schlimmer gewesen als selbst das Bucks tabieren, das 
der selige Heinecke fur schlimmer ausschrie als Erbsiinde und 
Pest. Ich mochte ihn fast fur den Verfasser einer Satire iiber den 
Fiirsten halten, die im Winter vor den Thron kam und die der 
Patenbrief eines Raubers mit der Bitte war, der Fiirst mochte dem 
kleinen Diebs-Dauphin seinen Namen geben, wie einem Minister, 
und sich seiner annehmen, wenn die Eltern gehenkt waren. Am 
meisten fielen mir einige pasquillantische Ziige auf, die eine feinere 
Hand verraten ; z. B. der Staat sei eine Menschenpyramide, wie sie 50 
oft die Seiltanzer formieren, und die Spitze derselben schlieBe sich 
mit einem Knaben - Das Volk sei zahe und biegsam wie das Gras, 
werde vom FuBtritt nicht zerknickt, wachse wieder nach, es moge 
abgebissen oder abgeschnitten werden, und die schonste Hohe 
desselben fur ein monarchisches Auge sei die glattgeschorne des 
Park-Grases - Diebe und Rauber wiirden fur Separatisten und 



ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 377 

Dissenters im Staate gehalten und lebten unter einem noch argern 
Druck als die Juden, ohne alle biirgerliche Ehre, von Amtern 
ausgeschlossen, in Hohlen wie die ersten Christen und eben- 
solchen Verfolgungen ausgesetzt; gleichwohl fahre man solchen 
Staatsbiirgern, die den Luxus und Geld-Umtrieb und Handel 
starker beforderten als irgendein Gesandter, bloB darum so hart 
mit, weil diese Religionsekte besondere Meinungen iiber das sie- 
bente Gebot hegte, die im Grunde nur im Ausdruck sich von 
denen anderer Sekten unterschieden etc. - 

10 Der Verfasser kann aber auch ein wirkliches Mitglied dieser 
geheimen Gesellschaft sein, die iiberhaupt weit humoristischer 
und unschadlicher stiehlt als jede andre. Neulich hielten sie den 
Postwagen an und nahmen ihm merits als ein Grafen-Diplom, das 
jemand zugefahren wurde, der kaum die Emballage desselben ver- 
diente - ferner sie forderten einmal, wie ein hoherer Gerichtstand, 
dem Beiwagen gewisse wichtige Akten ab, iiber die ich hier nichts 
sagen darf - und vor vierzehn Tagen hielten ihre Kaper-Schiffe 
vor den Schranken der Theater- und der Redouten-Garderobe 
und warfen ihre Zuggarne iiber die darin hangenden Charaktere 

20 aus; es waren nachher keine Kleider zum Agieren und Maskieren 
da als bauerische. - Ich halte sie fur dieselben, die, wie der Leser 
weiB, vorlangst den leidtragenden Kanzeln und Altaren die 
schwarzen Fliigeldecken abgeloset haben. 

So ware also der biographische Winter abgetan und wegge- 
schmolzen. - Hast du so viel geschrieben,« - sagte Fenk - »so 
reise nach Lilienbad und gebrauche den Brunnen und den Brun- 
nen-Doktor, welches ich bin, und den Brunnen-Gast, welches 
Gustav ist: denn dieser heilet ohne das Lilien-Wasser und ohne 
die Lilien-Gegend dort nicht aus ; ich muB ihn hinbereden, es mag 

30 dort schon sein, wer will. Freue dich, wir gehen einem Paradies 
entgegen, und du bist der erste Autor im Paradiese, nicht Adam.« 
»Das schonste Beet« - sagt' ich - >>ist in diesem Eden das, daB 
mein Werk kein Roman ist: die Kunstrichter lieBen sonst fiinf 
solche Personen auf einmal wie uns nimmermehr ins Bad, sie wiir- 
den vorschiitzen, es ware nicht wahrscheinlich, daB wir kamen 
und uns in einem solchen Himmel zusammenfanden. Aber so nab* 



378 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ich das wahre Gliick, daB ich bloB eine Lebensbeschreibung setze 
und daB ich und die andern samtlich wirklich existieren, auch 
auBer meinem Kopfe.«... 

— Jetzt kann der Leser den Geburttag dieses Sektors erfahren : 
— er ist gerade einen Tag jiinger als unser Gliick - kurz morgen 
reisen wir, ich und Philippine, und heute schreib' ich an ihm. 
Gustav wird bloB durch einen Strom von freundschaftlichen und 
medizinischen Vorstellungen mit fortgefuhret und morgen von 
uns fortgezogen. - Die Fortuna hat diesesmal keine Vapeurs und 
keine einseitigen Kopfschmerzen; alles gliickt uns* eingepackt ist 10 
alles — meine Fristgesuche sind geschrieben — aus MauBenbach 
darf mich niemand storen - der Himmel ist himmlisch blau, und 
ich brauche nicht meinen Augen, sondern dem Cyanometer 1 des 
Herrn von Saussure zu glauben - ich sehe wie der Friihling und 
seine gaukelnden Schmetterlinge aus und bliihe - kurz: meinem 
Gliick fehlte nichts, als daB gar der heutige Sektor gliicklich ge- 
schrieben war, den ich bis heute hinausspielte, um die ganze Ver- 
gangenheit hinter mir zu haben und morgen nichts beschreiben 
zu miissen als morgen .... 

Und da der nun auch fertig ist: so - blauer Mai - breite deine 20 
Liebe-Arme aus, schlage deine himmelblauen Augen auf, decke 
dein Jungfrauen-Angesicht auf und betrete die Erde, damit alle 
Wesen wonnetrunken an deine Wangen, in deine Arme, zu deinen 
FiiBen fallen und der Lebensbeschreiber auch wo liege! 



Neunundvierzigster oder i tcr Freuden-Sektor 
Der Nebel - Lilienbad 

Nimm uns in dein Blumen-Eden auf, eingehulltes Lilienbad, 
mich, Gustav und meine Schwester, gib unsern Traumen einen 
irdischen Boden, damit sie vor uns spielen, und sei so dammernd 
schon wie eine Vergangenheit! 30 

Heute zogen wir ein, und unser Vorreiter war ein spielender 

1 Ein Blau-Messer, um die Grade des Himmelblaues abzumessen. 



NEUNUNDVIERZIGSTER SEKTOR 379 

Schmetterling, den wir vor uns von einer Blumen-Station auf die 
andre trieben. - Und der Weg meiner Feder soil auch uber nichts 
anders gehen. 

Der heutige Morgen hatte die ganze Auenthaler Gegend unter 
ein Nebel-Meer gesetzt. Der Wolkenhimmel ruhte auf unsern 
tiefen Blumen aus. Wir brachen auf und gingen in diesen flieBen- 
den Himmel hinein, in welchen uns sonst nur die Alpen heben. 
An dieser Dunst-Kugel oben zeichnete sich die Sonne wie eine er- 
blassende Nebensonnehinein ; endlich verlief sich der weiBe Ozean 

to in lange Strome - auf den Waldern lagen hangende Berge, jede 
Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uber uns lief der blaue 
Himmelzirkel immer weiter auseinander, bis endlich die Erde dem 
Himmel seinen zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groBe 
ewige Angesicht schauete - das zusammengelegte WeiBzeug des 
Himmels (wie meine Schwester sagte) flatterte noch an den Bau- 
men, und die Nebelflocken verhingen noch Bliiten und wogten 
als Blonden um Blumen - endlich wurde die Landschaft mit den 
glimmenden Goldkornern des Taues besprengt, und die Fluren 
waren wie mit vergroBerten Schmetterlingflugeln iiberlegt. Eine 

20 gereinigte hebende Maienluft kiihlte mit Eis den Trank der Lun- 
ge, die Sonne sah frohlich auf unsern funkelnden Fruhling nieder 
und schaute und glanzte in alle Taukiigelchen, wie Gott in alle 
Seelen.... O wenn ich heute an diesem Morgen, wo uns alles zu 
umfassen schien und wo wir alles zu umfassen suchten, mir nicht 
antworten konnte, da ich mich fragte : »War je deine Tugend so 
rein wie dein Vergniagen, und fur welche Stunden will dich diese 
belohnen?« so kann ich jetzo noch weniger antworten, da ich sehe, 
daB der Mensch seine Freuden, aber nicht seine Verdienste durch 
die Erinnerung erneuern kann, und daB unsre Gehirn-Fibern die 

30 Saiten einer Aolsharfe sind, die unter dem Anwehen einer langst 
vergangnen Stunde zu spielen beginnen. Der groBe Weltgeist 
konnte nicht die ganze sprode Chaos-Masse zu Blumen fur uns 
umgestalten; aber unserem Geist gab er die Macht, aus dem zwei- 
ten, aber biegsamern Chaos, aus der Gehirn-Kugel, nichts als 
Rosen-Gefilde und Sonnen-Gestalten zu machen. Glucklicherer 
Rousseau, als du selber wuBtest! Dein jetziger erkampfter Him- 



380 DIE UNSICHTBARE LOGE 

mel wird sich von dem, den du hier in deiner Phantasie anlegtest, 
in nichts als darin unterscheiden, daB du ihn nicht allein bewoh- 
nest.... 

Aber das macht eben den unendlichen Unterschied; und wo 
hatt* ich ihn siiBer fiihlen konnen als an der Seite meiner Schwester, 
deren Mienen der Widerschein unsers Himmels, deren Seufzer das 
Echo unserer verschwisterten Harmonie gewesen. Sei nur immer 
so, teure Geliebte, die du vom Kranken so viel Httest als ich von 
der KrankheitI Ich weiB ohnehin nicht, was ich ofter von dir zu- 
riicknehme, meinen Tadel oder mein Lob! 10 

Wir langten unter sprachlosen Gedanken in Unterscheerau an 
und fanden unsern bleichen Reisegenossen schon bereit, meinen 
Gustav. Er schwieg viel, und seine Worte lagen unter demDrucke 
seiner Gedanken; der auBere Sonnenschein erblich zu innerem 
Mondschein, denn kein Mensch ist frohlich, wenn er das Beste 
sucht oder zu finden hofft, was hienieden zu verlieren ist- Ge- 
sundheit und Liebe. Da in solchen Fallen die Saiten der Seele sich 
nur unter den leichtesten Fingern nicht verstimmen, d.h. unter 
den weiblichen : so lieB ich meine ruhen und weibliche spielen, die 
meiner Schwester. 20 

Als wir endlich manchen Strom von Wohlgeruch durchschnit- 
ten hatten - denn man geht oft drauBen vor BIumen-Luftchen 
vorbei, von denen man nicht weiB, woher sie wehen -; und als 
alle Freuden-Diinste des heutigen Tages im Auge zum Abendtau 
zusammenflossen und mit der Sonne sanken; als der Teil des 
Himmels, den die Sonne iiberflammte, weiB zu gluhen anfing, eh' 
er rot zu gluhen begann, indes der ostliche Teil im dunkeln Blau 
nun der Nacht entgegenkam; als wir jedemVogel und Schmetter- 
ling und Wanderer, der nach Lilienbad seine Richrung nahm, mit 
den Augen nachgezogen waren: - so schloB uns endlich das 30 
schone Tal, in das wir so viele HofTnungen als Samen kunftiger 
Freuden mitbrachten, seinen Busen auf. - Unser Eingang war am 
ostlichen Ende; am westlichen sah uns die zur Erde herabgegan- 
gene Sonne an und zerfloB gleichsam aus Entziicken iiber ihren 
angewandten Tag in eine Abendrote, die durch das ganze Tal 
schwamm und bis an die Laub-Gipfel stieg. Nie sah ich so eine; 



FUNFZIGSTER SEKTOR 3 8 1 

sie lag wie herabgetropfet in dem Gebxisch, auf dem Grase und 
Laube und make Himmel und Erde zu einem Rosen-Kelch. Ein- 
zelne, zuweilen gepaarte Hiitten hiillten sich mit Baumen zu; 
lebendige Jalousie-Fenster aus Zweigen preBten sich an die Aus- 
sichten der Zimmer und bedeckten den Glucklichen, der heraus 
nach diesen Gemalden der Wonne sah, mit Schatten, Diiften, 
Bliiten und Friichten. Die Sonne war hinabgeriickt, das Tal legte 
wie eine verwittibte Fiirstin einen Schleier von weiBen Diiften an 
und schwieg mit tausend Kehlen. Alles war still - still kamen wir 

10 an - still war es um Beatens Hiitte, an deren Fenster ein Blumen- 
topf mit einem einzigen VergiBmeinnicht noch vom BegieBen 
tropfelte - still wahlten wir unsere gepaarte Hiitten, und unsre 
Herzen zergingen uns vor ruhiger Wonne iiber diesen heiligen 
Abend unsrer kunftigen Festtage, iiber diese schone Erde und 
ihren schdnen Himmel, die beide zuweilen wie eine Mutter sich 
nicht regen, damit das an sie gesunkene Kind nicht aus seinem 
Schlummer wanke. - 

O sollten einmal unsre Tage in Lilienbad auf Dornen sterben, 
sollt' ich statt der Freuden-Sektores einen Jammer-Sektor schrei- 

20 ben miissen - wenns einmal ist : so sieht es der Leser daran voraus, 
daB ich das Wort »Freude« vom Sektor weglasse und statt der 
Oberschrift nur Kreuze mache. Es ist aber unmdglich; ich kann 
meinen Bogen ruhig beschlieBen. - Beata haucht noch ein leises 
Abendlied in ihr mit Saiten iiberzognes Echo; wenn beide aus- 
getonet, so wird der Schlaf das Sinnenlicht der Menschen in Li- 
lienbad ausloschen und das Nachtstuck des Traums in den dam- 
mernden Seelen ausbreiten — 



FUNFZIGSTER ODER 2 tcr FREUDEN-SEKTOR 

Der Brunnen - die Klagen der Liebe 

30 Ich bin im ersten Himmel eingeschlafen und im dritten aufge- 
wacht. Man sollte an keinen Orten aufwachen als an fremden - 
in keinen Zimmern als denen, in welche die Morgensonne ihre 



382 DIE UNSICHTBARE LOGE 

er.sten Flammen wirft - vor keinen Feristern als denen, wo das 
Schattengriin wie ein Namenzug im himmlischen Feuerwerk 
brennt und wo der Vogel zwischen den durchhiipften Blattern 
schreiet.... 
Ich wollte, mein kunftiger Rezensent lebte mit mir auf der Stube 
zu Lilienbad; er wurde nicht (wie er tut) iiber meine Freuden- 
Sektores den asthetischen Stab brechen, sondern einen Eichen- 
zweig, urn den Vater derselben zu bekranzen 

Dieser Vater ist jetzt ein Damenschneider, aber bloB in folgen- 
dem Sinn: in der Mitte von Lilienbad steht der medizinische ic 
Springbrunnen, aus dem man die aus der Erde quellende Apotheke 
schopft; von diesem Brunnen entfernen sich in regelloser Sym- 
metric die Kunst-Bauerhutten, die die Badgaste bewohnen; jede 
dieser kleinen Htitten putzt sich scherzhaft mit dem heraushan- 
genden Malzeichen oder der Signatur irgendeines Handwerks, 
Mein Hauschen halt eine Schere als eine technische Insignie her- 
aus, um kundzutun, wer darin wohne (welches ich tue), treibe das 
Damenschneider-Handwerk. Meine Schwester ist (nach dem Ex- 
ponenten eines holzernen Strumpfs zu urteilen) ein Strumpfwir- 
ker; neben ihr schwankt ein holzerner Stiefel oder ein holzernes 2c 
Bein (wer kanns wissen?) und saget uns so gut wie ein Handwerk- 
gruB den darin seBhaften Schuster an, welches niemand als mein 
Gustav ist. 

Auf Beatens Hiitte, die wie jetzige Damen einen Hut oder ein 
Dach von Stroh aufhat, liegt eine lange Leiter hinauf und kundigt 
die schone Bauerin darin an und ist die Himmelleiter, unter der 
man wenigstens einen Engel sieht. 

Es ist auch auswarts bekannt, daB unser Fiirstentum so gut 
seinen Gesundbrunnen hat und haben muB als irgendeines auf 
der Fiirstenbank - (denn jedes muB eine solche pharmazeutische ja 
Quelle wie einen Flakon bei sich fiihren, um gegen kameralistische 
Ohnmacht daran zu riechen) - ferner kann es bekannt sein, daB 
sonst viele Gaste hierher kamen und jetzt keine Katze - und daB 
daran nicht der Brunnen, sondern die Kammer schuld ist, die zu 
viel hineinbauete und zu viel heraushaben will und die so teuer 
anfing, als der Seltersbrunnen endigte - daB mithin unser Brun- 



FUNFZIGSTER SEKTOR 383 

nen so wohlfeil endigen will, als jener anfmg - und daB unser 
Lilienbad bei alien medizinischen Kraften doch die wichtigere 
nicht hat, einen wenigstens nur so krank zu machen, als eine 

Kammerjungfer ist ich sagte, das war* alles bekannt genug, 

und ich hatt' es also gar nicht zu sagen gebraucht. 

Freilich ists nicht das Verdienst der andern Gesundbrunnen, 
wenn sie angenehme Krankheitbrunnen sind, um die sich die 
ganze groBe und reiche Welt als Priester stellet; - hatten wir nur 
hier in Lilienbad auch solche weibliche Engel wie in andern Ba- 

10 dern, die den Teich von Bethesda erschuttern und ihm eine me- 
dizinische Kraft mitteilen, die der des biblischen Teiches entgegen- 
gesetit ist; hatten wir Spieler, die zum Sitzen, Brunnenarzte, die 
zum Brunnensaufen (nicht Brunnentrinken) zwingen : so wurde 
unsere Quelle so gut wie jede andre deutsche fahig sein, die Zech- 
gaste instand zu setzen, daB sie jedes Jahr - wiederkamen. Aber 
so wird unsere Brunneninspektion ewig sehen miissen, wie die 
kranke Phalanx der groBen Welt vor uns vorbeirollt und um an- 
dre Brunnen sich drangt, wie die wilden Tiere um einen in Afri- 
ka; und wenn Plinius 1 aus diesen Tierkonventen das Sprichwort 

20 in der Note erklart: so wollt' ich auch ahnliche Neuigkeiten aus 
den Brunnenkongressen erklaren. 

Die Kammer ist am Ende am meisten zu bedauern, daB in unse- 
rem Josaphats-Tale bloB Natur, Seligkeit, Mafiigkeit und Auf- 
erstehung wohnet. 

Heute tranken wir alle am Wasser-Baquet das iiber Eisen ab- 
gezogne Wasser unter dem Larm der Vogel und Blatter und 
schlangen das daraus schimmernde Sonnenbild und zugleich ihr 
Feuer mit hinein. Der Kummer- Winter hat um die Augenlider 
der Beata und um ihren Mund die unaussprechlich-holden Buch- 

30 staben ihres verblichnen Schmerzes gezogen; ihr groBes Auge ist 
ein sonnenheller Himmel, dem glanzende Tropfen entfallen. Da 
ein Madchen die Pfauenspiegel ihrer Reize leichter an einem 

1 Nach den Alten versammelten die seltnen Brunnen alle wilde Tiere um 
sich; und diese Zusammentreffungen gaben - wie die in Redouten - zu-noch 
sonderbarern und zum Sprichwort »Afrika bringt immer etwas Neuesfl oder 
zu MiBgeburten Gelegenheit. 



384 DIE UNSICHTBARE LOGE 

andern Madchen als an einer Mannsperson entfalten kann : so ge- 
wann sie sehrdurch das Spiel mitmeinerSchwester.-Gustav- war 
unsichtbar; er trank seinen Brunnen nach und verirrte sich in die 
Reize der Gegend, um eigentlich den groBern Reizen ihrer Be- 
wohnerin zu entkommen. Das Gliick ausgenommen, sie zu sehen, 
kannt* er kein groBeres als das, sie nicht zu sehen. Sie spricht 
nicht von ihm, er nicht von ihr; seine herauswollenden Gedanken 
an sie werden nicht zu Worten, sondern zu Errotungen. Wollte 
der Himmel, ich faBte statt einer Lebensbeschreibung einen Ro- 
man ab : so fuhrt' ich euch, schone Seelen, einander naher und kon- 10 
struierte unsern freundschaftlichen Zirkel aus seinen Segmenten 
wieder; dann bekamen wir hier einen solchen Himmel, daB, wenn 
der Tod vorbeiginge und uns suchte, dieser ehrliche Mann nicht 
wiiBte, ob wir schon darin saBen oder von ihm erst hineinzu- 
schaffen waren — 

Ich habe verstandig und delikat zugleich gehandelt, daB ich 
einen gewissen Aufsatz, den Beata im Winter machte und zu dem 
ich auf eine ebenso ehrliche als feine Weise kam, vor Gustav so 
gut brachte wie vor meine Leser hier. Er ist an das Bild ihres 
wahren Bruders gerichtet und besteht in Fragen. Der Schmerz 20 
liegt auf den weiblichen Herzen, die geduldig unter ihm sich driik- 
ken lassen, mit groflerer Last als auf den mannlichen auf, die sich 
durch Schlagen und Pochen unter ihm wegarbeiten; wie den un- 
bewegtichen Tannengipfel aller Schnee belastet, indes auf den 
tiefern Zweigen, die sich immer regen, keiner bleibt. 

An das Bild meines Bruders 

»Warum blickst du mich so Iachelnd an, du teures Bild? Warum 
bleibt dein Farbenauge ewig trocken, da meines so voll Tranen 
vor dir steht? O wie wollt' ich dich lieben, warest du traurig ge- 
malt! 5 o 

Ach Bruder! sehnest du dich nach keiner Schwester, saget dirs 
dein Herz gar nicht, daB es in der oden Erde noch ein zweites gibt, 
das dich so unaussprechlich liebt? - Ach hatt* ich dich nur einmal 
in meine Augen, in meine Arme gefasset — wir konnten uns nie 



FUNFZIGSTER SEKTOR 385 

vergessen! Aber so — wenn dii auch verlassen bist wie deine 
Schwester, wenn du audi, wie sie, unter einem Regen-Himmel 
und durch eine leere Erde gehest und keinen Freund in den Stun- 
den des Kummers findest - ach, du hast alsdann nicht einmal ein 
verschwistertes Bild, vor dem dein Herz ausblutet! - O Bruder, 
wenn du gut und ungliicklich bist: so komm zu deiner Schwester 
und nimm ihr ganzes Herz - es ist zerrissen, aber nicht zerteilt 
und blutet nur! O es wiirde dich so sehr lieben! Warum sehnest 
du dich nach keiner Schwester? O du Ungesehener, wenn dich die 

ro Fremden auch verlassen, auch tauschen, auch vergessen, warum 
sehnest du dich nach keiner treuen Schwester? - Wann kann ich 
dirs sagen, wie oft ich dein stummes Bild an mich gepresset, wie 
oft ich es stundenlang angeblicket und mir Tranen in seine ge~ 
malten Augen gedacht habe, bis ich selber daruber in stromende 
ausgebrochen bin? — Verweile nicht so lange, bis deine Schwester 
mit dem ermudeten Herzen unter der Leichendecke ausruhet und 
mit allem ihren vergeblichen Sehnen, mit ihren vergeblichen 
Tranen, mit ihrer vergeblichen Liebe in kalte vergessene Erde 
zerfallt! Verweile auch nicht so lange, bis unsere Jugend-Auen 

io abgemahet und eingeschneiet sind, bis das Herz steifer und der 
Jahre und Leiden zu viele geworden sind. — Es wird auf einmal 
meinem Innern so wehe, so bitter.... Bist du vielleicht schon ge- 
storben, Teurer? - Ach, das betaubt mein Herz - wende dein 
Auge, wenn du selig bist, von der verwaiseten Schwester und er- 
blick* ihre Schmerzen nicht - ach ich frage mich schwer im blu- 
tenden Innern: was hati ich noch, das mich liebt? und ich antworte 

nicht.... « 

* 

Die Leser haben den Mut, daraus mehr zu Gustavs Vorteil zu 
erraten als er selber. Ihm als Helden dieses Buchs muB dieses Blatt 
jo willkommen sein ; aber ich als sein bloBer Geschichtschreiber nab* 
nichts davon als ein paar schwere Szenen mehr, die ich jedoch aus 
wahrer Liebe gegen den Leser gern verfertige - Billionen wollt* 
ich deren ihm zu Gefallen ausarbeiten. Nur tut es meiner ganzen 
Biographie Schaden, daB die Personen, die ich hier in Handlung 
setze, zugleich mich in Handlung setzen und daB der Geschicht- 



386 DIE UNSICHTBARE LOGE 

oder Protokollschreiber selber unter die Helden und Parteien ge- 
hort. Ich ware vielleicht auch unparteiischer, wenn ich diese Ge- 
schichteeinpaarJahrzehendeoderJahrhundertenachihrerGeburt 
aufsetzte, wie die, die kiinftig aus mir schopfen werden, tun miissen. 
Die Maler befehlen dem Portratmaler, dreimal so weit vom Urbilde 
abzusitzen, als es groB ist - und da Fiirsten so groB sind und da sie 
folglich nur von Autoren gezeichnet werden konnen, die in einer 
dieser Gro Be gleichen Entfer nung des Or ts oder der Zei t von ihnen 
wegsitzen : so ware zu wiinschen, ich stande nicht neben unserem 
Fiirsten, damit ich ihn nicht so vorteilhaft abmalte, als ich tue . . . . : 



ElNUNDFUNFZIGSTER ODER 3 tet FrEUDEN-SeKTOR 
Sonntagmorgen - offne Tafel - Gewitter - Liebe 

Welch ein Sonntag! - Heut ist Montag. Ich weiB kein Mittel, 
mich, der ich (wie wir alle durch unser Isolieren) ein Freuden- 
Elektrophor geworden, auszuladen als durch Schreiben, ichmtiBte 
denn tanzen. Gustav ho r* ich heriiber : der hat zum Auslader einen 
Flugel und spielt ihn. Der Fliigel wird mir diesen Sektor sehr er- 
leichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich 
nab* mir oft gewunscht, nur so reich zu werden, daB ich mir (wie 
die Griechen taten) einen eignen Kerl halten konnte, der so lange 2 
musizierte, als ich schriebe. - Himmel ! welche opera omnia spros- 
sen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnugen, daB, da bisher 
so viele poetische Flickwerke (z.B. die Medea) der Anlafi zu mu- 
sikalischen Meisterwerken waren, sich der Fall umkehrte und daB 
musikalische Nieten poetische Treffer gaben. - 

Vor Tags machten wir uns gestern aus dem Bette,- ich und mein 
musikalischer Souffleur. »Wir mussen«, sagt' ich zu ihm, »vier 
voile Stunden drauBen herumjagen, eh* wir in die Kirche gehen« 
- namlich nach Ruhestatt, wo der vortreffliche Herr Burger aus 
GroBenhayn 1 als Gastprediger auftreten sollte. Alles geschah. Bis 3 

1 Seine vor einem Jahre gedruckten Predigten werden nach dem Ge- 
schmack eines jeden sein, der meinen hat. 



EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 387 

diese Stunde weiB ich nicht, zieh' ich eine laue Sommernacht oder 
einen kalten Sommermorgen vor : in jener rinntdas zerschmolzene 
Herz in Sehnen auseinander; dieserhartetdasgliihendezurFreude 
zusammen und stahlet sein Schlagen. Unsere vier Stunden zu 
palingenesieren - muBte man aus hundert Lust- und Jagdschlos- 
sern die Minuten dazu zusammentragen, und es hinkte doch. Die 
Morgendammerung ist fur den Tag, was der Friihling fur den 
Sommer ist, wie die Abenddammerung fur die Nacht, was der 
Herbst fur den Winter. Wir sahen und horten und rochen und 

10 fiihlten, wie allmahlich ein Stiickchen vom Tag nach dem andern 
aufwachte - wie der Morgen uber Fluren und Garten zog und sie 
wie vornehme Morgenzimmer mit Bliiten und Blumen raucherte 
- wie er sozusagen alle Fenster offnete, damit ein kiihlender Luft- 
zug den ganzen Schauplatz durchstriche — wie jede Kehle die an- 
dre weckte und sie in die Lufte und Hohen zog, um mit trunkner 
Brust der steigenden vertieften Sonne entgegenzufliegen und ent- 
gegenzusingen - wie der bewegliche Himmel tausend Farben rieb 
und verschmolz und den Faltenwurf seiner Wplken versuchte und 
farbte.... So weit war der Morgen, da wir noch im tauenden Tale 

20 gingen. Aber als wir aus seiner ostlichen Pforte hinaustraten in 
eine unabsehliche, mit wachsenden Girlanden und regem Laub- 
werk musivisch ausgelegte Aue, deren sanfte Wellenlinie in Tie- 
fen fiel und auf Hohen floB, um ihre Reize und Blumen auf und 
nieder zu bewegen; als wir davor standen: so erhob sich der 
Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Ostwind ging 
neben ihm und die groBe Sonne stand und schlug wie ein Herz 
am Himmel und trieb alle Strbme und Tropfen des Lebens um 
sich herum. — 

Gustav spielt eben sanfter, und seine Tone halten meinen noch 

jo immer leicht in hypochondrische Heftigkeit iibergehenden Atem 
auf. - 

Als jetzt die Muhle der Schopfung mit alien Radern und Stro- 
men rauschte und sturmte : wollten wir in siiBer Betaubung kaum 
gehen, es war uns uberall wohl; wir waren Lichtstrahlen, die jedes 
Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen mit der Biene und 
Ameise und verfolgten jeden Wohlgeruch bis zu seiner Quelle 



388 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und gingen um jeden Baum; jedes Geschopf war ein Pol, der un- 
sere Nadel zu Abbeugungen und Einbeugungen lenkte. Wir stan- 
den in einem Kreis von Dorfern, deren Wege alle mit frohlichen 
Kirchgangern zuruckkamen und deren Glocken diegeistige Messe 
einlauteten. Endlich zogen wir auch der wallfahrtenden Andacht 
nach und. zur Kirchtiir der kiihlen Ruhestatter Kirche hinein. 

Wenn ein Maitre de plaisirs einem Fiirsten eine Operndekora- 
tion vorschliige, die aus einer aufziehenden Sonne, tausend Leip- 
ziger Lerchen, zwanzig lautenden Glocken, ganzen Fluren und 
Floren von seidnen Blumen bestande: so wiirde der Fiirst sagen, ic 
es kostete zu viel - aber der Freudenmeister sollte versetzen : einen 
Spaziergang kostets - oder eine Krone, sag' ich, weil zu einem 
solchen GenuB nicht der Fiirst, sondern der Mensch zulangt. 

In der Kirche lieB ich mich auf dem Orgelstuhl nieder, um die 
plumpe Orgel zu kartatschen zum Erstaunen der meisten Seelen. 
Als Gustav in eine adelige Loge trat, saB in der gegenuberstehen- 
den - Beata; denn eine Predigt war ihr so lieb als einer andern ein 
Tanz. Gustav biickte sich mit niederfallenden Augen und auf- 
stromender Rote vor ihr und war tief geruhrt uber die blasse ge- 
krankte Gestalt, die sonst vor ihm gegluhet hatte-sie warsgleich- 2 < 
falls von der seinigen, auf der sie alle traurige Erinnerungen las, 
die in ihre oder seine Seele geschrieben waren. Ihre vier Augefi 
zogen sich vom Gegenstand der Liebe zu dem der Aufmerksam- 
keit zuriick, auf Herrn Burger aus GroBenhayn. Er ring an; ich 
hatte als zeitiger Organist vor, gar nicht auf ihn acht zu geben - 
ein Kantor macht sich aus einer Predigt so wenig wie ein Mann 
von Ton -; allein Herr Burger predigte mir mit den ersten Wor- 
ten das Choralbuch aus der Hand, worin ich lesen wollte. Er trug 
die Vergebung der menschlichen Fehler vor - wie hart die Men- 
schen auf der einen, und wie zerbrechlich sie auf der andern Seite 3< 
waren; wie sehr jeder Fehler sich ohnehin am Menschen blutig 
rache und gleich einem Nervenwurme den durchfresse, den er be- 
wohne, und wie wenig also ein anderer das Richteramt der Unver- 
sohnlichkeit zu verwalten habe; wie wenig es Verdienst habe, 
Unvorsichtigkeiten, kleine oder zu entschuldigende Fehler zu 
vergeben, und wie sehr alles Verdienst auf Obersehung solcher 



EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 389 

Fehler, die uns mit Recht erbitterten, ankomme etc. Da er endlich 
auf das Gliick der Menschenliebe zeigte : so ruhte das brennende 
und stromende Auge Gustavs unbewuBt auf Beatens Antlitz aus; 
und als endlich ihre Augen sich, dem Pfarrer zugekehrt, mit der 
wahren Kummer- und Freuden-Auflosung anfiillten und als sie 
unter dem Abtrocknen sie auf Gustav wandte: so offneten sie sich 
einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkorperten 
Seelen schaueten groB ineinander hinein, und ein voruberfliegen- 
der Augenblick des zartlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den 

10 Augen zusammen Aber plotzlich suchten sie wieder den alten 

Ort, und Beata blieb mit ihren an der Kanzel. 

Ich kanns nicht behaupten, ob er, Herr Burger, diese nutzliche 
Predigtschon unter seine gedruckten getan oder nicht; gleichwohl 
soil mich dieses Lob nicht hindern zu gestehen, daB seinen an sich 
guten Predigten eigentliche Kraft einzuschlafern vielleicht fehle, 
ein Fehler, den man sowohl beim Lesen als beim Horen wahr- 
nimmt. Hier will ich zum Besten andrer Geistlichen einige Extra- 
seiten iiber die falsche Bauart der Kirchen einschichten. 

Extraseiteh iiber die falsche Bauart der Kirchen 

20 Ich hah* es schon dem Konsistorium und der Bauinspektion vor- 
getragen; aber es verfangt nichts. Wir und sie wissen es alle, daB 
jede Kirche, eine Kathedral-Kirche so gut als ein Filial, fiir den 
Kopf oder das Gehirn der Diozes zu sorgen habe, d.h. fiir den 
ScA/cz/derselben, weil nach Brinkmann jenes nichts so starkt als 
dieser. Es ware lacherlich, wenn ich mich hersetzen und erst lange 
ausfiihren wollte, daB dieser desorganisierende Schlaf auf eine 
wohlfeilere Art und fiir weniger Pfennige und Opium als bei den 
Tiirken zu erregen steht; denn unser Opium wird wie Queck- 
silber auBerlich eingerieben und hauptsachlich an den Ohren an- 

30 gelegt. Nun ist niemand so gut wie mir bekannt, was man in der 
ganzen Sache schon getan. Wie man in Konstantinopel (nach de 
Tott) besondere Buden und Sitze fiir die Opiumesser, aber nur 
neben den Moscheen hat: so sind sie bei uns darin und heiBen 
Kirchenstiihle. - Ferner brennen ordentliche Nachtlichter auf dem 



390 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Altar, Die Fensterscheiben haben in katholischen Tempeln Glas- 
gemalde, die so gut wie Fenstervorhange Schatten geben. Zu- 
weilen sind die Pfeiler sogeordnet oder vervielfaltigt, daB sie zur 
kirchlichen Dunkelheit mithelfen, die der Zweck des Schlafens so 
sehr begehrt. Da die Schlafzimmer in Frankreich lauter matte 
glanzlose Farben haben : so ist in dem groBen kanonischen Schlaf- 
zimmer wenigstens insofern fur den Schlaf gesorgt worden, daB 
doch die Teile der Kirche, auf die das Auge sich am meisten 
richtet, Altar, Pfarrer, Kantor und Kanzel, schwarz angestrichen 
sind. Man sieht, ich unterdriicke keinen Vorzug, und es ist nicht 10 
Tadelsucht, wenn ich tadele. - 

Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einem wahren Dor- 
mitorium, Ich stand (ich konnt* auch sagen: ich lag) in Italien 
und auch in Paris in mehren Theaterlogen, die vernunftig einge- 
richtet und mobliert waren : man konnte darin (weil alles dazu da 
war) schlaf en^ spielen, pissen, essen und mehr .... — Man hatte seine 
Freundinnen mit. Das haben nun die GroBen gewohnt; wie will 
man ihnen ansinnen, sie sollen in die Kirche fahren und darin 
schlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freuden als den Schlaf ver- 
schafft? - Beim tiers etat, beim Bauer und Burger, selber beim 20 
Burgermeister-Kollegium, das sich die ganze Woche matt votiert, 
ists kein Wunder, sondern freilich leicht dahin zu bringen, daB 
sie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor entschlafen; ich leugn' 
es nicht; aber der Libertin, der Schlafer auf Eiderdunen, wird euch 
(und predigte ein Konsistorialrat) auf keinem bloBen Sessel schla- 
fen; er geht daher lieber in keine Kirche. Fur solche Leute von 
Ton mussen daher ordentliche Kirchenbetten in den Logen auf- 
geschlagen werden, damit es geht; so wie auch Spieltische, EB- 
tische, Ottomanen, Freundinnen u. dergl. in einer Hof kirche so un- 
entbehrliche Dinge sind, daB sie besser an jedem andern Orte 30 
mangeln konnten als da. 

Man kann es also, ohne mich und die Wahrheit zu beleidigen, 
kein Schmeicheln nennen, wenn ich verfechte, daB hloB die dumme 
Kirchen-Architektur und der Mangel alles Haus- und Kirchen- 
gerats, aller Betten etc. daran schuld sind, nicht aber die gut und 
philosophisch oder mystisch ausgearbeiteten Predigten geschick- 



EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 391 

ter Hof-, Universitat-, Kasernen- und Vesper-Prediger, wenn die 
Leute von Stand weit weniger darin schlafen konnen, als man sich 

verspricht. 

Ende der Extraseiten 



Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakristei zusammen. Ich 
gehe iiber Kleinigkeiten hinweg und komme sogleich dazu, daB 
wir samtlich abzogen und daB Gustav unserer schonen Dauphine 
den Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln unter der 
festlichen Sonne und unter den Bliiten der Gebiische hinweg. Der 

10 Putz, die getafelte Stirn, die wie Fiedelbogen-Haare hiniiberge- 
spannten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhaute tibereinander liegen- 
den Rocke des weiblichen Bauerstandes malten samt dessen an- 
lachendem Angesicht uns den Sonntag heller vor, als alle halbe 
und ganze Partiren der Stadterinnen konnen. Auch find' ich am 
Sonntage viel schonere Gesichter als an den sechs Werkeltagen, 
die alles im Schmutz vermummen. 

Das Gesprach muBte gleichgultig bleiben - ich denke, selbst 
beim VergiBmeinnicht. Beata sah namlich eines im Grase liegen 
und eilte hinzu und - da wars von Seide: »0 ein falsches«, sagte 

ao sie. »Nur ein gestorbnes,« sagte Gustav, »aber ein dauerhaftes.« 
Unter Personen von einer gewissen Feinheit wird leicht alles zur 
Anspielung! Wohlwollen ist ihnen daher unentbehrlich, damit 
sie an keine andern Anspielungen als an gutmiitige glauben. - 
Ich labte mich unter dem ganzen Wege am meisten daran, daB 
ich der Hintergrund und der Riickenwind war, der hintennach 
ging; denn war* ich vorausgezogen, so hatt' ich den schonsten 
Gang nicht gesehen, in dem sich noch die schonste weibliche Seele 
durch ihren Korper zeichnete - Beatens ihren. Nichts ist charak- 
teristischer als der weibliche Gang, zumal wenn er beschleunigt 

3 o werden soil. 

Im Tal fanden wir auBer dem Schatten und Mittage noch etwas 
Schpneres, den Doktor Fenk. Er hatte ein kleines Speise-Concert 
spirituel unter den Baumen angeordnet, wo wir alle wie Fiirsten 
und Schauspieler offne Tafel, aber vor lauter satten musikalischen 



392 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Zuschauern, vor den Vogeln, hielten. Wir hatten nichts darwider, 
daB zuweilen eine Bliite in den Tunknapf, oder in das Essiggestell 
ein Blattchen flatter te, oder dafi ein Luftchen das Zuckergestober 
aus der Zuckerdose seitwarts wegblies; dafur lag der grofite plat 
de menage, die Natur, um unsern freudigen Tisch herum, und 
wir waren selber ein Teil des Schaugerichts. Fenk sagte und spielte 
mit einem herabgezognen Aste; »unser Tisch hatte wenigstens 
den Vorzug vor den Tischen in der groBen Welt, daB die Gaste an 
unserem einander kennten ; die GroBen aber , z. B. in Scheerau oder 
Italien, speiseten mehr Menschen, als sie kennen lernten; wie im xc 
Fette desTieres, das von den Juden sosehrverabscheuetundnach- 
geahmet wiirde, Mause lebten, ohne daB das Tier es merkte.« 

Ein Arzt sei noch so delikat im Ausdruck: er ists doch nur fur 
Arzte. 

Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pestilenziar, alle 
Kannen - Kaffee-, Schokolade-, Teekannen — , Kriige etc. hatten 
eine Physiognomie, die man viel zu wenig studiere; und wenn 
Melanchthon der Missionar und Kabinettprediger der Topfe ge- 
wesen, so fehle noch ein Lavater derselben. Er habe einmal in 
Holland eine Kaffeekanne gekannt, deren Nase so matt, deren « 
Profil so schal und hollandisch gewesen ware, daB er zum Schiff- 
arzt, der mitgetrunken, gesagt, in dieser Kanne s^Be gewiB eine 
ebenso schlechte Seele, oder alle Physiognomik sei Wind : - da 
er eingeschenkt hatte, so war das Gesoff nicht zum Trinken. Er 
sagte, in seinem Hause werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht 
vorher, wie Pythagoras seine Schiller, in physiognomischen 
Augenschein nehme. 

»Wem haben wirs zuzuschreiben,« fuhr er in humoristischem 
Enthusiasmus fort, »daB um unsere Gesichter und Taillen nicht 
so viele Schonheitlinien als um die griechischen beschrieben sind, 3c 
als bloB den verdammten Tee- und Kaffeetopfen, die oft kaum 
menschlicheBildung haben und die doch unsere Weiber die ganze 
Woche ansehen und dadurch kopieren in ihren Kindern? - Die 
Griechinnen hitigegen wurden von lauter schonen Statuen be- 
wacht, ja die Sparterinnen hatten die Bildnisse schoner Jiinglinge 
sogar in ihren Schlafzimmern aufgehangen.« 



EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 393 

Ich muB aber zur Rechtfertigung von vielen hundert Damen 
sagen, da6 sie dafur ja das namliche mit den Originalen tun und 
daB damit auch schon etwas zu machen ist. - 

Da ich in diesem Familien-Schauspiel fiir keine Gottin Achtung 
habe als fiir die der Wahrheit: so kann ich sie auch meiner 
Schwester nicht aufopfern, obgleich ihr Geschlecht und ihre Ju- 
gend sie noch unter die Gottinnen stellen. Es argert mich, daB 
sie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernahrt. Es argert mich, 
daB es sie nicht argern wird, sich hier gedruckt und getadelt zu 

10 lesen, weil ihr mehr am Gewinst der Eitelkeit durch den Druck 
als am Verlust des Stolzes durch den Tadel gelegen ist. 

Stolz ist in unserem kriegslistigen Jahrhundert der treueste 
Schutzheilige und Lehns-Vormund der weiblichen Tugend. Nie- 
mand wird zwar von mir fodern, die Damen von meiner Bekannt- 
schaft ofFentlich zu nennen, die gewiB wie Mailand 40 mal (nach 
Keifiler) waren belagert und 20 mal erobert worden, waren sie 
nicht brav stolz gewesen, ja warenichteinedavonanemem Abende 
voll Tanz zweiundeinhalbmal stolz gewesen; aber nennen 
konnt* ich sie, wollt' ich sonst. 

20 Du lehrest mich, Hebe Philippine, daB die edelsten Gefuhle 
nicht immer die Gefallsucht ausschliefien und daB ich auBer dem 
Geschafte, dich zu lieben, kein besseres haben kann als das, dich 
zu schelten - und deinen Medizinalrat Fenk auch, der gegen dich 
seiner sorgenlosenLaune zu weit nachhangt : zum Gliick ist sie noch 
im Alter, wo Madchen allemal den lieben, den sie am langsten ge- 
sprochen, und wo ihr Herz wie ein Magnet das alte Eisen fallen 
lasset, wenn man ein neues daran bringt. 

Beata und Gustav bertihrten einander die wunden Stellen wie 
zwei Schneeflocken; sogar in der Stimme und der Bewegung 

jo schilderte sich zartliches, schonendes, ehrliebendes, aufopferndes 
Ansichhalten. O wenn die Weigerungen der Koketterie schon so 
viel geben : wie viel mussen erst die gegenwartigen der Tugend 

. geben! 

Der Nachmittag war auf den Fliigeln der Schmetterlinge, die 
neben uns ihre tiefern Blumen suchten, davongeeilet; die Ge- 
sprache nahmen wie die Augen an Interesse zu, und wir schlenter- 



394 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ten (oder schreibt mans mit einem weichen D?) auf der Allee- 
Terrasse hin, die den Berg wieein Giirtelumwindetundauf der das 
Auge iiber die Einzaunungen des Tales in die Fluren hinuber- 
gehen kann. Gegen Westen riickte ein Gewitter mit seinem Don- 
ner-Tritt iiber den Himmel und hing sein Bahrtuch von schwar- 
zem Gewolk iiber die Sonne. Die Gegend sah wie das Leben eines 
groBen, abernichtglucklichen Menschen aus; dereineBerg gliihte 
vom Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte sich unter 
der niederfallenden Nacht einer Wolke — driiben in der Abend- 
gegend brauste im Himmel statt des Vogelgesangs das himmlische 10 
Pedal, der Donner, und in Reihen von weiBen Wassersaulen riB 
sich der warmende Regen vom Himmel los und fiillte seine Blu- 
menkelche und Gipfel wieder, aus denen er gestiegen war - es 
war der Seele so feierlich, als wtirde ein Thron fur Gott errichtet, 
und alles wartete, daB er darauf niederstiege. 

Gustav und Beata gingen, in den Himmel versunken, auf der 
Terrasse voraus; der Doktor, meine Schwester und ich in einer 
kleinen Feme hinter ihnen. Endlich platzten auf dem Laube der 
Allee einzelne Regen trop fen, die aus dem Saume der breiten 
Wetterwolke iiber uns flogen und fielen ; - so bestreift ein donnern- 20 
des niederblitzendes Ungliick der Nachbarschaft die entlegnen 
Lander nur miteinigen Tranen, die aus dem Auge des Mitleids ent- 
wischen. - Wir stellten uns alle unter die nachsten Baume. Gustav 
und Beata standen seit vielen Monaten zum ersten Male wieder 
einsamnebeneinander, ohne Ohrenzeugen, obwohlneben Augen- 
zeugen. Sie Waren gegen Abend gekehrt und schwiegen. Es gibt 
Lagen, wo der Mensch sich zu groB fiihlt, ein Gesprach heranzu- 
lenken, oder fein zu sein, oder Anspielungen zu machen. Beide 
verstummten fort, bis Gustav in der heiBesten Sonnenwende sei- 
ner Empfindungen sich von der uberschwemmten Abendgegend 30 
umkehrte zu Beatens Augen hin - ihre hoben sich langsam und 
unverhullt zu seinen auf und der Mund unter ihnen blieb ruhig 
und ihre Seele war bei niemand als bei Gott und der Tugend. 

Die Wolke war verronnen und verzogen. Der Doktor hatte 
heimzueilen. Niemand konnte aus seinem genieBenden Schweigen 
heraus. So stumm waren wir alle die Terrasse hinunter gekommen 



EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 395 

- und jedes war auch schon von seinem belaubten Regenschirme 
hinweg -, als auf einmal die tiefe Sonne die schwarze Wolken- 
decke durchbranrrte und entzweiriB und den Leichenschleier des 
Gewitters weit zuruckschlug und uns iiberstrahlte und die glim- 
menden Gestrauche und jeden feurigen Busch.... Alle Vogel 
schrien, alle Menschen verstummten - die Erde wurde eine Sonne 

- der Himmel zitterte weinend iiber der Erde vor Freude und ura- 
armte sie mit heiBen unermeBlichen Lichtstrahlen. - 

Die Gegend brannte im himmlischen Feuerregen urn uns; aber 
io unsere Augen sahen sie nicht und hingen blind an der groBen 
Sonne. Im Drang, das Herz von Blut und Freude loszumachen, 
versank Gustavs Hand in Beatens ihre - er wuBte nicht, was er 
nahm - sie wuBte nicht, was sie gab, und ihre gegenwartigen 
Gefiihle erhoben sich weit iiber geringfugige Versagungen. 
Endlich legte sich die umdonnerte Sonne wie ein Weiser ruhig 
unter die kiihle Erde, ihr Abendrot ruhte gliihend unter dem 
blitzenden Wetter, sie schien wie eine Seele zu Gott gegangen 
zu sein, und ein Donnerschlag fiel in den Himmel nach ihrem 
Tode .... 
20 Es dammerte . . . . die.Natur war ein stummes Gebet...! Der 
Mensch stand erhabener wie eine Sonne darin; denn sein Herz 
faBte die Sprache Gottes.... aber wenn in das Herz diese Sprache 
kommt und es zu groB wird fur seine Brust und seine Welt: so 
hauchet der groBe Genius, den es denkt und liebt, die stillende 
Liebe zu den Menschen in den stiirmenden Busen, und der Un- 
endliche lasset sich von uns sanft an den Endlichen lieben.... 

Gustav empfand die Hand, die in seiner pulsierte und aus ihr 
herausstrebte - er hielt sie schwacher und sah in das schonste Auge 
zuriick - seines bat Beaten unendlich riihrend um Vergebung der 
30 vergangnen Tage und schien zu sagen : »0 ! nimm in dieser seligen 
Stunde auch meinen letzten Kummer weg!« - Als er nun leise mit 
einem Tone, der so viel war wie eine gute Tat, fragte : »Beata?« 
und als er nicht weitersprechen konnte und sie das errotende An- 
gesicht zur Erde wandte und auf horte, ihre Hand aus seiner zu 
ziehen, und tief geriihrt wieder aufsah und ihm die Trane zeigte, 
die zu ihm sagte: »Ich will dir vergeben«: so wurden aus zwei 



39<> DIE UNSICHTBARE LOGE 

Seelen, die noch groBer waren als die Natur urn sie, zwei Engel, 
und sie fiihlten den Himmel der Engel - sie standen und schwie- 
gen, in unendliche Dankbarkeit und Entztickung verloren — er 
nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren beben- 
den Arm und erreichte uns. 

Den Sabbat schlossen stilfc Gedanken, stille Entziickungen, 
stille Erinnerungen und ein stiller Regen aus alien entladenen Ge- 
wittern. 

VlERTER FREUDEN-SEKTOR 

Der Traum vom Himmel - Brief Fenks *p 

Seitdem ich neben meinem lelpenbeschreibenden Handwerk noch 
das eines Damenschneiders betreibe, wachst ein ganz neues Leben 
in mir auf. Gleiehwohl muB man dem kiinftigen Schrockh, der in 
sein Bilderkabinett beriihmter Manner mich auch als einen hinein- 
hangen will, den Rat geben, daB er sich maBige und aus meiner 
Schneiderei nicht alles ableite, sondern etwas aus meiner Phanta- 
sie. Die letzte hat sich im vorigen Winter und Herbst durch das 
Malen so vieler Naturszenen so gestarkt, daB der gegenwartige 
Fruhling an mir ganz andre Augen und Ohren findet als die vori- 
gen alle. Das hatten wir alle, ich und Leser, eher bedenken sollen. 2o 
Wenn der Reiz gewisser Laster durch die taglich wachsenden An- 
strengungen der Phantasie unbezwinglich wird: warum geben 
wir ihrem hinreiBenden Pinsel nicht wiirdige Gegenstande? War- 
um richten wir sie nicht im Winter ab, den Fruhling aufzufassen 
oder vielmehr auszuschaffen? Denn man geniefiet an der Natur 
nicht, was man sieht (sonst genosse der Forster und der Dichter 
drauBen einerlei), sondern was man ans Gesehene andichtet, und 
das Gefuhl fur die Natur ist im Grunde die Phantasie fur dieselbe. 
In keinem Kopfe aber kristallisierten sich holdere Traum- und 
Phantasiegestalten als im Gustavischen. Seine Gesundheit und 3° 
sein Gluck sind zurikkgekommen: das zeigen seine Nachte an, 
worin die Traume wie Violen wieder ihre Lenzkelcheauseinander- 
tun. Ein solcher Edenduft wallet um folgenden Traum: 



ZWEIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 397 

Er starb (kam ihm vor) und sollte den Zwischenraum bis zu 
seiner neuen Verkorperung in lauter Traumen verspielen. Er ver- 
sank in ein schlagendes Bluten-Meer, das der zusammengeflossene 
Sternen-Himmel war; auf der Unendlichkeit bliihten alle Sterne 
weiB und nachbarliche Bliitenblatter schlugen aneinander. War- 
um berauschte aber dieses von der Erde bis an den Himmel wach- 
sende Blumenfeld mit dem rauchenden Geiste von tausend Kel- 
chen alle Seelen, die daruberflogen und in betaubender Wonne 
niederfielen, warum mischte ein gaukelnder Wind unter einem 

10 Schneegestober von Funken und bunten Feuerflocken Seelen mit 
Seelen und Blumen zusammen, warum wolkte die verstorbnen 
Menschen ein so siiBer und so spielender Totentraum ein? - O 
darum : die nagenden Wunden des Lebens sollte der Balsamhauch 
dieses unermeBHchen Fruhlings verschlieBen und der von den 
StoBen der vorigen Erde noch blutende Mensch sollte unter den 
Blumen zuheilen fur den kunftigen Himmel, wo die groBere Tu- 
gend und Kenntnis eine genesene Seele begehrt. - Denn ach! die 
Seele leidet ja hier gar zu viel! - Wenn auf jenem Schneegefilde 
eine Seele die andre umfafite : so schmolzen sie aus Liebe in einen 

so gliihenden Tautropfen ein; er zitterte dann an einer Blume herab 
und sie hauchte ihn wieder entzweigeteilt als heiligen Weihrauch 
empor. - Hoch uber dem Bliitenfeld stand Gottes Paradies, aus 
dem das Echo seiner himmlischen Tone in Gestalt eines Bachs in 
die Ebene herniederwallete; sein Wohllaut durchkreuzte in alien 
Krummungen das Unter-Paradies und die trunknen Seelen stiirz- 
ten sich aus Wonne von den Ufer-Blumen in den Flotenstrom; 
im Nachhall des Paradieses erstarben ihnen alle Sinne und die zu 
endliche Seele ging, in eine helle Freuden-Trane aufgeloset, auf 
der laufenden Welle weiter. - Dieses Blumengefilde stieg unauf- 

(o haltsam empor, dem erhoheten Paradiese entgegen, und diedurch- 
eilte Himmelluft schwang sich von oben herab und ihr Nieder- 
wehen faltete alle Blumen auseinander und bog sie nicht. - Aber 
oft ging Gott in der dunkelsten Hohe weit uber der wehenden 
Aue hinweg; wenn der Unendliche dann oben seine Unendlich- 
keit in zwei Wolken verhullte, in eine blitzende, oder die ewige 
Wahrheit, und in eine warm auf alles niedertraufelnde und wei- 



398 DIE UNSICHTBARE LOGE 

nende, oder die ewige Liebe : alsdann stand gehalten die steigende 
Au, der sinkende Ather, der nachhallende Bach, das rege Blumen- 
blatt; alsdann gab Gott das Zeichen, daB er voriibergehe, und eine 
unermefiliche Liebe zwang alle Seelen, in dieser hohen Stille sich zu 
umarmen und keine sank an eine, sondern alle an alle - ein Wonne- 
Schlummer fiel wie ein Tau auf die Umarmung. Wenn sie dann 
wieder auseinander erwachten, so gingen aus dem ganzen Blu- 
menfelde Blitze, so rauchten alle Bliiten, so sanken alle Blatter 
unter den Tropfen der warmen Wolke, so klangen alle Krum- 
mungen des tonenden Baches zusammen, es wetterleuchtete das 10 
ganze Paradies iiber ihnen und nichts verstummte als die lieben- 
den Seelen, die zu selig waten — 



Gustav erwachte in eine nahere Welt, die ein schones Gegenspiel 
seiner getraumten war; die Sonne war in einen einzigen gliihenden 
Strahl verwandelt, und dieser Strahl knickte auch an der Erde ab; 
die Wolke der Dammerung zog herum, Blumen und Vogel hin- 
gen ihre schlafenden Haupter in den Tau hin und bloB der Abend- 
wind kramte noch in den Blattern umher und blieb die ganze 
Nacht auf 

So schleichen unsere griinen Stunden durch unser unbesuchtes 2C 
Tal, sie gleiten miteinem ungehortenSchmetterling-Fittich durch 
unsern Luftkreis, nicht mit der schnurrenden Kafer-Flugeldecke 
- die Freude legt sich leise wie ein Abendtau an und prasselt nicht 
wie ein GewitterguB herab. Unsere gluckliche Badzeit wird uns 
zum Mut, zu Geschaften, zum Erdulden auf lange, auf immer er- 
fnschen; das griine Lilienbad wird in unserer Phantasie eine 
griine Rasenstelle bleiben, auf der, wenn einmal die Jahre alle ely- 
sische Felder, die ganze Gegend unserer Freude tief uberschneiet 
haben, unter ihrem warmen Hauche aller Schnee zergeht und die 
uns immer angriinet, damit wir auf ihr, wie Maler auf griinem 3 < 

Tuche, unsere alten Augen erquicken Ichwunsch'euch,meine 

Leser, fur euer Alter recht viele solche offen bleibende Stellen 
und jedem Kranken sein Lilienbad. 

Tat' ichs nicht dem deutschen Publikum zu Gefallen : so wiird' 



ZWEIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 399 

ich schwerlich vor Freude zur Beschreibung derselben gelangen. 
Und doch werd* ich keinen neuen Freuden-Sektor anfangen vor 
dem Geburttage Beatens. Dieser wird auf der kleinen Molukke 
Teidor begangen, dahin sind wir vom Doktor eingeladen; der hat 
sein Landhaus auf dieser Insel; das Wetter wird auch schon ver- 
bleiben. — Ich kann so viel ohne groBes prophetisches Talent 
leicht voraussehen, daB der Geburttags- oder Teidors-Sektor 
alles Schone, was je in der Alexandrinischen Bibliothek verbrannt 
oder in Ratbibliotheken vermodert oder in andern erhalten wor- 

io den, nicht sowohl vereinigen als vollig iiberbieten werde. 

Im namlichen Brief, der uns nach der molukkischen Insel lockt, 
schreibt mir der Doktor eine Neuigkeit, die insofern hier einen 
Platz verdient, weil einer da ist und ich den Sektor gcrn voll haben 
mochte, indem ich bloB abschriebe. 

»Der Professor Hoppedizel, der auBer dem Philosophieren und 
Priigeln nichts so liebt als SpaBmachen, will, sobald der Mond 
wieder spater aufgeht, den machen, daB er ein Spitzbube ist. Ich 
traf ihn vor einigen Tagen an, daB er sich einen langen Bart zu- 
rechtsott, ferner Brecheisen versteckte und Masken wahlte. Ich 

20 fragte ihn, auf welcher Redoute er stehlen wolle. Er sagte, in der 
MauBenbachschen - kurz er will deinen Gerichtprinzipal dadurch, 
daB er mit der kleinen Bande einbricht und statt Beute SpaB macht, 
in einen theatralischen Kunst-Schrecken jagen. Zu wiinschen 
ware, dieser artistische und satirische Rauberhauptmann wtirde fur 
einen wahren genommen und mit seinem Brech-Apparat auf einen 
Arrestanten-Wagen gebracht und offentHch hereingefahren - 
nicht etwa, damit der gute Hoppedizel dabei versehret wiirde - 
sondern nur damit dieser korsarische Stoiker auf die Folter kame 
und dadurch drei Menschen auf einmal ins Licht setzte : erstlich 

jo sich, indem er weniger das Verbrechen als seine stoischen Grund- 
satze bekennte - zweitens den Pestilenziar oder mich, indem ich 
bei der Tortur (wie wir bei alien Schmerzen tun) die Rucksichten 
auf seine Gesundheit vorschriebe — drittens den Justitiar oder. 
dich, der du zeigen konntest, daB du deine akademischen Krimi- 
nalhefte schon noch im Koffer hattest.« 

Ich glaube, es wird dem Leser auch so gehen wie mir, daB uns 



400 DIE UNSICHTBARE LOGE 

auf dem Blumengestade unter den Wohllauten der Natur dieses 
Seetreffen des groBen Weltmeers und dieses SchieBen desselben 
eine schreiende Dissonanz zu machen scheint. 



DREIUNDFUNFZIGSTER ODER DER GROSSTE FREUDEN-SEKTOR 
ODER DER GEBURTTAGS- ODER TEIDORS-SEKTOR 

Der Morgen - der Abend - die Nacht 

Heute ist Beatens Fest und wird immer schoner - mein Schreibe- 
pult ist neun Millionen Quadratmeilen breit, namlich die Erde - 
die Sonne ist meine Epiktets-Lampe, und statt der Handbibliothek 
rauschen die Blatter des ganzen Naturbuchs vor mir . . . . Aber von i< 
vornen an! Obrigens lieg' ich jetzt auf der Insel Teidor, 

Die Tage vor schlechtem Wetter sind auch meteorologisch die 
schonsten. Da wir heute als die friedlichste Quadrupel-Allianz, 
die es gibt, durch unser singendes Tal, eh' noch die Morgen- 
strahlen hereingestiegen waren, hinausgingen, um noch vor neun 
Uhr recht gemachlich auf der kleinen Molukke Teidor anzukom- 
men: so streckte sich ein ganzer kristallener quellenheller Tag auf 
den weiten Fluren vor uns hin - wir waren bisher an schone ge- 
wohnt, aber an den schonsten nicht. - Die Erdkugel schien eine 
helle, aus Diinsten und Liiften herausgehobene Mondkugel zu * 
sein - die Berg- und Waldspitzen standen nackt im tiefen Blau, 
sozusagen ungepudert von Nebeln - alle Aussichten waren uns 
naher geruckt und der Dunst war vom Glase, wodurch wir sahen, 
abgewischt — die Luft war nicht schwul, aber sie ruhte auf den 
Gewurz-Fluren unbeweglich aus und das Blatt nickte, aber nicht 
der Zweig, und die hangende Blume wankte ein wenigj aber bloB 
unter zwei kampfenden Schmetterlingen — Es war der Ruhetag 
der Elemente, die Sieste der Natur. Ein solcher Tag, wo schon der 
Morgen die Natur eines schwarmerischen Abends hat und wo 
schon er uns an unsere Hoffnungen, an unsre Vergangenheit und $c 
an unser Sehnen erinnert, kommt nicht oft, kommt fur nicht viele, 
darf fiir die wenigen, in deren schwellendes Herz er leuchtet, nicht 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 4OI 

oft kommen, weil er die armen Menschen, die ihm ihre Her'zen 
wie Blumenblatter auftun, zu sehr erfreuet, sie vom kameralisti- 
schen Feudalboden, wo man mehr Blumen mahen als beriechen 
muB, zu weit ins magische Arkadien verschlagt. - Aber ihr Fi- 
nanziers und Okonomen und Pachter, wenn fast alle Jahrzeiten 
der Haut und dem Magen dienen : warum soil nicht ein Tag - z*u- 
mal fiir Brunnengaste - bloB dem zu weichen Herzen zugehoren? 
Wenn man euch Harte vergibt: warum wollt ihr keine Weich- 
heit vergeben? — O ihr beleidigt ohnehin genug, ihr gefuhllosen 

io Seelen;dieschonerefeinereist euch bloBunbedeutend und lacher- 
lich; aber ihr seid ihr qualend und verwundet sie. - Sonderbar 
ists, daB man andern zuweilen die Vorziiglichkeit der Talente, 
aber nie die Vorziiglichkeit der Empfindungcn zugesteht und daB 
man seiner eignen Vernunft, aber nicht seinem eignen Ge- 
schmack Irrtiimer zutraut. 

Ein durchsichtiges Dockengelander von Waldbaumen stand 
•bloB noch zwischen uns und dem indischen Ozean, worin Teidor 
grtinte, als uns der Steig durch das hohe Gras, das iiber ihn her- 
einschlug, an einer Einode oder einem isolierten Hause voriiber- 

20 trug, das zu entziickend in diesem Blumen-Ozean lag, als daB 
man hatte vorbeigehen oder -reiten konnen. Wir lagerten uns auf 
einer abgemahten Rasenstelle, zur rechten Seite des Hauses, zur 
linken eines runden Gartchens, das sich mitten in die Wiese ver- 
steckte. Tm armen Gartchen waren und nahrten sich (wie in ei- 
nem toleranten Staate) auf dem namlichen Beete Bohnen und 
Erbsen und Salat und Kohlriiben; und doch hatte im Zwerg-Gar- 
ten ein Kind noch sein Infusions-Gartchen. Im blendenden und 
roten Vogelhauschen betrieb eine flinke Frau gerade ihre wohl- 
riechende Feldbackerei ; und zwei Kinderhemdchen hingen am 

30 Gartenzaun, und zwei standen an der Haustiir, in weichen letzten 
zwei braune Kinder spielten und uns beobachteten - ihnen tat am 
heutigen Morgen nichts wohl als ihren entbloBten FiiGen die 
Sonne. O Natur! o Seligkeit! du suchest wie die Wohltatigkeit 
gern die Armut und das Verborgne auf! 

Das Klugste, was ich heute gesagt habe und vermutlich sagen 
werde, ist gewiB die Gras-Rede am Morgen neben dem Hauschen. 



402 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Als ich so den stehenden Himmel, die Wind- und Blatterstille be- 
trachtete, in der der steilrechte Flugel des Schmetterlings und das 
Harchen der Raupe unverbogen blieb: so sagt' ich: »Wir und 
dieses Raupchen stehen unter und in drei allmachtigen Meeren, 
unter dem Luftmeer, unter dem Wassermeer und unter dem elek- 
trischen Meere; gleichwohl sind die brausenden Wogen dieser 
Ozeane, diese Meilen-Wellen, die ein Land zerreiBen konnen, so 
geglattet, so bezahmet , daB der heutige Sabbat-Tag herauskommt, 
wo den breiten Flugel des Schmetterlings kein Luftchen ergreift 
oder um ein gefiedertes Staubchen berupft und wo das Kind so 10 
ruhig zwischen den Elementen-Leviathans tandelt und lachelt. - 
Wenn dies kein unendlicher Genius bezwungen hat, wenn wir 
diesem Genius keine Zusammenordnung unsers kiinftigen Schick- 
sals und unserer kiinftigen Welt zutrauen -«... 

O unendlicher Genius der Erde! an deinen Busen wollen wir 
unsre kindlichen Augen schmiegen, wenn sich der Sturm von der 

Kette losreiBet an dein allmachtiges heiBes Herz wollen wir- 

zuriicksinken, wenn uns der eiserne Tod einschlafert, indem er 
vorbeigeht! - 

So wandelten wir unschuldig-zufrieden, ohne Hastigkeit und 20 
Heftigkeit den Wellen zu, die an Fenks Landhaus spulten. Son- 
derbar ists, es gibt Tage, wo wir freiwilligunser stilles fort-vibrie- 
rendes Vergniigen von den aufiern Gegenstanden uns zureichen 
lassen (wodurch wir ungewohnlich gegen echten Stoizismus ver- 
stoBen); - noch sonderbarer ists, daB manche Tage dieses wirk- 
lich tun. — Ich meine das: ein gewisses leises wellen-glattes Zu- 
friedensein - nicht verdient durch Tugend, nicht erkampft durch 
Nachdenken - wird uns zuweilen von dem Tage, von der Stunde 
beschert, wo alle die jammerlichen Kleinigkeiten und Fransen, 
woraus unser ebenso kleinliches als kleines Leben zusammenge- 30 
naht ist, mit unsern Pulsen einstimmen und unserem Blute nicht 
entgegenflieBen - z.B. wo (wie heute geschah) der Himmel un- 
bewolkt, der Wind im Schlaf, der Fahrmann, der nach Teidor 
bringt, bei der Hand, der Herr des Landhauses, Doktor Fenk, 
schon vor einer Stunde gegenwartig, das Wasser eben, das Boot 
trocken, der Anlandung-Hafen tief und alles recht ist.... Wahr- 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 403 

haftig wir sind alle auf einen so narrischen FuB gesetzt, daB es zu 
den Menschenfreuden, woriiber der Zerbster Konsistorialrat Sin- 
tents zwei Bandchen abgefasset, mit gerechnet werden kann - in 
Deutschland; aber in Italien und Polen weit weniger -, zuweilen 

einen oder den andern Fldh zu greifen Will man also einen 

solchen paradiesischen Tag erleben: so muB nicht einmal eine 
Kleinigkeit, iiber die man in stoisch-energischen Stunden weg- 
schreitet, im Wege Hegen; so wie sich iiber die Sonne, wenn ein 
Brennspiegel sie herunterholen will, nicht das diinnste Wolkchen 

10 schieben darf . . . . Ich bin jetzt im Feuer und versichere, ich kann 
mir unmoglich etwas Narrischeres denken als unser Leben, unsere 
Erde, uns Menschen und unsre Bemerkung dieser Narrheit.... 

Der indische Ozean war ein larrnender Marktplatz wie ein sine- 
sischer Strom, uberall bewegte sich auf ihm Freude, Leben und 
Glanz, von seiner Oberflache bis zu seinem Grunde, wo die zweite 
Halbkugel des Himmels mit ihrer Sonne zitterte. Im Landhause 
waren die Wande weiB, weil fiir einen Menschen (sagte Fenk), 
welcher aus der in lauter Feuer und Lichtern stehenden Natur in 
eine enge Klause tritt, kein Kolorit dieser Klause hell genug sein 

20 konne, um einen traurigen beschrankten Eindruck abzuwenden. 
Alsdann ruhten wir aus, indem wir von einer beschatteten Gras- 
bank der Insel zur andern gingen, von Birkenblattern und indi- 
schen Wellen angefachelt - dann musizierten - dann dinierten 
wir, erstlich am Tische eines Wirtes, der auf eine lustige Art fein 
und delikat zu sein weiB, zweitens vor den in alle Weltgegenden 
aufgeschlossenen Fenstern, die uns noch mehr in alle Strudel der 
freudigen Natur hineindrehten, als waren wir drauBen gewesen, 
und drittens jeder von uns mit einer Hand, welche die weiche 
Beere des Vergniigens abzunehmen weiB, ohne sie entzweizu- 

30 driicken. - Ottomar kommt abends - die zwei Madchen haben 
unter Blumen und der gliickliche Gustav unter Schatten sich ver- 
loren - der Lebensbeschreiber liegt hier wie der Jurist Bartolus 
auf dem hebenden Grase und schildert alles - Fenk ordnet auf 
Abend an. - Erst abends tritt das Vollicht unserer heutigen Freude 
ein; und ich danke dem Himmel, daB ich jetzt mit meiner bio- 
graphischen Feder nachgekommen bin und niemals mehr weiB, 



404 DIE UNSICHTBARE LOGE 

als ich eben berichte: anstatt dafi ich bisher immer mehr wuBte 
und mir den biographischen GenuB der freudigsten Szenen durch 
die Kenntnis der traurigen Zukunft versalzte. So aber konnt' in 
der nachsten Viertelstunde uns alle das Weitmeer ersaufen : in der 
jetzigen lachelten wii* in dasselbe hinein; 

Da ich so ruhig bin und nicht spazieren gehen mag: so will ich 
iiber das Spazieren gehen, das so oft in meinem Werke vorkommt, 
nicht ohne Scharfsinn reden. Ein Mann von Verstand und Logik 
wiirde meines Bediinkens alle Spazierer, wie die Ostindier, in 
vier Kasten zerwerfen. 10 

In der I.Kaste laufen die jammerlichsten, die es aus Eitelkeit 
und Mode tun und entweder ihr Gefuhl oder ihre Kleidung oder 
ihren Gang zeigen wollen. 

In der ILKaste rennen die Gelehrten und Fetten, um sich eine 
Motion zu machen, und weniger, um zu genie Ben, als um zu ver- 
dauen, was sie schon genossen habe; in dieses passive unschuldige 
Fach sind auch die zu werfen, die es tun ohne Ursache und ohne 
GenuB, oder als Begleiter, oder aus einem tierischen Wohlbeha- 
gen am schonen Wetter. 

Die III. Kaste nehmen diejenigen ein, in deren Kopfe die Augen 20 
des Landschaftmalers stehen, in deren Herz die groBen Umrisse 
des Weltali dringen, und die der unermeBlichen Schonheitlinie 
nachblicken, welche mit Efeufasern um alle Wesen fliefiet und 
welche die Sonne und den Bluttropfen und die Erbse rundet und 
alle Blatter und Friichte zu Zirkeln ausschneidet. — O wie wenig 
solcher Augen ruhen auf den Gebirgen und auf der sinkenden 
Sonne und auf der sinkenden Blume! 

Eine IV. bessere Kaste, dachte man, konnt* es nach der dritten 
gar nicht geben : aber es gibt Menschen, die nicht bloB ein artisti- 
sches, sondern ein heiliges Auge auf die Schopfung fallen lassen - 30 
die in diese bliihende Welt die zweite verpflanzen und unter die 
Geschopfe den Schopfer - die unter dem Rauschen und Brausen 
des tausendzweigigen, dicht eingelaubten Lebensbaums nieder- 
knien und mit dem darin wehenden Genius reden wollen, da sie 
selber nur geregte Blatter daran sind - die den tiefen Tempel der 
Natur nicht als eine Villa voll Gemalde und Statuen, sondern als 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 405 

eine heilige Statte der Andacht brauchen - kurz, die nicht bloB 
mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren gehen .... 
Ich weiB kein groBeres Lob, als daB ich von solchen Menschen 
leicht auf unser liebendes Paar hiniibergleiten kann - die Liebe 
desselben ist ein solcher Spaziergang, das Leben der hohen Men- 
schen ist auch ein solcher. - Ich will nur noch, eh' ich mich vom 
erdruckten Gras aufrichte, so viel bemerken, daB Gustavs Liebe 
ganz in die Realdefinition einpasset, die von ihr in einer schwarme- 
rischen Sommer-Mitternacht zu machen ist - Die edelste Liebe 

10 (kann man definieren) ist bloB die zarteste, tiefste, festeste Ach- 
tung, die sich weniger durch Tun als durch Unterlassen offen- 
baret, die sich wechselseitig errat, die auf beide Seelen (bis zum 
Erstaunen) die namlichen Saiten zieht, die die edelsten Emprm- 
dungen mit einem neuen Feuer hoher tragt, die immer aufopfern, 
nie bekommen will, die der Liebe gegen das ganze Geschlecht 
nichts nimmt, sondern alles gibt durch das Einzelwesen; diese 
Liebe ist eine Achtung, in welcher der Druck der Hande und der 
Lippen sehr entbehrliche Bestandteile sind und gute Handlungen 
sehr wesentliche; kurz eine Achtung, die vom groBern Teile der 

10 Menschen ausgehohnet und vom kleinsten tief geehret werden 
muB. Eine solche herzerhohende Achtung war Gustavs Liebe, 
welche edle Augenzeugen nicht nur vertrug, sondern auch er- 
freuete und warmte, weil sie ohne jenes unschuldig-sinnliche Ge- 
tandel mit Lippen und Handen war, woran der Zuschauer gerade 
so viel Anteil wie an rolIenmaBigen theatralischen Viktualien der 
Schauspieler nehmen kann. - Ein Zeichen der tugendhaften Ach- 
tung oder Liebe ist dies, wenn der Zuschauer desto mehr Anteil 
daran nimmt, je groBer sie ist. Gustavs Liebe hatte - seit seinem 
Petrus-Falle und noch mehr seit der Vergebung dieses Falls (denn 

o viele Fehler fuhlt man erst am tiefsten, wenn sie verziehen sind) - 
einen solchen Zusatz von Zartheit, von Zuriickhaltung, von Be- 
wuBtsein des fremden Werts gewonnen, daB er sich mehre Her 
zen gewann als das wekhste, und andre Augen beherrschte als die 
schonsten an Beaten, vor denen seine Blicke, wie Schneerlocken 
unter der nackten Sonne im Blauen, rein, schimmernd, zitternd 
und zerrinnend niederfielen. — 



406 DIE UNSICHTBARE LOGE 

— Eben langt alles an, Ottomar und die andern. 

Meine Uhr schlagt zwei Uhr nach Mkternacht, und noch ist 
Beatens und des Paradieses Wiegenfest nicht beschlossen: denn 
ich setze mich jetzt her, es zu beschreiben; wenn ich anders auf 
dem Stuhl bleibe und nicht wieder in das blaue Gewolbe, das iiber 
so viele heutige Freuden seine Sternenstrahlen warf, hinausirre. 

Gegen Abend flog Ottomar iiber das Wasser heriiber. Er sieht 
immer aus wie ein Mann, der an etwas Weites denkt, der jetzt nur 
ausruhet, der die hereinhangende Blume der Freude abbricht, weil i< 
ihn seine fliehende Gondel vor ihr voriiberreiBet, nicht weil er da- 
ran denkt. Er hat noch seine erhaben-leise Sprache und sein Auge, 
das den Tod gesehen. Immer noch ist erein Zahuri 1 , der durch 
alles Blumengeniste und alle Graspartien der Erde durchschauet 
und zu den unbeweglichen Toten hinabsieht, die unter ihr liegen* 
So sanft und sturmisch, so humoristisch und melancholisch, so 
verbindlich und unbefangen und frei! Er behauptete, die meisten 
Laster kamen von der Flucht vor Lastern - aus Furcht, schlimm 
zu handeln, taten wir nichts und hatten zu nichts GroBem mehr 
Mut - wir hatten alle so viel Menschenliebe, daB wir keine Ehre « 
mehr hatten - aus Menschen-Schonung und Liebe hatten wir kei- 
ne Aufrichtigkeit, keine Gerechtigkeit, wir stiirzten keinen Be- 
triiger, keinen Tyrannen etc. 

Ihn wunderte Beata, die nicht den gewohnlich erzwungenen, 
sondern steigenden Anteil an unsern Reden nahm ; denn er glaubt, 
mit einer Frau konne man von Himmel und Holle, von Gott und 
Vaterland sprechen, so denke sie doch unter dem ganzen Horen 
an nichts als an ihre Gestalt, ihr Stehen, ihren Anzug. »Ich nehme«, 
sagte Fenk, »erstlich alles aus, und zweitens auch die Physiogno- 
mik; auf diese horchen alle, weil sie alle sie sogleich gebrauchen 3< 
konnen.« 

Der magische Abend trieb immer mehr Schatten vor sich vor- 
aus; er nahm endlich alle Wesen auf seinen wiegenden SchoB und 
legtesie an sich, um sie ruhig, sanft und froh zu machen. Wir 

1 Die Zahuri in Spanien sehen durch die verschlossene Erde hindurch bis 
zu ihren Schatzen hinab, zu ihren Toten, zu ihren Metallen etc. 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 407 

funf Eilander wurden es auch. Wir gingen samtlich hinaus auf 
eine kleine kiinstliche Anhohe, urn die Sonne bis zur Treppe zu 
begleiten, eh* sie iiber Ozeane nach Amerika hinabschifft. Plotz- 
lich ertonten driiben in einer andern Insel fiinf Alphorner und 
gingen ihre einfachen Tone ziehend auf und ab. Die Lage wirkt 
mehr auf die Musik, als die Musik auf die Lage. In unserer Lage 
- wo man mit dem Ohr schon an der Alpenquelle, mit dem Auge 
auf der am Abend iibergoldeten Gletscherspitze ist und um die 
Sennenhiitte Arkadien und Tempe und Jugend-Auen lagert, und 

[0 wo wir diese Phantasien vor der untergehenden Sonne und nach 
dem schonsten Tage fliegen lieBen - da folgt das Herz einem Alp- 
horn mit groBern Schlagen als einem Konzertsaale voll geputzter 
Zuhorer. - O das EinlaBblatt zur Freude ist ein gutes, und dann 
ein ruhiges Herz ! - Die dunkeln wolkigen durchschimmerten Be- 
griffe, die der Weltweise von alien Empfindungen verlangt, mus- 
sen langsam iiber die Seele ziehen oder ganzlich stehen, wenn sie 
sich vergniigen soil; so wie Wolken, die langsam gehen, schones 
Wetter, und fliegende schlimmes bedeuten. »Es gibt«, sagte Beata, 
»tugendhafte Tage, wo man alles verzeiht und alles iiber sich ver- 

20 mag, wo die Freude gleichsam im Herzen kniet und betet, daB sie 
langer dableibe, und wo alles in uns ausgeheitert und beleuchtet 
ist; - wenn man dann vor Vergniigen dariiber weint: so wird 
dieses so groB, daB alles wieder vorbei ist.« 

»Ich«, sagte Ottomar, »werfe mich lieber in die schaukelnden 
Arme des Sturms. Wir genieBen nur blinkende, gliihende Augen- 
blicke; diese Kohle muB heftig herumgeschleudert werden, damit 
der brennende Kreis der Entziickung erscheine.« 

»Und doch«, sagt* er, »bin ich heute so froh vor dir, untersinken- 
de Sonne!... Je froher ich in einer Stunde, in einer Woche war, 

50 desto mehr stiirmte dann die folgende - Wie Blumen ist der 
Mensch : je heftiger das Gewitter werden wird, desto mehr Wohl- 
geriiche verhauchen sie vorher.« 

»Sie miissen uns nicht mehr einladen, Herr Doktor«, sagte 
lachelnd Beata, aber ihr Auge schwamm doch in etwas mehr als in 
Freude. 

Unter dem Rotauf legen des Himmels trat die Sonne ; auf ihre 



408 DIE UNSICHTBARE LOGE 

letzte Stufe, von farbigen Wolken umlagert. Die Alphorner und 
sie verschwanden im namlichen Nu. Eine Wolke um die andere 
erblaBte, und die hochste hing noch durchgluhet herab. Beata und 
meine Schwester scherzten weiblich dariiber, was diese illumi- 
nierten Nebel wohl sein konnten .- Die eine machte daraus Weih- 
nachtschafchen mit rosenroten Bandern, eine rote Himmelscharpe 
- die andre feurige Augeri oder Wangen unter einem Schleier - 
rote und weiBe Nebel-Rosen - einen roten Sonnenhut usw. . . . 

Punsch, denk' ich, wurde endlich fiir die Herren gebracht, von 
denen einer ihn in soldier MaBigkeit zu sich nahm, daB er noch u 
um 2 1 /, Uhr seinen Sektor setzen kann. Wir wandelten dann unter 
dem kiihlenden rauschenden Baum des Himmels, dessen Bliiten 
Sonnen und dessen Fruchte Welten sind, hin und her. Das Ver- 
gnugen fiihrte uns bald auseinander, bald zueinander, und jeder 
war gleich sehr fahig, ohne und durch Gesellschaft zu genie Ben, 
Beata und Gustav vergafien aus Schonung iiber die fremde Liebe 
und Freude ihre besondere und waren unter lauter Freunden sich 
auch nur Freunde. O predigt doch blofi die Traurigkeit, die das 
Herz so dkk wie das Blut macht, aber nicht die Freude aus der 
Welt, die in ihrem Taumeltanz die Arme nicht bloB nach einem * 
Mittanzer, sondern auch nach einem wankenden Elenden aus- 
streckt und aus dem Jammer-Auge, das ihr zusieht, voriiber- 
fliehend die Trane nimmt! - Heute wollten wir einander alles ver- 
zeihen, ob wir gleich nichts zu verzeihen fanden. Es war nichts 
zu vergeben da, sag* ich; denn als ein Stern um den andern aus der 
schattierten Tiefe herausquoll und als ich und Ottomar vor einer 
schlagenden Nachtigall umgekehret waren, um durch die Ent- 
fernung den gedampften Lautenzug ihrer Klagen anzuhoren, und 
als wir einsam, von lauter Tonen und Gestalten der Liebe um- 
geben, nebeneinander standen und als ich mich nicht mehr halten 3° 
konnte, sondern unter dem groBen jetzigen und kiinftigen Him- 
mel mein Herz dem zeigte, dessen seines ich langst gesehen und 
geliebt:sowarsoetwaskein Verzeihen und Versohnen, sondern... 
Davon ubermorgen! 

In veranderlichen Gruppen - bald die zwei Madchen allein, 
bald mit einem dritten, bald wir alle - betraten wir die in Gras 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 409 

umgekleideten Blumen und gingen zwischen zwei nebenbuhle- 
rischen Nachtigallen, wovon die eine unsre Insel, die andre die 

, nachste Insel besang und begeisterte. In diesem musikalischen 
Potpourri hatten die Blumenblatter die wohlriechenden Potpourri 
zugedeckt, aber alle Birkenblatter hatten die ihrigen aufgetan, und 
wir tellten uns mit Absicht auseinander, um nicht eilig aus unse- 
rem zauberischen Otaheiti abschiffen zu konnen. - 

Endlich gerieten wir zufallig unter einer Silberpappel zusammen, 
deren beschneiete Blatter durch den Glanz im Abend uns um sie 

o versammelt hatten. »Wir haben hohe Zeit zum Fortgehen!« sagte 
Beata, Allein da wirs wollten oder wollen muBten: so ging der 
Mond auf; hinter einem gegitterten Facher von Baumen schlug 
er so bescheiden, als er still iiber die blinde Nacht wegflieBet, seine 
Wolken-Augenlider auf, und sein Auge stromte, und er sah uns 
an wie die Aufrichtigkeit, und die Aufrichtigkeit sah auch ihn an. 
»Wollen wir nur« - sagte Ottomar, in dessen heiBer Freundschaft- 
Hand man gern jede weibliche entriet - »bleiben, bis es auf dem 
Wasser lichter wird und der Mond in die Taler hereinleuchten 
kann - wer weiB, wann wirs wieder so haben ?« .Endlich ftigt- er 

20 hinzu: »Ich und Gustav verreisen ohnehin morgen fruh, und das 
Wetter halt nicht mehr lange.« Es ist das siebenwochentliche un- 
bekannte Verreisen, von dem ich alle MutmaBungen, die es bisher 
so wichtig und ratselhaft vorstellten, gern hier zurucknehme. 

Wir blieben wieder; das Gesprach wurde einsilbiger, der Ge- 
danke vielsilbiger und das Herz zu voll, so wie uns der abnehmen- 
de Mond an der Aufgangschwelle auch voll vorkam. Wenn ein- 
mal eine Gesellschaft die Hand vom Turdrucker, woran sie sie 
schon hatte, wieder wegtut: so erregt dieser Aufschub die Er- 
wartung groBerer Vergnugungen, und diese Erwartung erregt 

30 Verlegenheit; - wir aber wurden bloB um einander stiller, ver- 
bargen unsere Seufzer iiber die Falkenfliigel frohlicher Stunden, 
und vielleicht brachte manches weggewandte Auge dem Monde 
das Opfer, das ihm der traurigste und der freudigste Mensch so 
schwer versagen kann .... 

Gerade jetzt drangte ich mich wieder hinaus in seine Strahlen 
und komme wieder an meinenSchreibtisch und danke dem Schleier 



4IO DIE UNSICHTBARE LOGE 

der Nacht, der um das Universum doppelt herumreicht, daB er 
auch uber den groBten Schmerzen und Freuden der Menschen 

sich faltet Wir waren also auf unserer Insel so schwermiitig 

stumm, wie an einer Pforte der frohlichen Ewigkeit; der lander- 
breite Friihling zog mit seiner Herrlichkeit - mit seinem gesunk- 
nen lauen Monde - mit seinem schillernden Venusstern - mit 
seiner erhabnen Mitternachtrote - mit seinen himmlischen Nach- 
tigallen vor fiinf Menschen voriiber; er warf und haufte in diese 
fiinf Obergliickliche seine Knospen und seine Bliiten und seine 
dammernden Aussichten und Hoffnungen und seine tausend Him- i< 
mel und nahm ihnen nichts dafiir weg als ihre Sprache. O Friih- 
ling I o du Erde Gottes! o du unumspannter Himmel! ach! regte 
sich heute doch in alien Menschen auf dir das Herz in freudigen 
Schlagen, damit wir alle nebeneinander unter den Sternen nieder- 
fielen und den heiBen Atem in eine Jubel-Stimme ergossen und 
alle Freuden in Gebete, und das hohe Herz nach dem hohen Him- 
melblau richteten und in der Entziickung nicht Kummer-, son- 
dern Wonne-Seufzer abschickten, deren Weg so lang zum Him- 
mel wie unserer zum Sarge ist! . . . Du bitterer Gedanke, oft unter 
lauter Ungliicklichen der Frohliche zu sein! - du siiBerer, unter *< 
lauter Gliicklichen der Betriibte zu sein! 

Endlich flossen vom Silberblick des steigenden Mondes die 
triibenden Schlacken hinweg; er stand wie eine unaussprechliche 
Entziickung hoher in der Nacht des Himmels, aus dessen Hinter- 
grund in den Vorgrund gemalt. Die Frosche durchschlugen wie 
eine Muhle die Nacht, und ihr forttonender vielstimmiger Larm 
hatte die Wirkung eines Schweigens. - O welcher Mensch, den 
der Tod zu einem iiber die Erde fliegenden Engel gemacht hatte, 
ware nicht auf sie niedergefallen und hatte unter irdischem Laub 
und auf der irdischen, vom Monde ubersilberten Erde (wie von der j< 
Sonne iibergoldeten) nicht an seinen verlassenen Himmel gedacht 
und an seine alten Menschen- Auen, seine alten Friihlinge hie- 
nieden und an seine vorigen Hoffnungen unter den Bliiten? - 

Ihr Rezensenten! vergebt mir nur heute und lasset mich fort- 
fahren! 

Endlich stiegen wir in die Gondel wie in einen Charons-Nachen 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 411 

ein, wir raumten entziickt und unwillig das buschige Ufer und 
den aus dem Wasser an seine Blatter aufgestrahlten Widerschein. 
Das groBte Vergnugen,der groBte Dank treiben nicht waagrechte, 
sondern senkrechte, ins Herz greifende versteckte Wurzeln; wir 
konnten also zu Fenk nicht viel sagen, der von der Freudenstatte 
heute nacht nicht weggeht. - Du Freund! der mir teurer als alien 
andern ist, vielleicht wenn alles stiller und der Mond hoher und 
reiner und die Nacht ewiger ist, gegen Morgen hin, wirst du zu 
weinen anfangen iiber beides, was die Erde dir gegeben, was sie 

o dir genommen. — Geliebter! wenn du es jetzt in dieser Minute 
tust: so tu* ich es ja auch! -... 

Mit unserem ersten Tritt ins Boot durchdrangen (wahrschein- 
lich auf Fenks Anordnung) die Alphorner wieder die Nacht; jeder 
Ton klang in ihr wie eine Vergangenheit, jeder Akkord wie ein 
Seufzer nach einem Friihling der andern Welt; der Nacht-Nebel 
spielte und rauchte iiber Waldern und Gebirgen und zog sich wie 
die Grenze des Menschen, wie Morgen wolken der kiinftigen Welt 
um unsere Friihlingerde. Die Alphorner verhallten wie die Stimme 
der ersten Liebe an unseren Ohren und wurden lauter in unsern 

o Seelen; das Ruder und das Boot schnitt das Wasser in eine glim- 
mende MilchstraBe entzwei; jede Welle war ein zitternder Stern; 
das wankende Wasser spiegelte den Mond zitternd nach, den wir 
lieber vertausendfaltigt als verdoppelt hatten Und dessen sanftes 
Lilienantlitz unter der Welle noch blasser und holder bliihte. - 
Umzingelt von vier Himmeln - dem oben im Blauen, auf der 
Erde, im Wasser und in uns - schifften wir durch schwimmende 
Bliiten hin. Beata saB am einen Ende des Bootes entgegengerichtet 
dem andern, dem Monde und dem Freund ihrer zarten Seele - ihr 
Blick glitt leicht zwischen dem Monde und ihm hinab und hinauf 

o - er dachte an seine morgendliche Reise und an seine langere Ge- 
sandtschaftreise und bat uns alle um schriftliche Denkmaler, da- 
mit er immer gut bleibe wie jetzt unter uns, und erinnerte Beata 
an ihr Versprechen, ihm auch eines zu geben. - Sie hatt' es schon 
geschrieben und gab es ihm heute beim Abschied. Der frohe Tag, 
der frohe Abend, die himmlische Nacht fullte ihre Augeri mit 
tausend Seelen und mit zwei Tranen, die stehen blieben. Sie deckte 



412 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und trocknete das eine Auge mit dem weiBen Tuche und sah 
Gustav mit dem zweiten rein und stromend an wie ein Spiegel- 

bild Du gute Seele dachtest, du verbargest auch das zweite 

Auge! - 

Endlich - o du ewiges unaufhorliches Endlich! - brach auch 
unsere silberne Wellen-Fahrt an ihrem Ufer. Das gegenuber- 
liegende lag ode und iiberschattet dort. Ottomar riB sich in der 
wehmiitigsten Begeisterung los, und unter dem Verklingen der 
Schweizer-Tone sagte mein erneuerter Freund: »Es ist wieder 
voriiber — alle Tone verhallen — alle Wellen versinken — die : 
schonsten Stunden schlagen aus, und das Leben verrinnt - Es 
gibt doch gar nichts, du weiter Himmel iiber uns, was uns fullet 
oder begliickt! - Lebt wohl! ich werde von euch Abschied neh- 
men auf meinem ganzen Weg hindurch.« 

Die Alpen-Echos klangen in die weite Nacht zuriick und fielen 
zu einem tonenden Hauche, der nicht der Erinnerung aus der 
Jugend, sondern aus der tiefen Kindheit glich. Wir schwankten, 
ausgefiillt vom GenuB, durch tauende Gestrauche und umge- 
biickte schlaf- und tautrunkne Fluren, aus denen wir entschlum- 
merte Blumen rissen, um morgen ihre zugefaltete Schlafgestalt ; 
zu sehen. Wir dachten an die sonnenlosen Pfade des heutigen 
Morgens; wir gingen ohne Laut vor dem zwerghaften Gartchen 
und Hauschen voriiber, und die Kinder und die brotbackende 
Frau wurden von den Todesarmen des Schlummers gedriickt und 
umflochten. Die Zeit hatte den Mond, wie einen Sisyphusstein, 
auf den Gipfel des Himmels gewalzet und lieB ihn wieder sinken.' 
In Osten stiegen Sterne, in Westen sanken Sterne, mitten im Him- 
mel zersprangen kleine von der Erde abgesandte Sternchen- aber 
die Ewigkeit stand stumm und groB neben Gott und alles verging 
vor ihr und alles entstand vor ihm. Das Feld des Lebens und der 
Unendlichkeit hing nahe und tief iiber uns, wie ein Blitz, herein, 
und alles GroBe, alles Oberirdische, alle Verstorbne und alle 
Engel hoben unsern Geist in ihren blauen Kreis und sanken ihm 
entgegen.... 

Wir traten endlich, ich an der Hand meiner Schwester, Gustav 
an Beatens Hand, stiller, voller, heiliger in unser kleines Lilienbad, 



DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR- 413 

als wir es am Morgen verlassen hatten. Gustav schied zuerst von 
mir und sagte: »In fiinf Tagen sehen wir uns wieder.« Beaten 
fuhrt' er ihrer Hiitte zu, die in Lunens Silberflammen loderte. Die 
weiBe Spitze der Pyramide auf dem Eremitenberge schimmerte 
tief entfernt iiber den langen griinenden Weg zum Tal und durch 
die Nacht heruber. - Neben dieser Pyramide hatten sich die zwei 
Glucklichen ihre Herzen zuerst gegeben, neben ihr ruhte ein 
Freund von seinem Leben aus, und ihre weiBe Spitze zeigte den 
Ort, wo sein Friihling schoner ist. - Sie horten die Blatter der 

10 Terrasse lispeln und den Lebensbaum, unter welchem sie nach 
dem Untergang der Sonne sich zum zweiten Mai ihre Seelen ge- 
geben hatten.... O ihr zwei Gberseligen und Guten! jetzo 
schopft ein guter Seraph fur euch eine Silber-Minute aus dem 
Freuden-Meere, das in einer schonern Erde liegt — auf diesem 
eilenden Tropfen blinkt die ganze Perspektive des Edens, worin 
der Engel ist; die Minute wird zu euch herunterrinnen, aber ach, 
so schnell wird sie voriibergehen! — 

Beata gab Gustav, als Wink zum Abschied, das begehrte Blatt 
- er driickte die Hand, aus der es kam, an seinen stillen Mund - er 

20 konnte weder Dank noch Lebewohl sagen - er nahm ihre zweite 
Hand, und alles rief und wiederholte in ihm : »Sie ist ja wieder dein 
und bleibt es ewig«, und er muBte weinen iiber seine Seligkeit. 
Beata sah ihm in sein uberstromendes Herz und ihres floB in eine 
Trane iiber und sie wufit' es noch nicht; aber als die Trane des 
heiligsten Auges auf die Rosenwange glitt und an diesem Rosen- 
blatte mit erzitterndem Schimmer hing - als seine fesselnde und 
ihre gefesselte Hande sie nicht trocknen konnten -als er mit sei- 
nem flammenden Angesicht, mit seiner iiberseligen zerspringen- 
den Brust die Zahre nehmen wollte und sich nach dem Schqnsten 

*o auf der Erde wie eine Entzuckung nach der Tugend neigte und 
mit seinem Gesicht das ihrige beriihrte: dann fiihrte der Engel, 
der die Erde liebt, die zwei frommsten Lippen zu einem unaus- 
loschlichen Kusse zusammen - dann versanken alle Baume, ver- 
gingen alle Sonnen, verflogen alle Himmel, und Himmel und 
Erde hielt Gustav in einem einzigen Herz an seiner Brust; - dann 
gingest du, Seraph, in die schlagenden Herzen und gabest ihnen 



414 DIE UNSICHTBARE LOGE 

die Flammen der uberirdischen Liebe - und du honest fliehen 
von Gustavs heiBen Lippen die gehauchten Laute: »0 du Teure! 
Unverdiente! und so Gute! so Gute!« 

Es sei genug - die hohe Minute ist voriibergeflossen - der Er- 
dentag schickt sein Morgenrot schon an den Himmel - mein Herz 
komme zur Ruhe, und jedes andre auch! 



VlERUNDFUNFZIGSTER ODER 6 tcr FrEUDEN-SeKTOR 
Tag nach dieser Nacht - Beatens Blatt - Merkwurdigkeit 

Ich bitte die Kritik um Verzeihung, wenn ich diese Nacht zu 
viele Metaphern und zu viel Feuer und Larm gemacht: ein Freu- 10 
den-Sektor (so wie die Kritik dariiber) muB sich dergleichen ge- 
fallen lassen, sobald einmal der Verfasser sich eine ahnliche Ober- 
fracht von Zitronensaure, Teebliite, Zuckerrohr und Arrak ge- 
fallen lasset, wie ich tat. 

Ich legte mich heute gar nicht nieder: die Vogel fingen schon 
wieder zu singen an, und als der Traum kaum das vergangne 
Schauspiel einige 4omal wieder vor den zugesunknen Augen auf- 
gefuhret hatte, macht* ich sie wieder auf, weil die Sonne mich um- 
flammte. 

Eine durchwachte und durchfreuete Nacht lasset einen Morgen zc 
zuriick, wo man in einer siiBen Abspannung weniger empfindet 
als phantasieret, wo die nachtlichen Tone und Tanze unsere innern 
Ohren immerfort anklingen, wo die Personen, mit denen wir sie 
verbrachten, in einem schonen Dammerlichte, das unsre Herzen 
zieht, vor unsern innern Augen schweben. In der Tat, man liebt 
nie eine Frau mehr als nach einer solchen Nacht, morgens eh* 
man gefruhstuckt. 

Ich dachte heute tausendmal an meinen Gustav, der vor Tage 
seine funftagige Reise angetreten, und an meinen festen Ottomar, 
der mit ihm geht. Mochtet ihr an keine Dornen kommen als solche, 3C 
die unter die Rose gesteckt sind, unter keine Wolke treten als die, 
die euch den ganzen blauen Himmel lasset und bloB die Glut- 



VIERUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 415 

Scheibe nimmt, und mochte euren Freuden keine fehlen als die, 
daB ihr sie uns noch nicht erzahlen konnet! 

Alles Sonnenlicht umzauberte und iiberwallte mir bloB wie er- 
hohtes Mondenlicht alle Schattengange von Lilienbad; die vorige 
Nacht schien mir in den heutigen Tag heriiberzulangen, und ich 
kann nicht sagen, wie mir der Mond, der noch mit seinem abge- 
wischten Schimmer wie eine Schneeflocke tief gegen Abend her- 
hing, so willkommen und lieb wurde, O blasser Freund der Not 
und der Nacht! ich denke schon noch an dein elysisches Schim- 

ao mern, an deine abgekuhlten Strahlen, womit du uns an Bachen 
und in Laubgangen begleitest und womit du die traurige Nacht in 
einen von weiten gesehenen Tag umkleidest! Magischer Pro- 
spektmaler der kiinftigen Welt, fur die wir brennen und weincn; 
wie ein Gestorbner sich verschonert, so malest du jene auf unsre 
irdische, wenn sie mit alien ihren Blumen und Menschen schlaft 
oder schweigend dir zusieht! - 

Ich gabe heute die vornehmste Visite darum, wenn ich eine bei 
den Glucklichen des gestrigen Tages machen konnte; es ist aber 
nicht zu tun. Sogar Beata hat heute eine von ihrer Mutter ; und mein 

a* Auge konnte noch nichts von ihr habhaft werden als die funf wei- 
Ben Finger, womit sie einen Blumentopf an ihrem Fenster aus dem 
Schatten eines Zweiges wegdrehte. O wenn unser altes Leben und 
unsre Wandelgange wieder anheben und alles wieder beisammen- 
lebt: was solldadieGelehrten-Republiknicht zulesenbekommen! 
Heute reich' ich ihr nichts mehr als Beatens Geleitbrief an 
Gustav, weil ich ihn nur abzuschreiben brauche. Ich schliipfe dann 
wieder ins Freie, beschiffe nach der Seekarte meines Kopfes den 
gestrigen Weg noch einmal, und indem ich die verzettelten Blu- 
men, die gestern unsre vollen Hande fallen liefien, als Nachflor 

30 auflese, find' ich die hohern auch. - Man wird einige Stellen im 
folgenden Aufsatze Beaten verzeihen, wenn ich voraussage, daB 
sie - vielleicht durch ihr Herz so gut wie durch ihren Vater uber- 
listet, der nur ein auBerlicher Renegat des Katholizismus war - 
von den Engeln und ihrer Anbetung mehr glaubte, als Nicolai 
und die Schmalkaldischen (Waren-) Artikel einer Lutheranerin 
verstatten konnen. Denn das schwache und so oft hiilflose 



4I<> DIE UNSICHTBARE LOGE 

Weib, das nicht weit iiber diese Erde zu steigen wagt, legt in der 
Stunde der Not so gern ihre Bitten und ihre Seufzer vor einer 
Marie, vor einer Seligen, vor einem Engel nieder; aber der festere 
Mann wird nachsichtig einen Wahn nicht rtigerr, der so trosten 
kann. - 

Wiinsche fur meinen Freund 

»Es ist kein Wahn, da 8 Engel um den bedrohten Menschen mitten in 
ihren Freuden wachen, wie die Mutter unter ihren Freuden und Ge- 
schaften ihre Kinder hiitet. O! ihr unbekannten Unsterblichen! 
schlieBet euchein einziger Himmelein? - Dauert euch nie der wehr- « 
lose Erdensohn? - Solltet ihr groBere Tranen abzutrocknenhaben 
als unsre ?- Ach, wenn der Schopfer seine Liebe so in euch wie in uns 
gelegt hat, so sinkt ihr gewiB auf diese Erde und trostet das um- 
stiirmte Herz unter dem Monde, fliegt um die gedruckte Seele, deckt 
eure Hand aufdieversiegendeWunde und denkt an die armen Men- 
schen ! 

Und wenn hienieden ein Geist geht, der euch einmal gleichen 
wird, konnt ihr euren Bruder vergessen? - Engel der Freude! sei 
mit meinem und deinem Freurute, wenn die Sonne kommt, und 
laB Ihn schone fromme Morgen angriinen! Sei mit Ihm, wenn sie %< 
hoher geht und wenn Ihn die Arbeit driickt! - O nimm den ent- 
fernten Seufzer einer Freundin und kiihle damit Seinen! Sei mit 
Ihm, wenn die Sonne weicht, und richte Sein Auge auf den im 
weiBen Trauergewand aufsteigenden Mond und auf den weiten 
Himmel, worin der Mond und du gehen! - 

Engel der Tranen und der Geduld ! Du, der du ofter um den 
Menschen bist! Ach, vergesse mein Herz und mein Auge und laB 
sie bluten - sie tun es doch gern -; aber stille, wie der Tod, das 
Herz und das Auge meines Freundes und zeig ihneirauf der Erde 
nichts als den Himmel jenseits der Erde. - Ach, Engel der Tranen 3 < 
und der Geduld! Du kennst das Auge und das Herz, das sich fur 
Ihn ergieBet, du wirst Seine Seele vor sie bringen, wie man Blu- 
men in den Sommerregen stellet! Aber tu es nicht, wenn es Ihn zu 
traurig macht ! O Engel der Geduld ! ich liebe dich, ich kenne dich ! 
ich werde in deinen Armen sterben ! 



VIERUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 417 

Engelderi r re«rt£/jcAa/if/-vielleichtbistdudervorigeEngel? 

ach! Dein himmlischer Fliigel hulle Sein Herz ein und warm* 

es schoner, als die Menschen konnen - ach, du wiirdest auf einer 
andern Erde und ich auf dieser weinen, wenn an einem kalten 
Herzen Sein heiBes, wie am gefrierenden Eisen die warme Hand, 
anklebte und blutig abrisse!.... O bedeck Ihn; aber wenn du es 
nicht kannst, so sag mir Seinen Jammer nicht! 

O ihr immer Glucklichen in andern Welten! euch stirbt nichts, 
ihr verliert nichts und habt alles! - Was ihr liebt, druckt ihr an 

10 eine ewige Brust, was ihr habt, haltet ihr in ewigen Handen. - 
Konnt ihrs denn fuhlen in euren glanzenden Hohen droben, in 
eurem ewigen Seelenbunde, daB die Menschen hienieden getrennt 
werden, daB wir einander nur aus Sargen, eh* sie untersinken, die 
Hande reichen, ach, daB der Tod nicht das einzige, nicht das 
Schmerzhafteste ist, was Menschen scheidet? - Eh' er uns ausein- 
andernimmt, so drangt sich noch manche kaltere Hand herein und 
spaltet Seele von Seele — dann flieBet ja auch das Auge, und das 
Herz fallt klagend zu, ebensogut als hatte der Tod zertrennt, wie 
in der volligen Sonnenfinsternis so gut wie in der langern Nackt 

w der Tau sinkt, die Nachtigall klagt, die Blume zuquillt! 

- Alles Gute, alles Schone, alles, was den Menschen begluckt 
und erhebt, sei mit meinem Freunde; und alle meine Wiinsche 
vereinigt mein stilles Gebet. 

Ich tue sie alle mit, nicht bloB fur Gustav, sondern fur jeden Gu- 
ten, den ich kenne, und fur die andern auch.« 



Ob es gleich schon eilf Uhr nachts ist : so muB ich dem Leser doch 
etwas Melancholisch-Schones melden, das eben voruberzog, Ein 
singendes Wesen schwebte durch unser Tal, aber von Blattern und 
Dammerung verdeckt, weil der Mond noch nicht auf war. Es sang 
o schoner, als ich noch horte: 

— Niemand, nirgends, nie. 

— Die Trane, die fallt. 

— Der Engel, der Ieuchtet. 



41 8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

— Es schweigt. 

— Es leidet. 

— Es hofft. 

— Ich und Du! 

Offenbar fehlet jeder Zeile die Halfte, und jeder Antwort die 
Frage. Es fiel mir schon einige Male ein, daB der Genius, der un- 
sern Freund unter der Erde erzog, ihm beim Abschiede Fragen 
und Dissonanzen dagelassen, deren Antworten und Auf Idsungen 
er mitgenommen; ich denk', ich nab' es dem Leser auch gesagt. 
Ich wollte, Gustav ware da. Aber ich habe nicht den Mut, mir die 
Freude auszudenken, daB auch der Genius sich in unsre Freuden- 
Girlande zu Lilienbad eindrange ! - Ich hore noch immer die ge- 
zognen Flotentone aus diesem unbekannten Busen hinter den 
Bliiten klagen; aber sie machen mich traurig. Hier Hegen die 
ewig schlafenden Blumen, die ich heute auf dem Steige unsrer 
letzten Nacht zusammentrug, neben aufgefalteten wachenden, die 
ich erst ausriB - sie machen mich auch traurig. - Es gibt fur mich 
und meine Leser nichts Notigeres, als jetzt einen neuen Freuden- 
Sektor anzuheben, damit wir unser altes Leben fortsetzen. . . . 

O Lilienbad ! du bist nur einmal in der Welt; und wenn du noch ; 
einmal vorhanden bist, so heiBest du V-zka. 



Letzter Sektor 

ttttttttt 

Wir ungliicklichen Brunnengaste! Es ist vorbei mit den Freu- 
den in Lilienbad. - Die obige Oberschrift konnte noch mein Bru- 
der machen, eh' er nach MauBenbach forteilte ! Denn Gustav Hegt 
da im Gefangnis. Es ist alles unbegreif lich. Meine Freundin Beata 
unterliegt den Nachrichten, die wir haben und die im folgenden 
Briefe vom Herrn Doktor Fenk an meinen Bruder heute ankamen. 
Es ist schmerzhaft fiir eine Schwester, daB sie allzeit bloB in 
Trauerfallen die Feder fur den Bruder nehmen muB. Wahrschein- 
lich wird die folgende Hiobspost dieses ganze Buch so wie unsere 
bisherigen schonen Tage beschlieBen. 



LETZTER SEKTOR 419 

»Ich will dich, mein teuerer Freund, nicht wie ein Weib schonen, 
sondern dir auf einmal den ganzen auBerordentlichen Schlag er- 
zahlen, der unsere gliicklichen Stunden getroffen hat und am 
meisten die unserer beiden Freunde. 

Drei Tage nach unserer schonen Nacht - erinnerst du dich noch 
an eine gewisse Bemerkung von Ottomar uber die Gefahrlichkeit 
der Entziickungen? - will der Professor Hoppedizel seinen un- 
besonnenen SpaB ausfuhren, im MauBenbachschen Schlosse ein- 
zubrechen. Der pfiffige Jager Robisch war gerade nicht zu Hause, 

10 sondern mit deinem Vorfahrer, dem Regierungrat Kolb, auf einer 
Streiferei nach Diebgesindel, bei der sie aus Lust mitzogen. Be- 
merke, eine Menge Umstande und Personen verkniipfen sich hier, 
die schwerlich der Zufall zusammengeleitet hat. 

Der Professor kommt mit sechs Kameraden und hat eine Leiter 
mit, um sie an dem seit Jahren zerbrochnen Fenster, das nach 
Auenthal hiniibersieht, anzulegen. Aber als er unter das Fenster 
tritt : steht schon eine daran. Er nimmts fiir den besten Zufall, und 
sie steigen samtlich, beinahe hintereinander, hinauf. Oben langt 
eine Hand eine silberne Degenkuppel heraus und will sie geben - 

to der Professor ergreift beide und springt uber das Fenster hinein. 
Darin war, was er schien, ein Dieb, welcher Handlanger auf der 
Leiter erwartete. Der diebische Realist fallt den Nominalisten mit 
wiitender Verzweiflung an - die Galerie auf der Leiter stiirzet gar 
nach und vermehrt das fechtende Gewimmel. Die StoBe auf dem 
FuBboden larmen den horchenden Roper weniger aus seinem 
Schlafe als Bette auf- er sein ganzes Haus, und dieses seinen Ge- 
richtdiener - es kurz zu sagen : in wenigen Minuten hatt* er mit 
der Wut, womit der Geizige seine Giiter rettet und halt, die spaB- 
haften Diebe und den ernsthaften zu Gefangnen gemacht, der 

o wahre Dieb mochte noch so sehr um sich schlagen und der Pro- 
fessor noch so sehr disputieren. Jetzo sitzt alles fest und wartet 
auf dich. 

- Ach! haltst du es aus - wenn ich dir alles sage? Die Streifer 
Kolb und Robisch finden um MauBenbach die Bundgenossen des 
ertappten Diebs - dringen in den Wald - gehen einer Hohle zu, 
als wtiBten sie, daB sie zu etwas fuhre- finden eine unterirdische 



420 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Menschenwelt - O ! daB gerade du zu deinem Ungliick da ge- 
troffen werden muBtest, du Unschuldiger und Ungliicklicher! 
nun schlagt dein sanftes Herz auch an der Kerkerwand ! - soil ich 
dir deinen Freund Gustav nennen? — Eile, die, damit es sich an- 
ders wende ! 

Sieh! nicht bloB auf deine, auch auf meine Brust hat dieser Tag 
sich heftig geworfen. Haltst du es aus, wennichnochmehrsage?- 
dafi es nur ein Zufall ist, daB Ottomar noch lebt. — Ich brachte 
ihm die Nachricht unseres Unglucks. Mit einem schrecklichen 
Strauben seiner Natur, in der jede Fiber mit einem andern Schauer 10 
kampfte, hort' er mir zu und fragte mich, ob keiner mit seeks Fin^ 
gern gefangen genommen worden. >Ich habe in jener Waldhohle< 
(sagt* er) >einen schweren Eid getan, unsere unterirdische Ver- 
bindung niemand zu ofFenbaren, ausgenommen eine Stunde vor 
meinem Tode. Fenk, ich will dir jetzo die ganze Verbindung offen- 
baren.< - Mein Strauben und Flehen half nichts: er ofFenbarte mir 
alles. > Gustav muB gerechtfertiget werdem, sagt* er. - Aber diese 
Geschichte ist nirgends sicher, kaum im getreuesten Busen, ge- 
schweige auf diesem Papier. Ottomar wurde von seiner soge- 
nannten Vernicht-Minute angefallen. Ich lieB seine Hand nicht aus m 
meiner, damit er iiber seine Stunde hinauslebte und seinen Eid 
brache. - Es gibt nichts Hoheres als einen Menschen, der das 
Leben verachtet; und in dieser Hoheit stand mein Freund vor 
mir, der in seiner Hohle mehr gewagt und besser gelebt hatte als 
alle Scheerauer. - Ich sah es ihm an, daB er sterben wo lite. Es war 
Nacht. Wir waren in der Stube, wo die wachsernen Mumien mit 
schwarzen StrauBern stehen, die den Menschen erinnern, wie 
wenig er war, wie wenig er ist. >Beuge<, sagt' er (denn ich kettete 
mich an ihh), >deinen Kopf weg, daB ich in den Sirius sehe - daB 
ich in den unendlichen Himmel hinaussehe und einen Trost habe - 3 < 
daB ich mich hinwegsetze iiber eine Erde mehr oder weniger. - 
O mache mir, Freund, das Sterben nicht so sauer - und ziirne und 
traure nicht. - O schau, wie der ganze Himmel von einer Unend- 
lichkeit zur andern schimmert und lebt und nichts droben tot ist;— 
die Menschen aller dieser Wachs-Leichname wohnen darin in je- 
nem Blau - O ihr Abgeschiednen, heute zieh* ich auch zu euch, in 



LETZTER SEKTOR 42 1 

welche Sonne auch mein menschlicher Lichtfunke springen moge, 
wenn der Korper von ihm niederschmilzt : ich find' euch wieder.< - 
Das Ausschlagen jeder Viertelstunde hatte bisher mein Herz 
durchstochen; aber die letzte Viertelstunde tonte mich wie eine 
Leichenglocke an ; ich bewachte angstlich seine Hande und Schritte ; 
er fiel um mich. >Nein! nein!< sagt' ich, >hier ist kein Abschied - 
ich hasse dich bis ins Grab hinein, wenn du etwas im Sinne hast - 
umarme mich nicht.< - Er hatt' es schon getan; sein ganzes Wesen 
war ein schlagendes Herz; er wollte in der Empfindung der 

> Freundschaft vergehen ; er preBte seine Brust an meine, und seine 
Seele an meine: >Ich umarme dich< (sagt* er) >auf der Erde - in 
welche Welt auch der Tod mich werfe: ich vergesse deiner nicht; 
ich werde dort nach der Erde sehen und meine Arme ausbreiten 
nach dem irdischen Freunde, und nichts soil meine Arme fullen 
als die getreue, die belastete Brust derer, die mit mir hier gelitten, 
die mit mir hier die Erde getragen haben. . . . Sieh! du weinst und 
wolltest mich doch nicht umarmen I o Geliebter ! - an dir fuhT ich 
die Eitelkeit der Erde nicht — duwirstjaauchsterben! ... Grofies 
Wesen iiber der Erde. . . .< - Hier riB er sich von mir und sturzte 

10 auf seine Knie und betete. >Zerstor mich nicht, bestraf mich 

nicht! - ich gehe weg von dieser Erde; du weiBt, wo der Mensch 

ankommt; du weiBt, was das Erdenleben und das Erdentun ist - 

Aber, o Gott, der Mensch hat ein zweites Herz, eine zweite Seele, 

seinen Freund! Gib mir den Freund wieder mit meinem Leben - 

wenn einmal alle Menschenherzen stocken und alles Menschenblut 

in Grabern verfault : o gutiges, liebendes Wesen ! hauch dann iiber 

die Menschen und zeige der Ewigkeit ihre Liebe!< Ein Aufsprung 

- ein Flug an mich - eine umarmende Zerdruckung - ein Schlag 

an die Wand - ein SchuB aus ihr - 

*o Er lebt aber noch. _ , 

Fenk.« 



Leben des vergnugten Schulmeisterlein 
Maria Wutz in Auenthal 

Eine Art Idylle 

Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du 
vergniigtes Schulmeisterlein Wutz ! Der stille laue Himmel eines 
Nachsommers ging nicht mit Gewolk, sondern mit Duft um dein 
Leben herum: deine Epochen waren die Schwankungen unci dein 
Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blatter auf stehende 
Blumen flattern - und schon auBer dem Grabe schliefest du sanft! 

Jetzt aber, meine Freundej miissen vor alien Dingen die Stiihle 10 
um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie 
geriickt und die Vorhange zugezogen und die Schlafmutzen auf- 
gesetzt werden, und an die grand monde iiber der Gasse driiben 
und ans Palais royal mufl keiner von uns denken, bloB weil ich 
die ruhige Geschichte des vergnugten Schulmeisterlein erzahle - 
und du, mein lieber Christian, der du eine einatmende Brust fur 
die einzigen feuerbestandigen Freuden des Lebens, fur die haus- 
lichen, hast, setze dich auf den Arm des GroBvaterstuhls, aus dem 
ich herauserzahle, und lehne dich zuweilen ein wenig an mich! Du 
machst mich gar nicht irre. 20 

Seit der Schwedenzeit waren die Wutze Schulmeister in Auen- 
thal, und ich glaube nicht, daB einer vom Pfarrer oder von seiner 
Gemeinde verklagt wurde. Allemal acht oder neun Jahre nach der 
Hochzeit versahen Wutz und Sohn das Amt mit Verstand -unser 
Maria Wutz dozierte unter seinem Vater schon in der Woche das 
Abe, in der er das Buchstabieren erlernte, das nichts taugt. Der 
Charakter unsers Wutz hatte, wie der Unterricht anderer Schul- 
leutej etwas Spielendes und Kindisches; aber nicht im Kummer, 
sondern in der Freude. 

Schon in der Kindheit war er ein wenig kindisch. Denn es gibt 5° 
zweierlei Kinderspiele, kindische und ernsthafte - die ernsthaften 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 423 

sind Nachahmungen der Erwachsenen, das Kaufmann-, Soldaten-, 
Handwerker-Spielen - die kindischen sind Nachaffungen der 
Tiere. Wutz war beim Spielen nie etwas anders als ein Hase, eine 
Turteltaube oder das Junge derselben, ein Bar, ein Pferd oder gar 
der Wagen daran. Glaubt mir! ein Seraph fmdet auch in unsern 
Kollegien und Horsalen keine Geschafte, sondern nur Spiele und, 
wenn ers hoch treibt, jene zweierlei Spiele. 

Indes hatt' er auch, wie alle Philosophen, seine ernsthaftesten 
Geschafte und Stunden. Setzte er nicht schon langst - ehe die 

10 brandenburgischen erwachsenen GeistHchen nur fiinf Faden von 
buntem Oberzug umtaten - sich dadurch uber groBe Vorurteile 
weg, dafi er eine blaue Schurze, die seltner der geistliche Ornat als 
der in ein Amt tragende Dr.Fausts-Mantel guter Kandidaten ist, 
vormittags uber sich warf und in diesem himmelfarbigen MeB- 
gewand der Magd seines Vaters die vielen Siinden vorhielt, die 
sie um Himmel und Holle bringen konnten? - Ja er griff seinen 
eignen Vater an, aber nachmittags; denn wenn er diesem Cobers 
Kabinettprediger vorlas, wars seine innige Freude, dann und wann 
zwei, drei Worte oder gar Zeilen aus eignen Ideen einzuschalten 

zo und diese Interpolation mit wegzulesen, als sprache Herr Cober 
selbst mit seinem Vater. Ich denke, ich werfe durch diese Perso- 
nalie vieles Licht auf ihn und einen SpaB, den er spater auf der 
Kanzel trieb, als er auch nachmittags den Kirchgangern die Postille 
an Pfarrers Statt vorlas, aber mit so viel hineingespielten eignen 
Verlagartikeln und Fabrikaten, daB er dem Teufel Schaden tat 
und dessen Diener ruhrte. »Justel,« sagt* er nachher um 4 Uhr zu 
seiner Frau, »was weiBt du unten in deinem Stuhl, wie prachtig es 
einem oben ist, zumal unter dem KanzelliedeU 

Wir konnens leicht bei seinen altern Jahren erfragen, wie er in 

so seinen Flegeljahren war. Im Dezember von jenen lieB er allemal 
das Licht eine Stunde spater bringen, weil er in dieser Stunde seine 
Kindheit - jeden Tag nahm er einen andern Tag vor - rekapitu- 
lierte. Indern der Wind seine Fenster mit Schnee-Vorhangen ver- 
finsterte und indem ihn aus den Ofen-Fugen das Feuer anblinkte : 
druckte er die Augen zu und lieB auf die gefrornen Wiesen den 
langst vermoderten Fruhling niedertauen; da bauete er sich mit 



424 DIE UNSICHTBARE LOGE 

der Schwester in den Heuschober ein und fuhr auf dem architek- 
tonisch gewolbten Heu-Gebirge des Wagens heim und riet dro- 
ben mit geschlossenen Augen, wo sie wohl nun fuhren. In der 
Abendkiihle, unter dem Schwalben-Scharmuzieren iiber sich, 
schoB er, froh iiber die untere Entkleidung und das Deshabille der 
Beine, als schreiende Schwalbe herum und mauerte sich fur sein 
Junges - ein holzerner Weihnachthahn mit angepichten Federn 
wars t eine Kot-Rotunda mit einem Schnabel von Holz und trug 
hernach Bettstroh und Bettfedern zu Nest. Fiir eine andere palin- 
genesierende Winter- Abendstunde wurde ein prachtigerTnnita- ic 
tis (ich wollt', es gabe 365 Trinitatis) aufgehoben, wo er am 
Morgen, im tonenden Lenz um ihn und in ihm, mit lautendem 
Schliissel-Bund durch das Dorf in den Garten stolzierte, sich im 
Tau abkiihlte und das gliihende Gesicht durch die tropfende Jo- 
hannisbeer-Staude drangte, sich mit dem hochstarnmigen Grase 
maB und mit zwei schwachen Fingern die Rosen fiir den Herrn 
Senior und sein Kanzelpult abdrehte. An eben diesem Trinitatis - 
das war die zweite Schiissel an dem namlichen Dezember-Abend- 
quetschete er, mit dem Sonnenschein aufdemRucken,den Orgel- 
tasten den Choral »Gott in der Hoh* sei Ehr'<< ein oder ab (mehr *< 
kann er noch nicht) und streckte die kurzen Beine mit vergeb- 
lichen Naherungen zur Parterre-Tastatur hinunter, und der Vater 
riB fiir ihn die richtigen Register heraus. - Er wiirde die ungleich- 
artigsten Dinge zusammenschiitten, wenn er sich in den gedachten 
beiden Abendstunden erinnerte, was er im Kindheit-Dezember 
vornahm ; aber er war so klug, daB er sich erst in einer dritten dar- 
auf besann, wie er sonst abends sich aufs Zuketten der Fenster- 
laden freuete, weil er nun ganz gesichert vor allem in der lichten 
Stube hockte, daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden 
Fensterscheiben iiber die Laden hinausgelagerte Stube hineinsah; v 
wie er und seine Geschwister die abendliche Kocherei der Mutter 
ausspionierten, unterstiitzten und unterbrachen, und wie er und 
sie mit zugedriickten Augen und zwischen den Brustwehr-Schen- 
keln des Vaters auf das Blenden des kommenden Talglichts sich 
spitzten, und wie sie in dem aus dem unabsehlichen Gewolbe des 
Universums herausgeschnittenen oder hineingebauten Closet 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 425 

ihrer Stube so beschirmet waren, so warm, so satt, so wohl 

Und alle Jahre, sooft er diese Retourfuhre seiner Kindheit und des 
Wolfmonats darin veranstaltete, vergaB und erstaunt* er - sobald 
das Licht angeziindet wurde -, daB in der Stube, die er sich wie 
ein Loretto-Hauschen aus dem Kindheit-Kanaan heruberholte, er 
ja gerade jetzt saBe. '— So beschreibt er wenigstens selber diese Er- 
innerung- hohen-Opern in seinen Rousseaulschen Spa^iergangen, 

die ich da vor mich lege, um nicht zu lugen 

Allein ich schnure mir den FuB mit lauter Wurzelngeflecht und 

10 Dickicht ein, wenn ichs nicht dadurch wegreiBe, daB ich einen ge- 
wissen auBerst wichtigen Umstand aus seinem mannlichen Alter 
herausschneide und sogleich jetzo aufsetze; nachher aber soil or- 
dentlich a priori angefangen und mit dem Schulmeisterlein lang- 
sam in den drei aufstetgenden Zelchen der Alterstufen hinauf und 
auf der andern Seite in den drei niedersteigenden wieder hinab ge- 
gangen werden — bis Wutz am FuB der tiefsten Stufe vor uns ins 
Grab fallt. 

Ich wollte, ich hatte dieses Gleichnis nicht genommen. Sooft 
ich in Lavaters Fragmenten oder in Comenii orbis pictus oder an 

20 einer Wand das Blut- und Trauergeruste der sieben Lebens-Sta- 
tionen besah - sooft ich zuschauete, wie das gemalte Geschopf, 
sich verlangernd und ausstreckend, die Ameisen-Pyramide auf- 
klettert, drei Minuten droben sich umblickt und einkriechend auf 
der andern Seite niederfahrt und abgekiirzt umkugelt auf die um 
diese Schadelstatte liegende Vorwelt - und sooft ich vor das atmen- 
de Rosengesicht voll Fruhlinge und voll Durst, einen Himmel 
auszutrinken, trete und bedenke, daB nicht Jahrtausende, sondern 
Jahrzehende dieses Gesicht in das zusammengeronnene zerkniillte 
Gesicht voll uberlebter HofFnungen ausgedorret haben.... Aber 

30 indem ich iiber andre mich betrube, heben und senken mich die 
Stufen selber, und wir wollen einander nicht so ernsthaft machen! 
Der wichtige Umstand, bei dem uns, wie man behauptet, so 
viel daran gelegen ist, ihn voraus zu horen, ist namlich der, daB 
Wutz eine ganze Bibliothek - wie hatte der Mann sich eine kaufen 
konnen? - sich eigenhandig schrieb. Sein Schreibzeug war seine 
Taschendruckerei; iedes neue MeBprodukt, dessen Titel das 



426 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder 
gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt 
und schenkt* es seiner ansehnlichen Buchersammlung, die, wie die 
heidnischen, aus lauter Handschriften bestand. Z.B. kaum waren 
die physiognomischen Fragmente von Lavater da: so lieB Wutz 
diesem fruchtbaren Kopfe dadurch wenig voraus, daB er sein 
Konzeptpapier in Quarto brach und drei Wochen lang nicht 
vom Sessel wegging, sondern an seinem eignen Kopfe so lange 
zog, bis er den physiognomischen Fotus herausgebracht (- er 
bettete den Fotus aufs Biicherbrett hin -) und bis er sich dem ic 
Schweizer nachgeschrieben hatte. Diese Wutzische Fragmente 
iibertitelte er die Lavaterschen und merkte an: »er hatte nichts 
gegen die gedruckten; aber seine Hand sei hoffentlich ebenso 
leserlich, wenn nicht besser als irgendein Mittel-Fraktur-Druck.« 
Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt 
und oft das meiste daraus abdruckt: sondern er nahm gar keines 
zur Hand. Daraus sind zwei Tatsachen vortrefflich zu erklaren: 
erstlich die, daB es manchmal mit ihm haperte und dafi er z. B. im 
ganzen Federschen Traktat iiber Raum und Zeit von nichts han- 
delte als vom SchirTs-i?cz«/rc und der Ze'u, die man bei Weibern 20 
Menses nennt. Die zweite Tatsache ist seine Glaubenssache : da 
er einige Jahre sein Biicherbrett auf diese Art voll geschrieben und 
durchstudieret hatte, so nahm er die Meinung an, seine Schreib- 
bucher waren eigentlich die kanonischen Urkunden, und die ge- 
druckten waren bloBe Nachstiche seiner geschriebnen; nur das, 
klagt' er, konn' er - und boten die Leute ihm Balleien dafiir an - 
nicht herauskriegen, wienach und warum der Buchfiihrer das Ge- 
druckte allzeit so sehr verfalsche und umsetze, daB man wahr- 
haftig schworen sollte, das Gedruckte und das Geschriebne hatten 
doppelte Verfasser, wiiBte man es nicht sonst. 3° 

Es war einfaltig, wenn etwa ihm zum Possen ein Autor sein 
Werk griindlich schrieb, namlich in Querfolio - oder witzig, nam- 
lich in Sedez : denn sein Mitmeister Wutz sprang den Augenblick 
herbei und legte seinen Bogen in die Quere hin, oder krempte ihn 
in Sedezimo ein. 

Nur ein Buch lieB er in sein Haus, den MeBkatalog; denn die 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 



427 



besten Inventarienstiicke desselben muBte der Senior am Rande 
mit einer schwarzen Hand bestempeln, damit er sie hurtig genug 
schreiben konnte, um das Ostermefi-Heu in die Panse des Bucher- 
schranks hineinzumahen, eh* das Michaelis- Grummet heraus- 
schoB. Ich mochte seine Meisterstiicke nicht schreiben. Den groB- 
ten Schaden hatie der Mann davon - Verstopfung zu halben 
Wochen und Schnupfen auf der andern Seite -, wenn der Senior 
(sein Friedrich Nicolai) zu viel Gutes, das er zu schreiben hatte, 
anstrich und seine Hand durch die gemalte anspornte; und sein 

10 Sohn klagte oft, daB in manchen Jahren sein Vater vor Iiterarischer 
Geburtarbeit kaum niesen konnte, weil er auf einmal Sturms Be- 
trachtungen, die verbesserte Auf lage, Schillers Rauber und Kants 
Kritik der reinen Vernunft der Welt zu schenken hatte.' Das ge- 
schah bei Tage; abends aber muBte der gute Mann nach dem 
Abendessen noch gar um den Sudpol rudern und konnte auf sei- 
ner Cookischen Reise kaum drei gescheite Worte zum Sohne nach 
Deutschland hinaufreden. Denn da unser Enzyklopadist nie das 
innere Afrika oder nur einen spanischen Maulesel-Stall betreten, 
oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte : so hatt' er desto 

20 mehr Zeit und Fahigkeit, von beiden und alien Landern reich- 
haltige Reisebeschreibungen zu liefern - ich meine solche, worauf 
der Statistiker, der Menschheit-Geschichtschreiber und ich selber 
fuBen konnen - erstlich deswegen, weil auch andre Reisejour- 
nalisten haufig ihre Beschreibungen ohne die Reise machen - 
zweitens auch, weil Reisebeschreibungen uberhaupt unmoglich 
auf eine andre Art zu machen sind, angesehen noch kein Reise- 
beschreiber wirklich vor oder in dem Lande stand, das er silhouet- 
tierte: denn so viel hat auch der Diimmste noch aus Leibnizens 
vorherbestimmten Harmonie im Kopfe, daB die Seele, z.B. die 

30 Seelen eines Forsters, Brydone, Bjornstahls - insgesamt seBhaft 
auf dem Isolierschemel der versteinerten Zirbeldriise - ja nichts 
anders von Siidindien oder Europa beschreiben konnen, als was 
jede sich davon selber erdenkt und was sie, beim ganzlichen Man- 
gel auBerer Eindriicke, aus ihren filnf Kanker-Spinnwarien vor- 
spinnt und abzwirnt. Wutz zerrete sein Reisejournal auch aus nie- 
mand anders als aus sich. 



4^8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Er schreibt iiber alles, und wenn die gelehrte Welt sich dariiber 
wundert, daB er fiinf Wochen nach dem Abdruck der Werther- 
schen Leiden einen alten Flederwisch nahm und sich eine harte 
Spule auszog und damit stehendes FuBes sie schrieb, die Leiden - 
ganz Deutschland ahmte nachher seine Leiden nach - : so wundert 
sich niemand weniger iiber die gelehrte Welt als ich; denn wie 
kann sie Rousseaus Bekenntnisse gesehen und gelesen haben, die 
Wutz schrieb und die dato noch unter seinen Papieren liegen? In 
diesen spricht aber J. J. Rousseau oder Wutz (das ist einerlei) so 
von sich, allein mit andern Einkleid-Worten : »er wiirde wahr- 10 
haftig nicht so dumm sein, daB er Federn nahme und die besten 
Werke machte, wenn er nichts brauchte, als bloB den Beutel auf- 
zubinden und sie zu erhandeln. Allein er habe nichts darin als 
zwei schwarze Hemdknopfe und einen kotigen Kreuzer. Woll* 
er mithin etwas Gescheites lesen, z. B. aus der praktischen Arznei- 
kunde und aus der Kranken-Universalhistorie : so miiss er' sich an 
seinen triefenden Fensterstock setzen und den Bettel ersinnen. An 
wen woir er sich wenden, um den Hintergrund des Freimaurer- 
Geheimnisses auszuhorchen, an welches Dionysius-Ohr, mem' er, 
als an seine zwei eignen? Auf diese an seinen eignen Kopf ange- 2c 
ohrten hor' er sehr, und indem er die Freimaurer-Reden, die er 
schreibe, genau durchlese und zu verstehen trachte : so merk' er 
zuletzt allerhand Wunderdinge und komme weit und rieche im 
ganzen genommen Lunten. Da er von Chemie und Alchemie so 
viel wisse wie Adam nach dem Fall, als er alles vergessen hatte : 
so sei ihm ein rechter Gefallen geschehen, daB er sich den Annulus 
Platonis geschmiedet, diesen silbernen Ring um.den Blei-Saturn, 
diesen Gyges-Ring, der so vielerlei unsichtbar mache, Gehirne 
und Metalle; denn aus diesem Buche diirft* er, sollt* ers nur ein- 
mal ordentlich begreifen, frappant wissen, wo Bartel Most hole.« - 5° 
Jetzt wollen wir wieder in seine Kindheit zuriick. 

Im zehnten Jahre verpuppte er sich in einen mulattenfarbigen 
Alumnus und obern Quintaner derStadtScheerau. SeinExaminator 
muB mein Zeuge sein, daB es keine weiBe Schminke ist, die ich 
meinem Helden anstreiche, wenn ichs zu berichten wage, daB er 
nur noch ein Blatt bis zur vierten Deklination zuriickzulegen hatte 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 429 

und daB er die ganze Geschlecht-Ausnahme thorax caudex pulex- 
que vor der Quinta wie ein Wecker abrollte - bloB die Regel 
wuBt' er nicht. Unter alien Nischen des Alumneums war nur eine 
so gescheuert und geordnet, gleich der Prunkkiiche einer Niirn- 
bergerin: das war seine; denn zufriedene Menschen sind die or- 
dentlichsten. Er kaufte sich aus seinem Beutel fur zwei Kreuzer 
Nagel und beschlug seine Zelle damit, um fur alle Effekten be- 
sondere Nagel zu haben - er schlichtete seine Schreibbiicher so 
lange, bis ihre Riicken so bleirecht aufeinander lagen wie eine 

10 preuBische Fronte, und er ging beim Mondschein aus dem Bette 
und visierte so lange um seine Schuhe herum, bis sie parallel neben- 
einander standen. - War alles metrisch: so rieb er die Hande, riB 
die Achseln iiber die Ohren hinauf, sprang empor, schiittelte sich 
fast den Kopf herab und lachte ungemein. 

Eh* ich von ihm weiter beweise, daB er im Alumneum gliick- 
lich war: will ich beweisen, daB dergleichen kein SpaB war, son- 
dern eine herkulische Arbeit. Hundert agyptische Plagen halt man 
fur keine, bloB weil sie uns nur in der Jugend heimsuchen, wo mo- 
ralische Wunden und komplizierte Frakturen so hurtig zuheilen 

20 wie physische - griinendes Holz bricht nicht so leicht wie durres 
entzwei. Alle Einrichtungen legen es dar, daB ein Alumneum 
seiner altesten Bestimmung nach ein protestantisches Knaben- 
Kloster sein soil; aber dabei sollte man es lassen, man sollte ein 
solches Praservations-Zuchthaus in kein LustschloB, ein solches 
Misanthropin in kein Philanthropin verwandeln wollen. Mussen 
nicht die gliicklichen Inhaftaten einer solchen Fiirstenschule die 
drei Klostergeliibde ablegen? Erstlich das des Gehorsams, da der 
Schiiler-Guardian und Novizenmeister seinen schwarzen Novizen 
das Spornrad der haufigsten, widrigsten Befehle und Ertotungen 

30 in die Seite sticht. Zweitens das der Armut^ da sie nicht Kruditaten 
und iibrige Brocken, sondern Hunger von einem Tage zumandern 
aufheben und iibertragen; und Carminati vermochte ganze In- 
validenhauser mit dem Supernumerar-Magensaft der Konvikto- 
rien und Alumneen auszuheilen. Das Geliibde der Keuschheit tut 
sich nachher von selbst, sobald ein Mensch den ganzen Tag zu 
laufen und zu fasten hat und keine andern Bewegun^en entbehrt 



43O DIE UNSICHTBARE LOGE 

als die peristaltischen. Zu wichtigen Amtern muB der Staatsbiirger 
erst gehanselt werden. Verdient denn aber bloB der katholische 
Novize zum Monch geprugelt, oder ein elender Ladenjunge in 
Bremen zum Kaufmannsdiener gerauchert, oder ein sittenloser 
Siidamerikaner zum Kaziken durch beides und durch mehre, in 
meinen Exzerpten stehende Qualen appretiert und sublimiert zu 
werden? 1st ein lutherischer Pfarrer nicht ebenso wichtig, und 
sind seiner kiinftigen Bestimmung nicht ebensogut solche iibende 
Martern notig? Zum Gliick hat er sie; vielleicht mauerte die Vor- 
welt die Schulpforten, deren Konklavisten insgesamt wahre 10 
Knechte der Knechte sind, bloB seinetwegen auf: denn andern 
Fakultaten ist mit dieser Kreuzigung und Radbrechung des 
Fleisches und Geistes zu wenig gedient. - Daher ist auch das so 
oft getadelte Chor-, Gassen- und Leichensingen der Alumnen ein 
recht gutes Mittel, protestantische Klosterleute aus ihnen zu ziehen 
- und selbst ihr schwarzer Oberzug und die kanonische Mohren- 
Enveloppe des Mantels ist etwas Ahnliches von der Monchkutte. 
Daher schieBen in Leipzig um die Thomasschuler, da doch ein- 
mal die Geistlichen die Periicken-Wammen anhangen miissen, 
wenigstens die Herzblatter eines aufkapfenden Periickchens her- 20 
um, das wie ein Pultdach oder wie halbe Fliigeldecken sich auf 
dem Kopfe umsieht. In den alten Klostern war die Gelehrsamkeit 
Strafe; nur Schuldige mufiten da lateinische Psalmen auswendig 
lernen oder Autores abschreiben; - in guten armen Schulen wird 
dieses Strafen nicht vernachlassigt, und sparsamer Unterricht 
wird da stets als ein unschuldiges Mittel angeordnet, den armen 
Schiiler damit zu ziichtigen und zu mortifizieren .... 

BloB dem Schulmeisterlein hatte diese Kreuzschule wenig an; 
den ganzen Tag freuete er sich auf oder iiber etwas. »Vor dem 
Aufstehen«, sagt' er, »freu' ich mich auf das Fruhstiick, den ganzen 30 
Vormittag aufs Mittagessen, zur Vesperzeit aufs Vesperbrot und 
abends aufs Nachtbrot - und so hat der Alumnus Wutz sich stets 
auf etwas zu spitzen.« Trank er tief, so sagt* er: »Das hat meinem 
Wutz geschmeckt« und strich sich den Magen. Niesete er, so sagte 
er; »Helf dir Gott, Wutz!« - Im fleberfrostigen Novemberwetter 
letzte er sich auf der Gasse mit der Vormalung des warmen Ofens 



SCHULMEISTERLE1N MARIA WUTZ 43 1 

und mit der narrischen Freude, daB er eine Hand um die andre 
unter seinem Mantel wie zu Hause stecken hatte. War der Tag gar 
zu toll und windig - es gibt fur uns Wichte solche Hatztage, wo 
die ganze Erde ein Hatzhaus ist und wo die Plagen wie spaBhaft 
gehende Wasserkiinste uns bei jedem Schritte ansprutzen und 
einfeuchten -, so war das Meisterlein so pfiffig, daB es sich unter 
das Wetter hinsetzte und sich nichts darum schor; es war nicht 
Ergebung, die das unvermeidliche Obel aufnimmt, nicht Abhar- 
tung, die das ungefilhlte tragt, nicht Philosophie, die das verdiinnte 

ro verdauet, oder Religion, die das beloknte verwindet: sondern der 
Gedanke ans warme Bett wars. »Abends«, dacht* er, »lieg* ich auf 
alle Falle, sie mogen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, 
wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und driicke die Nase 
ruhig ans Kopfkissen, acht Stunden lang.« - Und kroch er end- 
lich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein 
Oberbett: so schiittelte er sich darin, krempte sich mit den Knien 
bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich: »Siehst du, Wutz, 
es ist doch vorbei.« 

Ein andrer Paragraph aus der Wutzischen Kunst, stets frohlich 

20 zu sein, war sein zweiter PfifT, stets frohlich aufzuwachen - und 
um dies zu konnen, bedient' er sich eines dritten und hob immer 
vom Tage vorher etwas Angenehmes fur den Morgen auf, ent- 
weder gebackne KloBe oder ebensoviel auBerst gefahrliche Blatter 
aus dem Robinson, der ihm lieber waralsHomer-oderauch junge 
Vogel oder junge Pfianzen, an denen er am Morgen nachzusehen 
hatte, wie nachts Federn und Blatter gewachsen. 

Den dritten und vielleicht durchdachtesten Paragraphen seiner 
Kunst, frohlich zu sein, arbeitete er erst aus, da er Sekundaner 

30 ' er wurde verliebt. - 

Eine solche Ausarbeitung ware meine Sache .... Aber da ich 
hier zum ersten Male in meinem Leben mich mit meiner ReiBkohle 
an das Blumenstuck gemalter Liebe mache: so muB auf der Stelle 
abgebrochen werden, damit fortgerissen werde morgen um 6 Uhr 
mit weniger niedergebranntem Feuer. - 

Wenn Venedig, Rom und Wien und die ganze Luststadte-Bank 



432 DIE UNSICHTBARE LOGE 

sich zusammentaten und mich mit einem solchen Karneval be- 
schenken wollten, das dem beikame , welches mitten in der schwar- 
zen Kantors-Stube in Joditz war, wo wir Kinder von 8 Uhr bis 1 1 
forttanzten (so lange wahrte unsre Faschingzeit, in der wir den 
Appetit zur Fastnacht-Hirse versprangen) : so machten sich jene 
Residenzstadte zwar an etwas Unmogliches und Lacherliches - 
aber doch an nichts so Unmogliches, wie dies ware, wenn sie dem 
Alumnus Wutz den Fastnachtmorgen mit seinen Karnevallustbar- 
keiten wiedergeben wollten, als er, als unterer Sekundaner auf 
Besuch, in der Tanz- und Schulstube seines Vaters am Morgen ic 
gegen 10 Uhr ordentlich verliebt wurde. Eine solche Fasching- 
lustbarkeit - trautes Schulmeisterlein, wo denkst du hin? - Aber 
er dachte an nichts hin als zu Justina, die ich selten oder niemals 
wie die Auenthaler Justel nennen werde. Da der Alumnus unter 
dem Tanzen (wenige Gymnasiasten hatten mitgetanzt, aber Wutz 
war nie stolz und immer eitel) den Augenblick weghatte, was - 
ihn nicht einmal eingerechnet - an der Justel ware, daB sie ein 
hubsches gelenkiges Ding und schon im Briefschreiben und in der 
Regeldetri in Briichen und die Patin der Frau Seniorin und in 
einem Alter von 1 5 Jahren und nur als eine Gast-Tanzerin mit in *< 
der Stube sei: so tat der Gast-Tanzer seines Orts, was in solchen 
Fallen zu tun ist; er wurde, wie gesagt, verliebt - schon beim 
ersten Schleifer flogs wie Fieberhitze an ihn - unter dem Ordnen 
zum zweiten, wo er stillstehend die warme Inlage seiner rechten 
Hand bedachte und befuhlte, stiegs unverhaltnismaBig - er tanzte 
sich augenscheinlich in die Liebe und in ihre Game hinein. - Als 
sie noch dazu die roten Haubenbander auseinanderfallen und sie 
ungemein nachlassig um den nackten Hals zuriickflattern lieB: 
so vernahm er die BaBgeige nicht mehr — und als sie endlich gar 
mit einem roten Schnupftuch sich Kiihlung vorwedelte und es 3= 
hinter und vor ihm fliegen lieB : so war ihm nicht mehr zu helfen, 
und hatten die vier groBen und die zwolf klemen Propheten zum 
Fenster hineingepredigt. Denn einem Schnupftuch in einer weib- 
liehen Hand erlag er stets auf der Stelle ohne weitere Gegen wehr, 
wie der Lowe dem gedrehten Wagenrade und der Elefant der 
Maus. Dorfkoketten machen sich aus dem Schnupftuch die nam- 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 433 

liche Feldschlange und Kriegmaschine, die sich die Stadtkoketten 
aus dem Facher machen; aber die Wellen eines Tuchs sind ge- 
falliger als das knackende Truthahns-Radschlagen der bunten 
Streitkolbe des Fachers. 

Auf alle Falle kann unser Wutz sich damit entschuldigen, daB 
seines Wissens die Orter offentlicher Freude das Herz fur alle 
Emphndungen, die viel Platz bediirfen, fur Aufopferung, fur Mut 
und auch fur Liebe, weiter machen; - freilich in den engen Amt- 
und Arbeitstuben, auf Rathausern, in geheimen Kabinetten liegen 

to unsre Herzen wie auf ebenso vielen Welkboden und Darrofen und 
runzeln ein. 

Wutz trug seinen mit dem Gas der Liebe aufgefiillten und em- 
porgetriebnen Herzballon freudig ins Alumneum zuriick, ohne 
jemand eine Silbe zu melden, am wenigsten der Schnupftuch- 
Fahnenjunkerin selber - nicht aus Scheu, sondern weil er nie mehr 
begehrte als die Gegenwart; er wair nur froh, daB er selber ver- 

liebt war, und dachte an weiter nichts 

Warum lieB der Himmel gerade in die Jugend das Lustrum der 
Liebe fallen? Vielleicht weil man gerade da in Alumneen, Schreib- 

*o stuben und andern Gifthutten keucht: da steigt die Liebe wie auf- 
bliihendes Gestrauch an den Fenstern jener Marterkammern em- 

* por und zeigt in schwankenden Schatten den grofien Friihling 
von auBen. Denn Er und ich, mein Herr Prafektus, und auch Sie, 
verdiente Schuldiener des Alumneums, wir wollen miteinander 
wetten, Sie sollen iiber den vergniigten Wutz ein Harenhemd Zie- 
hen (im Grund hat er eines an) - Sie sollen ihn Ixions Rad und 
Sisyphus' Stein der Weisen und den Laufwagen Ihres Kindes 
bewegen lassen - Sie sollen ihn halb tot hungern oder priigeln 
lassen - Sie sollen einer so elenden Wette wegen (welches ich 

50 Ihnen -nicht zugetrauet hatte) gegen ihn ganz des Teufels sein : 
Wutz bleibt doch Wutz und praktiziert sich immer sein biBchen 
verliebter. Freude ins Herz, vollends in den Hundtagen! - 

Seine Kanikularferien sind aber vielleicht nirgends deutlicher 
beschrieben als in seinen )>Werthers Freuden% die seine Lebens- 
beschreiber fast nur abzuschreiben brauchen. — Er ging da sonn- 
tags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit den 



434 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Leuten in alien Gassen Mitleiden, daB sie dableiben muBten. 
DrauBen dehnte sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel 
vor ihm aus, und halbtrunken im Konzertsaal aller Vogel horcht* 
er doppelselig bald auf die gefiederten Sopranisten, bald auf seine 
Phantasien. Um nur seine iiber die Ufer schlagende Lebenskrafte 
abzuleiten, galoppierte er oft eine halbe Viertelstunde lang. Da er 
immer kurz vor und nach Sonnen-Untergang ein gewisses wol- 
lustiges trunknes Sehnen empfunden hatte - die Nacht aber macht 
wie ein langerer Tod den Menschen erhaben und nimmt ihm die 
Erde — : so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang', i C 
bis die zerfliefiende Sonne durch die Ietzten Kornfelder vor dem 
Dorfe mit Goldfaden, die sie gerade iiber die Ahren zog, sein 
blaues Rockchen stickte und bis sein Schatten an den Berg iiber 
den FluB wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem 
wie aus der Vergangenheit heriiberklingenden Abendlauten ins 
Dorf hinein und war alien Menschen gut, selbst dem Prafektus. 
Ging er dann um seines Vaters Haus und sah am obern Kapp- 
fenster den Widerschein des Monds und durch ein Parterre-Fen- 
ster seine Justina, die da alle Sonntage einen ordentlichen Brief 

setzen lernte o wenn er dann in dieser paradiesischenViertel- 20 

stunde seines Lebens auf funfzig Schritte die Stube und die Briefe 
und das Dorf von sich hatte wegsprengen und um sich und um die . 
Briefstellerin bloB ein einsames dammerndes Tempe-Tal hatte 
ziehen konnen - wenn er in diesem Tale mit seiner trunknen 
Seele, die unterweges um alle Wesen ihre Arme schlug, auch an sein 
schonstes Wesen hatte fallen diirfen und er und sie und Himmel 
und Erde zuriickgesunken und zerflossen waren vor einem flam- 
menden Augenblick und Brennpunkte menschlicher Entziik- 

kung 

Indessen tat ers wenigstens nachts um eilf Uhr* und vorher 30 
gings auch nicht schlecht. Er erzahlte dem Vater, aber im Grunde 
Justinen seinen Studienplan und seinen politischen EinfluB; er 
setzte sich dem Tadel, womit sein Vater ihre Briefe korrigierte, 
mit demjenigen Gewicht entgegen, das ein solcher Kunstrichter 
hat, und er war, da er gerade warm aus der Stadt kam, mehr als 
einmal mit Witz bei der Hand - kurz, unter dem Einschlafen horte 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 435 

er in seiner tanzenden taumelnden Phantasie nichts als Spharen- 
Musik. 

- Freilich du, mein Wutz, kannst Werthers Freuden aufsetzen, 
da allemal deine auBere und deine innere Welt sich wie zwei 
Muschelschalen aneinander loten und dich als ihr Schaltier ein- 
fassen; aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen sitzen, 
ist die AuBenwelt selten der Ripienist und Chorist unsrer innern 
frohlichen Stimmung; - hochstens dann, wenn an uns der ganze 
Stimmstock umgefallen und wir knarren und brummen; oder in 

to einer andern Metapher: wenn wir eine verstopfte Nase haben, so 
setzt sich ein ganzes mit Blumen iiberwolbtes Eden vor uns hin, 
und wir mogen nicht hineinriechen. 

Mit jedem Besuche machte das Schulmeisterlein seiner Johanna- 
Therese-Charlotte-Mariana-Klarissa-Heloise-Justel auch ein Ge- 
schenk mit einem Pfefferkuchen und einem Potentaten; ich will 
iiber beide ganz befriedigend sein. 

Die Potentaten hatt' er in seinem eignen Verlage; aber wenn 
die Reichshofrats-Kanzlei ihre Fiirsten und Grafen aus ein wenig 
Dime, Pergament und Wachs macht : so verfertigte er seine Po- 

20 tentaten viel kostbarer, aus RuB, Fett und zwanzig Farben. Im 
Alumneum wurde namlich mit den Rahmen einer Menge Poten- 
taten eingeheizet, die er samtlich mit gedachten Materialien so zu 
kopieren und zu reprasentieren wiiBte, als war* er ihr Gesandter. 
Er iiberschmierte ein Quartblatt mit einem Endchen Licht und 
nachher mit OfenruB - dieses legte er mit der schwarzen Seite auf 
ein andres mit weiBen Seiten - oben auf beide Blatter tat er irgend- 
ein furstliches Portrat - dann nahm er eine abgebrochne Gabel 
und fuhr mit ihrer driickenden Spitze auf dem Gesichte undLeibe 
des regierenden Herrn herum — dieser Druck verdoppelte den 

50 Potentaten, der sich vom schwarzen Blatt aufs weiBe uberfarbte. 
So nahm er von allem, was unter einer europaischen Krone saB, 
recht kluge Kopien; allein ich habe niemals verhehlet, daB seine 
Okulier-Gabel die russische Kaiserin (die vorige) und eine Menge 
Kronprinzen dermaBen aufkratzte und durchschnitt, daB sie zu 
nichts mehr zu brauchen waren als dazu, den Weg ihrer Rahmen 
zu gehen. Gleichwohl war das ruBige Quartblatt nur die Bruttafel 



43 6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und Atz-Wiege glorwiirdiger Regenten, oder auch der Streich- 
oder Laichteich derselben - ihr Streckteich aber oder die Appretur- 
Maschine der Potentaten war sein Farbkastchen; mit diesem illu- 
minierte er ganze regierende Linien, und alle Muscheln kleideten 
einen einzigen GroBfursten an, und die Kronprinzessinnen zogen 
aus derselben Farbmuschel Wangenrote, Schamrote und Schmin- 
ke. — Mit diesen regierenden Schonen beschenkte er die, die ihn 
regierte und die nicht wuBte, was sie mit dem historischen Bilder- 
saale machen sollte. 

Aber mit dem PfefFerkuchen wuBte sie es in dem Grade, daB i 
sie ihn aB. Ich halt' es fur schwer, einer Geliebten einen Pfeffer- 
kuchen zu schenken, weil man ihn oft kurz vor der Schenkung 
selber verzehrt. Hatte nicht Wutz die drei Kreuzer fiir den ersten 
schon bezahlt? Hatt* er nicht das braune Rektangulum schon in ' 
der Tasche und war damit schon bis auf eine Stunde vor Auenthal 
und vor dem Adjudikationtermin gereiset? Ja wurde die siiBe 
Votiv-Tafel nicht alle Viertelstunde aus der Tasche gehoben, um 
zu sehen, ob sie noch viereckig sei? Dies war eben das Ungliick; 
denn bei diesem Beweis durch Augenschein, den er fiihrte, brach 
er immer wenige und unbedeutende Mandeln aus dem Kuchen; - 2< 
dergleichen tat er ofters - darauf machte er sich (statt an die Qua- 
dratur des Zirkels) an das Problem, den gevierteten.Zirkel wieder 
rein herzustellen, und biB sauber die vier rechten Winkel ab und 
machte ein Acht-Eck, ein Sechzehn-Eck - denn ein Zirkel ist ein 
unendliches Viel-Eck - darauf war nach diesen mathematischen 
Ausarbeitungen das Viel-Eck vor keinem Madcheamehr zu pro- 
duzieren - darauf tat Wutz einen Sprung und sagte: »Ach! ich 
fress' ihn selber«, und heraus war der Seufzer und hinein die geo- 
metrische Figur. — Es werden wenige schottische Meister, akade- 
mische Senate und Magistranden leben, denen nicht ein wahrer Ge- 3 c 
fallen geschahe, wenn man ihnen zu horen gabe, durch welchen 

Maschinen-Gott sich Wutz aus der Sache zog durch einen 

zweiten Pfefferkuchen tat ers, den er allemal als einen Wand- und 
Taschen-Nachbar des ersten mit einsteckte. Indem er den einen 
aB, landete der andre ohne Lasionen an, weil er mit dem Zwilling 
wie mit Brandmauer und Kronwache den andern beschutzte. Das 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 437 

aber sah er in der Folge selber ein, daB er - um nicht einen bio Ben 
Torso oder Atom nach Auenthal zu transportieren - die Kron- 
truppen oder Pfefferkuchen von Woche zu Woche vermehren 
miisse. 

Er ware Primaner geworden, ware nicht sein Vater aus unserem 
Planeten in einen andern oder in einen Trabanten geriickt. Daher 
dacht' er die Melioration seines Vaters nachzumachen und wollte 
von der Sekundanerbank auf den Lehrstuhl rutschen. Der Kirchen- 
patron, Herr von Ebern, drangte sich zwischen beide Geruste und 

io hielt seinen ausgedienten Koch an der Hand, um ihn in ein Amt 
einzusetzen, dem er gewachsen war, weil es in diesem ebensogut 
wie in seinem vorigen Spanferkel 1 tot zu peitschen und zu ap- 
pretieren, obwohl nicht zu essen gab. Ich hah' es schon in der Re- 
vision des Schulwesens in einer Note erinnert und Herrn Gedikens 
Beifall davongetragen, daB in jedem Bauer jungen ein unausge- 
wachsener Schulmeister stecke, der von ein paar Kirchenjahren 
groB zu paraphrasieren sei - daB nicht bloB das alte Rom Welt- 
Konsule, sondern auch heutige Dorfer Schul-Konsule vom Pfluge 
und aus der Furche ziehen konnten - daB man ebensogut von 

20 Leuten seines Standes hier unterrichtet, als in England gerichtet 
werden konne, und daB gerade der, dem jeder das meiste Scibile 
verdanke, ihm amahnlichsten sei, namlich jeder selber -daB, wenn 
eine ganze Stadt (Norcia an dem appenninischen Gebirg) nur von 
vier ungelehrten Magistratgliedern (li quatri illiterati) sich be- 
herrschen lassen will,«doch eine Dorfjugend von einem einzigen 
ungelehrten Mann werde zu regieren und zu priigeln sein - und 
daB man nur bedenken mochte, was ich oben im Texte sagte. Da 
aber die Note selber der Text ist, so will ich nur sagen, daB ich 
sagte: eine Dorfschule sei hinlanglich besetzt. Es ist da i) der 

30 Gymnasiarch oder Pastor, der von Winter zu Winter den Priester- 
rock umhangt und das Schulhaus besucht und erschreckt- 2) steht 
in der Stube das Rektorat, Konrektorat und Subrektorat, das der 
Schulhalter allein ausmacht - 3) als Lehrer der untern Klassen 
sind darin angestellt die Schulmeisterin, der, wenn irgendeinem 

1 Die bekanntlich besser schmecken, wenn man sie mit Rutenstreichen 
totet. 



43 8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Menschen, die Kallipadie der Tochterschule anvertrauet werden 
kann, ihr Sohn als Tertius und Lummel zugleich, dem seine Zog- 
linge allerhand legieren und spendieren mussen, damit er sie ihre 
Lektion nicht aufsagen lasset, und der, wenn der Regent nicht zu 
Hause ist, oft das Reichsvikariat des ganzen protestantischen 
Schulkreises auf den Achseln hat - 4) endlich ein ganzes Raupen- 
nest Kollaboratores, namlich Schuljungen selber, weil daselbst, 
wie irn Hallischen Waisenhause, die Schiiler der obern Klasse 
schon zu Lehrern der untern groB gewachsen sind. - Da man 
bisher aus so vielen Studierstuben heraus nach Realschulen schrie : 10 
so horten es Gemeinden und Schuthalter und taten das Ihrige gern. 
Die Gemeinden lasen fur ihre Lehrstiihle lauter solche padago- 
gische SteiBe aus, die schon auf Weber-, Schneider-, Schuster- 
Schemeln seBhaft waren und von denen also etwas zu erwarten 
war - und allerdings setzen solche Manner, indem sie vor dem 
aufmerksamen Institute Rocke, Stiefel, Fischreusen und alles 
machen, die Nominalschule leicht in eine Realschule um, wo man 
Fabrikate kennen lernt. Der Schulmeister treibts noch weiter und 
sinnt Tag und Nacht auf Real-Schulhalten; es gibt wenige Ar- 
beiten eines erwachsenen Hausvaters oder seines Gesindes, in 20 
denen er seine Dorf-Stoa nicht beschaftigt und ubt, und den gan- 
zen Morgen sieht man das expedierende Seminarium hinaus- und 
hineinjagen, Holz spalten und Wasser tragen u.s.w., so daB er 
auBer der Realschule fast gar keine andre halt und sich sein biB- 
chen Brot sauer im SchweiBe seines - Schulhauses verdient.... 
Man braucht mir nicht zu sagen, daB es auch schlechte und ver- 
saumte Landschulen gebe; genug wenn nur die groBere Zahl alle 
die Vorziige wirklich aufweiset, die ich ihr jetzt zugeschrieben. 

Ich mag meine Fixstern-Abirrung mit keinem Wort entschul- 
digen, das eine neue ware. Herr von Ebern hatte seinen Koch zum 30 
Schulmeister investieret, wenn ein geschickter Nachfahrer des 
Kochs ware zu haben gewesen; es war aber keiner aufzutreiben, 
und da der Gutsherr dachte, es sei vielleicht gar eine Neuerung, 
wenn er die Kiiche und die Schule durch ein Subjekt versehen 
lie Be - wiewohl vielmehr die Trennung und Verdopplung der 
Schul- und der Herrendiener eine viel groBere und altere war; 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 439 

denn im neunten Sakulum muBte sogar der Pfarrer der Patronat- 
kirche zugleich dem Kirchenschiff-Patron als Bedienter aufwarten 
und satteln etc. 1 , und beide Amter wurden erst nachher, wie mehre, 
voneinander abgerissen — , so behielt er den Koch und vozierte 
den Alumnus, der bisher so gescheit gewesen, daB er verliebt ge- 
blieben. 

Ich steuere mich ganz auf die ruhmlichen Zeugnisse, die ich in 
Handen habe und die Wutz vom Superintendenten auswirkte, 
weil sein Examen vielleicht eines der rigorosesten und glucklich- 

[o sten war, wovon ich in neueren Zeiten noch gehoret. MuBte nicht 
Wutz das griechische Vaterunservorbeten,indesdasExamination- 
Kollegium seine samtnen Hosen miteiner Glasbiirste auskarnmte; 
- und hernach das lateinische Symbolum Athanasii? Konnte der 
Examinandus nicht die Biicher der Bibel richtig und Mann fur 
Mann vorzahlen, ohne iiber die gemalten Blumen und Tassen auf 
dem Kaffeebrette seines fruhstiickenden Examinators zu stolpern? 
MuBt* er nicht einen Betteljungen, der bloB auf einen Pfennig 
aufsah, herumkatechesieren, obgleich der Junge gar nicht wie 
sein Unter-Examinator bestand, sondern wie ein wahres Stuck- 

2D chen Vieh? MuBt* er nicht seine Fingerspitzen in ftinf Topfe war- 
mes Wasser tunken und den Topf aussuchen, dessen Wasser warm 
und kalt genug fiir den Kopf eines Tauf lings war? Und muBt' er 
nicht zuletzt drei Gulden und 36 Kreuzer erlegen? 

Am i3 ten Mai ging er als Alumnus aus dem Alumneum heraus 
und als offentlicher Lehrer in sein Haus hinein, und aus der zer- 
sprengten schwarzen Alumnus-Puppe brachein bunter Schmetter- 
ling von Kantor ins Freie hinaus. 

Am 9 ten Julius stand er vor dem Auenthaler Altar und wurde 
kopuliert mit der Justel. 

30 Aber der elysaische Zwischenraum zwischen dem i3 tcn Mai 
und dem 9 ten Julius! - Fiir keinen Sterblichen fallt ein solches 
goldnes Alter von acht Wochen wieder vom Himmel, bloB fiir 
das Meisterlein funkelte der ganze niedergetauete Himmel auf ge- 
stirnten Auen der Erde. - Du wiegtest im Ather dich und sahest 
durch die durchsichtige Erde dich rund mit Himmel und Sonnen 
1 Langens geistliches Recht S. 534. 



44° DIE UNSICHTBARE LOGE 

umzogen und hattest keine Schwere mehr; aber uns Alumnen der 
Natur fallen nie acht solche Wochen zu, nicht eine, kaum ein 
ganzer Tag, wo der Himmel ilber und in uns sein reines Blau mit 
nichts bemalt als mit Abend- und Morgenrot - wo wir uber das 
Leben wegfliegen und alles uns hebt wie ein freudiger Traum — 
wo der unbandige stiirzende Strom der Dinge uns nicht auf seinen 
Katarakten und Strudeln zerstoBet und schuttelt und radert, son- 
dern auf blinkenden Wellen uns wiegt und unter hineingebognen 
Blumen voriibertragt - ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeb- 
lich unter den verlebten suchen und von dem wir am Ende jedes ic 
andern klagen: seit ihm war keiner wieder so. 

Es wird uns alien sanft tun, wenn ich dieseacht Wonne-Wochen 
oder zwei Wonne-Monate weitlauftig beschreibe. Sie bestanden 
aus lauter ahnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hmter den 
Hausern herauf. Die ganze Nacht stand die riickende Abendrote 
unten am Himmel, an welchem die untergehende Sonne allemal 
wie eine Rose gliihend abgebliihet hatte. Urn i Uhr schlugen 
schon die Lerchen, und die Natur spielte und phantasierte die 
ganze Nacht auf der Nachtigallen-Harmonika. In seine Traume 
tonten die auBern Melodien hinein, und in ihnen flog er uber *< 
Bliiten-Baume, denen die wahren vor seinem offnen Fenster ihren 
Blumen-Atem liehen. Der tagende Traum ruckte ihn sanft, wie 
die lispelnde Mutter das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen iiber, 
und er trat mit trinkender Brust in den Larm der Natur hinaus, wo 
die Sonne die Erde von neuem erschuf und wo beide sich zu einem 
brausenden Wollust-Weltmeer ineinander ergossen. Aus dieser 
Morgen-Flut des Lebens und Freuens kehrte er in sein schwarzes 
Stiibchen zuriick und suchte die Krafte in kleinern Freuden wie- 
der. Er war da uber alles froh, uber jedes beschienene und unbe- 
schienene Fenster, iiber die ausgefegte Stube, iiber das Frtih- 3< 
stuck, das mit seinen Amt-Revenuen bestritten wurde, iiber 
7 Uhr, weil er nicht in die Sekunda muBte, iiber seine Mutter, die 
alle Morgen froh war, daB er Schulmeister geworden und sie nicht 
aus dem vertrauten Hause fort gemuBt. 

Unter dem Kaffee schnitt er sich, auBer den Semmeln, die Fe- 
dern zur Messiade, die er damals, die drei letzten Gesange aus- 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 441 

genommen, gar aussang. Seine groBteSorgfaltverwandteerdar- 
auf, daB er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie 
Pfahle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der 
hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen, 
die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so muBte der 
Dichter, da ers durch keine Bemuhung zur geringsten Unver- 
standlichkeit bringen konnte - er fassete allemal den Augenblick 
jede Zeile und jeden FuB und pes -, aus Not zum Einfall greifen, 
daB er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. 

10 Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen unge- 
zwungen vor. 

Um eilf Uhr deckte er fur seine Vogel, und dann fiir sich und 
seine Mutter den Tisch- rnit vier Schubladen, in welchem mehr 
war als auf ihm. Er schnitt das Brot, und seiner Mutter die weiBe 
Rinde vor, ob er gleich die schwarze nicht gern aB. O meine 
Freunde, warum kann man denn im Hotel de Baviere und auf dem 
Romer nicht so vergniigt speisen als am Wutzischen Ladentisch? 
- Sogleich nach dem Essea machte er nicht Hexameter, sondern 
Kochloffel, und meine Schwester hat selber ein Dutzend von ihm. 

20 Wahrend seine Mutter das wusch, was er schnitzte, lieBen beide 
ihre Seelen nicht ohne Kost; sie erzahlte ihm die Personalien von 
sich und seinem Vater vor, von deren Kenntnis ihn seine akade- 
mische Laufbahn zu entfernt gehalten - und er schlug den Ope- 
rationplan und BauriB seiner kunftigen Haushaltung bescheiden 
vor ihr auf, weil er sich an dem Gedanken, ein Hausvater zu sein, 
gar nicht satt kauen konnte. »Ich richte mir« - sagte er - »mein 
Haushalten ganz verniinftig ein - ich stell' mir ein Saugschwein- 
chen ein auf die heiligen Feiertage, es fallen so viel KartofTeln- 
und Riiben-Schalen ab, daB mans mit fett macht, man weiB kaum 

3° wie - und auf den Winter muB mir der Schwiegervater ein Fiider- 
chen Biischel (Reisholz) einfahren, und die Stubentiir muB total 
gefuttert und gepolstert werden - denn, Mutter! unsereins hat 
seine padagogischen Arbeiten im Winter, und man halt da keine 
Kalte aus.« - Am 2c> ten Mai war noch dazu nach diesen Gesprachen 
eine Kindtaufe — es war seine erste — sie war seine erste Revenue, 
und ein groBes Einnahmebuch hatte er sich schon auf dem Alum- 



44 2 DIE UNSICHTBARE LOGE 

neum dazu geheftet - er besah und zahlte die paar Groschen 
zwanzig Mai, als waren sie andere. - Am Taufstein stand er in 
ganzer Pariire, und die Zuschauer standen auf der Empor und in 
der herrschaftlichen Loge im Alltag-Schmutz. - »Es ist mein 
saurer SchweiB«, sagt' er eine halbe Stunde nach dem Aktus und 
trank vom Gelde zur ungewohnlichen Stunde ein NoBel Bier. - 
Ich erwarte von seinem kiinftigen Lebensbeschreiber ein paar 
pragmatische Fingerzeige, warum Wutz bloB ein Einnahme- und 
kein Ausgabe-Buch sich nahte und warum er in jenem oben 
Louisd'or, Groschen, Pfennige setzte, ob er gleich nie die erste ^ 
Munzsorte unter seinen Schul-Gefallen hatte. 

Nach dem Aktus und nach der Verdauung lieB er sich den Tisch 
hinaus unter den Weichselbaum tragen und setzte sich nieder und 
bossierte noch einige unleserliche Hexameter in seiner Messiade. 
Sogar wahrend er seinen Schinkenknochen als sein Abendessen 
abnagte und abfeilte, befeilt' er noch einen und den andern epi- 
schen Fu6, und ich weifi recht gut, daB des Fettes wegen mancher 
Gesang ein wenig geolet aussiehet. Sobald er den Sonnenschein 
nicht mehr auf der StraBe, sondern an den Hausern Hegen sah: 
so gab er der Mutter die notigen Gelder zum Haushalten und zo 
lief ins Freie, um sich es ruhig auszumalen, wie ers kunftig haben 
werde im Herbst, im Winter, an den drei heiligen Festen, unter 
den Schulkindern und unter seinen eignen. - 

Unddoch sind das bloB Wochentage;derSonntagaberbrennt 
in einer Glorie, die kaum auf ein Altarblatt g'eht. - Oberhaupt 
steht in keinen Seelen dieses Jahrhunderts ein so groBer BegrifF 
von einem Sonntage, als in denen, welche in Kantorenund Schul- 
meistern hausen; mich wundert es gar nicht, wenn sie an einem 
solchen Courtage nicht vermogen, bescheiden zu verbleiben. 
Selber unser Wutz konnte sichs nicht verstecken, was es sagen ;o 
will, unter tausend Menschen allein zu orgeln - ein wahres Erb- 
Amt zu versehen und den geistlichen Kronung-Mantel dem Se- 
nior uberzuhenken und sein Valet de fantaisie und Kammermohr 
zu sein - iiber ein ganzes von der Sonne beleuchtetes Chor Terri- 
torial-Herrschaft zu exerzieren, als amtierender Chor-Maire auf 
seinem Orgel-Fiirstenstuhl die Poesie eines Kirchsprengels noch 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 443 

besser zu beherrschen, als der Pfarrer die Prose desselben kom- 
mandiert— und nach der Predigt uber das Gelander hinab vollige 
furstliche Befehle sans facon mit lauter Stimme weniger zu geben 

als abzulesen Wahrhaftig, man sollte denken, hier oder nir- 

gends tat' es not, daB ich.meinem Wutz zuriefe: »Bedenke, was 
du vor wenig Monaten warest ! Oberlege, daB nicht alle Menschen 
Kantores werden konnen, und mache dir die vorteilhafte Un- 
gleichheit der Stande zunutze, ohne sie zu miBbrauchen und ohne 
darum mich und meine Zuhorer am Ofen zu verachten.« — Aber 

io nein! auf meine Ehre, das gutartige Meisterlein denkt ohnehin 
nicht daran; die Bauern hatten nur so geschek sein sollen, da(3 sie 
dir schnakischem, lachelndem, trippelndem, handereiberidem 
Dinge ins gallenlose'uberzuckerte Herz hineingesehcn hatten: 
was hatten sie da ertappt? Freude in deinen zwei Herz-Kammern, 
Freude in deinen zwei Herz-Ohren. Du numeriertest bloB oben 
im Chore, gutes Ding! das ich je langer je lieber gewinne, deine 
kiinftigen Schulbuben und Schulmadchen in den Kirchstuhlen 
zusammen und setztest sie sam.tlich voraus in deine Schulstube 
und um seine winzige Nase herum und nahmest dir vor, mit der 

20 letzten taglich vormktags und nachmittags einmal zu niesen und 
vorher zu schnupfen, nur damit dein ganzes Institut wie beses.sen 
auffuhre und zuriefe : Helf Gott, Herr Kantner ! Die Bauern hatten 
ferner in deinem Herzen die Freude angetroffen, die du hattest, 
ein Setzer von Folioziffern zu sein, so lang wie die am Zifferblatt 
der Turmuhr, indem du jeden Sonntag an der schwarzen Lieder- 
tafel in offentlichen Druck gabst, auf welcher Pagina das nachste 
Lied zu suchen sei - wir Autores treten mit schlechterem Zeuge 
im Drucke auf-; ferner die Freude hatte mart gefunden, deinem 
Schwiegervater und deiner Braut im Singen vorzureiten; und end- 

30 Hch deine Hoffnung, den Bodensatz des Kommunion-Weins ein- 
sam auszusaufen, der sauer schmeckte. Ein hoheres Wesen muB 
dir so herzlich gut gewesen sein wie das referierende, da es gerade 
in deinem achtwochentlichen Eden-Lustrum deinen gnadigen 
Kirchenpatron kommunizieren hieB: denn der hatte doch so viel 
Einsicht, daB er an die Stelle des Kommunion-Weins, der Christi 
Trank am Kreuz nicht ungliicklich nachbildete, Christi Trdnen 



444 DIE UNSICHTBARE LOGE 

aus seinem Keller setzte; aber welche Himmel dann nach dem 

Trank des Bodensatzes in alle deine Glieder zogen Wahrlich 

jedesmal will ich wieder in Ausrufungen verfallen; - aber warum 
macht doch mir und vielleicht euch dieses schulmeisterlich ver- 
gniigte Herz so viel Freude? - Ach, liegt es vielleicht daran, daB 
wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden- 
Eitelkeit auf uns liegt und unsern Atem driickt und weil wir die 
schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstucken 
schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein sein Leben ver- 
hiipft? - io 

Der gedachte Kommunion-Wein moussierte noch abends in 
seinen Adern ; und diese letzte Tagzeit seines Sabbats hab* ich noch 
abzuschildern. Nur am Sonntag durfV er mit seiner Justine spa- 
zieren gehen. Vorher nahm er das Abendessen beim Schwieger- 
vater ein, aber mit schlechtem Nutzen; schon unter dem Tisch- 
gebet wurde sein Hundshunger matt und unter den Allotriis da- 
rauf gar unsichtbar. Wenn ich es lesen konnte: so konnt' ich das 
ganze Konterfei dieses Abends aus seiner Messiade haben, in die 
er ihn, ganz wie er war, im sechsten Gesang hineingeflochten, so 
wie alle groBe Skribenten ihren Lebenslauf, ihre Weiber, Kinder, 20 
Acker, Vieh in ihre opera omnia stricken. Er dachte, in der ge- 
druckten Messiade stehe der Abend auch. In seiner wird es episch 
ausgefuhret sein, daB die Bauern auf den Rainen wateten und den 
SchuB der Halme maBen und ihn uber das Wasser heruber als 
ihren neuen wohlverordneten Kantor griiBten - daB die Kinder 
auf Blattern schalmeiten und in Batzen-Floten stieBen und daB 
alle Busche und Blumen- und Bliitenkelche vollstimmig besetzte 
Orchester waren, aus denen alien etwas heraus sang oder sumsete 
oder schnurrte - und daB alles zuletzt so feierlich wurde, als hatte 
die Erde selber einen Sonntag, indem die Hohen und Walder um 50 
diesen Zauberkreis rauchten und indem die Sonne gen Mitter- 
nacht durch einen illuminierten Triumphbogen hinunter-, und 
der Mond gen Mittag durch einen blassen Triumphbogen herauf- 
zog. O du Vater des Lichts ! mit wie viel Farben und Strahlen und 
Leuchtkugeln fassest du deine bleiche Erde ein! - Die Sonne 
kroch jetzt ein zu einem einzigen roten Strahle, der mit dem 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 445 

Widerscheine der Abendrote auf dem Gesichte der Braut zusam- 
menkam; und diese, nur mit stummen Gefiihlen bekannt, sagte 
zu Wutz, daB sie in ihrer Kindheit sich oft gesehnet hatte, auf den 
roten Bergen der Abendrote zu stehen und von ihnen mit der 
Sonne in die schonen rotgemalten Lander hinunterzusteigen, die 
hinter der Abendrote lagen. Unter dem Gebetlauten seiner Mutter 
legt' er seinen Hut auf die Knie und sah, ohne die Hande zu falten, 
an die rote Stelle am Himmel, wo die Sonne zuletzt gestanden, 
und hinab in den ziehenden Strom, der tiefe Schatten trug; und es 

o war ihm, als lautete die Abendglocke die Welt und noch einmal 
seinen Vater zur Ruhe - zum ersten und letzten Male in seinem 
Leben stieg sein Herz iiber die irdische Szene hinaus - und es rief, 
schien ihm, etwas aus den Abendtonen herunter, er werde jetzo 
vor Vergniigen sterben — Heftig und verziickt umschlang er 
seine Braut und sagte: »Wie lieb nab* ich dich, wie ewig lieb !« 
Vom Flusse klang es herab wie Flotengeton und Menschengesang 
und zog naher; auBer sich druckt' er sich an sie an und wollte ver- 
einigt vergehen und glaubte, die Himmeltone hauchten ihre bei- 
den Seelen aus der Erde weg und dufteten sie wie Taufunken auf 

10 den Auen Edens nieder. Es sang: 

O wie schon ist Gottes Erde 
Und wert, darauf vergniigt zu sein ! 
Drum will ich, bis ich Asche werde, 
Mich dieser schonen Erde freun. 

Es war aus der Stadt eine Gondel mit einigen Floten und sin- 
genden JiingHngen. Er und Justine wanderten am Ufer mit der 
ziehenden Gondel und hie hen ihre Hande gefaBt und Justine 
suchte leise nachzusingen ; mehre Himmel gingen neben ihnen. 
Als die Gondel um eine Erdzunge voll Baume nerurnschiffte : 
jo hielt Justine ihn sanft an, damit sie nicht nachkamen, und da das 
Fahrzeug dahinter verschwunden war, fiel sie ihm mit dem ersten 
errotenden Kusse um den Hals.... O unvergeBliche* erster Ju- 
nius I schreibt er. - Sie begleiteten und belauschten von weitem 
die schiffenden Tone ; und Traume spielten um beide, bis sie sagte ; 
»Es ist spat, und die Abendrote hat sich schon weit herumgezogen, 



446 DIE UNSICHTBARE LOGE 

und es ist alles im Dorfe still.« Sie gingen nach Hause; er dffnete 
die Fenster seiner mondhellen Stube und schlich mit einem leisen 
Gutenacht bei seiner Mutter voriiber, die schon schlief. - 

Jeden Morgen schien ihn der Gedanke wie Tageslicht an, daB 
er dem Hochzeittage, dem 8 ten Junius, sich um eine Nacht naher 
geschlafen; und am Tage lief die Freude mit ihm herum, daB er 
durch die paradiesischen Tage, die sich zwischen ihn und sein 
Hochzeitbett gestellet, noch nicht durchware. So hielt er, wie der 
metaphysische Esel, den Kopf zwischen beiden Heubiindeln, 
zwischen der Gegenwart und Zukunft; aber er war kein Esel oder i< 
Scholastiker, sondern grasete und rupfte an beiden Bundeln auf 
einmal.... Wahrhaftig die Menschen sollten niemals Esel sein, 
weder indifferentistische, noch holzerne, noch bileamische, und 

ich habe meine Griinde dazu Ich breche hier ab, weil ich noch 

iiberlegen will, ob ich seinen Hochzeittag abzeichne oder nicht. 
Musivstifte nab' ich ubrigens dazu ganze BundeL - 

Aber wahrhaftig ich bin weder seinem Ehrentage beigewohnet, 
noch einem eignen ; ich will ihn also bestens beschreiben und mir- 
ich hatte sonst gar nichts - eine Lustpartie zusammen machen. 

Ich weiB iiberhaupt keinen schicklichern Ort oder Bogen als 20 
diesen dazu, daB die Leser bedenken, was ich ausstehe: die ma- 
gischen Schweizergegenden, in denen ich mich lagere - die Apol- 
los- und Venusgestalten, denen sich mein Auge ansaugt - das er- 
habne Vaterland, fur das ich das Leben hingebe, das es vorher ge- 
adelt hat - das Brautbett, in das. ich einsteige, alles das ist von 
fremden oder eignen Fingern bloB - gemalt mit Dinte oder 
Druckerschwarze; und wenn nur du, du Himmlische, der ich treu 
bleibe, die mir treu bleibt, mit der ich in arkadischen Julius- 
Nachten spazieren gehe, mit der ich vor der untergehenden Sonne 
und vor dem aufsteigenden Monde stehe und um derenwillen ich 30 
alle deine Schwestern Hebe, wenn nur du - warest; aber du bist 
ein Attar blatt y und ich finde dich nicht. 

Dem Nil, dem Herkules und andern Gottern brachte man zwar 
auch, wie mir, nur nachbossierte Madchen dar; aber vorher be- 
kamen sie doch reelle. 

Wir rmissen schon am Sonnabend ins Schul- und Hochzeithaus 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 447 

gucken, um die Pramissen dieses Rusttags zum Hochzeittag ein 
wenig vorher wegzuhaben: am Sonntag haben wir keine Zeit da- 
zu; so ging auch die Schopfung der Welt (nach den altern Theo- 
logen) darum in sechs Tagwerken und nicht in einer Minute vor, 
damit die Engel das Naturbuch, wenn es allmahlich aufgeblattert 
wurde, leichter zu ubersehen hatten. Am Sonnabend rennt der 
Brautigam auffallend in zwei corporibus piis aus und ein, im 
Pfarr- und im Schulhaus, um vier Sessel aus jenem in dieses zu 
schaffen. Er borgte diese Gestelle dem Senior ab, um den Kom- 

io modator selbst darauf zu weisen als seinen Fiirstbischof und die 
Seniorin als Frau Patin der Braut und den Subprafektus aus dem 
Alumneum und die Braut selbst. Ich weiB so gut als andre, inwie- 
weit dieser mietende Luxus des Brautigams nicht in Schutz zu 
nehmen ist; allerdings papillotierten die gigantischen Mietstiihle 
(Menschen und Sessel schrumpfen jetzt ein) ihre falschen Rind- 
haar-Touren an Lehne und Sitz mit blauem Tuche, MilchstraBen 
von gelben Nageln sprangen auf gelben Schniiren als Blitzeherum, 
und es bleibt gewiB, daB man so weich auf den Randern dieser 
Stiihle aufsaB, als triige man einen DoppelsteiB - wie gesagt, die- 

20 sen SteiB-Luxus des Glaubigers und Schuldners hab' ich niemals 
zum Muster angepriesen; aber auf der andern Seite muB doch 
jeder, der in den »Sckul{ von Paris« hineingesehen, bekennen, daB 
die Verschwendung im Palais royal und an alien Hofen offenbar 
groBer ist. Wie werd' ich vollends solche Methodisten von der 
strengen Observanz auf die Seite des GroBvater- oder Sorgestuhls 
Wutzens bringen, der mit vier holzernen Lowentatzen die Erde 
ergreift, welche mit vier Querholzern - den Sitz-Konsolen mun- 
terer Finken und Gimpel - gesponselt sind, dessen Haar-Chignon 
sich mit einer gebliimten ledernen Schwarte mehr als zu prachtig 

30 besohletj und welcher zwei holzerne behaarte Arme, die das Alter, 
wie menschliche, durrergemacht,nacheinemInsaB ausstreckt ? . . . 
Dieses Fragzeichen kann manchen, weil er den langen Perioden 
vergessen, frappieren. 

Das zinnene Tafel-Servicej das der Brautigam noch von seinem 
Fiirstbischof holte, kann das Publikum beim Auktionproklamator, 
wenn es anders versteigert wird, besser kennen lernen als bei mir: 



44 8 DIE UNSICHTBARE LOGE 

so viel wissen die Hochzeitgaste, die Salariere, die Sauciere, die 
Assiette zu Kase und die Senfdose war ein einziger Teller, der 
aber vor jeder Rolle einmal abgescheuert wurde. 

Ein ganzer Nil und Alpheus schoB iiber jedes Stubenbrett, wo- 
von gute Gartenerde wegzuspiilen war, an jede Bettpfoste und an 
den Fensterstock hinan und HeB den gewohnlichen Bodensatz der 
Flut zuruck - Sand. Die Gesetze des Romans Tvurden verlangen, 
daB das Schulmeisterlein sich anzoge und sich auf eine Wiese 
unter ein wogendes Zudeck von Gras und Blumen streckte und 
da durch einen Traum der Liebe nach dem andern hindurch sank' i< 
und brache — allein er rupfte Hiihner und Enten ab, spaltete Kaffee- 
und Bratenholz und die Braten selbst, kredenzte am Sonnabend 
den Sonntag und dekretierte und vollzog in der blauen Schiirze 
seiner Schwiegermutter funfzig Kuchen-Verordnungen und 
sprang, den Kopf mit Papilloten gehornt und das Haar wie einen 
Eichhornchenschwanz emporgebunden, hinten und vornen und 
iiberall herum: »denn ich mache nicht alle Sonntage Hochzeit«, 
sagt' er. 

Nichts ist widriger, als hundert Vorlaufer und Vorreiter zu 
einer winzigen Lust zu sehen und zu horen; nichts ist aber suBer, 20 
als selber mit vorzureiten und vorzulaufen; die Geschaftigkeit, 
die wir nicht blofi sehen, sondern teilen, macht nachher das Ver- 
gniigen zu einer von uns selbst gesaeten, besprengten und aus- 
gezognen Frucht; und obendrein befallt uns das Herzgespann des 
Passens nicht. 

Aber, lieber Himmel, ich brauchte einen ganzen Sonnabend, 
um diesen nur zu rapportieren: denn ich tat nur einen vorbei- 
fliegenden Blick in die Wutzische Kiiche - was da zappelt! was 
da raucht! - Warum ist sich Mord und Hochzeit so nahe wie die 
zwei Gebote, die davon reden? Warum ist nicht bloB eine furst- 30 
liche Vermahlung oft fur Menschen, warum ist auch eine biirger- 
liche fur Gefiiigel eine Parisische Bluthochzeit? 

Niemand brachte aber im Hochzeithaus diese zwei Freudentage 
miBvergniigter und fataler zu als zwei Stechfinken und drei Gim- 
pel; diese inhaftierte der reinliche und vogelfreundliche Brauti- 
gam samtlich - vermittelst eines Treibjagens mit Schurzen und 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 449 

geworfnen Nachtmiitzen - und notigte sie, aus ihrem Tanz-Saale 
in ein paar Draht-Kartausen zu fahren und an der Wand, in Man- 
sarden springend, herabzuhangen. 

Wutz berichtet sowohl in seiner »Wutzischen Urgeschichte<( 
als in seinem »Lesebuch fiir Kinder mittlern Alters«, daB abends 
um 7 Uhr, da der Schneider dem Hymen neue Hosen und Gilet 
und Rock anprobierte, schon alles blank und metrisch und neu- 
geboren war, ihn selber ausgenommen. Eine unbeschreibliche 
Ruhe sitzt auf jedem Stuhl und Tisch eines neugestellten brillan- 

o tierten Zimmers! In einem chaotischen denkt man, man miisse 
noch diesen Morgen ausziehen aus dem aufgekiindigten Loge- 
ment. 

Ober seine Nacht (so wie iiber die folgende) fliegen ich und die 
Sonne hiniiber, und wir begegnen ihm, wenn er am Sonntage, 
gerotet und elektrisiert vom Gedanken des heutigen Himmels, 
die Treppe herablauft in die anlachende Hochzeitstube hinein, die 
wir alle gestern mit so vieler Miihe und Dinte aufgeschmuckt 
haben vermittelst Schonheitwasser - mouchoir de Venus und 
Schminklappen (Waschlappen) - Puderkasten (Topf mit Sand) 

•.o und anderem Toiletten-Schiffund Geschirr. Er war in der Nacht 
siebenmal aufgewacht, um sich siebenmal auf den Tag zu freuen; 
und zwei Stunden friiher aufgestanden, um beide Minute fiir Mi- 
nute aufzuessen. Es ist mir, als ging' ich mit dem Schulmeister 
zur Tur .hinein, vor dem die Minuten des Tages hinstehn wie 
Honigzellen - er schopfet eine um die andre aus, und jede Minute 
tragt einen weitern Honigkelch. Fiir eine Pension auf Lebenlang 
ist dennoch der Kantor nicht vermogend, sich auf der ganzen Erde 
ein Haus zu denken, in dem jetzo nicht Sonntag, Sonnenschein 
und Freude ware; nein! - Das zweite, was er unten nach der Ture 

.0 auftat, war ein Oberfenster, um einen auf- und niederwallenden 
Schmetterling - einen schwimmenden Silberflitter, eine Blumen- 
Folie und Amors Ebenbild - aus Hymens Stube fortzulassen. Dann 
fiitterte er seine Vogel-Kapelle in den Bauern zum voraus auf den 
larmenden Tag und fiedelte auf der vaterlichen Geige die Schleifer 
zum Fenster hinaus, an denen er sich aus der Fastnacht an die 
Hochzeitnacht herangetanzt. Es schlagt erst 5 Uhr, mein Trauter, 



450 DIE UNSICHTBARE LOGE 

wir haben uns nicht zu iibereilen ! Wir wollen die zwei Ellen lange 
Halsbinde (die du dir ebenfalls, wie friiher die Braut, antanzest, 
indem die Mutter das andre Ende halt) und das Zopfband glatt 
umhaben, noch zwei vollige Stunden vor dem Lauten. Gern gab' 
ich den GroBvaterstuhl und den Ofen, dessen Assessor ich bin, 
dafur, wenn ich mich und meine Zuhorerschaft jetzt zu transpa- 
renten SylphidenzuverdunnenwuBte;damitunsereganze Briider- 
schaft dem zappelnden Brautigam ohne Stoning seiner stillen 
Freude in den Garten nachfloge, wo er fiir ein weibliches Herz, 
das weder ein diamantnes noch ein welsches ist, auch keine Blumen, i 
die es sind, abschneidet, sondern lebende — wo er die blitzenden 
Kafer und Tautropfen aus den Blumenblattern schiittelt und gern 
auf den Bienenriissel wartet, den zum letzten Male der rmitterliche 
Blumenbusen sauget — wo er an seine Knaben-Sonntagmorgen 
denkt und an den zu engen Schritt iiber die Beete und an das kalte 
Kanzelpult, auf welches der Senior seinen StrauB auf Iegte. Gehe 
nach Haus, Sohn deines Vorfahrers, und schaue am achten Junius 
dich nicht gegen Abend urn, wo der stumme, sechs FuB dicke 
Gottesacker iiber manchen Freunden liegt, sondern gegen Mor- 
gen, wo du die Sonne, die Pfarrtiire und deine hineinschlupfende 2 
Justine sehen kannst, welche die Frau Patin nett ausfrisieren und 
einschnuren will. Ich merk' es leicht, daB meine Zuhorer wieder 
in Sylphiden verfliichtigt werden wollen, um die Braut zu um- 
fiattern; aber sie siehts nicht gern. 

Endlich lag der himmelblaue Rock - die Livreefarbe der Muller 
und Schulmeister - mit geschwarzten Knopflochern und die 
plattende Hand seiner Mutter, #e alle Briiche hob, am Leibe des 
Schulmeisterleins, und es darf nur Hut und Gesangbuch nehmen. 
Und jetzt - ich weiB gewiB auch, was Pracht ist, fiirstliche bei 
fiirstlichen Vermahlungen, das Kanonieren, Illuminieren, Exer- 3 
zieren und Frisieren dabei; aber mit der Wutzischen Vermahlung 
stell* ich doch dergleichen nie zusammen : sehet nur dem Mann 
hintennach, der den Sonnen- und Himmelweg zu seiner Braut 
geht und auf den andern Weg driiben nach dem Alumneum schauet 
und denkt: »wer hatt's vor vier Jahren gedacht«; ich sage, sehet 
ihm nach ! Tut es nicht auch die Auenthaler Pfarrmagd, ob sie 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 45 I 

gleich Wasser tragt, und henkt einen solchen prachtigen vollen 
Anzug bis auf jede Franse in ihren Gehirn- und Kleiderkammern 
auf? Hat er nicht eine gepuderte Nasen- und Schuhspitze? Sind 
nicht die roten Torflugel seines Schwiegervaters aufgedreht, und 
schreitet er nicht durch diese ein, indes die von der Haarkrauslerin 
abgefertigte Verlobtedurch das Hoftiirchen schleicht? Und stoBen 
sie nicht so mobliert und uberpudert aufeinander, da/3 sie das Herz 
nicht haben, sich Guten Morgen zu bieten? Denn haben beide in 
ihrem Leben etwas Prachtigers und Vornehmeres gesehen als sich 

> einander heme? 1st in dieser verzeihlichen VerJegenheit nicht der 
lange Span ein Gliick, den der kleine Bruder zugeschmtzt und den 
er der Schwester hinreckt, damit sie darum wie um einen Wein- 
pfahl die Blumen-Staude und Geruch-Quaste fiir des Kantors 
Knopfloch winde und giirte? Werden neidsiichtige Damen meine 
Freunde bleiben, wenn kh meinen Pinsel eintunke und ihnen da- 
mit vorfarbe die Pariire der Braut, das zitternde Gold statt der 
Zitternadel im Haar, die drei goldnen Medaillons auf der Brust 
mit den Miniaturbildern der deutschen Kaiser 1 und tiefer die in 
Knopfe zergossenen Silberbarren ? Ich konnt* aber den Pinsel 

> fast jemand an den Kopf werfen, wenn mir beifallt, mein Wutz 
und seine gute Braut werden mir, wenns abgedruckt ist, von den 
Koketten und anderem Teufelszeuge gar ausgelacht: glaubt ihr 
denn aber, ihr stadtischen distillierten und tatowierten Seelen- 
verkauferinnen, die ihr alles an Mannspersonen messet und liebt, 
ihr Herz ausgenommen, daB ich oder meine meisten Herren Leser 
dabei gleichgiiltig bleiben konnten, oder daB wir nicht alle eure 
gespannten Wangen, eure zuckenden Lippen, eure mit Witz und 
Begierde sengenden Augen und eure jedem Zufall gefiigigen Arme 
und selber euere empfindsamen Deklamatorien mit SpaB hin- 

> gaben fiir einen einzigen Auftritt, wo die Liebe ihre Strahlen in 
dem Morgenrot des Schamens bricht, wo die unschuldige Seele 
sich vor jedem Aug* entkleidet, ihr eignes ausgenommen, und wo 
hundert innere Kampfe das durchsichtige Angesicht beseelen, und 
kurz worin mein Brautpaar selbst agierte, da der alte lustige Kauz 

1 In manchen deutschen Gegenden tragen die Madchen drei Dukaten am 
Halse. 



452 DIE UNSICHTBARE LOGE 

von Schwiegervater beider gekrauselten und weiBbltihenden 
Kopfe habhaft wurde und sie gescheit zu einem KuB zusammen- 
Ienkte? Dein freudiges Erroten, Heber Wutz! - und dein ver- 
schamtes, Hebe Justine! - 

Wer wird iiberhaupt diesen und dergleichen Sachen kurz vor 
seinen Sponsalien scharfer nachdenken und nachher delikater 
spielen als gegenwartiger Lebensbeschreiber selber? 

Der Larm der Kinder und Biittner auf der Gasse und der Re- 
zensenten in Leipzig hindern ihn hier, alles ausfiihrlich herzu- 
setzen, die prachtigen Eckenbeschlage und dreifachen Man- i< 
schetten, womit der Brautigam auf der Orgel jede Zeile des Cho- 
rals versah - den holzernen Engelfittich, woran er seinen Kurhut 
zum Chor hinaushing - den Namen Justine an den Pedalpfeifen - 
seinen Spa 6 und seine Lust, da sie einander vor der Kirchen- 
agende (der Goldnen Bulle und dem Reichsgrundgesetze des 
Eheregiments) die rechten Hande gaben und da er mit seinem 
Ringfinger ihre hohle Hand gleichsam hinter einem Bettschirm 
neckte - und den Eintritt in die Hochzeitstube, wo vielleicht die 
groBten und vornehmsten Leute und Gerichte des Dorfs einander 
begegneten, ein Pfarrer, eine Pfarrerin, ein Subprafektus und eine *< 
Braut. Es wird aber Beifall finden,daBichmeineBeineauseinander 
setze und damit uber die ganze Hochzeittafel und Hochzeittrift 
und uber den Nachmittag wegschreite, um zu horen, was sie 
abends angeben — einen und den andern Tanz gibt der Subpra- 
fektus an. Es ist im Grunde schon alles auBer sich - Ein Tobak- 
Heerrauch und ein Suppen-Dampf bad woget um drei Lichter und 
scheidet einen vom andern durch Nebelbanke - Der Violoncellist 
und der Violinist streichen fremdes Gedarm weniger, als sie eignes 
fxillen - Auf der Fensterbriistung guckt das ganze Auenthal als 
Galerie zappelnd herein, und die Dorfjugend tanzt drauBen, 3< 
dreiBig Schntte von dem Orchester entfernt, im ganzen recht 
hiibsch - Die alte Dorf-La Bonne schreiet ihre wichtigsten Per- 
sonalien der Seniorin vor, und diese nieset und hustet die ihrigen 
los, jede will ihre historische Notdurft fruher verrichten und sieht 
ungern die andre auf dem Stuhle seBhaft - Der Senior sieht wie 
ein SchoBjunger des SchoBj lingers Johannes aus, welchen die 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 453 

Maler mit einem Becher in der Hand abmalen, und lacht lauter. 
als er predigt - Der Prafektus schieBet als Elegant herum und ist 
von niemand zu erreichen - Mein Maria platschert und fahrt unter 
in alien vier Fliisseri des Paradieses, und des Freuden-Meers 
Wogen heben und scha'ukeln ihn allmachtig. - BloB die eine 
Brautfuhrerin (mit einer zu zarten Haut und Seele fur ihren 
schwielenvollen Stand) hort die Freuden-Trommel wie von einem 
Echo gedampft und wie bei einer Konigleiche mit Flor bezogen, 
und die stille Entziickung spannt in Gestalt eines Seufzers die ein- 

o same Brust. - Mein Schulmeister (er darf zweimal im Kiichen- 
stiick herumstehen) tritt mit seiner Trauunghalfte unter die Haus- 
tiir, deren dessus de porte ein Schwalben-Globus ist, und schauet 
auf zu dem schweigenden glimmenden Himmel iiber ihm und 
denkt, jede groBe Sonne gucke herunter wie ein Auenthaler und 

zu seinem Fenster hinein Schiffe frohlich uber deinen ver- 

diinstenden Tropfen Zeit, du kannst es; aber wir konnens nicht 
alle: die eine Brautfuhrerin kanns auch nicht -Ach, war' ich wie 
du an einem Hochzeitmorgen dem angstlichen, den Blumen ab- 
gefangnen Schmetterling begegnet, wie du der Biene im Bliiten- 

o kelch, wie du der um 7 Uhr abgelaufnen Turmuhr, wie du dem 
stummen Himmel oben und dem Iauten unten : so hatt' ich ja daran 
denken miissen, daB nicht auf dieser sturmenden Kugel, wo die 
Winde sich in unsre kleinen Blumen wiihlen, die Ruhestatte zu 
suchen sei, auf der uns ihre Diifte ruhig umflieBen, oder ein Auge 
ohne Staub zu finden, ein Auge ohne Regentropfen, die jene Stiirme 
an uns werfen - und ware die blitzende Gottin der Freude so nahe 
an meinem Busen gestanden : so hatt' ich doch auf jene Aschen- 
haufchen hinubergesehen, zu denen sie mit ihrer Umarmung, aus 
der Sonne gebiirtig und nicht aus unsern Eiszonen, schon die 

o armen Menschen verkalkte; - und o wenn mich schon die vorige 
Beschreibung eines groBen Vergniigens so traurig zuriicklieB : so 
mufit' ich, wenn erst du, aus ungemessenen Hohen in die tiefe 
Erde hereinreichende Hand! mir eines, wie eine Blume auf einer 
Sonne gewachsen, herniederbrachtest, auf diese Vaterhand die 
Tropfen der Freude fallen Iassen und mich mit dem zu schwachen 
Auge von den Menschen wegwenden .... 



454 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Jetzt, da ich dieses sage, ist Wutzens Hochzeit langst vorbei, 
seine Justine ist alt und er selber auf dem Gottesacker; der Strom 
der Zeit hat ihn und alle diese schimmernden Tage unter vier-, 
funffache Schichten Bodensatz gedriickt und begraben; - auch an 
uns steigt dieser beefdigende Niederschlag immer hoher auf; in 
drei Minuten erreicht er das Herz und iiberschlichtet mich und 
euch. 

In dieser Stimmung sinne mir keiner an, die vielen Freuden des 
Schulmeisters aus seinem Freuden-Manuale mitzuteilen, be- 
sonders seine Weihnacht-, Kirchweih- und Schulfreuden-eskann k 
vielleicht noch geschehen in einem Posthumus von Postskript, 
das ich nachliefere, aber heute nicht! Heute ists besser, wir sehen 
den vergnugten Wutz zum letzten Mai lebendig und tot und gehen 
dann weg. 

Ich hatte iiberhaupt - ob ich gleich dreiBigmal vor seiner Haus- 
tiir voriibergegangen war - wenig vom ganzen Manne gewuBt, 
wenn nicht am i2 tcn Mai vorigen Jahrs die alte Justine unter ihr 
gestanden ware und mich, da sie mich im Gehen meine Schreib- 
tafel vollarbeiten sah, angeschrien hatte: ob ich nicht auch ein 
Buchermacher ware. - »Was sonst, Liebe?« - versetzt* ich - »jahr- zc 
lich mach* ich dergleichen und schenke alles nachher dem Pub- 
liko.« - So mocht* ich dann, fuhr sie fort, mich auf ein Stiindchen 
zu ihrem Alten hineinbemiihen, der auch ein Buchmacher sei, mit 
dem es aber elend aussehe. 

Der Schlag hatte dem Alten, vielleicht weil er eine Flechte 
talersgroB am Nacken hineingeheilet, oder vor Alter, die linke 
Seite gelahmt. Er saB im Bette an einer Lehne von Kopf kissen und 
hatte ein ganzes Warenlager, das ich sogleich spezifizieren werde, 
auf dem Deckbette vor sich. Ein Kranker tut wie ein Reisender - 
und was ist er anders? - sogleich mit jedem bekannt; so nahe mit 3< 
dem FuBe und Auge an erhabnern Welten, macht man in dieser 
raudigen keine Umstande mehr. Er klagte, es hatte sich seine Alte 
schon seit drei Tagen nach einem Biicherschreiber umschauen 
miissen, hatt' aber keinen ertappt, auBer eben; »er muss' aber 
einen haben, der seine Bibliothek ubernehme, ordne und inven- 
tiere und der an seine Lebensbeschreibung, die in der ganzen Bib- 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 455 

liothek ware, seine letzten Stunden, falls er sie jetzt hatte, zur 
Komplettierung gar hinanstieBe; denn seine Alte ware keine Ge- 
lehrtin und seinen Sohn hatt* er auf drei - Wochen auf die Uni- 
versitat Heidelberg gelassen.« 

Seine Aussaat von Blattern und Runzeln gab seinem runden 
kleinen Gesichtchen auBerst frohliche Lichter; jede schien ein 
lachelnder Mund : aber es gefiel mir und meiner Semiotik nicht, 
daB seine Augen so blitzten, seine Augenbraunen und Mund- 
Ecken so zuckten und seine Lippen so zitterten. 

10 Ich will mein Versprechen der Spezifikation halten: Auf dem 
Deckbette lag eine griintaftne Kinderhaube, wovon das eine Band 
abgerissen war, eine mit abgegriffnen Goldflitterchen iiberpichte 
Kinderpeitsche, ein Fingerring von Zinn, eine Schachtel mit 
Zwerg-Buchelchen in 1 28-Format, eine Wanduhr, ein beschmutz- 
tes Schreibbuch und ein Finkenkloben fingerlang. Es waren die 
Rudera und Spatlinge seiner verspielten Kindheit. Die Kunst- 
kammer dieser seiner griechischen Altenumer war von jeher unter 
der Treppe gewesen — denn in einem Haus, das der Blumenkiibel 
und Treibkasten eines einzigen Stammbaums ist, bleiben die 

io Sachen jahrfunfziglang in ihrer Stelle ungeruckt -; und da es von 
seiner Kindheit an ein Reichsgrundgesetz bei ihm war, alle seine 
Spielwaren in geschichtlicher Ordnung aufzuheben, und da kein 
Mensch das ganze Jahr unter die Treppe guckte als er: so konnt' 
er noch am Rusttage vor seinem Todestage diese Urnenkriige 
eines schon gestorbenen Lebens um sich stellen und sich zuriick- 
freuen, da er sich nicht mehr vorauszufreuen vermochte. Du 
konntest freilich, kleiner Maria, in keinen Antikentempel zu Sans- 
souci oder zu Dresden eintreten und darin vor dem Weltgeiste der 
schonen Natur der Kunst niederfallen; aber du konntest doch in 

*o deine Kindheit- Antiken-Stiftshutte unter der finstern Treppe 
gucken, und die Strahlen der auferstehenden Kindheit spielten, 
wie des gemalten Jesuskindes seine im Stall, an den diistern Win- 
keln ! O wenn groBere Seelen als du aus der ganzen Orangerie der 
Natur so viel siiBe Safte und Diifte sogen als du aus dem zackigen 
griinen Blatte, an das dich das Schicksal gehangen: so wiirden 
nicht Blatter, sondern Garten genossen, und die bessern und doch 



4$6 DIE UNSICHTBARE LOGE 

glucklichern Seelen verwunderten sich nicht mebr, daB es ver~ 
gnilgte Meisterlein geben kann. 

Wutz sagte und bog den Kopf gegen das Biicherbrett hin; 
»Wenn ich mich an meinen ernsthaften Werken matt gelesen und 
korrigiert: so schau* ich stundenlang diese Schnurrpfeifereien an, 
und das wird hoffentlich einem Bucherschreiber keine Schande 
sein.« 

Ich wuBt* aber nicht, womit der Welt in dieser Minute mehr 
gedient ist, als wenn ich ihr den rasonierenden Katalog dieser 
Kunststiicke und Schnurrpfeifereien ziiwende, den rriir der Patient i< 
zuwandte. Den zinnenen Ring hatt* ihm die vie'rjahrige Mamsell 
des vorigen Pastors, da sie miteinander von einem Spielkamera- 
den ehrlich und ordentlich kopuliert wurden, als Ehepfand an- 
gesteckt — das elende Zinn lotete ihn fester an sie als edlere Metalle 
edlere Leute, und ihre Ehe brachten sie auf vierundfunfzig Mi- 
nuten. Oft wenn er nachher als geschwarzter Alumnus sie mit 
nickenden Federn-Standarten am diinnen Arme eines gesprenkel- 
ten Elegant spazieren gehen sah, dachte er an den Ring und an die 
alte Zeit. Cberhaupt hab' ich bisher mir unniitze Muhe gegeben, 
es zu verstecken, daB er in alles sich verliebte, was wie eine Frau *■ 
aussah; alle Frohliche seiner Art tun dasselbe; und vielleicht 
konnen sie es, well ihre Liebe sich zwischen den beiden Extremen 
von Liebe aufhalt und beiden abborgt, so wie der Busen Band 
und Kreole der platonischen und der epikurischen Reize ist. - 
Da er seinem Vater die Turmuhr aufziehen half, wie vorzeiten 
die Kronprinzen mit den Vatern in die Sitzungen gingen: so 
konnte so eine kleine Sache ihm einen Wink geben, ein lackiertes 
Kastchen zu durchlochern und eine Wanduhr daraus zu schnitzen, 
die niemals ging; inzwischen hatte sie doch, wie mehre Staat- 
korper, ihre Iangen Gewichte und ihre eingezackten Rader, die 3 
man dem Gestelle niirnbergischer Pferde abgehoben und so zu 
etwas Besserem verbraucht hatte. - Die griine Kinderhaube, mit 
Spitzen gerandert, das einzige Oberbleibsel seines vorigen vier- 
jahrigen Kopfes, war seine Buste und sein Gipsabdruck vom klei- 
nen Wutz, der jetzt zu einem groBen ausgefahren war. Alltags- 
Kleider stellen das Bild eines toten Menschen weit inniger dar als 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 



457 



sein Portrat; - daher besah Wutz das Griin mit sehnsuchtiger 
Wollust, und es war ihm, als schimmere aus dem Eis des Alters 
eine griine Rasenstelle der langst iiberschneieten Kindheit vor; 
»Nur meinen Unterrock von Flanell«, sagte er, »sollt' ich gar 
haben, der mir allemal unter den Achseln umgebunden wurde!« - 
Mir ist sowohl das erste Schreibbuch des Konigs von PreuBen als 
das des Schulmeisters Wutz bekannt, und da ich beide in Handen 
gehabt: so kann ich urteilen, daB der Konig als Mann und das 
Meisterlein als Kind schlechter geschrieben. »Mutter,« sagt' er zu 

> seiner Frau, »betracht doch, wie dein Mann hier (im Schreibbuch) 
und wie er dort (in seinem kalligraphischen Meisterstuck von 
einem Lehnbrief, den er an die Wand genagelt) geschrieben : ich 
fress' mich aber noch vor Liebe, Mutter !« Er prahlte vor niemand 
als vor seiner Frau; und ich schatze den Vorteil so hoch, als er 
wertist, den die Ehe hat, daB derEhemanndurchsienocheinzwei- 
tes Ich bekommt, vor welchem er sich ohne Bedenken recht herz- 
lich loben kann. Wahrhaftig das deutsche Publikum sollte ein 
solches zweites Ich von uns Autoren abgeben! - Die Schachtel 
war ein Bucherschrank der lilliputischen Traktatchen in Finger- 

) kalender-Format, die er in seiner Kindheit dadurch herausgab, 
daB er einen Vers aus der Bibel abschrieb, es heftete und bloB 
sagte: »AbermaIs einen recht hiibschen Cober 1 gemacht!« Andre 
Autores vermogen dergleichen auch, aber erst wenn sie heran- 
gewachsen sind Als er mir seine jugendliche Schriftstellerei re- 
ferierte, bemerkte er: »Als ein Kind ist man ein wahrer Narr; es 
stach aber doch schon damals der Schriftstellertrieb hervor, nur 
freilich noch in einer unreifen und lacherlichen Gestalt« und be- 
lachelte zufrieden die jetzige. - Und so gings mit dem Finken- 
kloben ebenfalls : war nicht der fingerlange Finkenkloben, den er 

j mit Bier bestrich und auf dem er die Fliegen an den Beinen fing, 
der Vorlaufer des armlangen Finkenkloben, hinter dem er im 
Spatherbst seine schonsten Stunden zubrachte, wie aufihm die 
Finken ihre haBlichsten? Das Vogelstellen will durchaus ein in 
sich selber vergniigtes stilles Ding von Seele haben. 

1 Cobers Kabinettsprediger - in dem mehr Geist steckt (freilich oft ein 
narrischer) als in zwanzig jetzigen ausgelaugten Predigthaufen. 



458 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Es ist leicht begreiflich, dafi seine groBte Krankenlabung ein 
alter Kalender war und die abscheulichen 12 Monatkupfer des- 
selben. In jedem Monat des Jahrs machte er sich, ohne vor einem 
Galerieinspektor den Hut abzunehmen oder an ein Bilderkabinett 
zuklopfen, mehr malerische und artistische Lust als andre Deut- 
sche, die abnehmen und anklopfen. Erdurchwandertenamlichdie 
1 1 Monat-Vignetten - die des Monats, worin er wanderte, lieB er 
weg — und phantasierte in die Holzschnitt-Auftritte alles hinein, 
was er und sie notig hatten. Es muBte ihn freilich in gesunden und 
in krankenTagen letzen, wenn er im Jenner-Winterstiick auf dem 10 
abgerupften schwarzen Baum herumsrieg und sich (mit der Phan- 
tasie) unter den an der Erde aufdriickenden Wolkenhimmel stellte, 
der iiber den Winterschlaf der Wiesen und Felder wie ein Bett- 
himmel sich hinuberkrummte. - Der ganze Junius zog sich mit 
seinen langen Tagen und langen Grasern um ihn herum, wenn er 
seine Einbildung den Junius-Landschaft-Holzschnitt ausbriiten 
lieB, auf welchem kleine Kreuzchen, die nichts als Vogel sein 
sol Iten, durch das graue Druckpapier flogen und auf dem der 
Holzschneider das fette Laubwerk zu Blattergerippen mazerierte. 
Allein wer Phantasie hat, macht sich aus jedem Abschnitzel eine *c 
wundertatige Reliquie, aus jedem Eselkinnbacken eine Quelle; 
die fiinf Sinne reichen ihr nur die Kartons, nur die Grundstriche 
des Vergniigens oder MiBvergniigens. 

Den Mai iiberblatterte der Patient, weil der ohnehin um das 
Haus drauBen stand. Die Kirschbliiten, womit der Wonnemond 
sein griines Haar besteckt, die Maibliimchen, die als Vorsteck- 
rosen iiber seinem Busen duften, beroch er nicht - der Geruch 
war weg -, aber er besah sie und hatte einige in einer Schussel 
neben seinem Krankenbette. 

Ich habe meine Absicht klug erreicht, mich und meine Zuhorer 3< 
fiinf oder sechs Seiten von der traurigen Minute wegzufuhren, in 
der vor unser aller Augen der Tod vor das Bett unsers kranken 
Freundes tritt und langsam mit eiskalten Handen in seine warme 
Brust hineindringt und das vergniigt schlagende Herz erschreckt, 
fangt und auf immer anhalt. Freilich am Ende kommt die Minute 
und ihr Begleiter doch. 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 



459 



Ich blieb den ganzen Tag da und sagte abends, ich konnte in 
der Nacht wachen. Sein lebhaftes Gehirn und sein zuckendes Ge- 
sicht hatten mich fest iiberzeugt, in der Nacht wurde der Schlag 
sich wiederholen; es geschah aber nicht, welches mir und dem 
Schulmeisterlein ein wesentlicher Gefallen war. Denn es hatte mir 
gesagt - auch in seinem letzten Traktatchen stehts — , nichts ware 
schoner und leichter, als an einem heitern Tage zu sterben: die 
Seele sahe durch die geschlossenen Augen die hohe Sonne noch, 
und sie stiege aus dem vertrockneten Leib in das weite blaue 

io Lichtmeer drauBen; hingegen in einer finstern briillenden Nacht 
aus dem warmen Leibe zu mussen, den Iangen Fall ins Grab so 
einsam zu tun, wenn die ganze Natur selber dasaBe und die Augen 
sterbend zuhatte - das ware ein zu harter Tod. 

Um iiVa Uhr nachts kamen Wutzens zwei besten Jugend- 
freunde noch einmal vor sein Bette, der Schlaf und der Traum, 
um von ihm gleichsam Abschied zu nehmen. Oder bleibt ihr lan- 
ger, und seid ihr zwei Menschenfreunde es vielleicht, die ihr den 
ermordeten Menschen aus den blutigen Handen des Todes holet 
und auf eueren wiegenden Armen durch die kalten unterirdischen 

20 Hohlungen mtitterlich traget ins helle Land hin, wo ihn eine neue 
Morgensonne und neue Morgenblumen in waches Leben hau- 
chen? - 

Ich war allein in der Stube - Ich horte nichts als den Atemzug 
des Kranken und den Schlag meiner Uhr, die sein kurzes Leben 
wegmaB - Der gelbe Vollmond hingt tief und groB in Sudenund 
bereifte mit seinem Totenlichte die Maiblumchen des Mannes und 
die stockende Wanduhr und die griine Haube des Kindes - Der 
leise Kirschbaum vor dem Fenster make auf dem Grund von 
Mondlicht aus Schatten einen bebenden Baumschlag in die Stube 
> - Amstillen Himmel wurdezuweilerieinefackelnde Sternschnuppe 
niedergeworfen, und sie verging wie ein Mensch - Es fiel mir bei, 
die namliche Stube, die jetzt der schwarz ausgeschlagene Vorsaal 
des Grabes war, wurde morgen vor 43 Jahren, am 1 3 tcn Mai, vom 
Kranken bezogen, an welchem Tage seine elysischen Achtwochen 
angegangen - Ich sah, daB der, dem damals dieser Kirschbaum 
Wohlgeruch und Traume gab, dort im driickenden Traume ge- 



460 DIE UNSICHTBARE LOGE 

ruchlos liege und vielleicht noch heute aus dieser Stube ausziehe 
und daB alles, alles voriiber sei und niemals wiederkomme .... und 
in dieser Minute fing Wutz mit dem ungelahmten Arme nach et- 
was, als wollt' er einen entfallenden Himmel erfassen — und in 
dieser zitternden Minute knisterte der Monatzeiger meiner Uhr 

und fuhr, weils 12 Uhr war, vom i2 ten Mai zum i3 ten iiber 

Der Tod schien mir meine Uhr zu stellen, ich horte ihn den 
Menschen und seine Freuden kauen, und die Welt und die 
Zeit schien in einem Strom von Moder sich in den Abgrund 
hinabzubrockeln ! . . . »c 

Ich denke an diese Minute bei jedem mitternachtlichen Ober- 
springen meines Monatzeigers; aber sie trete nie mehr unter die 
Reihe meiner iibrigen Minuten ! 

Der Sterbende - er wird kaum diesen Namen lange mehr haben 
— schlug zwei lodernde Augen auf und sah mich lange an, um mich 
zu kennen. Ihm hatte getraumt, er schwankte als ein Kind sich auf 
einem Lilienbeete, das unter ihm aufgewallet - dieses ware zu 
einer emporgehobnen Rosen- Wolke zusammengeflossen, die 
mit ihm durch goldne Morgenroten und iiber rauchende Blumen- 
felder weggezogen - die Sonne hatte mit einem weiBen Madchen- ™ 
Angesicht ihn angelachelt und angeleuchtet und ware endlich 
in Gestalt eines von Strahlen umflognen Madchens seiner 
Wolke zugesunken und er hatte sich geangstigt, daB er den linken 

gelahmten Arm nicht um und an sie bringen konnen. Da- 

riiber wurd* er wach aus seinem letzten oder vielmehr vorletzten 
Traum; denn auf den langen Traum des Lebens sind die kleinen 
bunten Traume der Nacht wie Phantasieblumen gestickt und 
gezeichnet. 

Der Lebensstrom nach seinem Kopfe wurde immer schneller 
und breiter : er glaubte immer wieder, verjiingt zu sein ; den Mond 30 
hielt er fur die bewolkte Sonne; es kam ihm vor, er sei ein fliegen- 
der Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotterblumen- 
Ketfe aufgehangen, im unendlichen Bogen auf- und niederwo- 
gend, von der vierjahrigen Ringgeberin iiber Abgrunde zur Sonne 

aufgeschaukelt Gegen 4 Uhr morgens konnte er uns nicht 

mehr sehen, obgleich die Morgenrote schon in der Stube war - 



SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 461 

die Augen blickten versteinert vor sich hin-eine Gesichtzuckung 
kam auf die andre-den Mund zog eine Entziickung immer lacheln- 
der auseinander - Friihling-Phantasien, die weder dieses Leben 
erfahren, noch jenes haben wird, spiel ten mit der sinkenden Seele- 
endlich stiirzte der Todesengel den blassen Leichenschleier auf 
sein Angesicht und hob hinter ihm die bliihende Seele mit ihren 
tiefsten Wurzeln aus dem korperlichen Treibkasten voll organi- 

sierter Erde Das Sterben ist erhaben ; hinter schwarzen Vor- 

hangen tut der einsame Tod das stille Wunder und arbeitet fiir 

10 die andre Welt, und die Sterblichen stehen da mit nassen, aber 
stumpfen Augen neben der iiberirdischen Szene — 

»Du guter Vater,« sagte seine Witwe, »wenn dirs jemand vor 
43 Jahren hatte sagen sollen, daB man dich am 1 3 tcn Mai, wo deine 
Achtwochen angingen, hinaustragen wurde!« - »Seine Acht- 
wochen«, sagt* ich, »gehen wieder an, dauern aber langer.« 

Als ich um 1 1 Uhr fortging, war mir die Erde gleichsam heilig, 
und Toteschienen mir neben mirzugehen;ichsahaufzumHim- 
mel, als konnt* ich im endlosen Ather nur in einer Richtung den 
Gestorbnen suchen; und als ich oben auf dem Berge, wo man 

20 nach Auenthal hineinschauet, mich noch einmal nach dem Leidens- 
theater umsah und als ich unter den rauchenden Hausern bloB das 
Trauerhaus unbewolket dastehen und den Totengraber oben auf 
dem Gottesacker das Grab aushauen sah, und als ich das Leichen- 
lauten seinetwegen horte und daran dachte, wie die Witwe im 
stummen Kirchturm mit rinnenden Augen das Seil unten reiBe : 
so fuhlt' ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes 
Leben zu verachten, zu verdienen und zu genieBen. - 

Wohl dir, lieber Wutz, daB ich - wenn ich nach Auenthal gehe 
und dein verrasetes Grab aussuche und mich dariiber kummere, 

30 daB die in dein Grab beerdigte Puppe des Nachtschmetterlings. 
mit Fliigeln daraus kriecht, daB dein Grab ein Lustlager bohren- 
der Regenwurmer, riickender Schnecken, wirbelnder Ameisen 
und nagender Raupchen ist, indes du tief unter alien diesen mit 
unverrucktem Haupte auf deinen Hobelspanen liegst und keine 
liebkosende Sonne durch deine Bretter und deine mit Leinwand 
zugeleimten Augen bricht - wohl dir, daB ich dann sagen kann: 



462 DIE UNSICHTBARE LOGE 

»Als er noch das Leben hatte, genoB ers frohlicher wie wir 
alle.« 

Es ist genug, meine Freunde - es ist 12 Uhr, der Monatzeiger 
sprang auf einen neuen Tag und erinnerte uns an den doppelten 
Schlaf, an den Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen 
Nacht 



AUSLAUTEN ODER SlEBEN LETZTE WoRTE AN DIE LeSER DER 

Lebensbeschreibung und der Idylle 
Am 2i ten Junius oder langsten Tage 

Heute wird also meine kleine Rolle, wenigstens fur den ersten 
Auftritt, aus; sobald ich die sieben Worte gar geschrieben habe: 
so gehen ich und die Leser auseinander. Aber ich trete trauriger 
weg als sie. Ein Mensch, der den Weg zu einem weiten Ziel voll- 
endet hat, wendet sich an diesem urn und sieht unbefriedigt und 
voll neuer Wiinsche iiber die zuriicklaufende StraBe hin, die seine 

io schmalen Stun den wegmaB und die er, wie eine Medea, mit 
Gliedern des Lebens uberstreuete. Eh' es heute Nacht wurde, nab' 
ich alle die Papierspane, die von diesem Buche fielen, eingesargt, 
aber nicht, wie andre Schreiber, eingeaschert - ich habe zugleich 
alle Briefe der Freunde, die mir keine neue mehr schreiben konnen y 
als Akten der in der Erden-Instanz geschlossenen Prozesse inro- 
tuliert und hingelegt. - So etwas sollte der Mensch stets depo- 
nieren und alle Freudenblumen aufkleben, trotz ihrer Vertrock- 
nung, in einem Krauterbuche; nicht einmal seine alten Fracks, 
Pikeschen und Bratenrocke (die iibrigen Kleiderstucke charak- 

io terisieren wenig) sollte er verschenken oder versteigern, sondern 
hinhenken sollt' er sie als Hiilsen seiner ausgekernten Stunden, 
als Puppengehause der ausgeflognen Freuden, als Gewandfall 
oder tote Hand, die der Erinnerung heimfallt von den gestorbenen 
Jahren — 

— Sobald ich heute am Tage, der so lang war als dieses Buch, 
mit dieser Leichenbestattung fertig war: so ging ich in die Nacht 
heraus, die so kurz ist wie die des Lebens . . . und hier steh' ich 
unter dem Himmel und fuhP es wieder wie allemal, da(3 jede iiber- 
stiegne Treppe hienieden sich zur StafFel einer hohern verkiirzt 

30 und daB jeder erkletterte Thron zum FuBschemel eines neuen 
einschrumpft. - Die Menschen bewohnen und bewegen das groBe 



464 DIE UNSICHTBARE LOGE 

Tretrad des Schicksals und glauben darin, sie steigen, wenn sie 
gehen,. . . Warum will i.ch schon wieder ein neues. Buch schreiben 
und in diesem die Ruhe erwarten, die ich im alten nicht fand? — 
Ein buschichter Felsen, der sich iiber einen Steinbruch biickt, 
halt mich hier mit meiner Schreibtafel, in der ich dieses Buch zu 
Ende fuhren will, in der Nacht des Junius empor, den die Maler, 
wie den Tod, mit einer Sense malen. — Es ist iiber 11 Uhr; auf 
dem erloschnen blauen Himmels-Ozean iiber mir glimmt nur hier 
und da ein zitterndes Piinktchen — der Arkturus wirft aus Westen 
seine kleinen Blitze auf seine Erden und auf meine - der groBe 10 
Bar blinkt aus Norden, und die Andromeda aus Osten - der breite 
Mond liegt unter der Erde neben dem Mittage der neuen Welt - 
aber die eingesunkne Abendrote (dieser bunte Sonnen-Schatte) 
beugt den Tagschimmer der neuen Welt gemildert in die alte her- 
ein und wirft ihn iiber zehn iiberlaubte Dorfer urn mich und iiber 
den schwarzen, allein fortredenden Strom, diese lange Wasseruhr 
der Zeit, die damit ein Jahrtausend urns andre misset. - - 

So jammerlich ist der enge Mensch; wenn er ein Buch hinaus 
hat, so biickt er zu alien entlegnen Sonnen auf, ob sie ihm nicht 
zusehen; - bescheidner ware es, er dachte, er werde bloB von 20 

Europa und dessen indischen Besitzungen bemerkt. Ich 

wiinsche nicht, daB mich hier ein Cherub, ein Seraph oder nur ein 
Berggeist mit meiner Schreibtafel und meinen Narrheiten gewahr 
werde. Mich sehe lieber ein Mensch stehen und schreiben : der 
wird mild sein und von seinem eignen Herzen lernen, die Schwa- 
chen eines fremden tragen; der gebrechliche Mensch wird es 
fiihlen und vergeben, daB jeder das Nest, worin er sitzt und quiekt 
und welches das einzige ist, woriiber er mit Schnabel und H— 
hinaussticht, fur den Fokus des Universums halt, fur eine Front- 
loge und Rotunda, die samtlichen Nester aber auf den andern 30 
Baumen fur die Wirtschaftgebaude seines Fokalnestes ..... O ihr 
guten Menschen! warum ist es moglich, daB wir uns untereinan- 
der auch nur eine halbe Stunde kranken? - Ach, in dieser gefahr- 
lichen Dezember-Nacht dieses Lebens, mitten in diesem Chaos 
unbekannter Wesen, welche die Hohe oder Tiefe von uns ent- 
fernt, in dieser verhiilleten Welt, in diesen bebenden Abenden, 



AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE 465 

die sich um unser zerstaubendes Erdchen legen, wie ist es da mog- 
lich, daB der verlassene Mensch nicht die einzige warme Brust 
umschlinge, in der ein Herz liegt wie seines und zu der er sagen 
kann: »Mein Bruder, du bist wie ich und leidest wie ich, und wir 
konnen uns lieben«? - Unbegreif Jicher Mensch ! du sammelst Iie- 
ber Dolche auf und treibest sie, mitten in deiner Mitternacht, in 
die ahnliche Brust, womit der gute Himmel deine warmen und be- 
schirmen wollte ! . . . Ach, ich schaue iiber die beschatteten Blumen- 
grunde hih und sage mir, daB hier sechstausend Jahre mit ihren 
10 schonen hohen Menschen vorubergezogen sind, die keiner von 
uns an seinen Busen driicken konnte - daB noch viele Jahr- 
tausende iiber diese Statte gehen und dariiber himmlische, viel- 
leicht betriibte Menschen fuhren werden, die uns nie begegnen, 
sondern hochstens unsern Urnen, und die wir so gern lieben wiir- 
den - und daB bloB ein paar arme Jahrzehende unseinige fliehende 
Gestalten vorfiihren, die ihr Auge auf uns wenden und in denen 
das verschwisterte Herz fur uns ist, nach dem wir uns sehnen. - 
Umfasset diese eilenden Gestalten; aber bloB aus euren Tranen 
werdet ihr wissen, daB ihr seid geliebet worden. ... 
1 ' - Und eben dieses, daB die Hand eines Menschen iiber so 
wenige Jahre hinausreicht und daB die so wenige gute Hande 
fassen kann, das muB ihn entschuldigen, wenn er ein Buch macht: 
seine Stimme reicht weiter als seine Hand, sein enger Kreis der 
Liebe zerflieBet in weitere Zirkel, und wenn er selber nicht mehr 
ist, so wehen seine nachtonenden Gedanken in dem papiernen 
Laube noch fort und spielen, wie andre zerstiebende Traume, 
durch ihr Gefliister und ihren Schatten von manchem fernen Her- 
zen eine schwere Stunde hinweg. — Dieses ist auch mein Wunsch, 
aber nicht meine HofFnung. Wenn es aber eine schone weiche 
1 3° Seele gibt, die so voll ihres Innern, ihrer Erinnerung und ihrer 
Phantasien ist, daB sie sogar bei meinen schwachen iiberschwillt - 
wenn sie sich und ein voiles Auge, das sie nicht bezwingen kann, 
mit dieser Geschichte verbirgt, weil sie darin ihre eigne, ihre ver- 
schwundnen Freunde, ihre voriibergezognen Tage und ihre ver- 
siegten Tranen wiederfindet: o dann, geliebte Seele, nab* ich an 
dich darin gedacht, ob ich dich gleich nicht kannte, und ich bin 



466 DIE UNSICHTBARE LOGE 

dein Freund, wiewohl nicht dein Bekannter gewesen. Noch 
bessere Menschen werden dir beides sein, wenn duden schlimmern 
verbirgst, was du jenen zeigst, wenn das GottHche in dir, gleich 
Gott, in einer hohen Unsichtbarkeit bleibet, und wenn du sogar 
deine Tranen verschleierst - weil harte Hande sich ausstrecken, 
die gern sie mit dem Auge zerdriicken, wie man nach dem Regen 
alle griinen Spitzen des englischen Gartens niederschleift, damit 
sie nicht weiterkeimen. ... 

— Der helle Stern oder Tautropfe in der Ahre der Jungfrau 
fallt jetzt unter den Horizont. - Ich stehe noch hier auf meiner 10 
blumichten Erde und denke : noch tragst du auf deinen Blumen, 
alte gute Erde, deine Menschenkinder an die Sonne, wie die Mut- 
ter den Saugling ans Licht - noch bist du ganz von deinen Kin- 
dern umschlungen, behangen, bedeckt, und indes Geflugel auf 
deinen Schultern flatten, Tiermassen um deine FiiBe schreiten, 
gefliigelte Goldpunkte um deine Locken schweifen, fuhrest du 
das aufgerichtete hohe Menschengeschlecht an deiner Hand durch 
den Himmel, zeigest uns alien deine Morgenroten, deine Blumen 
und das ganze lichtervolle Haus des unendlichen Vaters und er- 
zahlest deinen Kindern von ihm, die ihn noch nicht gesehen 20 

haben. Aber, gute Mutter Erde, es wird ein Jahrtausend auf- 

gehen, wo alle deine Kinder dir werden gestorben sein, wo der 
feurige Sonnen-Strudel dich in zu nahe verzehrende Kreise an 
sich wird gewirbelt haben : dann wirst du, verwaiset, mit Stummen 
im SchoB, mit Todesasche bestreuet, ode und stumm um deine 
Sonne ziehen, es wird das Morgenrot kommen, es wird der Abend- 
stern schimmern, aber die Menschen alle werden tief schlafen auf 
deinen vier Welt-Armen und nichts mehr sehen, . . . Alle werden 
es? — Ach, dann lege eine hohere trostende Hand unserem Mit- 
bruder, der iulet%t entschlaft, den letzten Schleier ohne Zogern $c 
iiber das einsame Auge 

Das Abendrot schimmert schon in Norden - auch in meiner 

Seele ist die Sonne hinunter und am Rande zucket rotes Licht und 
mein Ich wird finster - die Welt vor mir liegt in einem festen 
Schlafe und hort und redet nicht - es setzet sich in mir zusammen 
eine bleiche Welt aus Totengebeinen - die alten Stunden stauben 



AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE 



467 



sich ab, es brauset, wie wenn an den Grenzen der Erde eine Ver- 
nichtung anfinge und ich heruberhorte das Zerbrechen einer Sonne 
- der Strom stockt und alles ist stille - ein schwarzer Regenbogen 
kriimmt sich aus Gewittern zusammen iiber diese hulf lose Erde. 

— Siehe! es tritt eine Gestalt unter den schwarzen Bogen, es 
schreitet iiber die Junius-Blumen ungehort ein unermeBliches 
Skelett und geht zu meinem Berge heran - es verschlingt Sonnen, 
erquetscht Erden, tritt einen Mond aus und ragt hoch hinein in 
das Nichts - das hohe weiBe Gebein durchschneidet die Nacht, 
halt %wei Menschen an den Handen> blickt mich an und sagt: »Ich 
bin der Tod — ich habe an jeder Hand einen Freund von dir, aber 
sie sind unkenntlich.« 

Mein Mund lag auf die Erde gesturzt, mein Herz schwamm im 
Gifte des Todes - aber ich horte noch sterbend ihn reden. 

»Ich tote dich jetzt auch, du hast meinen Namen oft genennt und 
ich habe dich gehort^ ich habe schon eine Ewigkeit zerbrockelt 
und greife in alle Welten hinein und erdriicke; ich steige aus den 
Sonnen in euren dumpfen, hnstern Winkel nieder, wo der Men- 
schen-Salpeter anschieBet, und streich' ihn ab. . . . Lebst du noch, 
' Sterblicher?« 

Da zerging mein verblutetes Herz in eine Trane iiber die Qua- 
len des Menschen - ich richtete mich gebrochen auf und schauete 
nicht auf dieses Skelett Und auf das, was es fiihrte - ich blickte auf 
zu dem Sirius und rief mit der letzten Angst : »VerhuIlter Vater, 
lassest du mich vernichten? Sind diese auch vernichtet? Endigt das 
gequalte Leben in eine Zerschmetterung? Ach, konnten die Her- 
zen, die zertrummert werden, dich nur so kurz lieben?« 

Siehe! da erttfiel droben dem nachtblauen Himmel ein heller 
Tropfe, so grpB wie eine Trane, und sank wachsend neben einer 
> Welt nach der andern vorbei - Als er groB und mit tausend Far- 
benblitzen durch den schwarzen Bogen drang: so grunte und 
bliihte dieser wie ein Regenbogen und unter ihm waren keine Ge- 
stalten mehr- und als der Tropfen grpB-glimmend wie eine Sonne 
auf fiinf Blumen lag: so uberfloB ein irrendes Feuer die griine 
Flache und erhellete einen schwarzen Flor, der ungesehen die 
Erde umfasset hatte.Der Flor zog sich schwellend auf zu einem 



4^8 DIE UNSIC.HTBARE LOGE 

unendlichen Zelte und riB von der Welt ab und fiel zu einem 
Leichenschleier zusammen und blieb in einem Grabe. - Da ward 
die Erde ein tagender Himmel, aus den Sternen staubte ein war- 
mer Regen von Iichten Piinktchen nieder, am Horizont standen 
weiBe Saulen aufgepflan{t - von Westen her walleten kleine Wea- 
ken heriiber, perlen-hell, grunlich-spielend, rot-gliihend, und auf 
jeder Wolke schlief ein Jiingling und sein Atem-Zephyr spielte 
mit dem rinnenden Dufte wie mit weichen Bliiten und wiegte 
seine Wolke - die Wogen eines lauen Abendwindes spiilten an 
die Wolken an und fuhrten sie. - Und als eine Welle in meinen i 
Atem floB, so wollt* in ihr meine Seele dahingegeben in ewige 
Ruhe auseinanderrinnen - weit gegen Westen erschiitterte eine 
dunkle Kugel sich unter einem GewitterguB und Sturm - von 
Osten her war auf meinen Boden ein Zodiakallicht wie ein Schat- 
ten hingeworfen 

Ich wandte mich nach Osten, und ein ruhig-groBer, in Tugend 
seliger, wie ein Mond aufgehender Engel lachelte mich an und 
fragte: »Kennst du mich? - Ich bin der Engel des Friedens und 
der Ruhe, und in deinem Sterben wirst du mich wiedersehen. Ich 
liebe und troste euch Menschen und bin bei eurem groBen Kum- 2 
mer. - Wenn er zu groB wird, wenn ihr euch auf dem harten 
Leben wundgelegen : so nehm* ich die Seele mit ihren Wunden 
an mein Herz und trage sie aus eurer Kugel, die dort in Westen 
kampft, und lege sie schlummernd auf die weiche Wolke des 
Todes nieder.« 

AchI ich kenne einige schlafende Gestalten auf diesen Wol- 
ken 1 . . . 

»AIIe diese Wolken ziehen mit ihren Schlafern nach Morgen - 
und sobald der groBe gute Gott aufgeht in der Gestalt der Sonne: 
so wachen sie alle auf und leben und jauchzen ewig.« 3 

O siehe ! die Wolken gen Osten gliihen hoher und drangen sich 
in ein Glut-Meer zusammen - die steigende Sonne nahet sich - 
alle Schlummernden lacheln lebendiger aus dem seligen Traum 
dem Wachen entgegen - 

O ihr ewig geliebten kenntlichen Gestalten ! wenn ich in eure 
groBenhimmeltrunknen Augenwieder werde schauen konnen 



AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE 469 

Ein Sonnenblitz schlug empor - Gott ruhte flammend vor der 
zweiten Welt - alle geschlossene Augen fuhren auf. — 

Ach ! auch meine ; nur die Erdensonne ging auf- ich klebte noch 
auf der streitenden Abend-Kugel - die kiirzeste Nacht war uber 
meinen Schlummer vortibergeeilet, als ware sie die letzte des Le- 
bens gewesen. 

Es sei! Aber heme richtet sich mein Geist auf mit seinen irdi- 
schen Kraften - ich erhebe meine Augen in die unendliche Welt 
tiber diesem Leben — mein an ein reineres Vaterland gekniipftes 
• Erdenherz schlagt gegen deinen Sternenhimmel empor, Unend- 
licher,.gegen das S ternenbi/d de'mev grenzenlosen Gestalt, und ich 
werde groB und ewig durch deine Stimme in meinem edelsten 
Innern: du wirst nie vergehen. - — 

Und sower mitmirsicheinerStundeerinnert,woihmderEngel 
des Friedens erschien und ihm teuere Seelen aus der irdischen 
Umarmung zog; ach, wer sich einer erinnert, wo er zu viel ver- 
lor - der bezwinge das Sehnen und sehe mit mir fest zu den Wol- 
ken auf und sage: Ruhet immerhin auf eurem Gewolke aus, ihr 
entriickten Geliebten! Ihr zahlt die Jahrhunderte nicht, die zwi- 
20 schen eurem Abend und eurem Morgen verflieBen, kein Stein 
liegt mehr auf eurem bedeckten Herzen als der Leichen stein /und 
dieser driicket nicht, und euer Ruhen storet nicht einmal ein Ge- 
danke an uns — 

Tief im Menschen ruht etwas Unbezwingliches,das der Schmerz 
nur betaubt, nicht besiegt. - Darum dauert er ein Leben aus, wo 
der beste nur Laub statt Fruchte tragt, darum wacht er fest die 
Nachte dieser westlichen Kugel hinaus, wq geliebte Menschen 
uber die Hebende Brust in ein weit entlegenes Leben wegziehen 
und dem jetzigen bloB das Nachtonen der Erinnerung hinter- 
1 30 lassen, wie durch Islands schwarze Nachte Schwanen als Zug- 
vogel mit den Tonen von Violinen fliegen — Du aber, den die 
zwei schlafenden Gestalten geliebt und in dem sie mir ihren und 
meinen Freund zuruckgelassen, du mein mit ewiger Hochachtung 
geliebter Christian Otto, bleibe hienieden bei mir! 



HESPERUS 

ODER 

45 HUNDPOSTTAGE 

EINE LEBENSBESCHREIBUNG 



Motto 

Die Erde 1st das Sackgalkhen in der groBen Stadt Gottes - die dunkle 
Kammer voll umgekehrter und zusammengezogner Bilder aus einer 
schdnern Welt - die Kiiste zur Schopfung Gottes - ein dunstvoller 
Hof um eine bessere Sonne — der Zahler zu einem noch unsichtbaren 
Nenner - wahrhaftig, sie ist fast gar nichts 

Auswahl aus des Teufels Papieren 



Erstes Heftlein 



VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE 



Zwei lange Vorreden folgen dieser dritten auf dem FuBe nach, 
die zweite zur zweiten Auf lage und die erste zur ersten. Mach* ich 
nun diese dritte wieder lang; - und wohl auch gar die iibrigen 
vielen zu den kiinftigen Auflagen: so sen' ich nicht ab, wie ein 
Leser der letzten nur je durch die Gasse von Vorzimmern zum 
historischen Bildersaale gelangen soil; er stirbt auf dem Wege 
zum Buch. 

Ich berichte denn kurz : in dieser Auf lage wurde das Notigste 
to undLeichteste verbessert. Zuersthab* ichmich haufig ins Deutsche 
iibersetzt aus dem Griechischen, Lateinischen, Franzosischen und 
Italienischen; und zwar iiberall, wo es der Sprachreiniger mit der 
gehorigen Achtung fur die Sachen selber verlangte. # Einmal 
miissen wir Schreiber alle uns der Worter-Alien-Bill oder Frem- 
denvertreibung von Campe, Kolbe und andern bequemen, und 
selber unser geliebter Goethe wird, so sehr er auch umergiert und 
eminiert«, am Ende in irgendeiner kiinftigen Auflage z.B. eben 
beide Worter, die er in der letzten 1 auf einer Zeile zum Worte 
kommen laBt, zum Buche hinauswerfen miissen. 1st es nicht 
to Zeit, den fremden, lange genug in Deutschland eingelagert ge- 
wesenen Volkern endlich auch ihre noch langer dagebliebnen 
Echo oder Worter nachzuschicken? 

Nur sei Kolbe oder jeder Purist ein billiger Mann und mute uns 
nicht zu, gemeinschaftliche Kunstworter des gebildeten Europa, 
z. B. der Musik, der Philosophie, in unbekannte inlandische, zu- 
mal in Fallen umzusetzen, wo die verdolmetschende Hand den 
ganzen Schmetterlingstaub bunter Anspielungen abgreifen und 
abpfliicken wiirde. Zum Beispiel der Name Purist selber sei ein 

1 Dessen samtliche Werke. B. 3 S. 68, 



47<S HESPERUS 

Beispiel. Gesetzt, man hieBe Arndt einen polkischen Deutschlands- 
Puristen, und Kolbe setzte dafiir politischen Sprachreiniger oder 
Sprachreinen : so gabe der kleine Einfall an der Obertragung das 
biBchen Geist auf, das er etwa besessen. 

Indes wenn der Verfasser dies auch nicht so wie einige Sprach- 
einsiedler ausraumte, welche gleich der Luftrohre alles Fremd- 
artige mit unangenehmem Husten und Spucken ausstoBen und 
nur die vaterlandische Luft behalten : so suchte er wenigstens den 
Gletschern nachzuahmen, welche fremde Korper, als Stein und 
Holz, von Jahr zu Jahr allmahlich aus sich herausschieben. Wie 
sehr ich dies in der Ausgabe dieses Hesperus auf jeder Seite getan, 
beweiset das mit den neuen eingeschriebnen Verbesserungen 
durchschoBne alte Druckexemplar; und ich wiinschte wohl, Herr 
Kolbe reisete einmal nach Berlin und besahe das Exemplar. We- 
nigstens will ich die deutsche Gesellschaft allda, die vor einigen 
Jahren mich in sich aufgenommen, ersuchen, in die Verlagshand- 
lung zu gehen, um selber zu sehen, was ihr Mitglied gemacht, 
welche Durchstriche und welche Ersatz worter. 

Wer sich eigentlich an der deutschen Sprache und an denen, 
welche keine andere verstehen, am starksten versundigt, dies sind : 
die Naturgeschichtschreiber, welche, wie z.B. Alexander von 
Humboldt, den ganzen lateinischen Linne mitten in unsere Sprache 
hineinstellen ohne andere deutsche Abzeichen als hinten die Auf- 
schwanzung in deutsche Endigungen oder Schwanzfedern, wo- 
mit sie aber dem bloBen Deutschsprecher so wenig kenntlich 
werden als ein Mann einem Fremden hinten durch den bloBen 
Zopf. Hat unsere unerschopfliche Sprache nicht ihre Krafte zur 
Schopfung eines deutschen Linne schon gezeigt, wenn wir einen 
Wilhelmi und noch mehr den herzdeutschen und sprachdeutschen 
Oken lesen? : 

Sonst tibrigens wird die deutsche Sprache sogar durch die 
groBte Gastfreiheit gegen Fremdlinge niemals verarmen und ein- 
kriechen. Denn stets zeugt sie (wie alle Worterbucher beweisen) 
aus ihren immer frischen Stammbaumen hundertmal mehre Kin- 
der und Enkel und Urenkel, als sie fremde Geburten an Kindes 
Statt annimmt; so daB nach Jahrhunderten die aus unsern fort- 



VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE - 477 

treibenden Wurzelwortern aufgegangne Waldung die nur als 
Flugsame aufgekeimten Fremd-Worter ersticken und verschatten 
muB, zuletzt als ein wahrer Lianenwald aufgebaumt, dessen 
Zweige zu Wurzeln niederwachsen und dessen aufwarts ge- 
pflanzte Wurzeln zu Gipfeln ausschlagen. Wie fremd-durchwach- 
sen und verwildert wird dagegen nach einigen Jahrhunderten z. B. 
die englische Sprache dastehen, mit dem vaterlandischen, aber 
kraftlosen Stamm voll eingeimpften Wortgebiisches, keines Schaf- 
fens, nur des Impfens fahig und aus dem doppelten Amerika mehr 

o neue Worter als Waren abholend ! - 

Das zweite, aber leichtere, was fur diese dritte verbesserte Auf- 
lage des Hesperus geschehen, war natiirlich, daB ich durch den 
ganzen Abendstern langsam hinging mit dem Jatemesser in der 
Hand und alles Genitiv- oder Es-Schmarotzer-Unkraut der 
Doppelworter, wo ichs nur fand - und dies war leider schon auf 
dem Titelblatte der Hundposttage der Fall -, aufmerksam heraus- 
stach. Ich stand aber viel dabei aus; der alten Prozesse der uber- 
reichen Sprache mit sich selber haften zu viele auf ihren Gutern, 
und ich muBte daher manches eingenistete Es-Gesindel da lassen, 

o wo es sich zu lange angesiedelt hatte und sich auf Zeugen und 
Ohren berief. Noch bis auf die Stunde dieser Vorrede wartet der 
Verfasser der Morgenblatt-Briefe iiber die Doppelworter nicht 
etwan auf eine durchgreifende Prilfung (was wohl zu friih ware), 
sondern vor alien Dingen auf eine umfassende Lesung derselben, 
welche freilich der zerteilende Archipelagus von auseinander 
Hegenden Inselblattern so lange erschwert, als die Zeitschrift ihren 
Lesekreis noch nicht durchlaufen. Dann aber hofP ich vom 
Sprachforscher, wenn er sie vollstandig im Hause vor seinem 
Richterstuhle hat, grundliche Widerlegung und Zustimmung. 

o Endlich drittens wurde nach dem zweimaligen Verbessern von 
zwei Auflagen (denn die erste erhielt groBe Verbesserungen, und 
zwar vor ihrem Drucke) ein drittes vorgenommen, das gegen 
Harten, Dunkelheiten, MiBverstand und andere tJberlangen und 
Oberkiirzen der Einkleidung loszugehen hatte. 

Aber Himmel, wie oft muB nicht ein Schreibmensch an sich 
bessern, der kaum iiber ein halbes Jahrhundert alt ist! Lebte er 



478 , HESPERUS 

sich vollends in ein Methusalems-Jahrtausend hinein und schriebe 
dabei : der Methusalem bekame so viele Bande von Verbesserungen 
nachzuschieBen, daB das Werk selber ihnen nur als Vorwerk, 
Anhangsel oder Erganzblatt beizugeben ware. 

Seit mehren Jahren haBt der Verfasser in seinen altern Werken 
einen Fehler in hohem Grade, den er bei Ernst Wagner, Fouque 
und andern haufig wiederholt oder nachgeahmt angetroffen, nam- 
lich den Fehler der eignen schriftstellerischen Austrommelsucht 
oder Vorsprecherei der Empfindungen, welche der Gegenstand 
haben und zeigen soil, aber nicht der Dichter. Z. B. »erhaben u 
ruhig antwortete Dahore.« - Wozu erhaben beifugen, da es iiber- 
fliissig, anmaBend und vorausnehmend ist, sobald die Antwort 
wirklich erhebt, oder, wenn sie es nicht tut, alles noch erbarm- 
licher ausfallt? Der Dichter, der auf diese Weise das Vor-Echo 
seiner Personen ist, nimmt sich einige neuere Trauerspieldichter 
wie Werner, Milliner u. a. zum Muster, welche fur den Schauspieler 
bei jeder Rede die Buchbinder-Nachrichten vorsetzen: »mit riih- 
rendem Schmerze - mit einem Seufzer schmerzlicher Erinnerung 
- aus der Tiefe des Schmerzes herauf« - Iauter Macht- oder Un- 
machtspriiche, die nur ein pantomimischer Tanz notig hat und * 
befolgen kann, die aber kein Stuck von Shakespeare, von Schiller 
und Goethe braucht, weil ja die Rede selber reden lehrt. 

Obrigens nab* ich jetzo, um ein Viertel-Jahrhundert alter und 
gealtert, nicht den Mut, dem ersten jugendlichen Ausstromen des 
Herzens ein anderes Bette und einen schwachern Fall und Zug zu 
geben. Der spatere Mensch halt zu leicht das Andern am jiingern 
fur ein Bessern desselben; aber wie kein Mensch den andern er- 
setzen kann, so kann auch nicht einmal derselbe Mensch sich in 
seinen verschiedenen Alterstufen vertreten, am wenigsten der 
Dichter. Die beste eheliche Liebe ist nicht das, was die jungfrau- ^ 
liche war; und so gibt es auch in der Begeisterung und in der Dar- 
stellung eine jungfrauliche Muse. Ach alles erste im Dichten wie 
Leben ist, was ihm auch sonst abgehe, so unschuldig und gut; und 
alle Bluten kommen so rein weifi auf die Welt, worin nachher »die 
Sonne«, wie Goethe schon von korperlichen Farben sagt, »kein 
WeiBes duldet«. Darum sollen alle heiBe Worte meiner Begeiste- 



VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE 479 

rung fur Emanuels Sterben und Viktors Lieben und Weinen und 
fur Klotildens Schweigen und Leiden stets im Hesperus unge- 
kiihlt und unverandert stehen bleiben. Sogar das Jetzo soil dem 
Sonst nichts nehmen. Denn ob ich gleich sek 25 Jahren durch 
einige Nachahmungen und Nachspiele des Buchs ordentlichmich 
selber satt bekommen: so uberwind' ich doch den OberdruB an 
dieser Selbersattheit durch die HofTnung, daB der schreibende 
Jiingling spater wieder auf lesende Jiinglinge und Jungfrauen 
trefFen und daB kiinftig auch fur altere Leser mehr vom Nach- 
to geahmten als voa den Nachahmungen iibrig bleiben wird. 

Und so lege denn dieser Abendstern - der friiher der Morgen- 
stern meiner ganzen Seele gewesen - seinen dritten Umlauf urn 
die Lesewelt in dem vollern Lichte eines bessern Standes gegen 
Sonne und Erde zuriick! 

Baireuth den 1. Jenn. 1819. 

Jean Paul Fr. Richter. 



VORREDE ZUR ZWEITEN AuFLAGE 



Noch nab' ich von dieser Vorrede weiter nichts zustande ge- 
bracht als einen leidlichen Entwurf, den hier der Leser unge- 
schminkt bekommen soil. Vielleicht neb* ich durch das Geschenk 
dieses Entwurfs auch den Vorhang auf, der noch immer an meiner 
literarischen Arbeitloge herunterhangt, und ders der Nachwelt 
versteckt ? wie ich darin arbeite als mein eigner dienender Bruder 
und als Meister vom schottischen Stuhl. Ein Entwurf ist aber bei 
mir kein Predigtentwurf in Hamburg, den der Hauptpastor am 
Sonnabend ausgibt und am Sonntag ausfiihrt - er ist kein Glieder- i 
mann, keine Akademie, kein Kanon, wornach ich schafTe - er ist 
kein Knochenskelett fur kiinftiges Fleisch; - sondern ein Ent- 
wurf ist ein Blatt oder ein Bogen, auf welchem.ich mirs bequemer 
mache und mich gehen lasse, indem ich darauf meinen ganzen 
Kopf ausschiittele, um nachher das Fallobst zu sichten und zu 
saen, und das Papier mit organischen Kiigelchen und mit Lagen 
von Phonixasche bedecke, damit ganze schimmernde Fasanereien 
daraus aufsteigen. In einem solchen Entwurfe halt* ich die unahn- 
lichsten und feindlichsten Dinge bloB durch Gedankenstriche 
auseinander. Ich rede mich in dergleichen Entwiirfen selber an : 
und duze mich wie ein Quaker und befehle mir viel; ja ich bringe 
darin haufig Einfalle vor, die ich gar nicht drucken lasse, weil ent- 
weder kein Zusammenhang fur sie auszumitteln ist, oder weil sie 
an sich nichts taugen. 

Und nun wird es Zeit sein, daB ich dem Leser einen solchen 
Entwurf wirklich darbiete, welches diesesmal der Entwurf der 
gegenwartigen Vorrede selber ist. Er ist uberschrieben : 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE * 48 1 

Architektonik und Bauholz fur die Vorrede 
zur zweiten Auf Jage des Hesperus 

»Mache sie aber kurz, da der Welt der Gang durch zwei Vor- 
zimmer in die Passagierstube des Buchs ohnehin lang wird - 
Scherz' anfangs - Selten schiebt einer auf der literarischen Kegel- 
bahn alle neun Musen - Der SchluB aus der Reflexion - Bringe 
viele Ahnlichkeiten zwischen dem Titel Hesperus und dem Abend- 
sterne oder der Venus heraus, dergleichen etwa sein miissen, daB 
meiner wie diese voll spitzer hoher Berge ist, und daB beide ihrer 
Unebenheit ihren groBern Glanz verdanken, ferner daB der eine 
wie die andere im Durchgang durch die Sonne (des Apollo) nur 
wie schwarze Flecke erscheinen - (In deinem Briefkopierbuch 
muBt du mehre solche Anspielungen gemacht haben) - Die Welt 
erwartet, daB der Abendstern bei der zweiten Auf lage unten als 
Luzifer oder Morgenstern heraufkomme, und daB der verklarte 
Leib des Papiers eine verklarte Seele behause * laB es passieren und 
orientiere die Welt. - Finde Pedanten, die sich von Worten, nicht 
von .Sachen erhalten und fiittern, den Aftermotten ahnlich, die 
Wachskuchen fressen und verdauen, aber keine Honigfladen. - 

I20 Niemand gleicht so sehr als die Pedanten den Dohlen, die zugleich 
diebisch und gesc/iwdtpg sind ; sie verwassern und kapern. - In die 
kritische Holle werden gerade Leute nicht geworfen, die der Tal- 
mud auch von der jiadischen losspricht, namlich die Armen, die 
Zahlunfahigen und die, welche am Durchfalle umkommen. - Sei 
ein Fuchs und streichle die kritischen Billard-Markors, welche 
Verlust und Gewinn ansagen.« — 

Letztes versteh* ich selber nicht, weil der Entwurf schon im 
Winter geschrieben wurde. Ich kann vielmehr ohne Ironie be- 
kennen, daB mich die kritischen Quartal- oder Landrichter beim 

p Leben gelassen und mir weder einen spanischen Mantel, noch ein 
Demutkleid, noch ein Blut- und Harenhemd umgeworfen haben. 
Diese Nachsicht der Kritiker fiir einen Bucherschreiber, der wie 
ein Katholik mehr gute Werke verubt, als er zur Seligkeit braucht, 
ist gewifi nicht ihre schlechteste Eigenschaft, da sie damit so wohl- 
tatig auf unsere leeren Tage wirken. Denn man muB jetzt froh 



48 2 * HESPERUS 

sein, wenn nur vier oder funf neue Gleichnisse auf die Ostermesse 
abfahren, und wenn zur Michaelismesse nur einige Blumen, 
welche Novitaten sind, feil stehen. Unser literarisches Kiichen- 
personale weiB uns dasselbe goutee unter dem Scheine sechs ver- 
schiedner Schiisseln auf das Tischtuch und in den Mund zu spielen 
und belustigt uns zweimal im Jahr mit einer Nachahmung des 
beriihmten Kartoffel-Gastmahls in Paris: anfangs kam bloB eine 
KartofFelsuppe - dann schon mit anderer Zubereitung wieder 
Kartoffeln - das dntte Gericht hingegen bestand aus umgearbeite- 
ten Kartoffeln - auch das vierte - als fiinftes konnte man nun i 
wieder Kartoffeln servieren, sobald man nur zum sechsten neu 
brillantierte Kartoffeln bestimmte - und so ging es durch 14 Ge- 
richte hindurch, wobei man rioch von Gliick zu sagen hatte, daB 
wenigstens Brot, Konfekt und Likor den Magen aufrichteten und 
aus Kartoffeln bestanden. 

Tadel ist eine angenehme Zitronensaure am Lob; daher wer- 
den beide von der Welt nur miteinander gleichsam in einem 
Sauerhonig verteilt; so wie nach dem Talmud auf den Rauch- 
opferaltar einige Finger voll Teufelsdreck mit geworfen wurden. 
Das einzige folglich, was ich an den Rezensenten nach dem vori- 2 
gen Lobe aussetzen will, und womit sie wirklich anstoBen, ist 
dieses, daB sie selten (ihr Herz ist gut) viel von der Sache oder 
Schrift verstehen, woriiber sie richten; und selbst dieser Tadel 
passet nur auf den groBern Teil. 

»Web es ein,« (fahrt der Entwurf fort) »daB du nicht daraus 
kommen kannst, was die jetzige Enthullung und Enthiilsung der 
weiblichen Arme", Busen und Riicken bedeuten soli, so wie sonst 
die Pfauen gerade mit ahn lichen glanzenden Teilen, mit Halsen, 
Fliigeln und Kopfen, die nicht abgerupfet waren, in der Braten- 
schiissel auftraten. - Es wird daher gut sein, wenn du vermutest, 5 
daB die schalenlosen Damen heimliche Jesuitinnen und Frei- 
maurerinnen sind, weil in beiden Orden die Mysterien und Ver- 
hiillungen mit EntbloBung anfangen; oder gib auch diese unbe- 

1 Ein Jude schied sich sonst von seiner Frau, wenn sie pnit nackten Armen 
erschien; es ist aber schwer, die jetzigen haufigen Ehescheidungen in Paris 
daraus herzuleiten. 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 483 

fiederten Glieder irgendeinem Darben schuld, wie ein Kiichlein 
aus einem Ei, woraus man nur einige Tropfen EiweiB wegschopfte, 
mit federlosen Stellen auskriecht - Drohe wenigstens, daB Damen 
und Krebse am Hebsten in der Mause gefangen und gesotten wer- 
den.« — 

- Das ist einer von den Fallen, wo von ich oben sagte, daB ich 

darin Einfalle des Entwurfs, aus Mangel an Zusammenhang mit 

der ganzen Sache, aufgeben und wegwerfen miiBte; denn wirklich 

hat die ganze Gliedermause nichts mit der Vorrede gemein als das 

10 Jahr der Geburt. 

»Von andern Autoren« (fahrt deren Entwurf fort) »muB abge- 
gangen und iiber den Beifall, den du erbeutet, nur stumm weg- 
geschlichen werdcn, damit die Welt sieht, wie du bist. - Man er- 
wartet von einer Vorrede zur zweiten Auflage eine kleine Pro- 
duktenkarte oder ein Ernteregister alles des Nachflors, der die 
zweite iiber die erste erhebt: gib ihnen das Register !« - 

Gern ! - Erstlich nab' ich verbessert alle Druckfehler - dann 
alle Schreibfehler - dann viele Dissonanzen der Sprache - auch 
Wort- und Sachschnitzer genug; die Einfalle aber und die poe- 
10 tischen Tulpen nab' ich selten ausgerissen. Ich sah, wenn ichs tate, 
so bliebe vom Buche (weil ich die ganze Manier ausstriche) nicht 
viel mehr in der Welt als der Einband und das Druckfehler- Ver- 
zeichnis. Der Theolog hasset juristische Anspielungen - der Ju- 
rist theologische - der Arzt beide - der Mathematiker alle vorigen 

- ich liebe sie alle; was soil man da lassen oder nehmen? - Der 
Frau miBfallt Satire, dem Manne erweichende Warme (denn Kdlte 
halt er an Buchern wie an Schokoladentafetn fur Proben des Werts) 

- und das Publikum selber hat iiber ein Kapitel 45 Meinungen, 
wie Cromwell vier widersprechende Briefe an denselben Korre- 

.0 spondenten diktierte, bloB um seinen Schreibern den wahren zu 

verhehlen, den er fortschickte: welcher Meinung hangt in 

solchem Streit ein Autor an? - Am schicklichsten seiner eignen, 
wie die Welt der ihrigen. - 

Obrigens erlebt mein Werklein schwerlich so viele gedruckte 
Auflagen, als ich davon in meiner Stube geschriebene verbesserte 
veranstalte - und darum sind groBe Anderungen daran, wenn 



484 HESPERUS 

nicht entbehrlicher, doch schwieriger. Am Plane der Geschichte 
selber war - gesetzt auch, ich hatte vergessen wollen, daB es eine 
wahre ist - darum wenig umzubessern, weil das Werk ist wie 
meine Hose, die kein Schneider, sondern ein Strumpfwirkerstuhl 
gemacht, und woran eine einzige aufgehende Masche des rechten 
Schenkels das ganze Gestrick des linken aufknopft. Denn es ist 
ein wesentlicher, aber unleugbarer Fehler des Buchs - den ich 
Ieicht aus dem Mangel an Episoden erklare -, daB, sobald ich aus 
dem ersten Stockwerk (oder Heftlein) nur irgendeinenbriichigen 
Quader ausziehe, sofort im dritten alles wackeltundzuletztnach- 
fallt. Allerdings steh* ich dadurch nochweitvon.denbessernneuen 
Romanen zuriick, denen man ohne den geringsten Schaden der 
Komposition und Feuerfestigkeit betrachtliche Stiicke ausbrechen 
und einbauen kann, bloB weil sie nicht, wie mein Buch, einem 
blofien Hause, sondern einer ganzen Spielstadt aus Nurnberg 
gleichen, deren lose abgehenkte Hauser das Kind in seinem Spiel- 
schrank aufschichtet, und deren Musaik aus Hutten das liebe 
Kleine Ieicht zu seiner Lust gassatim zusammenstellt, wie es nur 
mag. Einer wahren Historie klebt immer das VerdrieBliche an, 
daB dergleichen nicht zu machen ist. ; 

Gleichwohl entschadige ich mein Werk fur kunstlerische An- 
derungenund f^erhesserungenhinhnglich dutch wahre- Vergrofie- 
rungen desselben, durch historische Zusatze. Da ich zum Gliicke 
seit einigen Jahren unter den Personen selber lebe und hause, die 
ich abgeschildert: so bin ich als Zirkelgrad dieses schonen Fami- 
lienzirkels ganz instand gesetzt, aus lebendigen Zeugen-Rotuln 
tausend Berichtigungen und Erlauterungen nachzutragen, die 
sonst kein Mensch erfuhre, und die gleichwohl die etwas dunkle 
Geschichte gewaltig erhellen. Der Kunstrichter schlage nur die 
zwei nachsten Kapitel des Buchs, oder die fernsten, oder andere = 
auf. 

Man will mich gefallig bereden, ich hatte in den Zusatzen den 
Oberzahligen-WitzvermiedenunddenleuchtendenNaphthaboden 
meines Abendgestirnes, der weder auszugieBen noch zu versenken 
war, geschickt gewassert durch frische Historie. — Der Himmel 
geb' es! Ich habe schlechte Hoffnung; aber lieb sollte es mir sein, 



VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 



485 



wenn die Rezensenten mich versichern wollten, ich hatte in mei- 
nem Pantheon-Pandamonium meine dichten Bilder, obwohl nicht 
versteigert oder verdeckt, doch aber weiter auseinander gehenkt. 

»Oberhaupt« (verfolgt der Entwurf) »nimm lieber das histo- 
rische Okuliermesser als das kritische Jatemesser in die Hand !« 

Eben sagt' ich, daB ichs getan. 

»Was aber jene verdorrten falben Menschen anlangt, vor denen 
nichts grofi ist als ihr Bild, und deren Magen vor jeder schonern 
Bewegung des erhobnen Herzens in eine umgekehrte gerat, kurz- 
» die alles anekelt (ausgenommen das Ekelhafte), so stelle dich an, 
als merktest du sie gar nicht einmal, um so mehr, da sie den Pa- 
tienten gleichen, die der Bandwurm benagt, und welche nach me- 
dizinischen Beobachtungen sich vor jeder Musik, besonders Or- 
geln, erbrechen und ekeln - Denke lieber an die guten Menschen, 
die du kennst und liebst, und an die guten, die du nur Hebst — 
und daher werde am Ende der Vorrede ernsthaft und dankbar und 
freue dich!« — - 

Wahrlich, das hatt' ich getan schon ohne den Entwurf! - Wie 
konnt* ich gegen die Schonung unempfindlich bleiben, womit 
> man im ganzen die aphroditographischen Fragmente von meinem 
Abendstern abfassete, der mit so merklichen Aberrationen oder 
Abweichungen und in einer so wenig planetarischen Ellipse um 
seine Sonne lauft, daB er leicht, wie es oft dem Hesperus am Him- 
mel geschieht, fur einen Haar-, Bart- und Schwanzstern zu nehmen 
ist? - Und wie hart und kalt miiBte die Seele sein, welche ohne 
Ruhrung und ohne Freude iiber den kiirzesten frohen Tag, ja nur 
iiber eine frohe Sekunde und Terzie bliebe, in die sie dieleidenden 
Menschen flihren konnte - und iiber die ausgebreitete Verwandt- 
schaft hoher Wtinsche und heiliger Hoffnungen und freundlicher 
|o Gefuhle — und iiber den holden FriedenschluB, worin die Zanker 
und Krieger auf der ersten Welt des prosaischen Lebens einander 
auf der iweiten Welt der Dichtkunst in gemeinsamen Erkennungen 
die Hande geben und zu Briiderri werden? - 

Ich gebe dir, guter Asteriskus und Nebenplanet des sanften 
Abendsternes iiber mir, wieder die Wunsche vor drei Jahren fur 
jede Seele auf den Weg, die du erfreuen kannst ! Nur gehe fur kein 



486 HESPERUS 

Auge als ein Regengestirn auf, nur mache keines irre, daB es den 
Mondschein der Dichtkunst fur den Morgen der Wahrheit nimmt 
und die Morgen-Traume zu friih abdankt! - Aber in die Marter- 
kammer und durch das Gefangnisgitter der verlassenen Seelen 
wirf einen erfreulichen Schein - und wem seine gluckliche Insel 
auf den Meerboden der Ewigkeit entfiel, dem verklare die dunkle 
tiefe Gegend — und wer vergeblich in einem entblatterten Para- 
diese umher- und hinaufsieht, dem zeige ein kleiner Strahl aus dir 
unten auf dem Boden unter dem gelben Laube irgendeine be- 
deckte siiBe Frucht der vorigen Zeit — und das Auge, dem du gar 1 
nichts zeigen kannst, dieses ziehe sanft hinauf zu deinem Bruder 
und zum Himmel, worin er glanzt. - Ja wenn ich einmal zu alt 
bin, so troste mich auch! 

Hof y den i6ten Mai 1797. 

Jean Paul Fr. Richter. 



VORREDE, SIEBEN BlTTEN UND BESCHLUSS 

Vorrede 

Ich wollte mich anfangs ereifern iiber einige Heere von Lesern, 
mit denen ich in diesem Buche nichts anzufangen weiB ; und wollte 
mich vorn an den Hesperus als Pfortner stellen und vorzuglich 
Leute mit der groBten Unhof lichkeit fortschicken, die nichts tau- 
gen - fur welche, wie fur einen Prosektor, das Herz nichts ist als 
der dickeste Muskel, und welche Gehirn und Herz und alles In- 
nere, wie Formen der Gipsstatuen ihr eingefulltes Gemengsel von 
o Scherwolle, Heu und Ton, nur darum tragen, um ^oA/gegossen 
auszufallen. - Ich wollte sogar mit ehrlichen Geschaftleuten kei- 
fen, die, wie der groBe Antonin, den Gottern danken, daB sie die 
Dichtkunst nicht weit getrieben - und mit solchen, vor denen sich 
der Kapellmeister Apollo auf einer Strohfiedel horenlassen soil, 
und seine neun Diskantistinnen mit dem Bier- und StrohbaB - 
ja sogar mit der lesenden Schwesterschaft der Ritterromane, die 
so lieset, wie sie heiratet, und die sich unter den Buchern, wie 
unter den Gesichtern der Herren, nicht die schonen weiblichen, 
sondern die wilden mannlichen ausklaubt. — 

o Aber ein Autor sollte kein Kind sein und sich seine Vorrede 
versalzen, da er nicht alle Tage eine zu machen hat. Warum habe 
ich nicht lieber in der ersten Zeile die Leser angeredet und bei der 
Hand genommen, denen ich den Hesperus freudig gebe, und die 
ich mit einem Freiexemplar davon beschenken wollte, wenn ich 
wiiBte, wo sie wohnten? - Komm, liebe miide Seele, die du etwas 
zu vergessen hast, entweder einen triiben Tag oder ein uber- 
wolktes Jahr, oder einen Menschen, der dich krankt, oder einen, 
der dich Iiebt, oder eine entlaubte Jugend, oderein ganzes schweres 
Leben; und du, gedruckter Geist, fiir den die Gegenwart eine 

o Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen 



488 HESPERUS 

Abends tern und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer, aber 
schlieBe, wenn dir die poetische Tauschung fliichtige suBe 
Schmerzen gibt, daraus : »Vielleicht ist das auch eine, v, as mir die 
langern tiefern macht.«- Und dich, hohererMensch,dei unserLe- 
ben, das nur in einem Spiegel gtfchvet wird, kleiner findet als sich 
und den Tod, und dessen Herz ein verhiillter groBer Geist in dem 
Totenstaube anderer zerfallener Menschenherzen heller und rei- 
, ner schleift, wie man den Demant im Staube des Demants poliert, 
darf ich dich auch in meinen Abend- und Nachtstern auf eine An- 
hohe, so wie ich sie aufzuwerfen vermag, herniederrufen, damit * 
du, wenn du um sie, wie um den Vesuv, morganische Feen und 
Nebel-Gruppierungen und Traum-Welten und Schatten-Lander 
in der Tiefe' Ziehen siehest, vielleicht zu dir sagest: »Und so ist 
alles Traum und Schatten um mich her, aber Traume setzen 
Geister voraus, und Nebel Lander, und der Erdschatten eine Sonne 
und eine ^felt«? - 

Aber zu dir habe ich nicht den Mut, zu dir, edler Geist, der des 
Jahrhunderts miide ist und des Nachwinters der Menschheit, dem 
zuweilen, aber nicht. immer, das Menschengeschlecht wie der 
Mond zuriickzuwandeln scheint, weil er den Zug der Wolke, die 2 
darunter hinfliegt, fur den Gang des himmlischen Korpers selber 
ansieht, und der voll erhabner Seufzer, voll erhabner Wunsche 
und mit schweigendem Ergeben zwar neben sich eine wiirgende 
Hand und das Fallen seiner Brtider hort, aber doch das aufge- 
richtete, auf dem ewig heitern Sonnenangesicht der Vorsehung 
ruhende Auge nicht niederschlagt, und den das Ungluck, wie der 
Blitz den Menschen, zwar entseelt, aber nicht entstellt; edler Geist, 
ich habe freilich nicht den Mut, zu dir zu sagen; »Wurdige mich, 
auf mein Schattenspiel zu schauen, damit du uber den Abendstern, 
den ich vor dir voruberfuhre, die Erde vergessest, auf der du 3 
stehest, und die sich jetzo mit tausend Grabern wie ein Vampyr an 

das Menschengeschlecht anlegt und Opferblut saugt.« Und 

doch nab* ich an dich unter dem ganzen Buche gedacht, und die 
Hoffnung, mein kleines Nacht- und Abendstiick vor nasse, auf- 
gerichtete und feste Augen zu bringen, war der tragende Maler- 
stock der muden Hand gewesen. 



VORREDE, SIEBEN BITTEN UND BESCHLUSS 489 

Da ich mich jetzt zu ernsthaft geschrieben, so muB ich von den 
sieben versprochenen Bitten, worunter nur vier es sind, drei weg- 
lassen. - Ich tue also nur die 

Erste Bitte, den Titel )>Hundposttage« so lange zu vergeben, bis 
ihn das erste Kapitel erklart und entschuldigt hat - Und die 

Zweite, allemal eiri ganzes Kapitel zu lesen, und kein halbes, 
weil das groBe Ganze aus kleinern Ganzen, wie nach den Ho- 
moiomerien des Anaxagoras der Menschenkorper aus unzahligen 
kleinen Menschenkorpern besteht - Und die 
1 Siebente Bitte, die halb aus der zweiten flieBet, aber nur die 
Kunstrichter angeht, mir in ihren fliegenden Blattern, die sie Re- 
zensionen nennen, mit keiner Publikation meiner Hauptbegeben- 
heiten vorzugreifen, sondern dem Leser einige Oberraschungen, 
die er doch nur einmal hat, zu lassen. - Und endlich die 

Funfte Bitte, die man aus dem Vaterunser schon kennt. 



Der BeschluB 

Und so werde denn sichtbar, kleiner stiller Hesperus! - Du 
brauchst eine kleine Wolke, um verdeckt zu sein, und ein kleines 
Jahr, um deinen Umlauf vollfiihrt zu haben! - Mogest du der Tu- 

20 gend und Wahrheit, wie dein Ebenbild am Himmel der Sonne, 
naher stehen, als die Erde alien dreien ist, in die du schimmerst, 
und mogest du wie jenes nur dadurch dich den Menschen ent- 
ziehen, daB du dich in die Sonne hullest! Moge dein EinfluB 
schoner, warmer und gewisser sein, als der des Kalender-Hes- 
perus ist, den der Aberglaube auf den Dunst-Thron dieses Jahres 
setztj - Du wiirdest mich zum zweitenmal glucklich machen, 
wenn du fur irgendeinen abgebliihten Menschen ein Abendstern y 
fur irgendeinen aufbliihenden ein Morgenstern wiirdest! Gehe 
unter mit jenem und auf mit diesem; flimmere im Abendhimmel 

30 des erstern zwischen seinen Wolken und uberziehe seinen zuruck- 
gelegten bergaufgehenden Lebenweg mit einem sanften Schim- 
mer, damit er die entfernten Blumen der Jugend wieder erkenne 
und seine veralteten Erinnerungen zu Hoffnungen verjunge! - 
Kiihle den frischen Jiingling in der Lebenfruhe als ein stillender 



490 HESPERUS 

Morgenstern ab, eh' ihn die Sonne entziindet und der Strudel des 
Tages einzieht! - Fiir mich aber, Hesperus, bist du nun wohl 
untergegangen - du zogest bisher neben dem Erdball wie mein 
Nebenplanet, wie meine zweite Welt, auf die meine Seele ausstieg, 
indes sie den Korper den StdBen der Erde lieB - aber heute fallt 
mein Auge traurig und langsam von dir und dem weifien Blumen- 
flor, den ich um deine Kusten angepflanzet, auf den naBkalten 
Boden herab, wo ich stehe - und ich sehe uris alle von Kiihle und 
Abend umgeben - wek von den Sternen abgerissen — von Jo- 
hanniswurmchen belustigt, von Irrwischen beunruhigt - alle ein- »< 
ander verhiillt, jeder einsam und sein eignes Leben nur fuhlend 
durch die warme pulsierende Hand eines Freundes, die er im 
Dunkeln halt. 

Ja, es wird zwar ein anderes Zeitalter kommen, wo es licht 
wird, und wo der Mensch aus erhabnen Traumen erwacht und die 
Traume - wiederfindet, weil er niehts verlor als den Schlaf. - 

Die Steine und Felsen, welche zwei eingehullte Gestalten, Not- 
wendigkeit und Laster, wie Deukalion und Pyrrha hinter sich 
werfen nach den Guten, werden zu neuen Menschen werden. - 

Und auf dem Abendtore dieses Jahrhunderts steht: Hier geht 2 
der Weg zur Tugend und Weisheit; so wie auf dem Abendtor zu 
Cherson die erhabene Inschrift steht: Hier geht der Weg nach 
Byzanz. 

Unendliche Vorsicht, du wirst Tag werden lassen. - 

Aber noch streitet die zwolfte Stunde der Nacht: die Nacht- 
raubvogel ziehen; die Gespenster poltern; die Toten gaukelnj 
die Lebendigen traumen. 

In der Fruhlings-Tag- und Nachtgleiche 1794. 

Jean Paul. 



I.HUNDPOSTTAG 

Unterschied zwischen dem i. und 4. Mai - Rattenschlachtstiicke - Nacht- 

stiick - drei Regimenter in kiinftigen Hosen - Starnadel - Ouverture und 

geheime Instruktion dieses Buchs 

Im Hause des Hofkaplans Eymann im Baddorfe St.Lilne waren 
zwei Parteien : die eine war den 30. April froh, daB der Held dieser 
Geschichte, der junge Englander Horion y den 1 . Mai aus Gottingen 
zuriickkame und in der Kaplanei bliebe - der andern wars nicht 
recht, sie wollte haben, er sollte erst den 4. Mai anlangen. 

Die Partei des ersten Maies oder des Dienstags bestand aus dem 
Kaplans-Sohne Flamin, der mit dem Englander bis ins zwolfte Jahr 
in London und bis ins achtzehnte in St. Liine erzogen worden, und 
dessen Herz mit alien Aderzweigen in das britische verwachsen 
und in dessen heiBer Brust wahrend der langen Trennung durch 
Gottingen ein Herz zu wenig gewesen war - ferner aus der Hof- 
kaplanin, einer gebornen Englanderin, die in meinem Helden den 
Landsmann liebte, weil der magnetische Wirbel des Vaterlandes 
noch an ihre Seele liber Meere und Lander reichte - endlich aus 
ihrer altesten Tochter Agathe, die den ganzen Tag-alles auslachte 

o und Iieb hatte, ohne zu wissen warum, und die jeden, der nicht 
gar zu viele Hauser weit von ihr wohnte, mit ihren Polypenarmen 
als Nahrung ihres Herzens zu sich zog. 

Die Sekte des vierten Maies konnte sich mit jener schon messen, 
da sie auch ein Kollegium von drei Gliedern ausmachte. Die An- 
hanger waren die kochende Appel (Apollonia, die jiingste Toch- 
ter), deren Kuchen-Ehre und Back-Belobebrief dabei litt, daB der 
Gast.friiher ankam als die WeiBhefen; sie konnte sich denken, 
was eine Seele empfindet, die vor einem Gaste stent, die Hande 
voll Spick- und Nahnadeln, neben der Platte der Fenstervorhange, 

o und ohne sogar die Frisur des Hutes und des Kopfes, der darunter 
soil, nur halb fertig zu haben. Der zweite Anhanger dieser Sekte, 
der am meisten gegen den Dienstag hatte reden sollen - ob er 



49^ HESPERUS 

gleich am wenigsten redete, weil ers nicht konnte und erst kurz- 
lich getauft war — , sollte am Freitag zum ersten Male in die Kirche 
getragen werden; dieser Anhanger war das Patchen des Gastes. 
Der Kaplan wuBte zwar, daB der Mond seinen Gevatterbitter, 
den P. Ricciolum, bei den Erden-Gelehrten herumschicke und 
sie als Paten seiner Flecken ins Kirchenbuch des Himmels bringe; 
aber er dachte, es ist besser, sich seinen Gevatter schon in einer 
Nahe von 50 Meilen zu nehmen. Der Aposteltag des Kirchgangs 
. und der Festtag der Ankunft des Herrn Gevatters waren also 
schon ineinander gefallen ; aber so fuhrte das Wetter (das hubsche) : 
den Gevatter vier Tage eher her! - 

Der dritte Junger des Freitags war im Grunde der Haresiarch 
dieser Partei, der Hofkaplan selber: die Kaplanei, worin Horion 
ein einstweiliges Hof lager haben sollte, war ganz voll Ratten, 
ordentlich ein Tanzsaal und WafTenplatz derselben, und diesen 
wollte der Kaplan sein Haus vorher abjagen. Wenige Hofkaplane, 
die Hektik im Leibe und Ratten im Hause hatten, machten daher 
so viel Gestank, als dieser in St.Liine gegen die Bestien. Mit 
wenigen Wolkendavon waren alle Hofdamen aus Europa hinaus- 
zurauchern. Ziindete der Hektiker nicht so viel vom Hufe seines 1 
Gaules an, als er davon abgesagt hatte? - Nahm er nicht ein 
solches Nagetier selber gefangen und seifte dasselbe mit Wagen- 
teer und Fischtran ein und lieB den Arrestanten fort, damit er als 
Parias in den Lochern auf- und abginge und Ratten edlerer Kasten 
durch sein Salbol zu entlaufen notigte? - Ging er nicht ins GroBe 
und nahm gar einen Bock in die Kost, von dem er nichts verlangte, 
als daB er stank und den geschwanzten Klausnern miBfiel? - Und 
waren nicht alle diese Mittel so gut wie umsonst? 

— Denn der Henker relegiere Jesuiten und Ratten ! - Indessen 
wird doch den Leuten hier schon auf dem Bogen C die Moral dar- 3 
gereicht, daB es gegen beide, so gut wie gegen Zahnschmerzen, 
Seelenleiden und Wanzen, tausend gute Mittel gebe, die nichts 
helfen. 

Wir wollen nun samtlich weiter in die Kaplanei eindringen und 
uns um die Eymannische Familien-Geschichte so genau bekum- 
mern, als wohnten wir drei Hauser weit von ihr. Horion - der 



I. HUNDPOSTTAG 493 

Akzent mu6 auf die erste Silbe kommen - oder Sebastian - ver- 
kurzt gar Bastian, wie ihn die Eymannischen nannten - oder 
Viktor - wie ihn der Lord Horion, sein Vater, nannte (denn ich 
heiB* ihn bald so, bald so, wie es grade mein prosaisches Silben- 
maB begehrt) - Horion hatte den lieben Pfarrleuten durch den 
Italiener Tostato, der fur die ganze Gegend ein wandelnder Auer- 
bachs-Hof war, und der auch St.Liine zueilte, die kleine miind- 
liche Luge zustellen lassen, er komme am Freitag; er wollte sie 
erstlich recht uberraschen, und zweitens wollt* er ihnen verschamt 

io die Hande binden, die seinetwegen zuriisten, waschen und auf- 
tragen wollten, und drittens dacht* er, eine mundliche Liige sei 
doch kleiner als eine geschriebene. Seinem Vater aber schrieb er 
die Wahrheit und setzte seinen Eintritt in die Kaplanei auf den 
i. Mai oder den Dienstag an. Der Lord hielt sich in der Residenz- 
stadt Flachsenfingen auf, wo er dem Fiirsten moralische Augen- 

. leder und Augengtdser zugleich anlegte und den Blick desselben 
sowohl lenkte als schdrfte; aber er war selber blind, obwohl nur 
physisch. Daher mufite sein Sohn einen Augenarzt von Gottingen 
mitbringen, der ihn im Hause des Kaplans am Dienstag operieren 

20 sollte. Da er seinen Viktor zum Doktor Medicinae machen lieB: 
so wunderten sich meines Wissens viele Gottinger daruber, daB 
ein so vornehmer Jungling das Doktor-Kopfzeug, diesen Ptutos- 
Helm y der nicht, wie der mythologische, den Trager, aber doch 
andere unsichtbar macht, aufsetzte und den Doktorring, diesen 
Gygesringy der nur andern die Unsichtbarkeit verleiht, ansteckte; 
aber war denn den Gottingern die Augenkranklichkeit seines Va- 
ters unbekannt oder unzulanglich? 

Der Lord schrieb dem Hofkaplan, daB er und sein Sohn mor- 
gen kommen wiirden; der Kaplan iiberlas die Hiobs-Post still 

jo dreimal hintereinander und steckte sie mit komischer Ergebung 
in den Briefumschlag zuriick und sagte : »Wir haben nun hinlang- 
liche Hoffnung, daB morgen unser Doktor gewiB eintrifft samt den 
andern - hiibschen LusttrefTen und Brunnenbelustigungen sen' 
ich entgegen; Frau! wenn der morgen einwandelt und meine ge- 
samten Ratten tanzen wie Kinder vor ihm her - zu essen haben 
wir ohnehin nichts-und aufzusetzenhab' ich auch nichts, denn vor 



494 HESPERUS 

Donnerstags jag* ich dem Flachsenfinger Windbeutel 1 nicht einen 
Haarbeutel ab... Und du lachst dazu? Wird nicht unsereiner 
mitten im April noch in April geschickt?« Aber die Kaplanin fiel 
ihm mit doppelten Ausrufzeichen der Freude an die Achsel und 
lief sogleich davon, um zu diesem Rosenfeste ihrer guten Seele 
die kleine Bruder- und Schwestergemeinde der Kinder zu Ziehen. 
Derganze Familienzirkel zerfiel nun in drei erschrockene und in 
drei erfreuete Gesichter. 

"Wir wollen uns bloB unter die frohen setzen und zuhorchen, 
wie sie den Nachmittag als Gesichtma-ler, als Gewandermaler, als 10 
Galerieaufseher am Gemalde des geliebten Briten arbeiten. - Alle 
Erinnerungen werden zu Hoffnungen gemacht, und Viktor soil 
nichts geandert mitbringen als die Statur. Flamin, wild wie eiri 
englischer Garten, aber fruchttragender,erquickte sichundandere 
mit der Schilderung von Viktors sanfter Treue und Redlichkeit 
und von seinem Kopf und pries sogar sein Dichterfeuer, das er 
sonst nicht hochschatzte.Aga the erinnerte an seine humoristischen 
Rosselspriinge, wie er einmal mit der Trommel eines durch- 
passierenden Zahndoktors das Dorf vergeblich vor sein Theater 
zusammengetrommelt habe, weil er vorher die ganze fahrende 20 
Apotheke dieses redlichen wahren Freund Heins ausgekauft hatte 
- wie er oft nach einer Kindtaufe sich auf die Kanzel postieret und 
da ein paar andachtige Zuschauer in der Werkeltag-Schwarte so , 
angeprediget habe, daB sie mehr lachten als weinten - und andern 
SpaB, womit er niemand lacherlich machen wollte als sich, und 
niemand lachend als andere. Weiber billigen es aber nie (sondern 
nur Manner), wenn einer wie Viktor zur britischen Ordenzunge 
der Humoristen gehoret - denn bei ihnen und Hof lingen ist schon 
Witz Laune - das billigen sie nicht, daB Viktor (wie z.B. Swift 
und viele Briten) gern zu Fuhrleuten, Hanswursten und Matrosen 30 
herunterstieg, indes ein Franzose Iieber zu Leuten von Ton hinauf- 
kriechu - Denn die Weiber, die stets den Burger mehr als den 
Menschen achten, sehen nicht, daB sich der Humorist weismacht, 
alles, was jene Plebejer sagen, souffliere er ihnen, und daB er ab- 
sichtlich das unwillkiirliche Komische zu kunstlerischem adelt, 

1 Er zielt auf den Essenkehrer seiner Periicken. 



I. HUNDPOSTTAG 495 

die Narrheit zu Weisheit, das Erden-Irrhaus zum Nationaltheater. 
Ebensowenig begriff ein Amtmann, ein Kleinstadter, ein GroB- 
stadter, warum Horion seine Leserei oft so jammerlich wahle aus 
alten Vorreden, Programmen, Anschlagzetteln von Reisekiinst- 
lern, die er alle mit unbeschreiblichem Vergnugen durchlas - bloB 
weil er sich vordichtete, diesen geistigen Futtersack, der bloB 
unter den Lumpenhacker gehorte, nab' er selber gefertigt und ge- 
fullt aus satirischer Riicksicht. — In der Tat, da die Deutschen 
Ironie selten fassen und selten schreiben: so ist man gezwungen, 

10 vielen ernsthaften Buchern und Rezensionen boshafte Ironie an- 
zudichten, um nur etwas zu haben. 

- Und das ist ja nichts anders, als was ich selber versuche, wenn 
ich bei Terminen in Gedanken die Gerichtstube zum Komodien- 
haus erhebe, den Rechtsfreund zum juristischen Le Kain und 
Kasperl und die ganze Verhandlung zur alten griechischen Ko- 
modie; denn ich raste nicht, bis ich mir weisgemacht, ich hatte den 
guten Leuten den ganzen Termin nur einstudieren lassen als Gast- 
rolle und ware also wirklich ihr Theaterdichter und Direktor. So 
trag* ich im Grunde meinen stummen Kopf munter als ein ko- 

zq misches Taschentheater der Deutschen durch deren edelste Be- 
hausungen (z. B. der Universitat, der Regierung) und erhohe ganz 
im stillen - hinter der herabgelassenen Gardine der Gesichthaut- 
Komisches der Natur zu Komischem der Kunst. — 

Ich komme zuriick. Die Kaplanin erzahlte nun so viel von Vik- 
tor, als alle schon wuBten. Aber dieses Wiederholen der alten Ge- 
schichte ist eben der schonste Reiz des kauslichen Gesprachs. Wenn 
wir siiBe Gedanken uns selber oft ohne Langweile wiederholen 
konnen, warum soil sie nicht auch der andere ofters in uns er- 
wecken diirfeh? - Die gute Frau schilderte ihren Kindern, wie 

30 sanft und weich, wie zartlich und weiblich ihr lieber Sohn sei 
(denn Viktor nannte sie immer seine Mutter) - wie er sich uberall 
auf sie verlieB - wie er immer scherzte, ohne jemand zu necken, 
und immer alle Menschen, sogar die fremdesten, liebte - und wie 
sie vor ihm besser als vor irgendeiner Matrone ihr gedrucktes 
Herz aufschlieBen konnte und wie gern er mit ihr weinte. - Ein 
Hofapotheker mit einem Bimsstein-Herz -Zezwe/schreibter sich 



49<> HESPERUS 

- sah dieses ZerflieBen der warmsten Seele sogai einmal fur eine 
Tranenfistel an, weil er glaubte, keine andere Augen konnten 
weinen als kranke. . . . Lieber Leser, ist dir jetzo nicht wie dem 
Lebensbeschreiber, der nun den Eintritt dieses guten Viktors in 
die Kaplanei und Lebensbeschreibung kaum erwarten kann ? Wirst 
du ihm nicht die freundschaftliche Hand reichen und sagen; 
»Willkommen, Unbekannter! - Siehe, dein weiches Herz offnet 
unseres schon unter der Schwelle! O du Mensch mit Augen voll 
Tranen, glaubst denn du auch wie wir, daB in einem Leben, dessen 
Ufer vollhangen von Erschrocknen, die sich an Zweige, von Ver- 10 
zweifelten, die sich an Blatter halten, daB in einem solchen Leben, 
wo uns nicht bloB Torheiten,sondern auch Schmerzen umzingeln, 
der Mensch ein nasses Auge bewahren miisse fur rote, ein be- 
klommenes Herz fur ein blutendes, und eine leise Hand, die den 
schweren dicken Leidenkelch dem Armen, der ihn leeren muB, 
trauernd halt und langsam nachhebt? - Und wenn du so bist: so 
rede und lache, wie du willst; denn die Menschen soil keiner be- 
lachen als einer, der sie recht herzlich liebt.« — 

Nachmittags schickte der Obrist-Kammerherr Le Baut - ein 
gewtirzhaftes Blatterskelett - den Laufer Seebafi zum Kaplan und 2C 
lieB ihn ersuchen - denn das SchloB lag der Kaplanei nahe gegen- 
iiber — , den Bock nur so lange wegzustellen, bis sich der Wind 
drehte, weil seine Tochter kame. »Trauter Herr SeebaB!« (ant- 
wortete geriihrt der Ratten-Kontroversist) »meinen untertanigen 
Empfehl wieder, und Sie sehen mein Elend. Morgen erfreuen 
mich der Lord und sein Sohn und sein Augenarztmitihrer Gegen- 
wart, und der Star wird hier gestochen. Nun stinkt gegenwartig 
das ganze Haus, und die Ratten setzen ihren Nachttanz noch ge- 
lassen im Geruche fort; ich beteure Ihnen, Herr SeebaB, wir 
konnen Teufelsdreck nehmen und damit die Kaplanei bis zum 3 < 
Dachstuhl ausfiittern, nicht einen Schwanz treiben wir dadurch 
fort; es gefallt ihnen vielmehr. Ich meines Ortes riiste mich schon 
darauf, daB sie morgen unter dem Stiche an dem Starstecher und 
an dem Patienten hinaufspringen. - So erging' es uns alien, mel- 
den Sie im Schlosse, aber heute wollt* ich noch vortreffliches 
Rosenholzol versuchen.« 



I. HUNDPOSTTAG 497 

Er holte also einen groGen Hopfensack und zerrte ihn unters 
Dach hinauf, urn da im eigentlichen Sinne die Ratten bei der Nase 
herumzufuhren in den Hopfensack hinein. Bekanntlichsind Ratten 
so arg ersessen auf Rosenholzol als Menschen auf Salbol, das, so- 
bald nur sechs Tropfen auf den Scheitel fallen, auf der Stelle einen 
Konig oder Bischof daraus macht, welches ich daraus sehe, weil 
im ersten Fall ein goldner Reif um die Haare anschieBt und im 
zweiten sie gar ausgehen. Der Wehrstand, der Kaplan, iiber- 
spriitzte den Sack mit einigem 01 und legte ihn mit seiner Mun- 

io dung aufgesperrt und aufgespannt fur die Feinde hin - er selber 
stand darhinter und hielt sich hinter einem ebenso eingeolren 
Ofenschirm versteckt. Seine Absicht war, hervorzufahren, wenn 
die Bestien im Sack saBen, und die ganze Rotte dann wie Bienen 
im Schwarmsack wegzutragen. Die wenigen Kammerjager, die 
mich lesen, mussen diese Fangart haufig gebraucht haben. - 

Aber sie werden nicht dariiber hingepurzelt sein wie der Ka- 
plan, dem sich der wohlriechende Ofenschirm zwischen die Schen- 
kel stiilpte, und der still lag, wahrend der Feind lief. In einer 
solchen Lage labt den Menschen der Pralltriller eines Fluches. 

20 Nachdem also der Kaplan einige solcher Triller und Mordanten 
geschlagen, sich zur Familie hinabbegeben und ihr im Vorbei- 
gehen gesagt hatte : »wenn es im gemaBigten Erdstrich einen gabe, 
der von den Windeln an ein Trauerpferd zuritte, der ansassig 
ware in Hattos zweitem Mauseturm und in einem Raspelhause 
aus Amsterdam und in der Vorholle, wenns so einen Diszipli- 
nanten gabe, von dem ihn nur wunderte, wie er noch am Leben 
sei: so war* ers allein und weiter kein Teufel« - nachdem er das 
heraushatte: so lieB er die Ratten ruhig und — wurd* es selber 
recht sehr. 

50 In der Nacht fiel nichts Denkwiirdiges vor, als daB er — auf- 
wachte und herumhorchte, ob nichts Geschwanztes rumore, weil 
er willens war, sich satt zu argern. Da gar nichts von den Bestien 
zu vernehmen war, nicht einmal ein Seitensprung: so setzte er 
sich auf den FuBboden heraus und preBte das Spionenohr an 
diesen. Sein Gliick wollte, daB gerade jetzt die Bewegungen des 
Feindes mit Balletten und Galoppaden in sein Gehor einplumpten. 



498 HESPERUS 

Er brach auf, waffhete sich mit einer Kindertrommel und weckte 
seine Frau mit dem Lispeln auf: »Schatz, schlaf wieder ein und 
erschrick im Schlafe nicht: ich trommel* ein wenig gegen die 
Ratten; denn vonder ZwickauerSammlungnutzlicherBemerkun- 
gen fur Stadt- und Landwirtschaft 1785 wird mirs angeraten.« 

Sein erster Donnerschlag gab seinen Erbfeinden die Ruhe, die 
er seinen Blutfreunden nahm. . . . Da ich aber alle Menschen jetzt 
instand gesetzt, sich den Kaplan im Hemd und mit dem Hackbrett 
der Soldateska vorzustellen : so gehen wir lieber ans Bette seines 
Sohnes Flamin und geben acht, was dieser darin macht. ... ic 

Nichts; aber auBer demselben macht er einen Ritt jetzo so spat 
und noch dazu ohne Sattel und Weste. Er, dessen Brust eine Aols- 
Hohle voll gedriickter Sturme war — jeder gescheite Protono- 
tarius in Wetzlar wurde seinen Fischkopf oder Rebhuhnfliigel 
reiner abschalen oder sein Samt-Knie reiner abbursten als er — , 
dieser wuBte unmoglich langer auf einem Kopfkissen zu ver- 
bleiben, dem heute eine Trommel so nahe kam und morgen ein 
Freund. Einen andern freilich (wenigstens den Leser und mich) 
wiirde die durchsichtige Nacht, womit sich der April beschloB, 
die weite Stille, auf welche die Trommelstocke schlugen, die « 
Sehnsucht nach dem Geliebten, mit welchem der Morgen wieder 
das ode Herz und das zerstuckte Leben erganzte, alles dieses 
wiirde uns beide mit sanften Bebungen und Traumen erfullet haben 
- den Kaplans-Sohn aber warf es auf den Gaul hinauf und in die 
Nacht hinaus; seine geistigen Erd-Erschiitterungen legten sich 
nur unter einem korperlichen Galopp. 

Er sprengte uber den Hugel, auf dem er morgen sich mit seinem 
Horion wieder verknupfen wollte, zehnmal hinauf und hinab. Er 
fluchte und donnerte auf alle seine Leidenschaften - freilich mit 
Leidenschaft — , die bisher die Beinsage an ihre verbundnen 3c 
Freundschafthande angelegt hatten : »0 wenn ich dich nur wieder 
habe, Sebastian,« (sagt' er und riB den Gaul herum) »so will ich so 
sanft sein, so sanft wie du, und dich niemals verkennen, oder das 
Donnerwetter soil mich hier auf dem Platze....« Beschamt uber 
den eiligen Widerspruch ritt er bloB im PaB nach Hause. 

Seine Sehnsucht nach seinem wiederkehrenden Freunde druckt' 



I. HUNDPOSTTAG 499 

er im Stalle dadurch aus, daB er die Scheitelhaare hinaufstiilpte, 
den Zopf wie die vierte Geigensaite anzog und dem Schliissel des 
Futterkastens den Bart abdrehte. . . . 

Nur ein Mensch, der nach einem Freunde gerade so wie nach 
einer Freundin schmachtet, verdienet beide. Aber es gibt Men- 
schen, die aus der Erde gehen, ohne jedaruber betriibt oder besorgt 
gewesen zu sein, dafi sie niemand darin geliebt hatte. Derjenige, der 
nach dem Kommer^tentraktat des Eigennutzes, nach dem gesell- 
schaftlichen Vertrag der Hoi lichkeit, sogar nach dem Gren{- und 

o Tauschvertrag der Liebe nichts Hoheres kennt, ein solcher -ich 
wollt' aber, er hatte mich gar nicht vom Verleger.verschrieben -, 
dessen fahles Herz nichts weiB von der Bruderunitat befreundeter 
Menschen, vom Ineinanderverzweigen ihrer edlern GefaBe und 

von ihrer Eidgenossenschaft in Streit und Schmerz ich sen* 

aber nicht, weswegen ich von diesem Tropfe so lange rede, da er 
nicht einmal in Flamins Sehnen sich hineinzufuhlen weiB, der ein 
Iiebendes, achtendes Auge begehrte, weil seine Fehler und seine 
Tugenden in gleichem MaBe abstieBen; denn bei andern Men- 
schen machen wenigstens entweder die Flecken die Strahlen gut, 

o oder die Strahlen die Flecken. — 

BloB in furstlichen Pferdestallen ist das Getose fruher und 
lauter, als das in der Kaplanei am ersten Wonnemonat war. Ich 
frage die erste beste Leserin, ob es je mehr zu bohnen und zu 
sieden geben kann als an einem Morgen, wo ein Lord mit dem 
Star erwartet wird und sein Sohn dazu und ein Stars techer. Die 
mannlichen Rasttage fallen allezeit in die weiblichen Raspeltage; 
Vater und Sohn gingen gelassen dem Doktor und dem Stecher 
entgegen. 

Der erste Mai fing sich, wie der Mensch und seine Weltge- 

,o schichte, mit einem Nebel an. Der Friihling, der RafFael der 
Norderde, stand schon drauBen und iiberdeckte alle Gemacher 
unsers Vatikans mit seinen Gemalden. Ich nab* einen Nebel lieb, 
sobald er wie ein Schleier vom Angesicht eines schonen Tages 
abgleitet, und sobald ihn groBere als die vier Fakultaten machen. 
Wenn er (der am i. Mai war so) wie ein Zugnetz Gipfel und Bache 
uberflicht - wenn die herabgedriickten Wolken auf unsern Auen 



5<X> HESPERUS 

und durch nasse Stauden kriechen - wenn er auf der einen Welt- 
gegend den Himmel mit einem Pech-Brodem besudelt und den 
Wald mit einer unreinen schweren Nebelbank bestreift, indes er 
auf der andern, abgewischt vom nassen Saphir des Himmels, in 
Tropfen verkleinert, die Blumen erleuchtet; und wenn dieser 
blaue Glanz und jene schmutzige Nacht nahe aneinander voriiber- 
ziehen und die Platze tauschen : wem ist alsdann nicht, als sah' er 
Lander und Volker vor sich liegen, auf denen giftige und stinkende 
Nebel in Gruppen herumziehen, die bald kommen, bald gehen? - 
Und wenn ferner diese wei.Be Nacht .mein schwermutiges Auge i 
mit dahinfliegenden Dunststromen, mit irrenden zitternden Duft- 
. staubchen umzingelt: so erblick* ich trube in dem Dunst das 
Menschenleben abgefarbt, mit seinen zwei groBen Wolken an 
unserm Auf- und Untergange, mit seinem scheinbar lichten 

Raume um uns, mit seiner blauen Miindung iiber uns 

Der Doktor kann auch so gedacht haben, aber nicht Vater und 
Sohn, die ihm entgegengehen. Flamin wird starker von der ent- 
fernten als nahen Natur, mehr von der grofien als kleinen ge- 
riihrt, so wie er mehr fur den Staat als die Wohnstube Gefiihl hat, 
und sein innerer Mensch windet sich am liebsten an Pyramiden ; 
empor, an Gewittern, an Alpen. Der Kaplan genieBet bei der 
ganzeri Sache nichts als - Maibutter, und aus seinem Munde geht 
bei so vielem moralischen Apparate nichts als - Speichel, beides, 
weil er befahrt, der Dampf fress' ihn an und zerbeiBe seinen 
Schlund und Magen. 

Als sie vom Hiigel des nachtlichen Galopps in ein mit Nebel- 
dampf verschiittetes Tal einschritten, zogen ihnen daraus drei 
Garnisonregimenter im Doppelschritt entgegen. Jedes Regiment 
war vier Mann stark und ebenso hoch- ohne Pulver und Schuhe 
~ aber versehen mit fein durchbrochnen Schenkel-Manschetten, ; 
namlich mit porosen Hosen, und iiberflussigen Offizieren, weil 
keine Gemeine dabei waren. Da ich jetzt in meiner Beschreibung 
gar dazu setze, daB beide Stabe, sowohl der Regiment- als der 
Generalstab, iiber 600 Kanonen in der Tasche hatten und tiber- 
haupt einen ganzen Artillerie-Zug, und daB die Prima Plana ganz 
neue, im Kriege ungewohnliche^e/^ Kugeln,'die eher aufkeimten 



I.HUNDPOSTTAG 501 

als das von Wilden gesaete SchieBpulver, mit der Zunge in die 
Flinten steckte: so wuird' ich (ich befiirchte das) die Leser, zumal 
die Leserinnen - um so mehr, da ichs noch nicht erraten lasse, 
warens Soldaten-Eltern oder, Soldaten-Jungen - ein wenig zu 
angstlich machen, wenn ich gar eintunken und vollends den ver- 
jdrieBlichen Umstand, daB die Truppen auf den benebelten Hof- 
kaplan Feuer zu geben anfingen, hinzu erzahlen wollte, ohne 
spornstreichs schon vorher mit der Nachricht vorzusprengen, daB 
hinter'der Armee eine Mannstimme rief: Halt! 

10 Herausfuhr aus dem letzten TrefFen der Generalfeldmarschall, 
der gerade noch einmal so lang war als sein Stuckleutnant - mit 
rundem Hut, mit fliegenden Armen und Haaren sturzt' er sich 
wiitend auf Flamin zu und erpackte ihn, um ihn umzubringen — 
aus HaB weniger als aus Liebe - der Doktor wars - die beiden 
Freunde lagen zitternd ineinander, Gesicht in Gesicht gehiillt, 
Brust von Brust zurtickgedriickt, mit Seelen ohne Freudenworte, 
aber nicht ohne Freudentranen - die erste Umarmung endigte sich 
mit einer zweiten -- die ersten Laute waren ihrezwei Namen — 
Der Kaplan privatisierte neben der Armee und stand verdrieB- 

20 lich auf seinem Isolierschemel mit dem leeren Halse, um den nichts 
fiel. »Umhalset euch nur noch einen Augenblick« - sagte er und 
wandte sich halb um - »ich muB mich nur dort ein biBchen an die 
Haselstaude stellen, will aber gleich wieder da sein und auch auf 
meiner Seite den Herrn Doktor mit tausend Freucjen umarmen.« 
- Aber Horion verstand den Unwillen der Liebe, er flog aus des 
Sohnes Armen in die des Vaters und verweilte lange darin und 
machte alles wieder gut. 

Mit befriedigter Liebe, mit tanzenden Herzen, mit schwelgen- 
den Augen, unter dem aufgebliihten Himmel und iiber den 

30 Schmuck der, Erde - denn der.Fruhling hatte sein Schmuck- 
kastchen aufgeschlossen und bluhende Juwelen in alle Taler und 
auf alle Hugel und bis weit an die Berge geworfen - wandelten 
beide selig dahin, und- die britische Hand preBte die deutsche. 
Sebastian Horion konnte nichts sagen zu Flamin, aber er sp'rach 
mit dem Vater, und jeder gleichgultige Laut machte den mit Blut 
und Liebe iiberhauften Busen freier. 



502 HESPERUS 

Die drei Regimenter hatte jeder aus dem Kopfe verloren; aber 
sie waren selber dem Generalfeldmarschall gehorsam nachmar- 
schiert. Sebastian, zu menschenfreundlich, um jemand zu ver- 
gessen, drehte sich gegen den Nachtrab von kleinen Ohnehosen 
herum, die nicht aus Paris, sondern aus Flachsenfingen waren und 
als bettelnde Soldatenkinder ihn begleitethatten:»MeineKinder,« 
(sagt' er und sah nichts an als sein stehendes Heer) »heute ist fur 
euren Generalissimus und euch der merkwiirdige Tag, wo er drei 
Dinge tut - Ich dank' euch erstlich ab, aber meine Reduktion soil 
euch so wenig wie eine furstliche hindern, zu betteln - zweitens 10 
bezahr ich euch den riickstandigen Sold von drei Jahren, nam- 
lich jedem Offizier das Traktement von zwei Siebzehnern, weil , 
man jetzo die Gage erhohet hat — drittens lauft morgen wieder 
her, ich lasse den samtlichen Regimentern Hosen anmessen.fl 

Er kehrte sich gegen den Kaplan und sagte: »Man sollte Iieber 
Sachen verschenken als Geld, denn die Dankbarkeit fur dieses 
wird zugleich mit diesem ausgegeben, aber in einem Paar ver- 
ehrten Hosen halt der Dank so lang wie sein Oberzug selber.« 

Das Schlimme dabei wird nur sein, daB der flachsenfingische 
Furst und sein Kriegkollegium sich zuletzt in die Hosen mengen, 20 
da beide unmoglich verstatten konnen, daB regelmaBige Truppen 
mehr auf als in dem Leibe haben, namlich etwas. In unsern Tagen 
sollt' es endlich dem dummsten Montierung- und Proviant- 
kommissar einleuchten - aber in der Tat gibt es kluge -, 1) dafl 
unter zwei Soldaten der hungrige stets dem satten vorzuziehen 
sei, weil schon von ganzen Volkern bekannt ist, daB sie desto 
tapferer sind, je weniger sie haben - 2) daB, so wie in Blotzheim 1 
unter zwei gleich tugendhaften Junglingen der armere gekront 
wird, ebenso der arme Untertan billig dem reichen trotz aller 
gleichen Tapferkeit dennoch .vorgezogen und allein angeworben 5 o 
werde, weil der arme Teufel besser mit Hunger und Frost be- 
kannt ist - daB 3) jetzt, da auf alien Stufen des Throns wie auf 
Wallen Kanonen stehen (wie die Sonne ihren Glanz von tausend 
speienden Vulkanen empfangt) und da in einem guten Staate das 

1 Im obern Elsa8, v/o alle drei Jahre bloB der beste Jiingling Kranz und 
Schaumunze und die Verwaltung der Aue empfangt. 



I.HUNDPOSTTAG 503 

mannliche Stammholi zu Lactstocken abgetrieben wird, das Volk 
mit Nutzen in zweierlei Hausarme zerfalle, in beschiitzte und in 
schiitzende — Und 4) soil der Teufel den holen, der murrt. — 

Als meine drei geliebten Menschen endlich vor der Kaplanei 
ankamen, war das ganze aufgeloste Heer ihnen heimlich nachge- 
riickt und wollte die Hosen. Aber noch etwas GroBeres war ihnen 
aus Flachsenfingen nachgefahren - der blinde Lord. Kaum hatte 
den jungen Gast die Britin nicht hoflich, sondern freudig herein- 
gelachelt, kaum hatte Agathe zum erstenmal ernsthaft sich hinter 

10 die Mutter, und die alte Appel sich hinter die Kochtopfe ver- 
steckt: so tat der aufraumende Eymann einen langen Sprung vom 
Fenster hinweg, an welches vier Englander - kerne Auslander, 
sondern Pferde - herantrabten. Jetzt hel erst alien die Frage ein, 
wo der Augenarzt sei; und Sebastian hatte kaum die Zeit, darauf 
zu antworten, es komme keiner nach, denn er selber operiere 
seinen Vater. In den engen Zwischenraum, den sich der Vater von 
der Wagenture zur Stubentiire durchfuhren lieB, muBte der Sohn 
die Luge drangen, oder vielrriehr die Bitte um die Luge, die die 
Familie^Seiner Herrlichkeit anhangen sollte, »der Sohn ware noch 

10 nicht da, sondern bloB der Okulist, dem der letzte SchlagfluB die 
Sprache genommen«. 

Ich und der Leser stehen unter einem solchen Gedrange von 
Leuten, daB ich ihm noch nicht einmal so viel sagen konnen, daB 
der Doktor Kuhlpepper dem Lord das linke Auge mit der plum- 
pen Starnadel so gut wie ausgestochen; - um also das rechte des 
geliebten Vaters zu retten, hatte Sebastian sich auf die Kur jener 
Verarmten gelcgt, die schon mit den Augen im Orkus wandeln, 
und nur noch mit vier Sinnen auBerhalb des Grabes stehen. - 
Als der Sohn die teure, mit einer so langen Nacht bedeckte 

30 Gestalt, fur die es kein Kind und keine Sonne mehr gab, er- 
blickte: so schob er sein Hand, deren Puis von Mitleid, Freude 
und HofFnung zitterte, der Eymannischen unter und reichte sie 
eilend hin und druckte die vaterliche unter dem fremden Namen. 
Aber er muBte zur Haustiire wieder hinaus, damit seine bebende 
Retterhand auszitterte, und er hielt drauBen das vor HofTnung 
pochende Herz mit dem Gedanken an, daB die Operation nicht 



504 HESPERUS 

geraten werde - er sah lachelnd an dem zwolfspannigen Kadetten- 
korps auf und ab, damit die Ruhrung und die Sehnsucht aus der 
bewegten Brust entwichen. Drinnen hatt* unterdes die Kaplanin 
aus dem Blinden einen noch Blindern gemacht und ihm vorge- 
logen quantum satis ; sobald eine Luge, pia fraus, ein -dolus bonus, 
eine poetische und juristische fictio auszufertigen ist: so stellen 
sich die Weiber von selber als expedierende Sekretare und Hof- 
buchdruckerinnen hinzu und helfen dem ehrlichen Mann. »Ich 
wiinschte sehr,« - sagte der Vater beim Eintritt des Sohnes-»die 
Operation ginge jetzo vor sich, ehe mein Sohn angekommen ist.« 10 
Die Kaplanin holte den beklommenen Sohn zuriick und entdeckte 
ihm den vaterlichen Wurisch. Er trat leise unter die verlegene Ge- 
seUschaft. Das Zimmer wurde verschattet, die Starlanzettevorge- 
holt und das kranke Auge festgemacht. Alles stand mit banger 
Aufmerksamkeit um den ruhigen Blinden. Der Kaplan guckte mit 
einer lacherlichen Angst und Qual auf das schlafende Wochen- 
kind, um mit ihm bei dem kleinsten Schrei sogleich aus dem 
Starstechzimmer hinauszulaufen. Agathe und Flamin hielten sich 
weit vom Patienten, und beide mit gleichem Ernst. Die edle 
Mutter Flamins naherte sich mit ihrem von Freude und Sorge und 20 
Liebe zugleich ergriffenen Herzen und mit ihren iiberflieBenden 
Augen, die dem erschiitterten Herzen gehorchten. Viktor weinte 
bang und froh neben dem stummen Vater, aber er zerquetschte 
heftig jeden Tropfen, der ihn storen konnte. - So teilt jede Ope- 
ration durch das Steigen der Zurustungen dem Zuschauer Herz- 
klopfen und Bangen mit. Nur der verhullte Brite - ein Mensch, 
der sein Haupt wie ein hohes Gebirge kalt und heiter uber 
eine Feuerzone hob - dieser hielt der kindlichen Hand ein 
schweigendes Angesicht ohne Zuckung vor; er blieb vor dem 
Schicksal gefaBt und stumm, das jetzt entscheiden wollte, ob 30 
seine ode Nacht langen sollte bis ans Grab, oder nur bis an diese 
Minute — 

Das Schicksal sagte: es werde Licht, und es ward. - Das un- 
sichtbare Schicksal nahm eines Sohnes angstliche Hand und schloB 
damit ein Auge auf, das einer schonern Nacht als dieser ungestirn- 
ten wiirdig war: Viktor driickte die reife Starlinse- diese auf die 



I. HUNDPOSTTAG 505 

Schopfung geworfene Dampfkugel und Wo Ike - in den Boden des 
Augapfels hinab; und so, da ein Atom drei Linien tief versenket 
war, hatte ein Mensch die UnermeBlichkeit wieder und ein Vater 
den Sohn. Gedriickter Mensch ! der du zugleich ein Sohn und ein 
Kneckt des Staubes bist, wie klein ist der Gedanke, die Minute, 
der Bluts- oder der Tranentropfen, der dein weites Gehirn, dein 
weites Herz uberschwilltl Und wenn ein paar Blutkiigelchen bald 
deine Montgolfiers-Kugeln, bald deine Belidors-Druckkugeln 
werden, ach wie wenig Erde ist es, die dich hebt und driickt! - 

10 »Viktor! du? - Du hast mich geheilt, mein Sohn?« (sagte der 
errettete Mensch und nahm die noch mit dem Arbeitzeuge be- 
waffnete Hand) - »Leg weg und bind mich wieder zu ! Ich freue 
mich, daB ich dich zuerst sah.« - Der Sohn konnte vor Running 
nicht. - »Verbinde mich! das Licht schmerzt. - Du warst es? 
Rede!« - Er band stumm das geoffnete Auge unter den frohen 
Tranen des seinigen wieder zu. Als aber der Verband der schonen 
stoischen Seele alles verdeckte, seine Errotung und seine Er- 
gieBung: so wars dem zu gliicklichen Sohne nicht mehr moglich, 

- sich langer zu fassen - er uberlieB sich seinem Herzen und klam- 

20 merte sich mit seinen Tranen an das umhullte Angesicht, dem er 
hellere Tage wiedergegeben hatte; und als er an seiner zitternden 
Brust die schnellern Schlage des vaterlichen Herzens und die 
festere Umarmung des Dankes fuhlte: dann war das beste Kind 
das gliicklichste Kind. - Und alle waren uber seine Freude froh 
und wiinschten mehr dem Sohne als dem Vater Gluck — 

Zwolf Kanonen gingen drauBen los aus ebenso vielen Stuben- 
schliisseln — Sie erschieBen diese Historic — 

Denn jetzt ist sie wahrlich aus - nicht ein Wort, nicht eine 
. Silbe weiB ich mehr - ich habe uberhaupt in meinem Leben gar 

30 keinen Horion und kein St. Liine gesehen oder gehort oder ge- 
traumt oder nur romantisch ersonnen - der Teufel und ich wissen, 
wie es ist,- und ich meines Orts habe ohnehin jetzt bessere Dinge zu 
machen und zu eroffnen, namlich: 



506 HESPERUS 

Die Ouverture und die geheime Instruktion 

Ein andrer hatte dumm gehandelt und gleich mit dem Anfang 
angefangen; ich aber dachte, ich konnte allemal noch sagen, wo 
ich hause - im Grunde am Aquator; denn ich wohne auf der Insel 
St.Johannis, die bekanntlich in den ostindischen Gewassern liegt, 
die ganz vom Fiirstentum Scheerau umgeben sind. Es kann nam- 
Iich guten Hausern, die ihre ordentliche literarische Strazza (den 
MeBkatalog) und ihr ordentliches Kapitalbuch (die Literatur- 
zeitung) halten, nichts weniger unbekannt sein als mein neuestes 
Landeserzeugnis, die unsicktbareLoge;em Werk,zudessenLesung i 
mein Landesherr seine Landeskinder und selber die Schriftsassen 
(es ware nicht ausdriicklich gegen die Rezesse) noch mehr noti- 
gen sollte als. zum Besuche der Landesuniversitat. In diese Loge 
nab* ich nun den auBerordentlichen Teich gesetzt, welcher unter 
dem Namen ostindischer Ozean bekannter isr, und in den wir 
Scheerauer die wenigen Molukken und andere Inseln hineinge- 
fahren und -geflastert haben, auf denen unser Aktivhandel ruht. 
Wahrend daB die unsichtbare Loge in eine sichtbare umgedruckt 
wurde, haben wir wieder eine Insel verfertigt - das ist die Insel 
St. Johannis, auf der ich jetzt hause und spreche. 20 

Der folgende Absatz durfte anziehend werden, weil man darin 
dem Leser aufdeckt, warum ich auf dieses Buch den tollen Titel 
setzte: Hundposttage. 

Es war vorgestern am 29. April, daB ich abends auf- und ab- 
ging auf meiner Insel - der Abend hatte sich schon in Schatten 
und Nebel eingesponnen - ich konnte kaum auf die TeMor-Insel 
hinubersehen, auf dieses Grabmal schoner untergesunkner Friih- 
linge, und ich hiipfte mit dem Auge bloB auf den nahen Laub- 
und Blutenknospen herum, diesen Flugelkleidern des wachsenden 
Fruhlings - die Ebene und Kiiste um mich sah wie eine Anzieh- 5 o 
stube der Blumengottin aus, und ihr Putzwerk lag zerstreuet und 
verschlossen in Talerri und Stauden herum - der Mond lag noch 
hinter der Erde, aber sein Strahlen-Springbrunnen sprtitzte schon 
am ganzen Rande des Himmels hinauf- der blaue Himmel war 
endlich mit Silberflittern durchwirkt, aber die Erde noch schwarz 



I. HUNDPOSTTAG 507 

von der Nacht gemalt - ich sah bloB in den Himmel. . . als etwas 
platscherte auf der Erde. . . . 

Ein Spitzhund tats, der in den indischen Ozean gesprungen 
war und nun losdrang auf St. Johannis. Er kroch an meine Kiiste 
hinauf und regnete wedelnd neben mir. Mit einem blutfremden 
Hunde ist eine Unterredung noch saurer anzuspinnen als mit 
einem Englander, weil man den Charakter und Namen des 
Viehes nicht kennt. Der Spitz hatte etwas mit mir vor und 
schien ein Bevollmachtigter zu sein. Endlich machte der Mond 
jo seine Strahlen-Schleuseri auf und setzte mich und den Hund unter 
Licht. 

»Sr. Wohlgeboren 
des Herrn Berg-Hauptmann 1 Jean Paul 

auf 
Fret St. Johannis.« 

Diese Aufschrift an mich hing vom Halse der Bestie herunter 
und war an eine Kiirbisflasche, die ans Halsband gebunden war, 
angepicht. Der Hund willigte ein, daB ich ihm sein Felleisen ab- 
streifte, wie den Alpenhunden ihren tragbaren Konvikttisch. Ich 
» zog aus dem Kurbis, der in Marketenderzelten oft mit Geist ge- 
fullt worden, etwas heraus, was mich noch besser berauschte - 
ein Biindel Briefe. Gelehrte, Verliebte, MiiBige und Madchen sind 
unbandig auf Briefe erpicht; Geschaftleute gar nicht. 

Das ganze Biindel - Name und Hand waren mir fremd - drehte 
sich um den Inhalt, ich ware ein beruhmter Mann und hatte mit 
Kaisern und Konigen Verkehr', und Berghauptmanner meines 
Schlages gab' es wohl wenig, u. s. w. Aber genug ! Denn ich mii Bte 
nicht eine Unze Bescheidenheit mehr in mir tragen, wenn ich mit 

1 Es ist bekannt, wie wenig ich vom Bergwesen verstehe; ich habe daher 
30 Ursache zu haben geglaubt, bei meinen Obern um einen Sporn anzuhalten, 
der mich antriebe, daB ich in einer so wichtigen Wissenschaft etwas tate - 
und so ein Sporn ist eine Berghauptmannstelle allemal. 

* AuBer den zwei Kaisern Silluk und Athnach und den vier Konigen Sgol- 
ta, Sakeph Katon etc. bin ich weiter mit keinen umgegangen; und das nur als 
Primaner, weil wir Juristen mit Teufels Gewalt hebraisch lernen muBten; 
worin eben die gedachten sechs Potentaten als Akzente der Worter vor- 
kommen. Vielleicht meint aber der Briefs teller die groBen, scharfen, gekron- 
ten Akzente der Volker. 



508 HESPERUS" 

der Unverschamtheit, die einige wirklich haben, so fort exzer- 
pieren und es aus den Briefen extrahieren wollte, daB ich der 
scheerauische Gibbon und Moser ware (zwar im biographischen 
Fache nur, aber welche Schmeichelei !) - daB jeder > der ein Leben 
besaBe und es von mir biographisch abgeschattet sehen wollte, 
damit fortmachen sollte, ehe ich von irgendeinem koniglichen 
Hause zum Historiographen weggepresset wiirde und gar nicht 
mehr zu haben ware - daB es mir gleichwohl wie andern Berghaupt- 
leuten ergehen konnte, vor denen das zerstreuete Publikum oft 
nicht eher den Hut abgenommen, als bis sie schon in eine andere -io 
Gasse, d.h. Welt, hinein gewesen, u.s.w. Wer besorgt^ letztes 
mehr als ich selber? Aber auch diese Besorgnis bringt einen be- 
scheidnen Mann nicht dazu, daB er hinabkriecht und den Ein- 
blaser seines Lobredners macht; wie ich doch getan haben wurde, 
wenn ich fort ausgezogen hatte. MeinemGefuhle sind sogar die 
Schriftsteller verhaBt, die mit dem Endtriller: »Bescheidenheit 
verbiete ihnen, mehr zu sagen« unverschamt erst dann nach- 
kommen, wenn sie alles schon gesagt haben, was jene verbieten 
kann. 

Jetzo wagt sich der Korrespondent mit seiner Absicht hervor, 20 
mich zum Lebensbeschreiber einer ungenannten Familienge- 
schichte zu machen. Er bittet, er intrigieret, er trotzt. »Er konne« 
- (schreibt er weitlauftiger, aber ich abbreviere alles und trag* 
iiberhaupt diesen Briefauszug mit auBerordentlich wenig Ver- 
stand vor; denn ich werde seit einer halben Stunde von einer ver- 
dammten Ratten-Bestie ungemein argerlich gekratzt und genagt) 
-»mir alles gerichtlich dokumentieren,durfe mir aber keine andere 
Namen der Personagen in dieser Historie melden als verfalschte, 
weil mir nicht ganz zu trauen sei - er klare mir schon alles mit der 
Zeit auf- denn an dieser Geschichte und deren Entwicklung ar- 30 
beite das Schicksal selber noch, und er handige mir hier nur die 
Schnauze davon ein und werde mir ein Glied nach dem andern, 
so wie es von der Drechselbank der Zeit abfalle, richtig iiber- 
machen, bis wir den Schwanz hatten - daher werde der briefliche 
Spitz regelmafiig weg- und anschwimmen wie eine poste aux 
anes, aber nachschifFen durf ' ich dem Brieftrager nicht - und so« 



1. HUNDPOSTTAG 509 

(schlieBet der ^Correspondent, der sich Ane/unterzeichnet) »werde 
mir der Hund wie ein Pegasus so viel Nahrungsaft zutragen, daB^ 
ich statt des dunnen VergiBmeinnichts eines Almanachs einen 
dicken Kohlstrunk von Folianten in die Hohe zoge.« 

Wie glucklich er seine Absicht erreicht habe, weiB der Leser, 
der j a eben aus dem ersten Kapi tel dieser Geschichte herkomrnt, das 
der Spitz von Eymanns Ratten bis zur Kanonade auf einmal in der 
Flasche hatte. - 

Ich schrieb Herrn Knef nur so viel im Kiirbis zuriick: »Etwas 

to Tolles schlag* ich selten ab. - Ihre Schmeicheleien wiirden mich 
stolz machen, wenn ichs nicht schon ware; daher schaden 
Schmeichler wenig. - Ich finde die beste Welt bloB im Mikrokos- 
mus ansassig, und mein Arkadien langt nicht uber die vier Gehirn- 
kammern hinaus; die Gegenwart ist fur nichts als den Magen des 
Menschen gemacht; die Vergangenheit besteht aus der Geschichte, 
die wieder eine zusammengeschobene, von Ermordeten bewohnte 
Gegenwart, und bloB ein Deklinatorium unsrer ewigen waag- 
rechten Abweichungen vom kalten Pole der Wahrheit, und ein 
Inklinatorium unsrer senkrechten von der Sonne der Tugend ist - 

jo Es bleibt also dem Menschen, der in sich gliicklicher als auBer 
sich sein will, nichts iibrig als die Zukunft oder Phantasie, d.h. 
der Roman. Da nun eine Lebensbeschreibung von geschickten 
Handen leicht zu einem Roman zu veredeln ist, wie wir an Vol- 
tairens Karl und Peter und an den Selbstbiographien sehen : so 
ubernehm' ich das biographische Werk, unter der Bedingung, 
daB darin die Wahrheit nur meine Gesellschaftdame, aber nicht 
meine Fiihrerin sei. 

In Besuchzimmern macht man sich durch allgemeine Satiren 
verhaBt,weil sie jeder auf sich ziehen kann; personliche rechnet 

30 man zu den Pflichten der Medisance und verzeiht sie, weil man 
hofft, der Satiriker falle mehr die Person als das Laster an. In 
Biichern aber ist es gerade umgekehrt, und es ist mir, falls einige 
oder mehrere Spitzbuben in unsrer Biographie, wie ich hoffe, 
Rollen haben, das Inkognito derselben ganz Iieb. Ein Satiriker ist 
hierin nicht so unglucklich wie ein Arzt. Ein lebhafter medizi- 
nischer Schriftsteller kann wenige Krankheiten beschreiben, die 



5IO HESPERUS 

nicht ein lebhafter Leser zu haben meine ; dem Hypochondristen 
impfet er durch seine historischen Patienten ihre Wehen so gut 
ein, als wenn er ihn ins Bette zu ihneh legte; und ich bin fest ver- 
sichert, daB wenige Leute von Stande lebhafte Schilderungen der 
Lustseuche lesen konnen, ohne sich einzubilden, sie hatten sie, so 
schwach sind ihre Nerven und so stark ihre Phantasien. Hingegen 
ein Satiriker kann sich Hoffnung machen, daB selten ein Leser 
seine Gemalde moral ischer Krankheiten, seine anatomischen Ta- 
feln von geistigen MiBgeburten auf sich anwenden werde; er kann 
froh und frei Despotismus, Schwache, Stolz und Narrheit ohne i 
die geringste Sorge malen, daB einer dergleichen zu haben sich 
einbilde; ja ich kann das ganze Publikum oder alle Deutsche einer 
asthetischen Schlafsucht, einer politischen Abspannung, eines 
kameralistischen Phlegma gegen alles, was nicht in den Magen 
oder Beutel geht, beschuldigen; aber ich traue jedem, der mich 
lieset, zu, daB er wenigstens sich nicht darunter rechne, und wenn 
dieser Brief gednickt wurde, wollt' ich mich auf eines jeden m- 
neres Zeugnis berufen. - Der einzige Spieler, dessen wahren 
Namen ich in diesem historischen Schauspiel haben muB, zumal 
da er nur den Einblaser macht, ist der - Hund. 21 

Jean Paul.« 

Ich habe noch keine Antwort und auch noch kein zweites Ka- 
piteh' jetzo kommt es ganz auf den Spitzhund an, ob der der ge- 
lehrten Welt die Fortsetzung dieser Historie schenken will oder 
nicht. 

- Ists aber moglich, daB ein biographischer Berghauptmann 
bloB einer verdammten Ratte wegen, die noch dazu in keinem 
Journal arbeitet, sondern in meinem Hause, eben vom Publikum 
weglaufen und alle Zimmer durchdonnern muB, um das Aas in 
Angst zujagen?... 3 c 

...Spitiius Hofmann heiBet der Hund; der war die Ratte und 
kratzte an der Tiire mit dem zweiten Kapitel im Kiirbis. Ein 
ganzes voiles Proviantschiff, das die gelehrte Welt ausnaschen 
darf, hah' ich vom Halse Hofmanns abgehoben : und es tun sich 
fur den Leser, der das Gescheute so gern lieset wie das Dumme, 
heute - denn nunmehr ists gewiB, daB ich fortschreibe - freudige 



I. HUNDPOSTTAG 511 

Aussichten auf, die ich aus einem gewissen Gefuhle der Beschei- 
denheit nicht abzeichne . . . Der Leser sitzt jetzt in seinem Kanapee, 
die schonsten Lese-Horen tanzen urn ihn und verstecken ihm 
seine Repetieruhr - die Grazien halten ihm mein Buch und 
reichen ihm die Heftlein - die Musen wenden ihm die Blatter urn 
oder lesen gar alles vor — 'er lasset sich von nichts storen, sondern 
der Schweizer oder die Kinder miissen sagen, Papa ist aus - da 
das Leben an einem FuB einen Kothurn und am andern einen 
Sokkus tragt, so ists ihm lieb, daB eine Lebensbeschreibung audi 

to in einem Atem lacht und weint - und da die Schonschreiber immer 
mit dem Moralischen ihrer Schriften, das niitzt, etwas Unmora- 
lisches, das vergiftet, aber reizt, zu verbinden wissen, gleich den 
Apothekern, die zugleich Ar^eien und Aquavit verzapfen, so ver- 
gibt er mir gern fiir das Unmoralische, das vorsticht, das Religiose, 
das ich etwa habe, und umgekehrt - und da diese Biographie in 
Musik gesetzt wird, weil Ramler sie vorher in Hexameter setzt 
(welches sie auch mehr bedarf als der harmonische GeBner), so 
kann er, wenn er sie gelesen hat, aufstehen und sie auch spielen 
oder singen. . . . Auch ich bin fast ebenso gliicklich, als las' ich das 

20 Werk - der indische Ozean schlagt die Pfauenrader seiner be- 
leuchteten Wellenkreise vor meiner Insel - mit allem steh' ich auf 
dem besten FuBe, mit dem Leser, mit dem Rezensenten und mit 
dem Hund - alles ist schon zu den Hundposttagen da, ein Dinten- 
rezept von einem Alchemiker, der Gansehirt mit Spulen war 
schon gestern da, der Buchbinder mit bunten Schreibbuchern 
erst heute - die Natur knospet, mein Leib bluht, mein Geist tragt 
- und so hang* ich uber den Loh- und Treibkasten (d. h. uber die 
Insel) meine Bliiten, durchschieBe den Kasten mit meinen Wur- 
zelfasern, kann es (ich Hamadryade) aus meinem Laubwerk her- 

30 aus nicht wahrnehmen, wie viel Moos die Jahre in meine Rinde, 
wie viel Holzkafer die Zukunft in das Mark meines Herzens und 
wie viel Baumheber der Tod unter meine Wurzel setzen wird, 
nehme alles nicht wahr, sondern schwinge froh - du gutiges 
Schicksal! - die Zweige in dem Winde, lege die Blatter saugend 
an die mit Licht und Tau gefullte Natur und errege, vom allge- 
meinen Lebenodem durchblattert, so viel artikuliertes Gerausch, 



512 HESPERUS 

als notig ist, daB irgendein trubes Menschenherz unter der Auf- 
merksamkeit auf diese Blatter seine Stiche, sein Pochen, sein 

Stocken vergesse in kurzen sanften Traumen warum ist ein 

Mensch zuweilen so gliicklich? 

Darum: weil er zuweilen ein Literatus ist. Sooft das Schicksal 
unter seinem Schleier das Lebenstromchen eines Literatus, das 
uber einige Horsale und Biicherbretter rinnt, aus dem grofien 
Weltatlas in eine Spezialkarte hineinpunktiert: so kann es so den- 
ken und sagen : »WohIfeiler und sonderbarer kann man doch kein 
Wesen gliicklich machen, als wenn man es zu einem literarischen 
macht : sein Freudenbecher ist eine Dintenflasche - sein Trom- 
metenfest und Fasching ist (wenn es rezensiert) die Ostermesse- 
sein ganzer paphischer Hain geht in ein Bucherfutteral hinein - 
und in was anderm bestehen denn seine blauen Montage als in 
(geschriebnen oder gelesenen) Hundposttagen?« Und so fiihrt 
mich das Schicksal selber in den 



2. HUNDPOSTTAG 

Vorsundflutliche Geschichte - Viktors Lebens-ProzeG-Ordnung 

Beim Tor des ersten Kapitels fragen die Leser die Einpassieren- 
den : »Wie heifien Sie? — Ihren Charakter? — Ihre Geschafte?« - 2C 

Der Hund nimmt fur alle das Wort. Vom Yl.Januar - d.h. 
Herrn Januar, nicht heiligen Januar, sondern der flachsenfingische 
Fiirst hieB so - wurde in den jiingern Jahren die groBe Tour oder 
Reise um die schone und die groBe Welt gemacht. Er teilte uber- 
. all an Fremde Geschenke aus, die ihn ein einziges don gratuit 
seiner Untertanen kosteten, und unterstiitzte und bedauerte viele 
gedriickte Bauern in Frankreich, die es so schlimm hatten wie 
seine in Flachsenfingen. Fur das wehrlose weibliche Geschlecht 
tat er, wie alle reisende Fiirsten, fast noch mehr: man kann von 
der groBern Zahl derselben sagen, daB sie, wie Titus oder wie ein 30 
ostlicher Weltumsegler, zwar zuweilen einen Tag verlieren, aber 
selten eine Nacht, ohne gliicklich zu machen und folglich zu - 



2. HUNDPOSTTAG 5 1 3 

werden. Der Regent muB iiberhaupt diejetzige Entvolkerung 
Frankreichs vorausgesehen haben; denn er setzte sich ihr bei Zei- 
ten entgegen und hinterlieB in drei gallischen Seestadten drei 
Sonne, und auf den sogenannten sieben Inseln nur einen. Der 
erste hieB der Walliser, der zweite der Brasilier, der dritte der 
Asturier, der auf den sieben Inseln der Monsieur oder Mosje : 
wahrscheinlich sollten die Namen auf Prinzen von Wallis, von 
Brasilien und Asturien hinspielen. Er lieB die Kinder bloB in der 
Unwissenheit ihres Standes und in keiner schlimmern erziehen : 

man sollte sie zu kunftigen Mitarbeitern seiner Regierung formen. 
Januar war zwar sinnlich und ein wenig schwach, aber - auBer 
wo erfurchtete - auBerst menschenfreundlich. 

Der Lord Horion war dem Fiirsten Januar zweimal auf seiner 
Reise begegnet; das erstemal durchschnitt er die furstliche Pla- 
netenbahnaIsHaarkomet,daszweitemala!ssonnennaherSchwanz- 
komet. Ich will sagen : Horion sah gerade, als er eine Abkomm- 
lingin aus Januars Hause liebte, die in London wohnte, den 
Fiirsten zum zweitenmal und nahm ihn und den Hofstaat des- 
selben in seinem Hause zu London auf. Ober diese sehr weit- 

10 lauftige Verwandte des Fiirsten werfen meine Nachrichten - aus 
zu groBer Riicksicht auf Staats- und Familienverhaltnisse - einen 
unzeitigen Schleier. Sie war bei der Vermahlung mit dem Lord 
22 Jahre alt, und ihr ganzes Wesen war (wenn ich den kiihnen 
Ausdruck eines Londner Lobredners derselben nehmen darf) 
nichts als ein einziges zartes stilles blaues Auge. Das ist alles, was 
man dem Publikum zuwendet. - 

Der Fiirst lieB sich gern vom Lord besiegen und beherrschen, 
den eine sonderbare Mischung von Kalte und Genie zum unein- 
geschrankten Monarchen und Kommandeur der Seelen machte. 

; o Der Lord hatte noch eine schone Nichte im Hause, deren Reize in 
den fiirstlichen Augen einen solchen geistigen Alten vom Berge, 
wie er, sowohiy^/^r als ebener machten. - 

Aber die Totenglocke warf ihre MiBtone in diese Wohllaute 
des Lebens. Die Geliebte des Lords flog aus der rauhen Erde und 
lieB ihr seinen ersten Sohn als Andenken und Herzpfand zuriick; 
sie starb im 23sten Jahr gleichsam am Leben des Kindes, einige 



514 HESPERUS 

Tage nach dessen Geburt, und der zarte dunne Zweig brach unter 
der reifen Frucht zusammen. Lord Horion schwieg vor dem Ge- 
schick. Er hatte sie fiirchterlich geliebt, ohne es zu zeigen; er be- 
trauerte sie ebenso, ohne sein tiefes schwarzes Auge zu benetzen. 

Der Fiirst fand an der Nichte, d. h. an einer wahren Englanderin, 
darum Geschmack, weil er vorher einen ebenso groBen an den 
Franzosinnen gefunden hatte; und aus diesem Grunde hatt* er 
umgekehrt diese geliebt, hatt' er vorher jene gekannt. Der nach- 
herige Obrist-Kammerherr Le Baut hatte dieselbe Gesinnung, 
und was noch mehr ist, gegen dieselbe Person; und wie die in- 
dischen Hof leute alle Wunden ihres Herrn nachahmen, so machte 
Le Baut mit einem Amors-Pfeil die des seinigen nach und ver- 
setzte sich eine der starksten damit. 

— Diese Londoner Historien konnen nicht lange mehr dauern, 
und wir Iangen dann alle in unserm St. Liine frohlich wieder an. - 

Ein hitziges Fieber befiel den Regenten, das sein Arzt Doktor 
Kuhlpepper bloB fiir Kreuz- und Querziige einer unsteten Gicht- 
materie hielt. Es war mir bisher noch nicht moglich, es auszu- 
mitteln, ob dieser Kuhlpepper mit seinem bekannten Namenvetter 
und medizinischen Mitmeister in London etwan naher verwandt : 
ist. Das Fieber heizte Januarn so sehr ein, und der Beichtvater 
machte bei dessen Gewissen statt der Loschanstalten so viele 
Brennanstalten, daB er in der Todesnot einen formlichen Schwur 
ableistete, bei keinem Madchen mehr an Entyolkerung und Re- 
volution zu gedenken. Dieselbe Schwache, die seinen Aber- 
glauben und Kinderglauben starkte, diente seiner Sinnlichkeit; 
als er wieder auf war, wuBt' er gar nicht, was er machen sollte. 
Die Nichte und seine Eidleistung waren in seinen Gehirnkammern 
Wandnachbarn. Ein geschickter Exjesuit aus Irland, der bloB fur 
Gewissenszweifel lebte und selber conscientiam dubiam hatte, ; 
sprang dem Zweifler bei und macht' ihm faBlich: »sein Geliibde 
miiss* er, zumal vor der Lossprechung davon, gewissenhaft hal- 
ten, ausgenommen den s'undlichen und unmoglichen Punkt, 
der darin sei, den namlich, den er ohne Einwilligung seiner Ge- 
mahlin weder geloben diirfte, noch erfiillen konnte.« Mit andern 
Worten, der Jesuit verhielt ihm nicht, er habe im Fieber nur dem 



2. HUNDP OSTTAG 5 I 5 

unverhe irate ten Geschlechte abgeschworen und sein Zolibat ledig- 
lich auf Nonnen eingeschrankt, mithin verbiet' ihm sein Geliibde 
zwar nicht den doppelten Ehebruch (den hebe der Beichtstuhl), 
aber auBerst streng den einfachen. Januar war zu fromm, um sich 
nicht des einfachen ganzlich zu enthalten. 

Es ist schwer, die Verbindung zu untersuchen, in welcher seine 
jetzo groftere Liebe gegen seine vier GroB- oder Kleinfursten in 
Gallien mit seinem erfiillten Geliibde stand; kurz, er gab dem 
Lord das Geschaft und die Vollmacht, die vier Menschen aus 

o Gallien abzuholen nach London, weil er seine geliebte anonyme 
kleine Nachwelt mit nach Deutschland nehmen wollte. Es war 
ungewiB, liebt* er in den Muttern die Kinder so herzlich - oder in 
den Kindern die Mutter. Der Lord ging gern wie Kotzebue (aber 
anders) nach dem Untergange der Geliebten nach Frankreich. 
Endlich kam, nicht von ihm, sondern von den Hofmeistern des 
Wallisers, des Brasiliers, des Asturiers, die trube Nachricht, daB 
in einer Nacht, wahrscheinlich nach einem gemeinschaftlichen 
Plane verbundner Prinzenrauber, die drei Kinder entfuhrt wor- 
den - nicht lange darauf wurde vom Lord diese Trauerpost nicht 

:o nur bestatigt, sondern auch mit der neuen vergroBert, daB der 
Monsieur oder Mosje auf den sieben Inseln nicht mehr - auf ihnen 
sei. 

Das Schicksal gibt dem Menschen oft den Wundhalsam friiher 
als die Wunde: Januar erhielt den funften Sohn, den ich allezeit 
bloB den Infanten nennen will, noch eher als die Nachricht seines 
eingebiiBten Kindersegens. Der Obrist-Kammerherr von Le Baut 
hatte sich mit der Mutter des Infanten (der Nichte des Lords) ver- 
mahlt; aber er datierte seine Vermahlung um drei Quatember 
zuriick, anstatt sie um emen spater anzusagen. Ich habe nie den Zu- 

.0 sammenhang dieses Anachronismus (Zekverrechnung) mit dem 
fiirstlichen Geliibde einzusehen vermocht. Obrigens so gefahr- 
lich Jenner den Eheherren seines Hofes durch sein Votum wurde, 
und so unschadlich den Vatern: so war doch das tugendhafte 
Vertrauen, das die Eheherren auf die ihnen ankopulierte weibliche 
Tugend setzten, so unbegrenzt, daB sie ohne Anstand diese Tu- 
gend in sein entbundnes Feuer fiihrten. Ja sie setzten sich sogar 



5 16 HESPERUS 

uber den Verdachi hinweg, daB sie es etwan taten, damit sie, wenn 
er seine Krone auf den Putztisch ihrer Gemahlinnen ablegte, mit 
der blanken Mauer-Krone (corona muralis) wie mit einem Joujou 
spielen und mit ihrem Glanze Leuten in die Fenster blenden 
konnten: denn lieber will ein Hofmann seine Gemshlm bewafiren 
als bewahren* 

— Es wird gleich angehen, rufen Puppenspieler; es wird gleich 
auswerden, ruf ' ich. - 

Als endlich der Lord mit leeren Handen ankam, war er sehr 
betroffen - nicht von der Gegenwart des Infanten, sondern - von i 
der Adoption desselben, namlich von der Vermahlung Le Bauts. 
Aber dieser Obrist-Kammerherr war- und das bedachte niemand 
weniger als Horion - ein feuriger Freund des Fursten : das machte 
ihn fahig, fur diesen (wie Cicero verlangt) sogsr das zu begehen, 
was er nie fur sich began gen hatte - etwas wider die Ehre. Es ist 
iiberhaupt flir einen Hof- und Weltmann, dessen Ehre der hohe 
Posten oft der schlimmsten Witterung bloBstellt, ein ungemeines 
Gliick, dafl diese Ehre, sei sie auch noch so empflndlich bei klei- 
nen StoBen 1 , doch groBe Ieicht verwinder, und wenn nicht mit 
Worten, doch mit Taten ohne Nachteil anzutasten ist: etwas % 
Ahnliches bemerken die Arzte an Rasenden, oder vielmehr an 
deren Haut, die zwar die Ieiseste Betastung verspurt, auf welcher 
aber dennoch keine Blasenpflaster ziehen. - Der Fiirst wurde durch 
einen dreifachen Bast an Le Baut gekniipft, durch Dankbarkeit, 
durch Sohn und Frau: der Lord zausete den Bast auseinander. Er 
entbloBete namlich vor seiner Nichte das kammerherrliche Herz 
und deckte ihr den Giftsack darin auf und einen dramatisch durch- 
gefiihrten P/an, den sie bisher fiir Nacksickt angesehen hatte. 
Alles Edle und Stolze entbrannte in ihr vor Scham und Zorn; und 
sie floh vor den erdriickenden Erinnerungen.mit ihrem Kinde und y 
mit der Aussicht eines zweiten aus der Stadt auf ein Landgut des 
Lords. 

Nun ging der Fiirst mit dem Lord und seinem Hofstaat (sogar 
mit dem Doktor Kuhlpepper) nach Deutschland zuruck. Le Baut 

1 Hire Ehre leidet z . B. dabei, u r enn ihr Wagen einem andern Wagen von 
Stande nicht vortahrt. 



2. HUNDPOSTTAG 517 

verweilte noch einige Zeit, urn die Nichte zu beruhigen und zu 
bereden zur Reise. Aber es war ihr nicht nur unmoglich, alle ihre 
senkrecht laufenden Wurzeln aus dem Lande der Freiheit zu Zie- 
hen und nach Deutschland mitzugehen, sie trennte sich auch - 
nicht bloB durch Meere, sondern - durch einen Scheidebrief vom 
schmutzigen Gunstling ab. Sie muBte dem Kammerherrn ihr 
zweites Kind, seine wahre Tochter, lassen; aber das erste, den 
Infanten, befestigte sie an ihrer Mutterbrust. Le Baut litt es auch 
gern und dachte, nach der Baurede gehort das Baugerust ohnehin 

10 in den Ofen des Hauses. 

Aber als er unter dem deutschen Thronhimmel erschien, stand 
seine Sonne (Januar) in der Sommer-Sonnenwende, die von ab- 
nehmender Warme. allmahlich zu kalten Stiirmen iiberging. Ja- 
nuars Liebe konnte leichter steigen und fallen als stehen, und das 
groBte Verbrechen war bei ihm - Abwesenheit. Le Baut muBte 
jetzt ohne Frau und Kind schon darum gegen den Lord verlieren, 
weil dieser als Schatzmeister und Kiistenbewahrer zweier in Lon- 
don gelassener Schatze unter Jenners Thronhimmel auftrat. Aber 
es gab tiefere Grunde. Der Lord regierte den Regenten leicht, 

20 weil er ihn weder an eignen noch fremden Lastern ziigelte, son- 
dern an eignen Tugenden. Erstlich begehrte er nichts von ihm, 
nicht eihmal Diat und Keuschheit. Zweitens hob er keine Vettern 
in den Sattel, sondern schlimme daraus; er trug ihn wie einen Ha- 
bicht auf der beschuhten Faust, aber der Falkenier'er tats nicht, 
urn den Fiirsten auf Tauben und Hasen zu werfen, sondern um 
ihn immer wach und lakm zugleich zu machen. Drittens machten 
seine Festigkeit und seine Feinheit einander wechselseitig gut; 
uber Veranderliche regieret am besten der Unveranderliche. Vier- 
tens war er nicht der Gunstling, sondern der Gesellschafter, blieb 

30 immer ein Brite und ein Lord und des Landes wohltatiger Bienen- 
vater, indes Januar der IFeisel und im Weiselgefangnis war. Fiinf- 
tens gehorte er unter die wenigen Menschen, denen man gleich 
sein muB, um ihnen ungehorsam zu sein; und einer, der das 
Taschenspielerkunststuck machen wollte, ihm ein SchloB unver- 
sehens an den Mund zu werfen, hatte leicht eines an Bein- und 
Handschellen der Seele. Sechstens hatt' er emen guten Kase. Das 



5l8 HESPERUS 

letzte braucht nicht weitlauftigerklartzu werden; in Chester hatt' 
er einen Pachter, der einen Kase Heferte, dergleichen es weiter 
keinen in Europa gibt ; Fursten aber ist im ganzen ein auBerordent- 
licher Kase lieber als eine auBerordentliche Dankadresse des 
Landschaftsyndikus. - 

Bei einem Zusammentreffen solcher Unsterne wurde freilich 
dem Kammerherrn der Absagebrief, der anfangs mit sympathe- 
tischer Dime auf Jenners Gesicht geschrieben war, allmahlich 
immer leserlicher - doch las er ihn wochentlich etliche Male durch , 
um recht zu lesen - er konnte jetzo keinem SchoBhunde eine 10 
Stelle mehr verschaffen, namlich einen SchoB - seine Empfehl- 
schreiben wurden Uriasbriefe - als er nun gar durch den Lord die 
Charge eines Obrist-Kammerherrn erstand, hielt ers fur hohe 
Zeit, gegen seine Kniegicht das Bad auf seinem Rittergut St.Liine 
jahraus, jahrein zu brauchen, und zog ab, nachdem er vorher 
dem ganzen Hof geloben miissen, bald genesen zuruckzukom- 
men. - 

- Eigentlich ware jetzt diese Vor-Geschichte versprochner- 
maBen aus, so daB ich gut in der neuern dieses Werkes weiter- 
gehen konnte, mtiBt' ich nicht des Hofkaplans wegen durchaus 20 
noch dieses nachholen: 

Die einzige Stelle, die Le Baut gleichwohl am Hofe noch be- 
setzen konnte, war die Pfarrei in St. Liine. Er fand als ihr Patronat- 
herr damit den Ratten-Kontradiktor Eymann ab, der ihm in Lon- 
don die mundliche Vokation zur Hofkaplanei abgebettelt hatte, 
und der sie nicht mehr kriegen konnte. Daher nennen ihn die 
Hundposttage immer den Hof ka plan, wiewohl er in der Tat nur 
ein Landpastor ist. 

Aus dem kleinen Umstande, daB Eymann als Reiseprediger mit 
in Jenners Gefolge ging, entspann sich viel. Eymann machte auf 30 
dem Landgut des Lords seiner jetzigen Frau mit dem Hals- und 
Brustgehenke seiner von der Schwindsucht durchgrabenen Herz- 
kugel ein kleines Prasent, das angenommen wurde. Beide zeugten 
noch in England ihren Flamin. Die Lady Hebte in der Hofkapla- 
nin eine wiirdige Mitschwester ihres Geschlechts und eine wiir- 
dige Mitburgerin ihres Vaterlands; sie drang in sie mit heiBen 



2. HUNDPOSTTAG 519 

Bitten, in England zu bleiben, und als alle abgeschlagen waren, 
erbat und erzwang sie es von ihr, daB wenigstens ihr Flamin - um 
doch ein halber Brite zu werden - so lange in der Gesellschaft des 
Infanten und Viktors bleiben durfte, bis das freundliche Kleeblatt 
'auf einmal in die deutsche Erde verpflanzet wiirde. 

Die Pfarrerin war stark genug, fur die schonere Erziehung 
ihres Flamins den GenuB seines Anblicks hinzugeben, und lieB 
ihn unter den Augen der Liebe und in den kleinen Armen der 
kindlichen Freundschaft zuruck. Dieselbe erziehende Hand - Da- 

10 hore hieB der Lehrer - richtete und begoB die drei edlen Blumen, 
die aus einerlei Beete und Ather dreierlei Farben sogen und sich 
mit unahn lichen Staubfaden und HoniggefaBen ausbildeten. Da- 
hore hatte das Herz aller Kinder in seiner weichen Hand, bloB 
weil seines niemals brausete und ziirnte, und weil auf seiner jun- 
gen Gestalt eine ideale Schonheit und in seiner reinen Brust eine 
ideale Liebe wohnte. Die drei Kinder liebten und umarmten sich 
unter seinen Augen warmer, wie vor der Venus Urania die Gra- 
zien einander umschlingen: sie trugen sogar alle einen Namen, 
wie die Otaheiter aus Liebe ihre Namen tauschen. 

20 Als sie einige Reife hatten, kam der Lord, um sie samt Dahore 
nach Deutschland einzuschiffen. Aber vor der Abfahrt bekam der 
Infant die Blattern und wurde blind - und Dahore mufite mit ihm 
zur angstlichen weinenden Lady umkehren. Viktor hatte sich 
lange und sprachlos an den Hals des kranken Freundes gehangen 
und um Dahores Knie geschlungen und wollte von den zwei Ge- 
* liebten nicht scheiden; aber der Lord schied sie. - Flamin und 
Viktor wurden dann in Flachsenfingen erzogen, jener zum Ju- 
risten, dieser zum Arzte. 

- Es sind in der Kiirbisflasche Spitzius Hofmanns einige Un- 

30 wahrscheinlichkeiten; aber der Hund muB fur das stehen, was er 
liefert. Jetzo geht die Historie wieder geradeaus. 

Der Lord entfernte sich, unter dem Kanonenlosen der loche- 
richten Garnison, mit Viktor in ein anderes Zimmer, und sein 
erstes Wort war: »Binde mich ein wenig auf und lasse deine Hand 
in meiner, damit ich deine Aufmerksamkeit bemerken kann ; denn 
ich habe dir viel zu sagen.« Guter Mann! wir merken es alle, daB 



520 HESPERUS 

du zartlicher bist, als du scheinen willst, und wir loben es alle; 
nicht Kalte^ sondern Abkuhlung ist die grofiere Weisheit; und 
unser innerer Mensch soil, wie ein heiBer MetallguB in seiner 
Form, nur langsam erkalten, damit er sich zu einer glattern Ge- 
stalt abrunde: eben darum hat ihn die Natur - wie man fiir Bild-' 
metall die Form erw&rmt - in einen heifien Korper gegossen. 

Er fuhr fort: »lch habe, mein Teurer, in meiner Blindheit nur 
leere Briefe an dich diktieren konnen; ich wollte erst fiir deine 
Ankunft meine Geheimnisse aufsparen. Eine kleine Pulverver- 
schworung beobachtet mich.« Viktor unterbrach ihn mit der Fra- i< 
ge, wie er so plotzlich blind geworden. Der Lord antwortete un- 
gern : »Das eine Auge war es wahrscheinlich schon vor deiner Ab- 
reise nach Gottingen, aber ich wuBt* es nicht.« 

»Aber das andere?« sagte Viktor. Ober das Angesicht des Lords 
strichder kalte Schatten eines begrabnen Schmerzes; er sah den 
Sohn lange an und antwortete wie zerstreut und eilig: »Auch! - 
Ich sehe dich an, du kommst mir viel langer und groBer vor.« - 
»Das ist vielleicht« (versetzt' er, denn er erriet ihn) »Auget>-Tau- 
schung der empfindlichern Netzhaut 1 , - Sie sprachen von der 
Pulververschw6rung.« - »Diese hat erfahren,« (sprach der Lord *< 
weiter) »daB der Sohn des Fiirsten nicht in London sei; sie ver- 
mutet sogar, daB die Blattern absichtlich damals inokuliert wur- 
den - und der Fiirst spricht taglich von dem Augenblick, wo ich 
ihm seinen Sohn wiederbringe : er weiB vielleicht jene Vermutun- 
gen. Ich muBte meine Abreise nach London auf meine Heilung 
verschieben. Jetzo reis* ich in kurzem ab nach England, wo der 
Sohn nicht ist, und hole seine Mutter; ihn bringe ich anders wo- 
her und mit ebenso guten Augen, als du mir gegeben hast.« 

»Dann«, fuhr Viktor heraus, »wird der beste Mann nicht ge- 
stiirzt, wohl aber seine Feinde.« v 

»Nein, ich bin vorher gesture um mich wie du auszudriicken. 
- Aber du hast mich unterbrochen. Ich habe nie den Mut gehabt, 
andere Leute zu unterbrechen als Toren. - Denn meine Abwesen- 
heit will man eben,« 

1 Nach dem Starstechen bildet die empfindlichere Netzhaut alles grofler 
vor. 



2. HUNDPOSTTAG J2I 

Ich als bestallter Historiograph frage nichts nach allem und 
unterbreche, wen ich will. Einer, den man unterbricht, kann zwar 
spaBen, aber nicht mehr beweisen. Der auf den Plato gepelzte So- 
krates, der keinen Sophisten ausreden lieB, war eben darum selber 
einer. In England, wo man noch Systeme unter den Weinglasern 
duldet, kann sich ein Mann so sehr ausbreiten wie ein Royalbogen ; 
in Frankreich, wo sich die Brille der Weisheit in glanzende Spitzen 
zersplittert, muB einer so kurz sein wie ein Besuchblatt. Hundert- 
mal schweigt der Weise vor Gecken, weil er dreiundzwanzig 
10 Bogen hraucht, urn seine Meinung zu sagen - Gecken brauchen 
nur Zeilen, ihre Meinungen sind herauffahrende Inseln und han- 
gen mit nichts zusammen als mit der Eitelkeit .... Noch merk* ich 
an, daB zwischen dem Lord und seinem Sohne eine hofliche feine 
Behutsamkeit obwaltete, die irt einem so nahen Verhaltnisse nur 
aus ihrem Stande, aus ihrer Denkart und ihrer haufigen Abtren- 
nung zu beurteilen ist. - 

»Aber meine Gegenwart ist vielleiclit noch schlimmer. Die 
Prinzessin« 

(Die Braut des Fiirsten, da seine erste Gemahlin bald und kin- 
20 derlos starb, wie Spitz sagt) 

»Die Prinzessin bringt einen Strom von Zerstreuungen mit, 
worin er keine Stimme als die, die zum Vergnugen lockt, mehr 
horen wird. Ein unterbrochner EinfluB ist ein verlorner. Auch 
bin ich bis zu einem gewissen Punkte dieses Spieles so miide, daB 
ich den neuen Verbindungen, in die mich diese neue Erscheinung 
zoge, gern entfliehe. SoIIte sie ihn nicht lieben, wie man sagt, so 
konnte sie ihn um So Ieichter beherrschen; und dann ware meine 
Abwesenheit wieder nicht gut. - Mich beiseite! aber was nimmst 
du vor, solang' ich weg bin?« 
30 Nach einer Viertelpause antwortete er selber. »Du wirst sein 
Leibarzt, Viktor !« Viktors Hand zuckte in der vaterlichen. »Du bist 
ihm schon versprochen, und er sehnet sich nach dir, bloB weil ich 
dich oft genannt habe. Er kann es nicht erwarten, zuerfahren, wie 
jemand aussieht, dessen Vater er so gut kennt. Als Leibarzt kannst 
du ihn mit deiner Kunst und mit deiner Laune so lange fremden 
Fesseln entziehen, bis ich wiederkomme; dann leg' ich ihm noch 



5Z2 HESPERUS 

sanftere an und gehe auf immer zuriick. Meine Verbindung hatte 
bisher bloB die Absicht, fremde abzuwenden, besonders eine ge- 
wisse« - (Mit voller Brust und andrer Stimme) »Mein Geliebter! 
Es ist auf der Erde schwer, Tugend, Freiheit und Gluck zu erwer- 
ben, aber es ist noch schwerer, sie auszubreiten; der Weise be- 
kommt alles von sich, der Tor alles von andern. Der Freie muB 
den Sklaven erlosen, der Weise fur den Toren den ken, der Gliick- 
liche fur den Ungliicklichen arbeiten.« 

Er stand auf und setzte Viktors Ja voraus. Dieser muBte ihm 
also unter dem Gehen seinen RednerfluB zutropfeln. Er flng mit ic 
gehauftem Atem an : »Ich verabscheue aufs heftigste den Samiel- 
wind der Hof Iuft« ... 

Bei mir hats der Lord zu verantworten, daB der Sohn hier die 
conjunctio concessiva »{war« auslasset: wer sich die Erwartung 
des Gehorsams merken lasset, erhalt ihn wenigstens unter einer 
stolzern Einfassung .— 

«die iiber lauter liegende Menschen streicht und den zu Pulver 
macht, der aufrecht bleibt - Ich wolk', ich war' in einem Vor- 
zimmer an einem Courtage; ich wollte zu alien in Gedanken sa- 
gen : wie hass* ich euch und euern tollen Sauerhonig von Lust- ^ 
und Plag-Partien — die verdammten Wart- und Ruderbanke 
eurer Spieltische - die vollen Schlachtschusseln hingerichteter Pro- 
vinzen, ich meine eure Spiel- und Speiseteller - Aber ich weiB 
schon, ich driicke mich nie mit Starke aus iiber die knechtischen 
lauernden Hofaustern, die nichts zu bewegen und aufzuschlieBen 
wissen - das Herz ohnehin nicht - als ihr Gehause, um etwas hin- 
einzunehmen...« 

»Ich habe dich noch nicht unter brochem, sagte der Lord und 
stand eiri wenig still. 

»Inzwischen«, fuhr der Sohn fort, »wate ich mit groBter Lust ^ 
zur Austerbank hinab . . O mein teurer Vater, wie konnt* ich nicht 
gehen! Warum lieB-ich nicht bisher Ihr krankes Auge aufgebun- 
den, damit Sie auf meinem Gesichte keine einzige Einwendung 
gegen Ihre Wiinsche erblickten ! - Ach, um jeden Thron stehen 
tausend nasse Augen, die von verstummelten Menschen ohne 
Hande hinaufgerichtet werden: droben sitzt das eiserne Schicksal 



2. HUNDPOSTTAG 523 

in Gestalt eines Fiirsten und streckt keine Hand aus - warum soil 
kein weicher Mensch hinaufgehen und dem Schicksal die starre 
Hand fiihren und mit einer unten tausend Augen trocknen?« - 
Horion lachelte, als wollt* er sagen: Jiingling! 

»Aber nur urn einige prozessualische Weitlauftigkeiten und 
Fristen bitt* ich Sie, damit ich Zeit bekomme - stoischer und 
narrischer zu werden. Narrischer, mein' ich, vergniigter. Ich 
mochte unter den guten Leuten um uns und neben meinem Fla- 
min und jetzt im Fruhling des Kalenders und in dem meiner Jahre, 

10 und eh* das Lebenschiffim Alter einfriert, nur noch zwei Monate 
lachen und zu FuB gehen. Stoisch muB ich ohnehin werden. 
Wahrhaftig, wenn ich nicht Epiktets Handbuch als einen Schlan- 
genstein an mich und meine Wunden legte, damit der Stein den 
moralischen Gift heraussaugt, sondern wenn ich mit einer Brust 
voll Krebsschaden aus dem Hause ginge: was wiirde denn der 
Hof von mir denken?... Ach, ich meine es doch ernsthaft: der 
arme innere Mensch - von dem Wechselfieber der Leidenschaften 
ausgetrocknet - vom Herzklopfen der Freude ermattet - vom 
Wundfieber der Leiden gliihend - braucht wie ein andrer Kranker 

20 Einsamkeit und Stille und Ruhe, damit er genese.« Wenn er das 
Wort Ruhe nannte, war sein Inneres bis zur Auflosung bewegt; 
so sehr hatten schon die Leidenschaften sein Blut umgewiihlt und 
sein Herz erschiittert. 

Jetzo gingen beide in schweigender Einigkeit wieder zu Ey- 
mann. »Ich habe eine Bitte fur meinen Flamin.« - »Welche?« sagte 
der Lord. - »Ich weiB sie noch nicht, aber er schrieb mir, er werde 
sie mir bald sagen.« - »Meine an ihn ist,« sagte der Lord, »daB er, 
wenn er angestellt werden will, mehr die Pandekten als die Taktik 
und statt des Rapiers die Feder liebe.« - Der Sohn wurde zu hof- 

30 lich vom Vater behandelt, als daB er zur Bitte um seine Geheim- 
nisse - besonders um das, wo Jenners Sohn sei - den Mut be- 
sessen hatte. Ich behandle den Leser ebenso fein, und ich hoffe, er 
hat ebensowenig den Mut; denn wenn sich jemand versteckt er- 
klart, so. ist nichts unhoflicher als eine neue - Frage. 
Der Lord fuhr nun geheilt zum Fiirsten zuruck. 



524 HESPERUS 

3. HUNDFOSTTAG 

Freuden-Saetag — Wartturm - Herzens-Verbruderung 

Der Lord war der weggenommene Damm, der bisher vor der 

Flut der Erzahlungen, Fragen und Freuden gestanden hatte. Die 

erste Untersuchung, die das Pfarramt vornahm, war, obs noch 

der alte Bastian sei. — Und der wars mit Haut und Haar, sogar das 

linke Seitenhaar hatt' er noch wie sonst kiirzer als das rechte. Wenn 

der Fleischerknecht heimkommt aus Ungarn, so wundert er sich, 

daB seine Sippschaft die alte ist - dkse wundert sich, daB er es 

nichtmehrist. Hierfreute man sich uber die doppeke Unverander- 10 

lichkeit. Auf jedem Gesicht lag der Heiligenschein der Freude, 

aber auf jedern mit andern Strahlen. Die Entziickung sieht auf 

einem sanften Gesicht, wie Viktors seinem, wie die Tugend aus. — 

Die alte Appel, die in ihrem Leben nichts durchblattert hatte als 

den Psalter Davids und den Psalter im Ochsenmagen, legte vor 

den Kupferpfannen ihr Vergnugen dadurch an den Tag, daB sie 

ungemein zuschiirte. Das Wiener Tierspital von einem alten Mops 

und Kater, die einander nicht mehr haBten - wie sich im alten 

Menschen die gute und bose Seele aussohnen -, und die Vogel- 

sammlung unter dem Ofen, die einen schwarzgebeizten Gimpel 20 

stark war, nahmen Anteil genug an der allgemeinen Unruhe und 

stellten sich vor und lieBen gern - das tate kein Ambassadeur - 

das Recht der ersten Visite fahren. Agathe driickte ihre Freude 

bloB mit ihren Lippen aus, indem sie damit schwieg und sie an 

ihres Bruders seine driickte. Am Hofkaplan will mans riihmen, 

daB er den invaliden Mops, der an den Kinterfiifien das Podagra 

und an den VorderfuBen das Chiragra hatte, ruhig in seinem 

Wohn- und Schlafkorb wieder unter den Ofen schob, die Saulen- 

ordnung der Sessel ohne Keifen herstellte und den kleinen Bastian 

unter der freudigen Sprachenverwirrung wiegte, damit er sie nicht 30 

vermehrte, wenn er erwachte. Aber im erhaben geschlifTnen Her- 

zen der Landsmannin, der Kaplanin, gingen die Freudenstrahlen 

der Familie in einen Brennpunkt zusammen und verbreiteten in 

ihrer ganzen Brust die Lebenwarme der Liebe. - Viktor lachelte 



3' HUNDPOSTTAG 525 

sie so sehr in sein Gesicht hinein, daB sie sich mit nichts zu retten 
wuBte als mit seiner kiinfrigen Stube, die sie ihm zu offnen und 
.zu zeigen befahl. Agathe flog mit dem Schliissel-Gelaute voran, 
und dem Gaste zogen nicht mehr Leute hinterdrein, als im Hause 
waren, und wollten samtlich sehen, was er dazu sagte. 

Er ubergab sich der ganzen freundschaftlichen Handhabung, 
nicht mit dem eiteln Selbstgefiihl eines ausgebildeten Fremdlings, 
sondern mit einer vergniigten, folgsamen, fast kindlichen Ver- 
wirrung - er kummerte sich nichts darum, daB er wie ein Kind 

10 aussah, so sanft, so froh und so ohne Anspriiche. In solchen Stun- 
den ists schwer, zu sitzen - oder eine Historie anzuhoren - oder 

eine zu erzahlen Jedes fing eine an; aber der Kaplan sprang 

dazwischen: »Wir haben ganz andere Dinge zu sagen,« Aber es 
kamen keine ganz andere Dinge. — Jedes wollte den Fremdling 
unter vier Ohren genieBen, aber die sechs bleibenden Ohren 
waren nicht wegzubringen. - Meine Beschreibung seiner Ver- 
wirrung ist selber verwirrt; aber es geht mir allemal so : z. B. wenn 
ich Eiligkeit schildere, so tu' ichs unbewuBt selber mit der groB- 
ten. - Wars einem solchen Herzen wie seinem, das in den Federn 

20 der Liebe wiegend hing, noch notig, daB es in jedem zersagten 
Fensterstock, in jedem glatten Pflastersteinchen, in jeder vom 
Regen gebohrten vertieften Arbeit auf dem Haustiirstein seine 
Knabenjahre musivisch abgebildet sah, und daB er in denselben 
Gegenstanden Alter und Neuheit genoB? Diese Knabenjahre, die 
ihm aus einem Schatten erschienen, wohnend auf St.Liinens Flu- 
ren, zwischen frohen Sonntagen in lauter Blumen und bei ge- 
liebten Gesichtern, diese Knabenjahre hatten einen dunkeln Spie- 
gel in Handen, in dem die dammernde Perspektive seiner Kinder- 
jahre zuriicklief - und in dieser entfernten Zauber-Nacht stand 

50 schimmernd Dahore, sein un verge Blicher Lehrer in London, der 
ihn so geliebt, so geschont, so veredelt hatte. »Ach,« dacht* er, 
»du unbelohntes, fur die Erde zu warmes Herz, wo schlagst du 
jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit deinen vereinigen 
und zu dir sagen: Lehrer, Geliebter? O! der Mensch sieht es oft 
spat ein, wie sehr er geliebt wurde, wie vergeBlich und undankbar 
er war, und wie groB das verkannte Herz.« .. Was seine stille 



526 HESPERUS 

Freude am meisten ernahrte, war der Gedanke, daB er sie ver- 
diene durch seinen kindlichen Gehorsam gegen seinen Vater und 
durch seinen EntschluB zu kiinftigen Herkules-Arbeiten am Hofe 
- denn ihm fiel in jede groBe Freude der Zweifel wie ein bitterer 
Magentropfen hinein, ob er sie verdiene; ein Zweifel, der regieren- 
den Hausern, Woiuoden, Patriarchen und Hochmeistern in der 
Kindheit geschickt benommen wird. Der bessere Mensch findet 
die Freude erst nach einer guten Tat am suBesten, das Osterfest 
nach einer Passionswoche. 

Die Leserinnen werden jetzo horen wollen, was auf Mittag ge- u 
kocht war; aber die Dokumente dieses Posttags, die mir halb auf 
der Achse, halb zu Wasser einlaufen, besagen erstlich, daB nie- 
mand Appetit hatte - die Freude nimmt ihn mehr als der Gram -, 
ausgenommen die drei Regimenter, die wie Veteranen in den 
Feind einhieben, namlich in den Tafel-Abhub; zweitens, daB das 
Mahl noch magerer war als der Gast selber. Man will aber samt- 
Hche Lesegesellschaften hi'emit auf das unbeweglicke Fest des 4ten 
Maies einladen, auf den Freitag, wo erst Viktors Ankunft und 
seines Patchens Kirchgang anstandig gefeiert wird. 

Die Pfarrerin zog den umzingelten Geliebten nachmittags aus 2c 
dem musikalischen Zirkel so vieler Tone und kaperte ihn ihrem 
Manne, dessen Direktrice und Lady Maire sie war, vor den Augen 
weg und fiihrte ihn in sein Zimmer, um da vor ihm allein sich zu 
betriiben, sich zu erfreuen und sich auszureden wie eine Mutter; 
lang eingeschlossene Seufzer und veraltete Tranen drangen jetzt 
aus dem geoffneten Mutterherzen in das fremde weiche iiber, das 
ja der beste Freund ihres Sohnes war. Sie klagte bei ihm iiber 
Flamins Aufbrausen, das Viktor sonst immer gestillet; »iiber seine 
Liebe zum Soldatenwesen, da er doch ein Gelehrter sei« - und 
endlich iiber seine Gesellschaft. »Er treibe sich namlich mit einem 3° 
Hof junker Matthieu — Sohn des Ministers von Schfeunes -herum, 
einem wusten, uberall beliebten, iiberall verschlimmerten, pfiffi- 
gen, kiihnen, spottischen Menschen, der, wenn es seinDienster- 
laube, entweder driiben bei den Kammerherrlichen oder hier bei 
ihrem Sohne liege ; der Himmel wisse iiberhaupt, was er im Schilde 
fiihre bei 'seinen Besuchen in einem biirgerlichen Hause.« Sie 



3. HUNDPOSTTAG 527 

freuete sich, claB Viktor seinen alten Freund von den Fangeisen 
und Fangzahnen dieses Wiistlings wegfiihren wiirde. Viktor 
druckte ihr geruhrt die Hand und sagte: »Ich mochte sein Herz 
kaum mit dem besten Bundgenossen teilen - nicht einmal ver- 
lieben diirfV er sich, wenns auf mich ankame - bloB mich und 
eine Person muBt* er lieben, die ihn gar nicht richtig schildert — 
namlich Sie.« Er setzte noch viel MiBtrauen in die Zeichnung von 
den Sonnenflecken Matthieus, weil die Weiber selten exzentrische 
Menschen fassen, und weil zwar Madchen oft wilde Manner lieben, 

10 aber die (durch die Ehe aufgeklarten) Frauen allemal sanfte. 
Er brachte das Herz verehelichter Weiber leichtlich in sein Zug- 
garn durch eine gewisse wohlwollende Galanterie gegen sie, die 
ein Deutscher nur fur ledige aufhebt. Alte Damen und alte Tabak- 
pfeifen aber bekleben leicht an mannlichen Lippen. Die jiingern 
Tauben lockte er durch sein komisches Salz an sich, wie man Tur- 
teltauben durch anderes fangt; ein Bonmot ist ihnen ein dictum 
probans, ein Pasquino ein magister sententiarum, und die kri- 
tische Lastergeschichte ist ihnen Kants Kritik der reinen Vernunft, 
die verbesserte Auf lage. Auch mit seinerh medizinischen Doktor- 

20 ring hakelte er weibliche Seelen an sich an; als Arzt macht' er auf 

' korperliche Mysterien Artspruch, und diesen gehen dann leicht 
die geistigen nach. 

Abends, als das Waldwasser des ersten Jubels verlaufen war, 
waren endlich drei gescheute Worte moglich; auch keifte der 
Pfarrer jetzt weniger : denn die Freude hatte ihn vormittags bissig 
gemacht. Der Zorn und Korper werden miteinander gestarkt, da- 
her durch die Freude - daher hat man im Januar und Februar, wo 
die Hunde die langere Wut bekonimen, die kurze des Zorns - da- 
her brummen Wiedergenesende starker um sich, so wie Leute 

30 unter starken Geistes-Anspannungen, z. B. Hundpostschreiber - 
daher ist man in den Ermattungen nach Migrane oder nach dem 
Rausche sanfter als ein Lamm. 

Gegen Abend trug sich schon etwas von Bedeutung zu. Apol- 
lonia fegte ihre Blutverwandtschaft und ihren Gast mit Kehr- 
wischen noch friiher hinaus dls Spinnen und Staub. - Es sollte 
am 4ten Mai die heutige Ankunft des bisherigen Fluchtlings recht 



528 HESPERUS 

anstandig gefeiert werden. - Flamin und Viktor gingen voraus 
durch den Pfarrgarten, dessen Merkwiirdigkeiten und curiosa so 
erheblich sind, daB der Korreferent dieser Akten sich wunscht, 
er konnte mir den Garten durch die Hunds-Stafette klarer schil- 
dern. Der Kaplan hatte viele Beete nicht zu Langvierecken ab- 
gestampft, sondern sie zu lateinischen Buchstaben in Doppel- 
Fraktur, als Anfangbuchstaben seiner Familie, geschweift und 
umgebogen. Sein eignes E hatt' er mit Rettich ausgesaet, Apollo- 
niens A mit Kapuzinersalat, Flamins F mit Kohlrabi, Sebastians 
S mit SuBholz oder Glycyrrhiza vulgaris. Wer nicht zu saen war, io 
dem blieb allezeit noch ein Platz und almanac royal auf Kiirbissen 
und Stettinerapfeln leer, die ein durchbrochenes Papier mit dem 
ausgeschnittenen Namen umflocht, der nach Abschalung dieses 
Einbands grun oder rot auf der bleichen Frucht erschien. Viktor 
fragte, als er bei einem K aus Tulpen voriiberging, seinen Flamin 
um die Bedeutung. »Warum fragst du?« fragte dieser; und die 
nachkommenden gesprachigen Pfarrleute vertrieben die Ant- 
wort. — Ober der Pfarrwiese stand (man setzte nur uber den Bach) 
ein Hiigel und darauf ein alter Wartturm, in dem nichts war als 
eine Holztreppe, wie oben darauf nichts als ein bretterner Deckel 20 
statt des italienischen Dachs; beides hatte der. Kammerherr 
machen lassen, damit die Leute - (er nicht; denn die Gefiihllosig- 
keit der Magnaten arbeitet fur das Gefuhl der Minoriten) - sich 
droben ein wenig umschauen konnten. Man sah da die Saulen- 
ordnung des Schopfers, die Schweizerberge, stehen, und den 
Rhein mit seinen Schiffen ziehen. Am Turm waren zwei von der 
Natur ineinander gewundne Lindenbaume hinaufgestiegen, um 
oben mit ihrem Gestrauche, das man zu einer grunen Nische aus- 
gehohlet und mit einer Grasbank unterbauet hatte, zuweilen einen 
geruhrten Eilander zu facheln. Das liebende Personale erstieg die 50 
Zinne und brachte in der landlichen Brust eine Ruhe mit, die dar- 
in sanft den auBern stillen Himmel nachmalte, der diese Guten 
mit seinen verhullten Sonnen umzog. Noch eine Wolke gltihte 
sich ab, aber sie zerfloB, ehe sie ausbrannte. 

Jetzt konnten die Supplementbande der allgemeinen. Welt- 
historie von St.Liine bequem nachgeliefert werden. Eymann 



3. HUNDPOSTTAG 529 

konnte seine Foliobande gravaminum (Beschwerden) uber die 
Konsistorialrate und Ratten einreichen. Auf einmal wurde unten 
Agathe wie ihre heilige Namenbase angerufen vom Blasbalgtreter 
loci, der Dorfs-Lehnlakai und Pfarrkutscher war. Wenn einige 
Autores sagen, der Kutscher war blind und der Gaul taub: so 
kehren sie die Sache gerade um. Der Kerl war taub. Er hatte in 
seinem mouchoir de Venus - das Schnupftuch ist beim Pobel die 
Brieftasche und der Briefumschlag, weil ihm ein Brief so wichtig 
und selten ist wie einem Rezensenten ein guter — heute eine Brief- 

10 schaft an Agathen ausgekundschaftet und ausgewickelt, die er 
gestern mit des Lords seiner hatte abgeben sollen. Aber Kutscher 
halten den Herrn nur flir die Nebensonne und Nebenpartie des 
Pferds, und die Frau gar nur fur ein Schmarotzer-Gewachs des 
Stalls; daher bedeutet »GIeich!« bei ihnen ein oder ein paar Tage; 
und »morgen vormittags« bedeutete auf dem Regensburger An- 
sagzettel der Abstimmgegenstande ein oder ein paar Jahre. — 
Agathe eilte lieber hinunter, hielt den Brief gegen die Hchtere 
Abendgegend und entzifferte etwas, was sie mit funkelnden Augen 
im Galopp die Treppe hinauftrug. »Sie kommt morgen!« rief sie 

10 auf Flamin zu; denn sie schien in jedem ihrer Freunde beinahe nur 
den Gesellschafter und den Freund ihrer andern Freunde zu lie- 
ben. Klotilde (Le Bauts einzige Tochter von der ersten Frau, der 
Niece des Lords) ging namlich aus dem Frauleinstift in Maienthat, 
wo sie erzogen worden, zum Vater zuruck. 

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte die Kaplanin, »sie ist sehr 
schon.« - »Dann«, sagt' er, »denk' ich vielmehr darauf, mich nicht 
in acht zu nehmen.«-»Oberhaupt« (fuhr sie fort) »sammelt sich 
jetzt alles Scheme um Sie« (er wollte sie hier durch einen schmei- 
chelnden Blick verwirren und abstrafen, aber vergeblich) - »die 

>° italienische Prinzessin kommt zu Johannis auch, und diese soil so 
reizend seih, als wenn sie gar keine Prinzessin ware, sondern nur 
eine Italienerin.« Sie tat hier den meisten Prinzessinnen unrecht; 
aber eine gewisse Ironie uber ihr eignes Geschlecht war der ein- 
zige Fehler der Kaplanin, fur die es wie fur mehre Mutter beinahe 
keine Stiefsohne und beinahe nichts als Stieftochter gab. Er er- 
widerte, er hoffe, daB noch wenige Prinzessinnen, selbst in Ameri- 



530 HESPERUS 

ka, kopuliert worden, in die er sich nicht vollstandig verschossen 
hatte - und das bloB aus Mitleid mit so einem armen zarten Tier- 
chen oder Wappentiere, das unter die Siegelpresse und dann auf 
die Vertrage gedruckt werde, welche oft die einzigen Kinder die- 
ser Ehen waren - »die jungen Landesmutter stehen wahrlich wie 
Bienenmutter in ihrem Weiselgefangnis feil und passen ab, in 
welchen Korb sie der Landes- oder Bienenvater noch heuer ver- 
handle.« 

Eine Frau kanns von einem Mann, den sie hochachtet, gar nicht 
begreifen, daB er sich verliebt, wenns nicht in sie ist, und sie kanns i 
kaum erwarten , bis sie seine Geliebte zu Gesichte bekommt- eben- 
so erpicht ist sie auf dieses Mannes Manier in seiner Liebe, ob sie 
namlich aus der niederlandischen oder aus der fran^osischen oder 
der italienischen Schule her sei. Die Kaplanin fragte ihren ver- 
traulichen Gast auch daruber. »Mein Harem«, fing er an, »langt 
von dieser Wane bis zum Kap und um die ganze Erdkugel herum 
- Salomo ist nur ein gelber Strohwitwer gegen mich - ich habe 
sogar seine Weiber darin, und von der Eva an mit ihrem Sodoms- 
Borsdorfer-Apfel bis zur neuesten Eva mit einem Reichsapfel und 
bis zur Marquise mit einem bloBen Fruchtstuck sind sie alle in 2 
meiner Haft und Brust.« Eine Frau entschuldigt die Achtung fur 
ihr Geschlecht damit, daB sie mit darin ist; die Weiber selber 
haben nicht einmal einen Begriff Von den Eigenheiten ihres Ge- 
schlechts. »Was sagt aber die Favoritsultanin dazu?« fragte die 
Grofiinquisitorin. 

»Die?« - stockt' er, weniger verlegen als in die Fulle auf bluhen- 
der Traume versunken. »Freilich diem - (fuhr er fort :) »ich setze 
inzwischen meinen Kopf 7um Pfande, jeder Jiingling hat zwei 
Perioden oder doch Minuten. In der ersten setzt er selber seinen 
Kopf zum Pfande, er wolle lieber sein Herz in seinem Thorax oder 3 
Oberleib verschimmeln lassen und seinen poples oder die Knie- 
kehle erlahmen, als daB er beide fiir eine andre Frau bewegte als 
fur die allerbeste, fiir einen wahren Engel, fiir eine ausgemachte 
Quinterne - er dringt durchaus auf den hochsten Gewinst aus dem ■ 
Ehelotto, in der ersten Periode namlich - denn die zweite kommt 
auch und hinterbringt ihm nur so viel, die weibliche Quinterne 



3 . HUNDPOSTTAG 5 3 1 

wiirde natiirlich eine mannliche fodern, und falls er die 
ware . . . 

Ein dummer Auszug, ein Ambe bin ich, sag' ich und lasse die 
Periode gar nicht ausreden; aber ich werde doch fortpassen auf 
die Quinterne.. Was kame dabei heraus, daB man ein Mensch 
ware, wenn man kein Narr ware? - Zog* ich nun die gedachte 
Quinterne, welches ich nun wohl ohne iibermaBige Hoffnung 
voraussetzen darf, so wiird* ich nicht gleichgultig dabei sein, son- 
dern selig - O du Heber Himmel! stehendes FuBes miiBt' ich fri- 

[o siert und silhouettiert werden - ich machte Verse und Pas, und 
beide mit ihren herkommlichen pedibus (FiiBen) - ich buckte 
mich ofter als ein andachtiger Monch, um Verbeugungen und (wo 
abzugrasen ware) um StrauBer zu machen - Leib, Seele und Geist 
setzte ich an mir aus so vielen Fingerspitzen und Fuhlfaden zu- 
sammen, daB ich es schon spiirte (die Quinterne spiirte es gar 
noch eher), wenn unsre zwei Schatten zusammenstieBen - ein 
schmales betastetes Endchen Band ware eine gute Ableitkette des 
elektrischen Athers, der in Blitzen aus mir schosse, da sie negativ 
geladen ware und ich positiv - vollends gar ihr Haar beriihren, 

to das konnte keine geringere Entziindung geben, als wenn eine 
Welt in das aufgebundne eines Bartkometen geriete. . . . 

Und doch, was ist denn das alles, wenn ich Verstand habe und 
bedenke, was sie verdient, diese Gute, diese Treue, diese Unver- 
diente - Was waren nicht vollends dumme Verse, Seufzer, 
Schuhe (die Stiefel taY ich weg), ein oder ein Paar druckende 
Hande, ein aufopferndes Herz fur ein kleines Gratial und don gra- 
tuit, wenn damit ein Geschopf abgefunden werden sollte, das, wie 
ich immer mehr sehe, vom schonsten Engel, der den Menschen 
durch das Leben fuhrt, alles besitzt, etwa die Unsichtbarkeit aus- 

io genommen - das alle Tugenden hat und alle in Schonheiten ver- 
kleidet - das schimmert und erquickt wie dieser Fruhlingabend, 
und doch wie er seine Blumen und Sterne verbirgt, ausgenommen 
den der Liebe - dessen allmachtige und doch leise Harmonika des 
Herzens ich so gern horen, in dessen Augen ich so aufierordent- 
lich gern die Tropfen der weichern Seele und den Blick der hohern 
sehen mochte, neben dem ich so gern stehen bleiben mochte unter 



532 HESPERUS 

der ganzen fiiehenden opera buffa und seria des Lebens, so gern, 
sag' ich, damit der arme Sebastian doch, wenn am heiligen Abend 
des Lebens sein Schatten immer langer wiirde, und die Gegend 
um ihn selber zu einem weiten Schatten zerflosse und er selber, 
damit ich doch beide Schattenhande« - (die eine hielt gerade Fla- 
min) - »beschauen und ausrufen konnte :« — (stockend) 
»der alte Balgtreter kommt auch mit was in einer!« 

Da er weder seine Running mehr hinter Scherz, noch die Merk- 
male derselben in seinen Augen hinter einige tief hangende Lin- 
denblatter verdecken konnte : so wars in der Sekunde, wo seine ic 
Stimme unter ihr erliegen wollte, ein rechtes Gliick, daB er uber 
die Warte hinausschauete und den Kutscher wieder heranschrei- 
ten sah. Dieser rief unten: »von SeebaBen hatt' ers gekriegt, aber 
den Augenblick erst.« Agathe lief leidenschaftlich hinab und un- 
ten, nach Lesung eines Blattchens, iiber die — Wiesen hiniiber. 
Der Balgtreter stieg, gleich einem Barometer vor dauerhaftem 
Wetter, langsam hinauf und brachte sich und den zuriickgelang- 
ten Zettel, trotz alles obern Winkens, mit seinen Hebelarmen 
keine Minute fruher auf den Turm. Im Zettel stand mit Klotildens 
Hand: »Komm in deine Laube, Geliebtel« 2c 

Alle Augen liefen jetzt der Lauferin nach und flatter ten mit ihr 
durch das Helldunkel des Abends in den Pfarrgarten, um dessen 
Laube man doch niemand sah. Kaum hatte Agathe die Offnung 
der letzten ins Auge bekommen, als ihr Eilen Fliegen wurde - 
und als sie beinahe an ihr war, flog eine weiBe Gestalt mit ausge- 
breiteten Armen heraus und in ihre hinein, aber die Laube ver- 
hullte das Ende der Umarmung, und lange standen alle wartende 
Augen vergeblich auf der Klause der Liebe. 

Die Kaplanin, die sonst alien Madchen nur Standeserniedri- 
gungen, nicht Standeserhohungen gewahrte, erteilte jetzo Klotil- 30 
den alle sieben Weihen und lobte sie so sehr — vielleicht auch da 
sie ihre Landsmannin von mutterlicher Seite war -, daB Viktor 
die Lobrednerin und die Gelobte hatte zugleich umarmen mogen. 
- Der Kaplan setzte zu ihrem Lobe noch dazu, er habe ihr Namens- 
Initial-K mit Tulpen gleichsam wie einen Titel rotgedruckt, und 
der Buchstabe auf dem Beete glanze, wenn er bliihe, weitund breit. 



3. HUNDPOSTTAG 533 

Der Ehe- und Saemann fiel jetzt immer mehr in den Spharen- 
gesang der Nacht mit dem Schnarrwerk seines Hustens ein; end- 
Hch machte er sich mit der enthusiastischen Freundin Viktors fort 
und lieB die beiden Freunde allein in der schonen Nacht mit den 
zwei vollen Herzen zuruck, die ineinander sich zu ergieBen 
lechzten. 

Flamin hatte diesen ganzen Tag erne schweigende riihrende 
Sanftmut gezeigt, die selten in sein Inneres kam, und die zu sagen 
schien: ich habe etwas auf dem Herzen. Als die Warte oder war, 
so verheimlichte Viktor, der von liebenden Traumen voll und 
weich geworden, seine in Tranen stehenden Augen nicht mehr, 
er schlug sie frei auf vor dem altesten Liebling seiner Tage und 
zeigte ihm jenes offne Auge. welches sagt: blicke immer durch 
bis zum Herzen hinunter, es ist nichts darin als lauter Liebe... 
Stumm gingen die Wirbel der Liebe um beide und zogen sie naher 
- sie offneten die Arme fur einander und sanken ohne Laut zu- 
sammen, und zwischen den verbrliderten Seelen lagen bloB zwei 
sterbende Korper — hoch vom Strome der Liebe und Wonne tiber- 
deckt, driickten sich auf eine Minute die trunknen Augen zu; und 
als sie wieder aufgingen, stand die Nacht erhaben mit ihren in 
ewige Tiefen versunknen Sonnen vor ihnen, die MilchstraBe ging 
als der Ring der Ewigkeit um die UnermeBHchkeit, die scharfe 
Sichel des Erdenmonds ruckte schneidend in die kurzen Tage und 
Freuden der Menschen. - 

Aber in dem, was unter den Sonnen stand, was der Ring um- 
zog, was die Sichel angriff, war etwas hoher, fester und heller als 
diese - es war die unvergangliGhe Freundschaft in den vergang- 
lichen Hullen. 

Flamin, anstatt durch diesen erschopfenden Ausdruck unsrer 
sprachlosen Liebe befriedigt zu sein, wurde jetzt ein Iebendes 
fliegendes Feuer. »Viktor! in dieser Nacht gib mir deine Freund- 
schaft auf ewig und schwore mir, daB du mich nie in meiner Liebe 
zu dir storen willstk - »0 du Guterl ich hab' dir ja langst mein 
Herz gegeben, aber ich will gern heute wieder schworen.« - »Und 
schwore mir, daB du mich niemals in Ungliick und Verzweif lung 
stiirzen willst.« - »Flamin ! das tut mir zu weh.<( - »0 ich fleh* dich 



534 HESPERUS 

an, schwore es und hebe deine Hand auf und versprich mir, wenn 
du mich auch hast unglucklich gemacht, daB du mich doch nicht 
verlassest und nicht hassest<<. . . . (Viktor preBte ihn an sich) »Son- 
dern wir gehen hieher, wenn wir uns nicht mehr aussohnen kon- 
nen - o es tut mir auch wehe, Viktor! - hieher und umfassen uns 
und stiirzen uns hinab und sterben«- »Ja!« (sagte Viktor erschopft 
leise) »o Gott! ist denn etwas vorgegangen?« - »Ich will dir alles 
sagen: nun leben und sterben wir miteinander« - »0 Flamin! wie 
lieb* ich.dich heute unaussprechlich!« - »Nun lass' ich dich mein 
ganzes Herz sehen, Viktor, und offenbare dir alles.« — i 

Aber eh' ers konnte, muBt* er vorher sich durch Verstummen 
ermannen, und sie schwiegen lange, in den innern und den auBern 
Himmel vertieft. 

Endlich konnt* er anfangen und ihm erzahlen, daB jene KIo- 
tilde, uber die er heute gescherzt, sich mit unausloschlicher Schrift 
in sein Inneres geschrieben - daB er sie weder vergessen noch be- 
kommen konne - daB das schleichende Fieber einer furchtsamen 
wahnsinnigen Eifersucht aufreibend in ihm brenne - daB er mit 
ihr zwar kein Wort iiber seine Liebe nach ihrem eignen Verbote 
sprechen diirfe, als bis ihr Bruder (der Infant) wieder da und dabei a 
sei - daB sie aber, nach ihrem Betragen und nach Matthieus Ver- 
sicherungen, vielleicht einige fur ihn habe - daB ihr Stand die 
ewige Scheidemauer zwischen beiden bleibe, so Ian g' er dtn juris ti- 
schen Weg anstatt des militarischen zu seinem Steigen einschlage - 
und daB er auf dem letzten, wenn der Lord ihm seine Hand dazu 
biete, schneller zu Klotilden auf ahnliche Stufen kommen wiirde - 
und daB die Bitte, von der er in seinen Briefen an Viktor ge- 
sprochen, eben die sei, alles dem Lord wieder zu erzahlen und 
seinen Beistand zu begehren. - Im Grunde konnte nur sein wilder 
Arm den Degen besser als die Gerechtigkeitwaage halten. Eine ; 
fiirchterliche Anlage zur Eifersucht, die schon von kiinftigen Mog- 
lichkeiten Zuckungen bekommt, war die Hauptursache. Viktor 
freuete sich, daB er seinen Gefiihlen die beste Sprache geben 
konnte, namlich Handlung, und sagte ihm alles mit Entziicken 
iiber sein Zutrauen und iiber das AuBenbleiben befiirchteter 
Neuigkeiten zu. - So gingen sie, von neuem aneinander befestigt, 



4. HUNDPOSTTAG 535 

zur Ruhe, und das Zwillinggestirn - dieser fortbrennende ver- 
schlungne Name der Freundschaft - schimmerte in Westen zu- 
winkend aus der irdischen Ewigkeit heriiber, und das Herz des 
Lowen war zu seiner Rechten angeziindet. . . . 

Auf diese Erde sind Menschen gelegt und an den FuBboden be- 
festigt, die sich nie aufrichten zum Anblick einer Freundschaft, 
welche um zwei Seelen nicht erdige, metallene und schmutzige 
Bande Iegt, sondern die geistigen, die selber diese Welt mit einer 
andern und den Menschen mit Gott verweben. Solche zum 

o Schmutz Erniedrigte sind es, die, gleich den Reisenden, den Tern- 
pel, der um die Alpenspitze hangt, von unten fur bodenlos und 
schwebend ansehen, weil sie nicht in der Hohe auf dem groBen 
Raurne des Tempels selber stehen, weil sie nicht wissen, daB wir 
in der Freundschaft etwas Hoheres als unser Ich, das nicht die 
Quelle und der Gegenstand der Liebe zugleich sein kann, achten 
und lieben, etwas Hoheres, namlich die Verkorperung und den 
Widerschein der Tugend, die wir an uns nur billigen, aber an an- 
dern erst lieben, 

Ach konnen denn hohere Wesen die Schwachen von Schatten- 

o Gruppen strenge berechnen, die einander festzuhalten suchen, 
von Nordwinden auseinander gedrangt - die voneinander die edle 
unsichtbare Gestalt an sich driicken wollen, woriaber dick und 
plump die Erdenlarve hangt - und die einander in Graber nach- 
fallen, worein die Beweinten ihre Weinenden ziehen? 



4. HUNDPOSTTAG 

SchattenriG-Schneider - Klotildens historische Figur - einige Hofleute und 
ein erhabner Mensch 



Eigentlich wollte Klotilde - erfuhr Sebastian am Morgen - 
bis nach Johannis im Stifte bleiben : aber da ihre beste Freundin 
o und Stift-Genossin Giulia voraus fortgegangen war, nicht zu den 
Eltern, sondern unter die Erde, so muBte sie das verwundete Auge 
durch eine schnellere Abreise wegziehen von dem Grabhiigel, der 



5 3<> HESPERUS 

wie eine Ruine iiber dem verlornen Herzen ruhte. Ohne Qepack 
war sie dem blumenlosen Golgatha ihrer verwundeten Seele ent> 
flohen, und ihr stand noch ein zweiter Anblick desselben, eine 
zweite Abreise und die Wiederholung der alten Tranen bevor. 

Nie-wurde einegroBe Schonheit von einer kleinen unbefangner 
gelobt als von Agathen Klotilde. Sonst schatzen Madchen an 
Madchen nur das, Herz ; die zerstiebenden Reize eines fremden 
Gesiehts haben so wenig Wert in ihren Augen, daB sie ihrer kaum 
erwahnen mogen. JiingHngen wirft man richtig vor, daB sie gern 
schone Jiinglinge zu ihren Freunden auslesen; bei Madchen hin- i 
gegen wollen ihre Lobredner viel daraus machen, daB sie die weib- 
liche Schonheit als einen zu lockern und niedrigen Mortel und 
Leim der Freundschaft ganzlich verschmahen, und daB daher 
einer schonen Frau das Herz der allerhaBlichsten teurer sei als das 
Gesicht der schonsten auf den fiinf Erdgiirteln und Erdscharpen. 
Agathe war anders : sie lief schon am Morgen ins SchloB, um die 
Freundin anzukleiden. 

Flamin macht' es noch arger: er konnt' es nicht erwarten, daB 
die Wirklichkeit selber Klotildens Madonnenbild in Viktors Ge- 
hirnkammern aufhing; er kam ihr mit der Federzeichnung eines z 
Malers zuvor, die wenigstens nicht - kalt ist; denn Maler schrei- 
ben im asthetischen und im kalligraphischen Sinne selten gut. Der 
Maler hatte, bloB um Klotilden zu sehen und zu zeichnen, fast alle 
Sonntagmorgen auf einem Berg von Maienthal gelegen, wo er die 
glanzende Landschaft um das Stift auf seine Blatter trug, und den 
schonen Kopf, der aus dem achten Fenster heraussah^ in sein Herz. 
Sogar Flamin, der sonst die prosaischen Buchdruckerstocke iiber 
die lebenden Olgemalde der Dichtkunst stellte, fand an der fol- 
genden Madonna oder Klotilde des Malers Geschmack: 

»Wenn mein Ich ein einziger Gedanke ist und brennt, und wenn 3 
ich r von Flammen umweht, die Hand in Farben tauche, um mich 
darin abzukiihlen - wenn dann die hohe Schonheit 1 , die ewig in 
mir strahlet, ihr Spiegelbild auf die Wellen, die Himmel und Erde 
zitternd malen, herunterfallen lasset und den klaren Strom, ent- 
flammt, wenn alsdann ein dem Himmel entsunknes Pallasbild auf 

x Das Ideal des Schonen. 



4. KUNDPOSTTAG 



537 



dem Strome ruht, eine Lilienhiille und eines aufgeflognen Engels 
weggelegte Fliigeldecke -.eine Gestalt, deren unbefleckte Seele 
kein Leib, sondern der Schnee umwallet, der urn den Thron Got- 
tes Iiegt, und aus dem die Engel ihre fliichtigen Reisekorper 1 bauen 
— und wenn die zarteste Bekleidung zu grob und hart und ein hol- 
zerner Rahmen um diesen geisrigen Hauch auf dem Antlitz wird, 
um diesen zitternden Blumensammet von Fleisch, um diese Haut 
aus weiBen Rosen, von roten durchglommen - wenn dieser Wi- 
derschein meiner leuchtenden Seele auf die Farbenflache fallt; so 
jo wendet sich jeder um und denkt: Klotilde ruht am Ufer und 

schlummert Und hier ist meine Kunst aus; denn ach, wenn sie 

erwacht, und wenn erst die Seele diese Reize wie Schwingen be- 
wegt - wenn die verschlossene Lippenknospe zum Lacheln^uf- 
bricht, und der Busen einen halben Seufzer einatmet und blode 
nicht ausatmet - wenn die Seufzer, in Gesange verhiillet, aus die- 
sen Lippen, die wie zwei Seelen einander uberschweben, aber nicht 
beruhren, wie Bienen aus Rosen ziehen — wenn sich das Auge 
zwischen Glanz und Tranen bewegt - wenn dann endlich die 
■Gottin der himmlischen Liebe zu ihrer Tochter tritt und elektrisch 
Ixo ihr stilles Herz beriihrt und sagt: liebe auch! und wenn nun alle 
Reize erbeben und auf bliihen, zogern und schmachten, hoffen.und 
zagen, und sich das traumende Herz tiefer in seine Bliiten ver- 
schlieBet und zitternd sich hinter eine Trane vor dem Glucklichen 
versteckt, der es errat und verdient. . . . dann verstummt die Gliick- 
Hche, der Gluckliche und der Maler.« 

Viktor sah den Glucklichen neben sich, der sein Freund war, 
mit feuchten Augen an und sagte: »Das warst du wert!« - Aber 
nun stachen ihn zwanzig Spornrader, Agathen nachzufolgen ins 
SchloB, die Federzeichnung des Malers - die Kleiderordnung - 
L die Verwandtschaft - die Begierde, die jeder Mensch hat, die Hul- 
din und Infantin seines Freundes zu sehen — die Begierde, die 
nicht jeder hat, aber er, jemand zum ersten Male (lieber als zum 
achten Male) zu sprechen - am meisten der gestrige Abend. Fla- 
mins Feuer hatte Viktors Brust gestern ganz voll Zunder ge- 
brannt, durch welchen lauter Funken liefen - er hatt' ihm alles 

1 Wie die Rabbinen nach Eisenmengers Judentum P. II.7. glauben. 



538 HESPERUS 

gleichgultig vorstellen sollen, weil der Kampf gegen die Liebe sich 
vom Kampfe fur sie in nichts unterscheidet als in der Rangord- 
nung. Aber der Leser glaube ja nicht, jetzo werde (wie in einem 
entmannten und entmannenden Roman) in der Biographie der 
Teufel losgehen und der Held ins Schlofi rnarschieren und da vor 
Klotilden hinfallen und kniefaHig flehen : »Sei die Heldin !« und 
sich mit ihr herumzanken aus Liebe und mit dem vorigen Pastor 
fido aus HaB und werde wirklich nichts anders machen als den 
asthetischen selbstsiichtigen empfindsamen - Schuft. Wenn ich 
letztes wtinschte, so konnt* ich mich nur damit entschuldigen, daB n 
ich dann etwan zu eiriigen biographischen Mordtaten und Duellen 
kame; ich hoffe aber, ich werde schon ohne Nachteil der Moral 
und ehrlich es zu einem und dem andern Mord- und Totschlag in 
diesen Blattern treiben - wenigstens im letzten Bande, wo jeder 
asthetische Schnitter seine Leute ausholzet und die Halfte in die 
Oubliette oder Familiengruft des Dintenfasses wirft. 

Viktor hatte zu viel Jahre und Bekanntschaften, urn so ohne 
Respekt-Tage und Doppel-Uso-aufdemPlatze-noch vordem 
Abendessen - cito citissime - was hast du, was kannst du - ver- 
liebt zu werden. Sein Sehnerve zerfaserte sich taglich in feinere z< 
zartere Spitzen und beriihrte alle Punkte einer neuen Gestalt, aber 
die wunden Fuhlfaden krummten sich leichter zuriick; in jedem 
Monate machte ein ungesehenes Gesicht, wie neue Musik, einen 
stdrkern und kuriern Eindruck. Er konnte sich nur in die Liebe 
hinein - reden, nicht hineinschauen. BloB Worte, von Tugend 
und Empfindung beflugelt, sind die Bienen, die den Samenstaub 
der Liebe in solchen Fallen von einer Seele in die andre tragen. 
Eine solche bessere Liebe aber wird vom kleinsten unmoralischen 
Zusatz vernichtet; wie konnte sie sich zusammensetzen und her- 
auflautern in einem besudeltenHerzen, das der Hochverrat gegen 3- 
einen Freund erfullte? 

Viktor wollte schon um halb zehn Uhr ins SchloB, aber die 
Kammerherrin hatte die Augenbraunen und den Seidenpudel noch 
nicht ausgekammt. - SeebaB brachte ein Billet an Flamin: 

»Ich sehe Sie, mein Teuerster, heute nicht. Mich binden drei 
Grazien an; und die dritte haben Sie selber geschickt. Sagen Sie 



4. HUNDPOSTTAG 



539 



Ihrem britischen Freunde, er soli mich Heben, da ich Sie liebe. 

Ohne Sympathie kann wohl die Chirurgie bestehen, aber nicht 

die Freundschaft. 

Ihr 

Matthieu.« 
Ein narrisches Billet! Als Viktor horte, daB Agathe die dritte 
Grazie sei : so war ihm ein groBes Loch in den Vorhang des Thea- 
ters geschnitten, auf welchem Matthieu Flamins Freund und 
Agathens - ersten Liebhaber machte. Nichts ist fataler als ein 
i Nest, worin lauter Bruder oder lauter Schwestern sitzen; gemischt 
zu einer bunten Reihe muB das Nest sein, Briider und Schwestern 
namlich schichtweise gepackt, so daB ein ehrlicher Pastor fido 
kommen und nach dem Bruder fragen kann, wenn er bloB nach 
der Schwester aus ist; und so muB auch die Liebhaberin eines 
Bruders durchaus und noch notiger eine Schwester haben, deren 
Freundin sie ist, und die der Henkel und Schaft am Bruder wird. 
Unsre turkische Anstandigkeit verlangte also, daB Matthieu mit 
seinem Operngucker nach Flamin zielte, um Agathen zu sehen; 
und daB Klotilde diese besuchte, da Flamin als Mann ohne Ahnen, 

Lo aber von Ehre durchaus seine biirgerlichen Besuche dem kammer- 
herrlichen Hause nicht aufdrang. Klotilde kam oft; und war da- 
durch in einem mir bis jetzt unaufgelosten Widerspruch mit 
ihrem weiblich-erhabnen Charakter; 

Flamin tauchte Matthieus Bild in einen ganz andern Farbekessel 
als der Mutter ihren: ein liiderliches Genie war er und nichts 
Schlimmers. Er machte alles in der Welt nach, und ihn konnte 
man nicht nachmachen - er konnte alle Spieler der Flachsenfinger 
Truppe nachspielen und travestieren und die Logen dazu - er 
verstand mehr Wissenschaften als der ganze Hof, ja mehr Spra- 

lo chen, bis sogar auf die Stimmen der Nachtigall und des Hahns, 
welche er so tauschend nachmachte, daB Petrarca 1 und Petrus 
davongelaufen waren - er konnte bei den Weibern tun, was er 
wollte, und jede Hofdame entschuldigte sich mit der andern - 
denn es gehorte einmal zum Ton in Flachsenfingen, seine Treue 

1 Petrarca mied (wie deutsche Rezensenten) die Nachtigallen und suchte 
die Frosche. 



540 HESPERUS 

einmal auf die Probe gesetzt zu haben. - Man sagt, die Liebe gegen 
ihn wurde wie ein S trump j 'bei der Wade zu stricken angefangen, 
es ist aber grundfalsch - es ist daher bei so einer ununterbrochnen 
MaBigkeit in Hoflustbarkeiten kein Wunder, daB er starker und 
gesunder war als der ganze ausgebrannte abgedampfte Hof - nur 
stechend war er zu sehr und zu philosophisch und fast zu schel- 
misch. 

Ich, Viktor und der Leser haben noch immer nur eine unbe- 
stimmte verwischte Kreidenzeichnung von Matthieu im Kopf. 
Meinem Helden gefiel er ein wenig, wie jeder exzentrische Mensch i 
einem exzentrischen; es war sein Fehler, daB er der Kraft zu lekht 
die ihngen, sogar moralische, verzieh. - Mit verdoppelter Neu- 
gierde trat er seinen Weg ins SchloB oder vielmehrin dessen gro- 
Ben Garten an, der an jenes seinen Halbzirkel von grunen Schon- 
heiten anschlieBt. Er lief im Hafen eines Laubenganges ein und 
freuete sich, wie der durchlocherte Schatten der Lauben, um deren 
Eisen-Gerippe sich weiche Zweige wie sanftes Haar um Haar- 
nadeln wickelten, blendend uber seinen Korper glitt. Neben sei- 
nem Laubengange strich ein anderer gleich. Er ging versaeten 
schwarzen Papier schnitzeln als Wegweisern nach. Das Gefluster i 
des Morgenwindes warf von einem Zweige ein Blattchen feines 
Papier herab, das er nahm, um es zu lesen. Er war noch uber der 
ersten Zeile: »Der Mensch hat dritthalb Minuten, eine, um einmal 
zu lacheln. . .«, als er an einen fast waagrechten Zopf anstieB, der 
eine schwarze Herkules-Keule war, verglichen mit meinem oder 
des Lesers geflochtenen Haar-Rohrchen. Den Zopf stiilpte ein 
niedergekrempter Kopf empor, der in einem horchenden Zielen 
aus einer Lauben-Nische eine weibliche Silhouette ausschnitt, 
deren Urbild im Neben laubengang mit Agathen sprach. Auf Vik- 
tors Gerausche kehrte die Person, der man das Halbgedcht durch 3 
die Nische entwendete, sich verwundert herum und erblickte den 
Inhaber des Zyklopen-Zopfes mit der Silhouettenschere und den 
Helden der Hundposttage. Der Inhaber druckte, ohne weiter ein 
Wort zu sagen, seine Kiinstler-Hand durch das Gestrauch und 
langte ihr ihren SchattenriB oder Schattenschnitt hinaus. Agathe 
nahm ihn lachelnd; aber die Ungenannte schien jenen Ernst, der 



4. HUNDPOSTTAG 



541 



sich auf weiblichea G^sichtern in nichts von- der Verachtung 
nnterschefdet als in der Zv/eideutigkeit, gegen den Form- und. 
Geskhterschncider anzunehmen, weil er den. Verdacht des Hor- 
chens durch seine Schere zu sehr erweckte. Viktor konnte von der 
Ungenannten noch nichts als die Lange wahrnehmen, die, ob- 
gleich ein wenig vorgebogen gehalten, doch uber das Gewohn- 
liche ging. Der Gesichterschneider drehte sich mit zwei blitzen- 
den schwarzen Augen gegen Viktor herum, empfing ihn recht 
artig, wuBte dessen Namen, sagte seinen eignen Matthieu - 

• und hatte beim achten Schritt schon vier gute Einfalle gehabt.Der 
fiinfte war, daB er meinen Helden ungebeten dem Paar in der 
Seitenlaube vorstellte. 

Das Laubsprachgittcr horte auf, eine wciblichc Gestalt trat her- 
vor, und Viktor war dariiber so betroffen^ daB er, der wenig von 
Verlegenheiten wuBte, oder durch sie nur geistreicher wurde, 
seine Anzugpredigt ohne das Exordium anfing. Und das war - 
Klotilde. 

Als sie drei Worte sagte: horte er so sehr auf die Melodic, nicht 
auf den Text, daB er nichts davon verstand... 
1 - Hier liegt auf dem schneeweiBen Grund von Schweizerpapier 
eben die Silhouette neben mir, die Matthieu von ihr mit der Schere 
genommen. Mein Korrespondent will haben, ich soil Klotilden 
ungemein schon vorschildern (er sagt, hundert Dinge sind sonst 
in dieser Historie nicht zu begreifen), und deswegen schickte er 
mir (weil er meiner Phantasie nicht trauet) wenigstens ihren 
SchattenriB. Und der soil auch unter dem Schreiben in einem fort 
angesehen werden, um so mehr, da er einem schonsten andern 
v/eiblichen Engel, der je aus einem unbekannten Paradies in diese 
Erde hereingeflogen, gleichsam aus den Augen oder vielmehr aus 

• dem Gcsicht geschnitten ist - ich meine das Fraulein von**, 
jetzige Hofdame in Scheerau; ich weiB nicht, ob sie alle Leser 
kennen. 

Viktor kam es vor, als wenn auf einmal sein Blut heraus- 
gedrungen ware und mit warmen Beriihrungen auBen auf der 
Haut seine Zirkel beschriebe. Endlich brachte Klotildens kaltes 
Auge, das nicht der trunkne Stolz auf Reize, sondern der niichterne 



542 HESPERUS 

zuriicktretende und nur dem weiblichen Geschlechte eigne auf 
Unschuld regierte, und - ihre Nase, die zu viel Besonnenheit ver- 
riet, seinen neuen Adam wieder auf die Beine, auf den sich schon 
der alte gesetzt hatte. Er pries sich gliicklich, daB er Flamins 
Freund sei und mithin auf ihre Aufmerksamkeit und ihren Urn- 
gang einige Rechte habe. - Gleichwohl war ihm noch immer, als 
wenn alles, was sie tate, zum ersten Male in der Welt geschahe, 
und er gab auf sie acht wie auf einen operierten Blindgebornen 
oder auf einen Omai oder einen Li-Bu. Er dachte immer: »Wie 
sollt* ihr wohl das Sitzen lassen - oder das Darreichen eines Frucht- i 
tellers - oder das Essen einer Kirsche - oder das Niedersehen in 
ein Briefchen?« Ich bin noch ein argerer Narr neben der besagten 
Hofdame. 

Endlich kam in den Garten Le Baut nach der ersten Toilette, 
und seine Frau nach der zweiten. Der Kammerherr - ein kurzes, 
biegsames, geschniirtes Ding, das vor dem Teufel in der ftolle 
den Hut abziehen wird, wenns hineintritt - empfing den Sohn 
seines Erbfeindes ungemein verbindlich, und doch mit Wiirde, 
zu welcher ihm aber nicht sein Herz, sondern sein Stand die Krafte 
gab. Viktor hegte, eben weil er sich ihn beleidigt dachte, zuvor- 2 
kommendcs WohlwoIIen fur ihn. Obgleich Le Bauts Zunge fast 
wie seine Zahne falsch und eingesetzt waren und mithin die aus 
Zahn- und Zungenbuchstaben gemachten Worter auch: so gefiel 
er doch mit seineri weder plumpen, noch unhof lichen Schmeiche- 
leien - wozu auch seine Stellungen und Absichten gehoren - 
unserm aufrichtigen Viktor, welcher feine Schmeichler, als 
Schwache, nicht hassen konnte. Die Kammerherrin - die schon 
in den Jahren war, die eine Kokette zu verhehlen sucht, ob sie 
gleich die vorhergehenden noch eher zu verbergen hatte - nahm 
unsern gutmeinenden Helden mit der aufrichtigsten Stimme auf, 3 
die noch aus einem falschen Judasbusen gekommen, und mit dem 
Hstigsten Gesicht, auf dem nie die Tauschungen der Liebe (wie es 
schien) Platz zu einer Miene hatten finden konnen. 

Die neue Gesellschaft nahm auf einmal Viktors Verlegenheit 
weg. Er bemerkte zwar bald die besondern Fecht- und Tanz- 
Stellungen des Bundesgegeneinander:KIotilde schien gegenalle 



4. hundPosttag 



543 



zuriickhaltend und gleichgultig, auBer gegen ihren Vater nicht - 
die Stiefmutter war fein gegen den Kammerherrn, hochmiitig 
gegen die Stieftochter, verbindlich gegen Viktor und leicht- und 
gehorchend-kokett gegen Matthieu - dieser war gegen das Ehe- 
paar abwechselnd schmeichlerisch und spottend, gegen Klotilde 
eiskalt und gegen meinen Helden so hoflich, wie Le Baut gegen 
alle. Gleichwohl war Viktor froher und.freier als alle, nicht bloB 
weil er im Freien war — da ein Zimmer allemal wie ein Stockhaus 
auf ihm lag und ein Sessel wie ein FuBblock -, sondern weil er 

I io nnttx feinen Leuten war, die (trotz der spitzigsten Verhaltnisse) 
dem Gesprache vier Schmetterlingfliigel geben, damit es - als 
Gegenspiel der klebenden Raupe, die sich in jedem Dorn auf- 
spieBet - ohne Getose in kleinen Bogen iiber Stacheln fliege und 
nur auf Bliiten falle. Er war der groBte Freund feiner Leute und 
feiner Wendungen; daher ging er so gern in die Gesellschaft 
eines Fontenelle, Crebillon, Marivaux, des ganzen weiblichen Ge- 
schlechtes und besonders des ahstandig koketten Teils desselben. 
Man werde nicht irre ! Ach an seinem Flamin, an seinem Dahore, 
an groBen, iiber die feinen, feigen, leeren Mikro-Kosmologen der 

Lo groBen Welt erhabnen Menschen hing gliihend seine ganze Seele; 
aber eben darum suchte er zur groBern Vollkommenheit die 
kleinern als Gebrame und Eckenbeschlage mit so vielem Eifer auf. 
Vier Personen hatten jetzt auf einmal vier Sehrohre auf seine 
Seele gerichtet; er nahm gar nichts in die Hand, weil er zu gut- 
mutig und zu freudig war, um der Spion eines Herzens zu sein; 
und erst nach Verlauf einiger Tage beobachtete er an einem Ge- 
sellschafter das zuriickgebliebene Bild in seinem Kopf. Er verbarg 
sich nicht - und wurde doch falsch gesehen; gute Menschen kon- 
nen sich leichter in schlimme hineindenken als diese in jene - er 

\,o erriet besser, als er erraten wurde. BloB Klotilde verdient eine 
Schutzrede, daB sie meinen Helden bis nach dem Essen - unter 
welchem Le Baut, der groBte Erzahler dieses erzahlenden Jahr- 
hunderts, seine Rolle durchfiihrte - fur zu boshaft und satirisch 
hielt. Sie muBte aber fast; - eine Frau errat leicht die menschliche, 
aber schwer die gottliche (oder teuflische) Natur eines Mannes, 
schwer seinen Wert und leicht seine Absichten, leichter seine 



544 HESPERUS 

innere Farbengebung als seine Zeichnung. - Matthieu gab AnlaB 
zu ihrem Irrtum, aber audi (wie ich sogleich berichten werde) 
zur Zuriicknahme desselben. Dieser Evangelist, der ein viel 
groBerer Satirikus war als sein Namenvetter im Neuen Testament, 
stellte fast ganz Flachsenfingen auf seine Privat-Pillory,'den Fiir- 
sten, den Hof bis zu Zeuseln nieder - nur den Minister (seinen 
Vater) und seine vielen Schwestern muBt' er leider auslassen, des- 
gleichen die Personen, mit denen er gerade sprach. Was man Ver- 
leumdung an ihm nannte, war im Grunde tibertriebneHerrnhuterei. 
Denn da der heilige Makarius befiehlt, daB man sich aus Demut i 
zwanzig Unzen. Boses beilegen miisse, wenn man dessen funf habe 
- das Gute aber umgekehrt -, so suchen redliche Hofseelen, weil 
sie sehen, daB keiner diese bescheidne Sprache fuhren will, in jedes 
Namen sie zu reden; und schreiben dem, dessen Demut sie re- 
prasentieren wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Boses und weni- 
ger Gutes zu, als er wirklich hat. Hingegen bei gegenwartigen 
Personen haben sie diese stellvertretende Genugtuung nicht notig. 
Daher ist das Leben solcher Hof-Edeln ganz dramatisch; denn da 
nach Aristoteles die Komodie die Menschen schlechter, und die 
Tragodie sie besser malt, als sie sind, so lassen gedachte Edle in : 
jener nur Abwesende, in dieser nur Gegenwartige agieren. Ich weiB 
nicht, ob diese Vollkommenheit hinreicht,- einen wirklichenFehler 
des Evangelisten gutzumachen, welches der war, daB er, wie die 
Romer an Luperkalien, zu oft nach dem weiblichen Geschlecht 
Hiebe fiihrte. So sagte er heute z.B.: Madchen und Himbeere 
hatten schon Maden, eh' sie nur reif waren - die weibliche Tu- 
gend ware das gluhende Eisen, das eine Frau (wie auch sonst bei 
den Ordalien) vom Taufstein (Tauftag) bis zum Altar (Trautag) 
zu tragen hatte, um unschuldig zu sein u.s.w. 

Nichts flel Klotilden — und so hab' ichs allemal bei den Besten •. 
ihres Geschlechts gefunden - empfindlicher als Satire auf ihr gan- 
zes Geschlecht* aber Viktor erstaunte iiber ihre dem Geschlecht 
und der Welt-Erfahrenheit gleich sehr eigne Kunst, es zu verber- 
gen, daB .sie - dulde und verachte. 

Des Evangelisten Beispiel machte, daB auch Viktor anfmg zu 
phosphoreszieren auf alien Punkten seiner Seele - der Funke des 



4. HUNDPOSTTAG 



545 



Witzes umlief den ganzen Kreis seiner Ideen, die einander wie 
Grazien bei der Hand faBten, und sein elektrisches Glockenspiel 
iibertraf des Junkers Entladungen, welche Blitze waren und nach 
Schwefel stanken. Klotilde, die sehr beobachtete, miBtrauete den 
Lippen und dem Herzen Sebastians. 

Der Hof junker hielt ihn fur seinesgleichen und fur verliebt in 
Klotilde; und das aus dem Grunde, »weil der lustigere oder ern- 
stere Ton, worin ein Mann in einer Gesellschaft verfalle, ein 
Zeichen sei, daB ein weiblicher Zitteraal darin in seinen Busen 
to eingeschlagen«. Ich muB es gestehen, Viktors uberwallende Seele 
lieB ihn nie jenen Ausdruck der Achtung fur Weiber treffen, der 
sich nicht in unzeitige Zartlichkeit verirrt, und den er oft gebilde- 
ten Weltleuten beneidete; seine Achtung sah leider allemal wie 
eine Lieberklarung aus. - Die Kammerherrin hielt ihn fur so falsch 
wie ihren Cicisbeo ; Leute wie sie begreifen kein anderes Wohl- 
wollen als hof Iiches oder einfadelndes. 

Man behielt unsern Helden den ganzen Tag und den halben 
Abend druben. 

Den ganzen Tag war er nicht imstande - obgleich die unsicht- 
Lo baren Augen seines innern Menschen voll Tranen standen iiber 
Klotildens edle Gestalt, iiber ihre verborgne Trauer um die kalte 
hinabgesenkte Freundin, iiber ihre riihrende Stimme, wenn sie 
bloB mit Agathen sprach - gleichwohl war er nicht imstande, nur 
ein ernsthaftes Wort zu sagen: gegen Fremde zwang ihn seine 
Natur allemal im Anfang einige satirische und andere Hasen- 
spriinge zu machen. Aber abends, da man im feierlichen Garten 
war, da sein gewohnlicher Schauer vor der Leerheit des Lebens 
durch die Lustigkeit heftiger wurde - das wurde jener dadurch 
allezeit; hingegen durch ernsthafte, traurige, leidenschaftliche 
I30 Gesprache nahm er ab - und da Klotilde ihm bloB eine sehr kalte, 
gleichsam von seinem Vater auf ihn angewiesene Hoflichkeit ge- 
wahrte und den Unterschied zwischen ihm und dem Matthieu, der 
keine zweite Welt und keinen dafur organisierten innern Men- 
schen annahm, nicht in seiner ganzen GroBe erriet: so wurd' ihm 
beklommen urns sehnende Herz, zu viele Tranen schienen seine 
ganze Brust anzufiillen und durchzudriicken, und sooft er zu dem 



546 HESPERUS 

groBen tiefen Himmel aufblickte, sagte etwas in seiner Seele: 
schier dich gar nichts um den feinen Cercle und rede heraus ! 

Aber es gab fur ihn nur eine Seele, an der jene Erhohtritte wie 
an Pedalharfen geschaffen waren, die jedem Gedanken einen ho- 
hern Spharenton erteilen, dem Leben einen heiligen Wert und 
dem Herzen ein Echo aus Eden; diese Seele war nicht sein sonst 
so geliebter Flamin, sondern sein Lehrer Dahore in England, den 
er ach schon lange aus seinen Augen, aber nie aus seinen Traumen 
verloren. Der Schatten dieses groBen Menschen stand, gleichsara 
an die Nacht geworfen, flatternd und aufgerichtet vor ihm und i. 
sagte: »Lieber, ich sehe deininneres Weinen, dein frommes Seh- 
nen, dein odes Herz und deine ausgebreiteten bebenden Arme; 
aber alles ist umsonst: du findest mich nicht und ich dich nicht.« 
Er schauete an die Sterne, deren erhebende Kenntnis sein Lehrer 
schon damals in seine junge Seele angeleget hatte; er sagte zu Klo- 
tilden : »Die Topographie des Himmels sollte ein Stuck unserer 
Religion sein; eine Frau sollte den Katechismus und den Fonte- 
nelle auswendig lernen.« Er beschrieb hier die astronomischen 
Stunden seines Dahore und diesen selber. - 

Aus Klotildens Angesicht brach eine groBe Verklarung, und 2I 
sie zeichnete mit Worten'und Mienen ihren eignen astronomischen 
Lehrer im Stifte ab — daB er ebenso edel sei und ebenso still - daB 
seine Gestalt so gut besser mache wie seine Lehre - daB er sich 
Emanuel nenne und keinen Geschlechtnamen fiihre, weil er sage : 
»am verrliegenden Menschen, an seinem so eilig versinkenden 
Stammbaum sei zwischen dem Geschlechtnamen und Taufnamen 
der Unterschied zu klein« - daB leider seine veredelte Seele in 
einem zerknickten Kdrper lebe, der schon tief ins Grab einhange- 
daB er nach der Versicherung ihrer Abtissin der sanfteste und 
grofite Mensch sei, der noch aus Ostindien (seinem Vaterlande) 5 
gekommen, wiewohl man iiber einige Sonderbarkeiten seiner 
Lebensart in Maienthal wegzusehen habe. — 

Matthieu, dessen Witz die Schonheitlinie, den Giftzahn, den 
Sprung und die Kalte den Schlangen abborgte, sagte leise und un- 
befangen: »Es ist gut fiir seinen siechen Korpe^r, daB er hier nicht 
Astronom und Nachtwachter zugleich wurde; er suchte vor eini- 



4. HUNDPOSTTAG 



547 



gen Jahren darum an, um ein Sehrohr und ein Horn.« — Klotilde 
wurde zum ersten Male von einer ziirnenden Rote iiberflogen, wie 
der Morgen vor dem Regen : »Wenn Sie ihn« (sagte sie schnell) 
»bloB aus meiner Schilderung kennen, so konnen Sie diese Son- 
derbarkeit unmoglich unter den seinigen suchen.« Aber der Kam- 
merherr trat dem Junker bei und sagte, Emanuel sei wirklich vor 
funf Jahren mit diesem Gesuche abgewiesen worden. Klotilde sah 
den einzigen, dessen Aufmerksamkeit nicht ironisch war, unsern 
Viktor, den der Widerschein ihrer Verklarung schmuckte, wie 
10 um Hiilfe an und fragte mchr hoffend als behauptend: »Sollte man 
so etwas einem solchen Kopfe zutrauen?« - »Meinem Kopf eher« 
- (versetzte er, um auszuweichen ; denn er, der dem jetzigen Papste 
widersprochen hatte, konnte oft unmoglich schonen Lippen 
wider sprechen, zumal einer mit so vieler HorTnung auf sein Nein 
vorgelegten Frage derselben) - »sooft ich nachts durch Dorfer 
gehe: so hor' ich den leiblichen Nachtwachter lieber als den geist- 
lichen. In der horchenden stillen Nacht, unter dem ausgebreiteten 
Sternenhimmel liegt im homiletischen Eulengesang des Nacht- 
wachters etwas so Erhabnes, daB ich mir hundertmal ein Horn 
> wunschte und sechs Verse.« - 

Der Kammerherr und sein Associe hieltens fiir verfehlte Persi- 
flage ; letzter setzte die seinige - vielleicht um Klotilden, zum Vor- 
teil seiner mit Unterzieh- Busen und Unterzieh-SteiB bewaflheten 
Herzens-Zarin, zu miBfallen - unverschamt fort und fiihrte an: 
das beste Mittel, den namhaften Namenlosen traurig zu machen, 
sei ein sehr lustiges, eine Komodie - freilich ruhrte ihn noch star- 
ker ein Possenspiel, wie er selber an ihm in Goethes moralischem 
Puppenspiel oder Jahrmarkt gesehen. 

Da flog dem betroffenen Viktor ein neues Gesicht und eine 
| 3 o neue Stellung an ; denn er war gerade wie Emanuel. Ein Jahrmarkt 
mit seinen hinab- und hinauflaufenden Menschen-Bachen - mit 
dem Vor- und Zuriickspringen der Gestalten wie an einer Bilder- 
uhr - mit der fortsummenden Luft, in der Geigengeschrei und 
Menschengezank und Viehgeblok zu einem einzigen betaubenden 
Brausen zusammenflieBen - und mit den Buden-Warenlagern, 
die ein musivisches Bild des kleinen, aus Bediirfnissen zusammen- 



548 HESPERUS 

geflickten Lebens reichen ein Jahrmarkt machte durch alle 

diese Erinnerungen an die groBe frostige Neujahrsmesse des Le- 
bens Viktors edlen Busen schwer und voll; er versank siiBbetaubt 
in das Getose, und die Menschen-Reihen um ihn schlossen seine 
Seele in ihre stillern Phantasien ein. Das war die Ursache, warum 
ihnGoetheshogarthischesSchwanzs tuck ernes Jahrmarkts (so wie 
Shakespeare) immer melancholisch zuriicklieB; so wie er iiber- 
haupt gerade im Niedrigkomischen das hohe Ernsthafte am Iieb- 
sten fand - (Weiber sind nur zum umgekehrten Funde fahig) - 
und ein komisches Buch ohne jeden edlern Zug und Wink (z.B. 10 
Blumauers Aneis) konnt* er so wenig wie La Mettries ekelhaft 
lachendes Gesicht ertragen, oder die Gesichter auf den Titel- 
kupfern des Vademekums. — 

Er vergaB sich und die Nachbarschaft wie ein wahrer Junglmg, 
breitete die Arme halb aus und sagte mit einem Auge, in dem man 
die sehnsuchtig an einem Bilde Emanuels arbeitende Seele sah: 
»Nun kenn* ieh dich, du Namenloser! du bist der hohe Mensch, 

der so selten ist. Ich versichere Sie, Herr v. Schleunes, an 

Herrn Emanuel ist was!... Nein, unter diesem Leben im Plug 
sollte doch das Ding, das so prestissimo hinschieBt aus einem 2C 
Regenschauer in den andern und von Gewolke zu Gewolke, doch 
nicht in einem fort den Schnabel aufsperren zum Gelachter. . .Ich 
las heute wo: der Mensch hat nur dritthalb Minuten, und nur eine 

zum Lacheln « Er war ganz in seine Gefuhle verirrt: sonst 

hatt' er mehr zuruckbehalten, besonders die letzte Zeile aus dem 
im Garten gefundnen Blattchen. Klotilde wurde iiber irgend et- 
was betroffen. Er hatte jetzo gern das Blattchen hinausgelesen. 
Sie erzahlte ihm nun diejenigen Sonderbarkeiten von ihrem Leh- 
rer, in die sie sich besser zu finden wuBte: daB er ein Pythagoraer 
sei - nur in weiBen Kleidern gehe - mit Floten sich einschlafern 5C 
und wecken lasse - keine Hiilsenfruchte und Tiere esse - und oft 
die halbe Nacht unter den Sternen gehe. 

Er ruhte, in stummes Entzucken iiber den Lehrer verloren, mit 
enthusiastischen Augen auf den freundschaftlichen Lippen der 
Schulerin, die der Geschmack an einem erhabnen Sonderling 
adelte. Sie fand hier den ersten Mann, den sie in einen ungeheu- 



4- HUNDPOSTTAG 549 

chelten Enthusiasmus fiir ihren pythagorischen Liebling setzte; 
und alle ihre Schonheiten wandten sich bliihend nach Emanuels 
Bild, wie Blumen nach der Sonne. Zwei scheme Seelen entdecken 
ihre Ver'wandtschaft am ersten in der gleichen Liebe, die sie an 
eine dritte bindet. Das voile begeisterte Herz verschweigt und 
verhullt sich gern in einem Putzzimmer, das lauter ungleichartige 
hegt; aber wenn es darin sein zweites antrifft, so muB es daruber 
sein Verstummen und VerhuIJen und das Putzzimmer vergessen. 

Viktors Quecksilber seiner morgendlichen Lustigkeit war um 
10 zehn Grade gefallen. In seiner dammernden Seele ragte nichts her- 
vor als der Zettel, den er lesen wollte und auch schon las drauBen 
auf der Gasse; und vorher schied er. 

Das Blatt war aus Klotildens fiiegendem Stammbuch geflattert 
und von — Emanuel geschrieben. 

»Der Mensch hat hier dritthalb Minuten, eine zu lacheln - eine 
zu seufzen - und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser Minu- 
te stirbt er. 

Aber das Grab ist nicht tief, es ist der leuchtende FuBtritt eines 

Engels, der uns sucht. Wenn die unbekannte Hand den letzten 

20 Pfeil an das Haupt des Menschen sendet : so biickt er vorher das 

Haupt, und der Pfeil hebt bloB die Dornenkrone von seinen Wun- 

den ab. 1 

Und mit dieser Hoffnung zieh aus Maienthal, edle Seele; aber 
weder Weltteile, noch Graber, noch die zweite Welt konnen zwei 
Menschen zertrennen oder verbinden; sondern nur Gedanken 
scheiden und gatten die Seelen. - 

dein Leben hange voll Bluten! Aus deinem ersten Paradies 
miisse ein zweites, wie mitten aus einer Rose eine zweite, sprieBen ! 
Die Erde miisse dir schimmern, als standest du iiber ihr und sahest 

J 30 ihrem Zug im Himmel nach! - Und wie Moses starb, weil ihn 
Gott kiiBte: so sei dein Leben ein langer KuB des Ewigen! Und 

dein Tod werde meiner 

Emanuel.« 

1 Vielleicht eine Anspielung auf das fur die Phantasie liebliche Marchen, 
daB in Neapel ein Kruzifix, da darin Alphons 1439 belagert wurde, den Kopf 
vor einer Kanonenkugel neigte, die also nur die Dornenkrone nahm. Voyage 
d'un Francois, T. VI. p. 303. 



550 HESPERUS 

»0 du guter, guter Geist!« (rief Viktor) »fch kann dich nun 
nicht mehr vergessen — du muBt, du wirst rnein schwaches Herz 
annehmen!« Von seinen innern Saiten waren jetzt die Dunsttrop- 
fen, die ihren Klang aufhielten, abgefallen. Sein Kopf wurde eine 
helle Landschaft, in der nichts stand als Emanuels glanzende Ge- 
stalt. Er kam mit einem selig bewegten Angesicht spat im Pfarr- 
haus an; und in dieser Glut stellte er vor seinen Zuschauern das 
Bild von Klotilden auf, dem er von einem Engel alles, sogar Flu- 
gel gab, welche ein kurzes Verweilen drohten. Seine Freundschaft 
erhob ihn iiber den Argwohn eines Argwohns so sehr, daB er « 
seinem Freunde keine warmere und zartere Probe derselben zu 
geben glaubte als durch das starkste sympathetische Lob Klotil- 
dens; FlaminsLiebe gegen sie ging durch die Freundschaft in seine 
Seele iiber. Die Empfindung fur die Geliebte eines Freundes fiihrt 
eine unnennbare SiiBigkeit und moralische Zartheit jnit sich. Fiir 
Viktor steh' ich in diesem funkte, daB er zwar begrifF, wie ein 
Freund dem andern die Liebe zum Opfer bringen, aber nicht be- 
griff, wie der andere das Opfer annehmen konne; allein fiir Fla- 
min sag' ich nicht gut, daB er kalt und Menschenkenner genug 
ist, um die Preismiinzen, die Viktor auf Klotilden schlagt, und " 
worauf er ihr schones Angesicht und sein Wappen setzt, immer 
fur ebenso viele Munzen de confiance und fiir Pfander der briider- 
lichen Treue anzusehen. Er war zu brausend und zu ehrgeizig, 
um die Wahrheit zu sehen, ja nur anzuhoren: denn sein ofFen- 
herziger Freund mufite manchen zartlichen Tadel unterdriicken, 
der ihn zu sehr gekrankt hatte, weil er zuviel Ehrgeiz und Feuer 
und zu wenig Selbervertrauen hatte. Daher heftete sich ein 
Schmeichler wie Matthieu mit seinen Efeu-Hakchen desto fester 
in die Risse dieses Felsen ein. Da er ein wenig barsch den namen- 
losen Emanuel einen Schwarmer nannte: so sagte Viktor von 3= 
diesem heute wenig. Flamin konnte - weil er entweder ein Jurist 
oder ein hitziger Kopf, oder beides war - nichts so wenig aus- 
stehen als Poeten, Philosophen, Hofleute und Enthusiasten - 
einen ausgenommen, der alles das auf einmal war, seinen Sebastian 
Viktor. 



5. HUNDPOSTTAG 5)1 

5. HUNDPOSTTAG 

Der dritte Mai — der auf der Musik sitzende Abbate - die Nachtigall 

Ich muB iiberhaupt voraus bemerken, daB ich sehr clumm ware, 
wenn ich die Menge von Unwahrscheinlichkeiten in dieser Histo- 
ric nicht merkte; aber ich merke sie samtlichgut; ja ich habe solche 
- z. B. die in Klotildens Betragen, oder die des medizinischen Dok- 
torats des Helden - noch eher als der Leser selber wahrgenommen, 
weil ich alles eher - gelesen habe. Ich schob es daher nicht langer 
auf, sondern ging mit der heutigen Hofmanns-Post meinen Kor- 

10 respondenten an, mir das nachstemal durch den Hund in seiner 
Portratbuchse zu schreiben, woran wir alie waren. - Ich schriebs 
ihm geradezu, er wiiBte den Henker davon, obwohl ich, von den 
Lesern und ihrer Tyrannei - ich muBt* ihm sagen (sagt* ich), sie 
waren Leute von Verstand, denen ein Lebensbeschreiber, ja ein 
Roman-Bauherr nicht mit Dichtertruge kommen durfte, sondern 
die sagten, wie der Areopag : »Das nackte historische Faktum her, 
ohne alle weitere poetische Einkleidung.« - Und es nahme mich 
iiberhaupt wunder (fuhr ich fort), daB er noch nicht wiiBte, daB 
sie soviel, teils Verstand, teils vierblatterigen Klee 1 , in sich hatten, 

20 daB sie die groBten Verfasser und Trauerdichter, wenn diese fein 
sein und sie durch asthetische Gaukeleien entweder wie Schropfer 
in Furcht oder wie Bettler in Mitleiden setzen wollten, daB sie 
diese kaltbliitig sich abarbeiten HeBen und sagten : »Wir lassen uns 
nicht fangen.« - Gleichwohl waren die Rezensenten noch toller 
und gescheiter und vielleicht die besten jetzigen Skotometer (Dun- 
kelmesser), zumal da sie so elende Photometer (Lichtmesser) 
waren. - Und endlich sagt' ich meinem historischen Adjutanten 
gerade heraus, er hatte keinen Schaden davon, ich jedoch, daB 
man mich in mehre Sprachen iibersetzte und darin fur jede Un- 

30 wahrscheinlichkeit des Textes in das GeiBelgewolbe einer Note 
hinunteizoge und da sehr striche, indes ich nicht den Mund auftun 
durfte, wenn der verdolmetschende Spitzbube, der meinen Kiir- 

1 Dieser Klee macht, zufallig gefunden, daB man nicht mehr zu tauschen 
ist. Bisher fan den ihn nur — Fiirsten und Philosophen. 



552 HESPERUS 

bisflaschenkeller wie ein FaB Wein aus einem Land ins andre 
fiihre,den Weinunterwegeswie alle Fuhrleute mit Wasser auBen 
begosse und innen nachfullte. — Er sollte mir nur wenigstens, bat 
ich, Antwort geben, damit ich sie den Lesern zeigen ktinnte als 
einen Beweis, daB ich ihm geschrieben. — 

Im nachsten Huridposttag mochten also in jedem Falle groBe 
Dinge zu erwarten sein, - 

Noch dazu fallt der vierte Mai hinein mit seinen, wie es scheint, 
wichtigen zwei Dankfesten fur die Ankunft der zwei Sebastiane, 
des kleinen in der Welt, des groBen im Baddorfe. Sogar Klotilde i 
ist morgen dabei; und Viktor ist recht begierig (ich selber), sie in 
der Sonne der Liebe zu sehen neben Flamin : denn driiben schienen 
alle ihre Schonheiten ein vom Strahl der Liebe noch nicht ge- 
troffnes und gereiftes Herz zu umbliihen, wie Blumenblatter die 
weifien Her^bldtter vor der Sonne iiberbauen. - Matthieu kam 
heute zum Abschied, weil er morgen in die Stadt zuruckfuhr. Er 
gefiel unserm Helden immer weniger; und eine Pagengeschichte, 
die er von sich erzahlte, erneuerte Viktors EntschluB, die Bitte der 
Pfarrerin um die Verscheuchung eines solchen Menschen fruhe 
zu erfullen. 

Matthieu hatte als Page den Dienst bei der Oberhofmeisterin, 
ich glaube den groBen und den kleinen. Gleichwohl muBt* er ein- 
mal einen Abbate und Gewissensrat in ein Kabinett derselben 
bestellen, das der Betstuhl und die heilige Statte in einem Grade 
sein sollte, den freilich ihr dummer eifersiichtiger Mann nicht be- 
griff. Nun war im Nebenzimmer ein musikalischer Armsessel, den 
man im Grunde mit nichts spielte als mit dem SteiB: sobald man 
sich hineinsetzte, fing er seine Ouvertilre an, und ich saB einmal 
beim Fiirsten Esterhazy in so einem. Unser Matz - so nennt ihn 
das ganze biirgerliche Flachsenfingen; einige Kanzeleiverwandte : 
heiBen ihn auch den Evangelisten - bestellte den Abbate um zwei 
Stunden zu bald; setzte aber, damit der Mann mit der tonsurierten 
Periicke nicht vom Passen ermattete, vorher den musizierenden 
Sessel hinein, als Ruhebank und Ankerplatz fur matte Expektan- 
ten. Gegen drei Uhr nachts, als die Gesellschaft fort war, ausge- 
nommen den Oberhofmeister, senkte der stehenssatte Gewissens- 



5- HUNDPOSTTAG 



553 



rat seinen Rumpf endlich in den mit Favorit-Arien ausgepolster- 
ten Sorgestuhl und weckte mit seinen Hosen die ganze Trauer- 
musik und deren Mordanten darin auf, ohne die geringste Mog- 
lichkeit, das Kabinett-Standchen dieses Weckers zu stillen. Der 
Ehegemahl ging endlich, wie ein Hering, den Finalkadenzen nach 
und zog den mitten im Kontrapunkt und in Pralltrillern seBhaften 
Gewissensmann aus seinem Orgelstuhl und versalzte ihm den 
Wachtelruf, glaube ich, durch kommandierte Priigel. Die Ober- 
hofmeisterin erriet leicht den Meister vom Stuhl^ Matzen; aber so 

» sehr gewohnlich ist Verzeihung am Hofe - nicht blofi vergangne 
Beleidigungen werden dort von guten Weiberseelen vergeben, 
sondern auch luhiinftige -, daB die Hofmeisterin sich doch nicht 
eher an Matzen rachte - ob cr gleich noch dritthalb Wochen ihr 
diente - als eben nach dritthalb Wochen . . . 

Viktor ziirnte iiber Flamins Gelachter; er Hebte Laune, aber 
keine Neckerei. Sein versiiBtes Blut fing durch diese Essigmutter 
allmahlich zu versauern an gegen diesen Matz, dessen kalte iro- 
nische Galanterie gegen die ehrliche Agathe ihn schon emporte, 
deren phlegmatischer, gleichsam verheirateter Puis ubrigens in 

» dessen Ab- und in dessen Anwesenheit dieselben Schlage tat. Noch 
mehr Sodbrennen und Saure sammelte sich in Viktors Herzen, 
weil er - der alles duldete, Eitle, Stolze, Atheisten, Schwarmer - 
gleichwohl keine Menschen dulden konnte, die die Tugend fur 
eine Art von feiner Proviantbackerei ansehen, die Wollust fiir er- 
laubt, den Geist fiir einen Almosensammler des Leibes, das Herz 
fiir eine Blutspritze und unsere Seele fiir einen neuen Holztrieb 
des Korpers. Dieses aber tat Matthieu, der noch dazii Nei'gung zum 
Philosophieren hatte, und der den Freund Viktors, welcher ohne- 
hin gegen die ganze Dichter- und Geisterwelt so kalt war wie ein 

. Staatsmann, mit seinem philosophischen Krebsgifte anzustecken 
drohte. 

Abends suchte er ein wenig naher an Flamins Gehor in die 
zweite Trompete der Fama gegen den entfernten Pseudo-Evan- 
gelisten zu stoBen. Im Garten stieB er darein. Er nahm die Hand, 
deren die Matthaische nicht wiirdig war, in seine bessere und fing 
rnit der herzlichsten feinsten Schonung, die man sogar der wahren 



554 HESPERUS 

Freundschaft fur einen unechten Freund gewahren muB, seinen 
Bildersturm an. Denn indem er die Kammerherrin tadelte, daB sie 
auf Agathen Blicke von ihrem Wipfel herunterwiirfe, die nichts 
Reineres waren, als was sonst Affen vom ihrigen auf die Leute 
schickten; und indem er den Hof junker tadelte, daB er wie vicle 
Edelleute erst unter Edelleuten den ketzerischen Geruch eines 
Biirgerlichen am meisien (vielleicht durch Kiilfe des Gegensatzes) 
verspiirte, und daB seine Worte und Mienen im Schlosse wie Eis- 
spitzen ans gute warme Herz Agathens anflogen: so war der 
Tadel dieses Maifrostes gegen die Schwester nur ein Vorwand, in 10 
welchen er die Anmerkung einhiillte, daB der Hof junker Flamins 
Freund nicht sein wurde, wenn er nicht Agathens Liebhaber 
ware. - 

Flamins Schweigen (das Zeichen seiner Entriistung) gab dem 
Strom seiner Beredsamkeit einen neuen schnellern Abhang; noch 
dazu ritf eine in Le Bauts Garten dichtende Nachtigall alle Echo 
der Licbe aus seiner Seele wach. Daher ergrifTer freilich Flamins 
beide Hande in jener Oberwallung, die immer seine Schritte zum 
Ziele in Spi tinge umsetzte und dadurch das ganze Ziel uberrennte. 
- Viele Plane verunglucken, weil das Herz dem Kopfe nacharbei- 20 
tet, und weil man beim Ende der Ausfuhrung weniger Behutsam- 
keit aufwendet als beim Anfange derselben. Er sah seinen Ge- 
liebten an, die Flotenkehle der Nachtigall setzte den Text seiner 
Liebe in Musik, und unbeschreiblich geriihrt sagte er : »Du Bester! 
dein Herz ist zu gut, um nicht von denen uberlistet zu werden, die 
dich nicht erreichen. O wenn einmal die Schneide des Hof-Tons 
blutig iiber die Adern deiner Brust wegzoge« - (Flamins Miene 
sah wie die Frage aus: bist du denn nicht auch satirisch?) »o wenn 
der, der keine Tugend und Uneigenniitzigkeit glaubt, auch einmal 
keine mehr bewiese; wenn er dich sehr betroge, wenn die vom JO 
Hof gehartete Hand, einmal Blut und Tranen wie ein Zitronen- 
quetscher aus deinem Herzen driickte : dann verzweif le doch nicht, 
nur an der Freundschaft nicht - denn deine Mutter und ich Iieben 
dich doch anders. O wahrlich, zu der Zeit, wo du sagen muBtest: 
warum hab' ich nicht meinem Freunde gehorcht, der mich so 
warnte, und meiner Mutter, die mich so liebte - da darfst du zu 



6. HUNDPOSTTAG 



555 



mir kommen, zu dem, der sich niemals andert, und der deinen Irr- 
tum hoher schatzet als eigennlitzige Behutsamkeit; dann fuhr' ich 
dichweinend zu deiner Mutter und sage zu ihr: nimm ihn ganz, 
nur du bist wert, ihn zu lieben.« - Flamin sagte gar nichts darauf. 
- »Bist du traurig, mein Flamin?« - »VerdrieBlich!« - »Ich bin 
traurig; die Klagen der Nachtigall tonen mich wie kunftige and, 
sagte Viktor. - »GefaIlt dir diese Nachtigall, Viktor?« - »Unbe- 
schreiblich, wie eine Freundin meines Innersten.« - »So irret man, 
Matt/iieu singt«y versetzte schnell Flamin. Denn der Evangelist 
10 unterschied sich von einer Nachtigall in nichts als der GroBe. - 
Und dann ging Flamin empfindlich und dock mit einem Hand- 
druck davon. 



6. HUNDPOSTTAG 

Der dreifache Betrug der Liebe - verlorne Bibel und Puderquaste - 
Kirchgang - neue Konkordaten mit dem Leser 



Knefs Antwort ist elend: »Aus dem vom 6ten dieses von Ew. 
Wohlgeboren Erlassenen ersehe, daB das Publikum Geschmack 
hat und einige Feinheit - welches inich gar nicht wundert, da man 
solches den Goldplatten, die erst zwischen einem Buch von Per- 

20 gament und dann zwischen zwei von Rindsblattern diinn und fein 
geschlagen werden, ahnlich behandelt und es ebenso von einem 
Buch ins andre tut und darin durch den Druck der PreB-Bengel 
so fein macht wie Kavalierpapier. Wenns Publikum noch ein paar 
Jahre so fortlieset, so kanns zuletzt gescheiter werden als Deutsch- 
land selber. Anlangend die Unwahrscheinlichkeiten in unserem 
Werke, so waren dergleichen freilich mehre zu wunschen, weil 
ohne diese eine Lebensbeschreibung und ein Roman schlecht ge- 
fallen, da ihnen der Reiz fehlet, womit uns das deutsche Hospital- 
und NarrenschirTvollromantischer Originalromane sosehranzieht 

1 30 - welches Schiff als Absonderungdruse widerlicher Werke mit 
Recht die Leber der gelehrten Republik genannt werden mag, 
und der Buchladen der Gallengang. Aber in Rucksicht der Un- 
wahrscheinlichkeiten besorge selber nur gar zu sehr, daB auch die 



55<5 HESPERUS 

wenigen, worauf wir fuBen, am Ende verschwinden. Der ich 
u. s. w.« 

Der Schaker, merkt man leicht, will nur mich und den Leser 
gern mit Hasenschwanzen behangen. Fur mich aber ists doch ein 
herrliches Dokument, daB ich das Meinige getan und an den 
Schelm geschrieben habe. - 

Gewisse Menschen sind, wenn sie abends sehr warm und freund- 
schaftlich waren, am Morgen sehr finster und kalt - wie Mauper- 
tuis* Halbsonnen, die nur auf der einen Halfte brennen, und die 
uns verschwinden, wenn sie die erdige vorkehren -; und waren 10 
sie kalt, so werden sie warm. Flamin vergaB am Morgen entweder 
den warmen Abend oder die Nachtkalte. Heute ist das Kirchgang- 
fest! - Droben bei Sebastian riickt* er, wie ein deutscher Poli^ei- 
Puritaner und Purist, mit Speiteufeln und Musketenfeuer aus 
gegen den Kirchgang - gegen Kindtaufschmause - gegen das 
Holzfallen zu Weihnachten und Pfingsten - gegen Feiertage und 
gegen alien SpaB der Menschen. 

Viktor wurde von unserm Jahrhundert durch mchts so erziirnt 
als durch dessen stolze Kreuzpredigten gegen unmodische Tor- 
heiten, indes es mit unmodischen Lastern in Subsidientraktaten 20 
steht. Er holte mit einem weiten Atern aus und bewies, daB das 
Gluck eines Staates, wie eines Menschen, nicht im Reichtum, son- 
dern im Gebrauche des Reichtums, nicht in seinem kaufmanni- 
schen, sondern moralischen Werte bestehe - daB die Ausscheurung 
des altertumlichen Sauerteigs und unsre meisten Institutionen und 
Novellen und Edikte nur die furstlichen Gefalle, nicht die Morali- 
tat zu erhohen suchten, und daB man begehre, die Laster und die 
Untertanen brachten, wie die alten Juden, ihre Opfer rmr in einer 
Stadt, namlich in der Residenzstadt - daB die Menschheit von je- 
her sich die Nagel nur an den nackten Hdnden, nicht an den ver- 3 o 
hiillten Fufien^ die oft dariiber selber herunterkamen, beschnitten 
habe - daB Aufwand- und Prachtgesetze den Fiirsten selber noch 
notiger waren, wenigstens den hochsten Standen, als den tiefsten 
- daB Rom seinen vielen Feiertagen viel von seiner Vaterland- 
liebe verdanke. . . . Flamin hatte fiir die kleine Perlenschrift der 
hauslichen Freude, fiir AufguBbliimchen des Vergniigens keine 



6. HUNDPOSTTAG 557 

Augen; dafur hielt seine Seele mit einem Brutus gleichen Schritt, 
wenn er grofi ans Bild des Pompejus trat und mit einem Seufzer 
iiber das Schicksal die Parzenschere in das groBte Herz der Erde 
trieb, das seinen Wert mit seinem Recht verwechselte. Viktor 
hatte em geraumiges Herz fiir die unahnlichsten Gefuhle. 

Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daB heute der Kirch- 
gang ist. Ich will ihn der Nachwelt abzeichnen, aber nicht mit je- 
ner Kiirze, womit ein Zeitungschreiber den Leichenzug eines 
Konigs auf drei Bogen bringt, sondern ein wenig umstandlicher. 

10 Zu den pomphaften Anfangbuchstaben dieses Tages hatte das 
Pfarrhaus ganz andre Griinde in petto, als man meines Wissens 
unserem Zeitalter noch zu entdecken beliebte : betrugen wollten 
drei Teilnehmer einander, allemal zwei einen. 

Betrugen wollte erstlich die Pfarrfrau den Helden, der nicht 
wuBte, daB heute der Geburttag seines Vaters war, und daB dieser 
- freimiitig von ihr eingeladen - heute auf fiinf Minuten lang 
komme. Sie lieB am Morgen ihre zwei Tochter Garn sieden, da- 
mit sie dem Viktor- nichts beichteten, wenigstens keine Wahrheit ; 
denn es ist ein bekannter Aberglaube, daB das Garn am weiBesten 

20 gesotten werde, wenn man dabei recht liigt. Daher sollte man 
auch, wenn die Weiber liigen, behutsamer sein und fragen, ob sie 
mit ihren poetischen Tauschungen etwas anderes weiftbrennen 
wollen als Garn. Ihr geliebter Viktor sollte - das war ihr Plan - 
ihrem Manne, dessen Wiegenfest heute auch einfiel, den gewohn- 
lichen Gliickwunsch bringen und ihn nachher halbieren und dem 

. Lord hinlangen miissen, der mit seinem eignen Geburttag aus- 
stieg. 

Betrugen wollte zweitens Sebastian und sie den alten Kaplan, 
der vergessen, daB er geboren worden - welches ihm schon bei 

3 o seinem ersten Geburttage begegnet war. Die Menschen behalten 
einen fremden Lebenslauf besser als den eignen : wahrhaftig, wir 
achten eine Geschichte, die einmal die unsrige war, und welche die 
Hiilse der verflognen Stunden ist, viel zu wenig, und doch werden 
die Zeittropfen, durch die wir schwimmen, erst in der Feme der 
Erinnerung zum Regenbogen des Genusses. Die Manner wissen, 
wenn alle Kaiser geboren und alle Philosophen gestorben sind - 



558 HESPERUS 

die Weiber wissen aus der Chronologie bloB das, wenn ihre 
Manner, die ihre Regenten und klassischen Autoren sind, beides 
taten. Viktor, dessen feines Gefuhl von zu groBen Aufmerksam- 
keiten fur ihn versehret wurde, war froh, daO Eymanns Schultern 
die Halfte der heutigen Ehre tragen muBten. 

Betrugen wollte drittens der Pfarrherr so gut als einer, und 
zwar jeden. Da fur ihn dieser Festtag - wie die drei hohen Feste 
der Kloster - zugleich Rasiertag war, an welchem die gescheitsten 
Kopfe die dummsten Gesichter machen : so schnitt der Barbier mit 
der Rasier-Lanzette in des Seelensorgers Haut wie in eine Birken- ic 
rinde sein Andenken ; aber dieses wenige Blut, das ausquoll, fiihrte 
dem Pfarrer einen kliigern Gedanken zu als das, was der Bader 
darin lieB, welches doch den Nervensaft absonderte, der nach den 
seichtesten Denkern die Gelenkschmiere unsrer geistigen Bewe- 
gungen, die Goldauflosung unsrer reichhaltigsten Ideen und der 
Geist unsers Geistes ist. Dieser kliigere Gedanke, den ich so lobe, 
war der, sich auf dem linken Arm zur Ader zu lassen — es dem 
ganzen Hause zu verhalten - abends dem Lord Gliick zu wun- 
schen und jedem — und am Ende den Armel auszuziehen und die 
Wunde zu zeigen, wie ein Romer, und zu sagen: gratuliert doch 20 
zur AderlaB! - Er setzte es durch, und der Scherer muBte stau- 
nend etwas anderes zerhacken als das Kinn. Der Blessierte gab ihm 
das Geleite bis an die Hofture, nicht sowohl aus Hoflichkeit, als 
damit ers nicht der ganzen Hausgenossenschaft vortriige, sondern 
den Vorfall iiberhaupt bei sich behielte, ausgenommen in Hau- 
sern, wo ein Bart war und ein Ohr. Dennein Geschichtschreiber sei 
immerhin der Monaqeiger der Zeit - und folglich sei der Zeitung- 
setzer der Stundenieiger derselben - mithin ein Weib ihr Sekun- 
denieiger: so ist doch der Bartputzer beides, das Weib und der 
Sekundenieiger. 

Als Flamin und Viktor hinuntergingen ins Wohn-, Putz-, 
Sommer- und Winterzimmer, stach unter lauter frohen Gesich- 
tern ein verdrieBliches vor, das dem wie besessen umhersetzenden 
Pfarrer gehorte : er konnte zweierlei unmdglich ausspiiren, seine 
Bibel und seine Puderquaste. Drei Minuten vorher hatt' er so ge- 
jammert: »Bin ich und mein elendes Leben denn zu einer wahren 



6. HUNDPOSTTAG 559 

Passionhistorie ausersehen? Man gebe mir einen Glikktopf, aus 
dem jeder andere ganze Konigreiche herauskrebsen wiirde - so- 
bald mich der bose Feind nahe merkt, so legt er seinen Unrat 
hinein; und diesen heb' ich dann statt der Krebse und Konig- 
reiche heraus, und weiter nichts. - Es war* heme htibsch gewor- 
den, sah der Teufel - wir hatten bis abends um vier Uhr keine 
Lust gehabt, sondern Hundearbeit - dann war's losgegangen, 
das Essen im Gartenhaus, das Gratulieren und Salutieren und 
wahrer SpaB. . . . Euch ist er auch noch beschert; mir aber schenkt 

o nur, wenn der Piaster und die Bibel nicht erscheinen, etwas RuB 
und Asche (die etwa vom Abendschmause nachbleiben), damit 
ich damit dem Fuchs (Pferd) das GebiB abbiirste - und abends 
kann ich neben dem Gartenhause den Rettich ausjaten.« 

Hier muBte er mit der niedergelassenen Flagge seines Kopfes, 
mit der Trottelmutze, den eintretenden Briten salutieren - als da- 
durch aus der Mtitze ein Haar-Buschel aushel, der zwar nicht die 
gesuchte Bibel, aber der gegebene Piister war. Es muB namlich 
die Denk- und Lese-Welt, der man oft die wichtigern Tatsachen 
nicht hinterbringt, am wenigsten um diese kommen, daB der Hof- 

10 kaplan - so wie Menschen aus Menschen gerissen werden, um die 
iibrigen zu IibertrefTen und zu beherrschen — gerade so die Haare, 
die sein Kamm auszupfte, in einen Pelz-Faszikel oder Haar-Ver- 
ein zusammenwickeltej um damit die iibrigen, die noch standen, 
einzupudern, welches nun wohl vom erhabensten Geist und Pen- 
tameter nicht anders zu benamsen ist als ein Haarpiister. Gleich- 
wohl wurde Eymanns Gesicht langer als die Miitze: er lieB diese 
Spritze des Farbenpulvers des Kopfes kalt daliegen und sagte: 
»Mach* ich nicht die Bibel ausf iindig : so sell* ich nicht ab , wie mich 
dieser Schopf allein herausziehen will.« 

jo Wie vor Luther die Bibel, wurde jetzt die Cansteinische mit 
ihren schwarzen Kafer-Fliigeldecken gesucht. Wenn etwas diesen 
harten Schlag noch herber machen konnte, so wars dies, daB Ey- 
manns Baffchen - gleich seiner Vernunft - zwischen den ver- 
lornen kanonischen Blattern wie zwischen einer Serviettenpresse 
lag: denn die Geistlichen — besonders der Papst — machen das 
Bibelwerk gern zur Glanzpresse und zum Schmuckkastcrien ihres 



560 HESPERUS 

auBern Menschen. Ob er gleich noch acht Bibeln, sogar die ein- 
faltige Seilerische Bibel-Chrestomathie, im Hause hatte und in der 
Wochenldrche heute gar keine brauchte : so war es doch besser 
und menschlicher - d. h. narrischer -, daB er den Kopf seines 
Sakristei-Pedells, des Schulmeisters, aus dem Fenster pfirFimd den 
Gottesdienst - wie eine Aufklarung - durch ein viertelstiindiges 
Interim verschob, als daB er statt der Stunde des Lautens nichts 
Geringers anderte als Bibel und BafFchen* 

Lieber Himmel! wie man gleich Exegeten und Kennikottisten 
suchte und lachelte! - »Dieses Forschen nach der Bibek, sagte u 
Sebastian, »gerekht einem Geistlichen zur Ehre, zumal da er die 
biblischen Wahrheiten nur beim Taglic/it, nicht bei Scheiterhau- 
fen-Fac/celn sucht.« 

Die Monche haben, wie die Anziinder der oflentlichen Later- 
nen, eine Letter und viel OI 7 aber mit dem 0\ loschen sie die Lam- 
pen aus und den eignen Durst, und mit der Leiter reichen sie die, 
die wieder anziinden, dem — Galgen. 

Als der Kaplan vor dem ruhigen Kopf des sechswochentlichen 
Kindes vorbeiging, den schon die heutige Tressenhaube preBte: 
so ging er aus Arger uber dessen Gleichgultigkeit wieder zuriick, 2C 
hob seinen geputzten Kopf empor mit der rechten Hand und fuhr 
in den Schacht des Wiegenstrohes ein mit der linken und wollte 
da die Bibel - die gewohnlich das Kopfkissen und die Amulett- 
Unterlage der Kinder (besonders der Dauphins), ist - ausgraben, 
indem er sagte: »Der miserable kleine Fratz lage bei unserem 
Elend nur kalt da, mir nichts dir nichts, wenn ich ihn nicht auf- 
storte.« - Und hier fiel etwas, nicht wie ein SchuB, sondern wie 
ein Buch, wiewohl mans durch meinen Kiel bis ins dreiBigste - 
Jahrhundert horen kann. Eymann sprang denkend ins zweite 
Stockwerk und fand zu seinen FiiBen eine erschmissene - Maus 3C 
unter seiner gesuchten Bibel. Den protestantischen Reichskreisen 
konnen die Studenten- oder Doktor Luthers-Mausfallen niemals 
unbekannt gewesen sein, zu denen man nichts braucht als ein Buch, 
und die fiir Mause sind, was symbolische Biicher fur Kandidaten. 
Sebastian zog die Leiche beim Schwanze unter der biblischen 
Quetschform und Seilerischen Bibelanstalt hervor, schwenkte 



6. HUNDPOSTTAG 5<?I 

den Kadaver gegen das Licht und hielt diesen Leichensermon ex 
tempore: »Armer Schismatiker! dich erschlug das Alte und Neue 
Testament, aber du und die Testamente sind auBer Schuld! - Sei 
nur froh, daB die Bibel dich nicht gar zu Asche sengte, wie einen 
portugiesischen Israeliten; aber du fielest in aufgeklarte Zeiten, 
wo sie nichts nimmt als Pfarrdienste. Es ist echter Witz, wenn ich 
frage: da sonst die Bibel die Feuerbriinste, worein man sie warf, 
ausloschte: warum denn Autodafes nicht auch?« — 

Ich laure hier langst der Welt auf, um sie zur Untersuchung zu 

x ° notigen, warum ein Maus-Sterbefall sie mehr interessiert als eine 
erschossene Armee in der allgemeinen Weltgeschichte, ein ver- 
lorner fremder Haarpuster mehr als Christinens verlegte Krone . . . 
Daher kommt dieses Interesse, woher es bei denen kommt, denen 
die Sache wirklich begegnet: weil ich sie weitlauftig erzahle, d.h. 
weil die Leser gleich den dabei interessierten Helden miihsam 
einen Augenblick der kindischen Historie um den andern iiber- 
leben. Viele kleine Schlage durehlochern den festesten Menschen 
so sicher als ein groBer, und es ist einerlei, ob sie das Schicksal 
oder ein Autor tut. So ist also der hiesige Mensch so nahe an den 

20 Zeiger der Zeit gestellt, daB er ihn riicken sehen kann; darum 
wird uns eine Kleinigkeit, wenn sie viele Augenblicke einnimmt, 
so groB, und das kurze Leben, das, wie unsre gemalte Seele im 
orbis pictus, aus Punkten besteht, aus schwarzen und goldnen, so 
lang. Und darum steht iiberall, wie auf diesem Blatte, unser Ernst 
so nahe an unserem Lachen! 

Flamin ausgenommen, riickten sie alle in die Kirche, Pat' und 
Patchen : es war eine sogenannte Wochen-Betstunde, die in jedem 
vernunftigen Herzogtum und Markgraftum wird beibehalten wer- 
den, wo man noch darauf sieht, daB der Pfarrer wochentlich ein 

50 paarmal erfriert, und daB er, so wie Novizen zur Ubung der Obe- 
dienz verdorrte Stecken begieBen mussen, den Samen des gott- 
lichen Wortes in leere Kirchenstuhle wirft, wie Melanchthon in 
leere Topfe. In den deutschen Landern - meines und wenige aus- 
genommen - gehoren zwei Jahrhunderte dazu, um eine voll- 
standige Narrheit abzuschaffen - eines, um sie einzusehen - noch 
eines, um sie abzuschaffen. Die Einsichten eines Konsistoriums 



562 HESPERUS 

werden allemal ein Jahrhundert friiher verniinftig als die Befehle 
(Cirkularia) desselben. 

Im Eymannischen Gitterstuhle, dessen Tiire mit der Sakristei 
Hirer fast einen rechten Winkel machte, fand Sebastian alle Blu- 
men, wenigstens die Blatterskelette derselben wieder, die um seine 
schonen Kindertage gebliihet hatten — uneigentliche und eigent- 
liche — , und die eigentlichen, die beschmutzt unter dem FuB- 
schemel des Chorstuhls sich verkrochen, schlugen zu Blumen der 
Erinnerung wieder aus. Er dachte an seine kindischen Leiden darin 
— worunter die Lange der Predigt - und an seine kindischen Freu- 10 
den, unter welche die Lange des Praludiums und Eymanns Knien 
auf der Mitte der Kanzeltreppe gehorte. Er schob das holzerne 
Gitterfenster zuriick und fand in dessen holzernem Gleise seinen 
Namenzug V. S.H. von eignen Handen eingesagt. Vom Kinde 
zum Jungling ist so weit! Und der Mensch verwundert sich uber 
die Feme. »Ach damals« — sagte Horion, und wir wollens mit ihm 
sagen - »war dir noch alles unendlich, und nichts klein als dein 
Herz — ach in jener warmen erquickenden Zeit, wo der Vater uns 
noch Gott der Vater und die Mutter die Mutter Gottes ist, driickte 
sich noch die von Geistern, Grabern und Sturmen beklemmte 20 
Brust getrostet an eine menschliche - alle vier Weltteile waren in 
diese Kirche eingepfarret, alle Strome hieBen Rhein und alle 
Furs ten y^nner — ach I diesen schonen stillen TagfaBteein goldner 
Horizont der unendlichen Hoffnung ein und ein Ring aus Morgen- 
rot. - Jerzo ist der Tag dahin und der Horizont hinab und bloB 
das Gerippe noch da: der Gitterstuhl.« 

Aber wenn wir schon jetzt in den Mittagstunden des Lebens so 
denken und seufzen: wie wird uns nicht am Abend, wo der 
Mensch seine Blumenblatter zusammenlegt und unkenntlich wird 
wie andre Blumen, am Abend, wo wir unten am Horizont in 50 
Westen stehen und ausloschen, wird uns da nicht, wenn wir uns 
umwenden und den kurzen, mit ertretenen HofFnungen bedeckten 
Weg iiberschauen, wird dann uns der Garten der Kindheit, der in 
Osten, tief an unserm Aufgange, und noch unter einem alten bias- 
sen Rote liegt, nicht noch holder anblicken, noch magischer an- 
schimmern ? aber audi noch weicher machen? - Und darauf legt 



6. HUNDPOSTTAG 563 

sich der Mensch nicht weit vom Grabe nieder auf die Erde und 
hofft hienieden nicht mehr. 

Fur Eymann muBt' es riihrend sein, daB er, da er jahrelang 
fremde Kindbetterinnen in der Kirche einsegnete, einmal einer 
nahern seine Wunsche geben konnte. Viktor kroch in alie Kna- 
bensonntage und ihre Tauschungen dadurch zuriick, daB er heute 
- wie im zehnten Jahr - unter dem Singen der ganzen Gemeinde 
in die Sakristei zum Pfarrer ging und ihn fragte um die Blattseite 
des Lieds. Es labte ihn als Kind, daB es vier gehende Wesen im 

o Tempel gab, den Pfarrer, den Schulmeister und den Renteimeister 
des Gotteskastens und ihn: gibt es etwas Erhabeners, dacht* er, 
als einen Klingelbeutelvater mit einer langen waagrechten Ba- 
lancierstange allein einherwandelnd durch lauter befestigte Sta- 
men? 

Nach der Kirche ring sich das Fest an mit bloBen Vorarbeiten 
dazu, wie ein FriedenschluB mit den Schliissen iiber den neutralen 
Ort, iiber den Rang u. s. w. Die Welt muB nur nicht denken, daB 
eher als um funf Uhr nachmittags etwas angehe, oder daB jemand 
fruher aus der prosaischen Wochen-Einkleidung in die poetische 

10 festliche wischen oder sich ruhig neben einen Nachbar nieder- 
lassen konne - sondern nach der ProzeBordnung der Lust muB 
jetzt alles hinauf -, hinabrennen - Apoltonien, dieser Majorin do- 
mus, gehorchen - die Bohnenstangen und Samen-Diiten aus dem 
Gartenhause tragen - entpuppte SchmetterKnge daraus facheln 
und aufgewachte Brummfliegen - das vorgeschossene Gezweig 
von den Fenstern zuriickbinden - die Orangerie, die aus hun- 
dert Bliiten eines Pomeranzenbaums bestand, aus dem Pfarrhause 
in die Garten-StraBe herunterheben, desgleichen ein invalides 
Klavier, dessen Sangboden nicht so oft als sein Saitenbezug ge- 

3 o sprungen war... Der ernsthafte Flamin wurde vom larmenden 
Sebastian zu diesen Haupt- und Staatsaktionen mit gezwungen, 
und z wischen ihnen muBte in dieser Vorjagd der Freude das ge- 
qualte Eymannische Gesicht arbeiten, an das Viktor die notigsten 
Ermahnungen hielt: »Herr Gevatter, wir konnen nicht ernsthaft 
und fleiBig genUg sein - es kann von diesem Feste noch an Orten 
gesprochen werden, wo es EinfluB hat - aber ein Mittelweg 



564 HESPERUS 

zwischen Fiirstenpracht und belgischer Knauserei wird, denk' 
ich, das vorteilhafteste Licht auf uns werfen.« - Es ging alles gut - 
sogar das Gewolk zerwarf sich - Klotilde wollte kommen - der 
Primas des Festes, dem zu Ehren der Kirchgang war, der kleine 
Sechswochner, memorierte laut an seiner RoIIe, die er nach funf 
Uhr zu machen hatte, und die, wie bei mehren Helden von Fest- 
lichkeiten, in nichts bestehen sollte als in Schlafen. — 

Das Memorieren bestand darin, daB er in einem fort wachte 
und schrie nach dem Busen, in dem der Schopfer ihm das erste 
Manna in der Lebenswiiste bereit gelegt. Aber nicht eher als um k 
funf Uhr stillte die Mutter ihn mit dem mutterlichen Schlaftrunk 
und lie 3 den kleinen Sprecher Kehldeckel und Augendeckel mit- 
einander schlieBen. Anfangs hatt' ichs beinahe - aus Achtung 
gegen die Pfarrerin - unterdriickt, daB sie saugte und so, gleich- 
sam wie ein Walfisch noch unter die Sdugetiere gehorig, an ihrem 
Busen ein andres Kind ernahrte als den Amor; aber ich schmei- 
chelte mir nachher, eine Person, die weder eine Theater- noch 
eine Kronprinzessin ist, werde nicht so strenge als andre beurteilt 
werden, wenn sie Kinder hat oder Milch. . . . 

Eh ich sage, daB Klotilde kam, will ich sie, da sie acht Quar- 20 
tiere hat - wiewohl mancher Magnat, der sechzehn adlige Quar- 
tiere hat, doch noch ein siebzehntes gemauertes sucht, wo er 
schlaft -, ein wenig entschuldigen, daB sie in ein burgerliches 
ging; es kommt ihr aber in der Tat nichts zustatten, als daB sie 
auf dem Lande war, wo oft das alteste Blut keinen bessern Urn- 
gang habhaft wird als biirgerlichen, wenns nicht etwan Vieh ist, 
das auch einige nicht unkluge Kavaliere wirklich vorziehen. . . . 

Es schlagt funf Uhr - die Schonste tritt herein - der Mond 
hangt wie ein weiBes Bliitenblatt aus dem Himmel auf sie herab - 
das freudige schuldlose Blut in St.Liine steigt wie die Flut unter 3 o 
ihm auf- alles ist umgekleidet. ... 

Aber das sechste Kapitel ist aus.... 

- Und da der Spitz mit dem siebenten noch nicht da ist: so 
konnen ich und der Leser ein verniinftiges Wort fniteinander 
reden. Ich gestehe, er schatzt mich und mein Tun lange, er sieht 
ein, alles ist im schonsten biographischen Gange, der Hund, meine 



6. HUNDPOSTTAG 565 

Wenigkeit und die Helden dieser Hundtage. - Ich habe auch nie 
abgeleugnet, daB er immer mehr von dem Glanz und Blitze dieser 
FuBgeburt werde geblendet werden; da ich so sehr daran wichse, 
reibe und bohne, mehr als an einem Menschenstiefel oder mili- 
tarischen RoBhuf in Berlin - Ja ich brauche aus keiner Tasse voll 
KafFeesatz es mir erst wahrsagen zu lassen (denn ich erseh' es 
schon aus der menschlichen Natur und aus dem KafFee, den ich 
trinke), daB das noch das Geringste ist, und daB die eigentliche 
Lesewut den guten Schelm erst dann befallen wird, wenn in die- 
to sem Werke, woran wie an der Basselisse zwei Arbeiter auf einem 
Stuhle seBhaft weben, die historischen Figuren dieser Basselisse 
samt ihrer Gruppierung von dem FuBballen bis zur Wirbelnaht 

hervorsteigen werden Jetzt ist ja kaum noch eine Ferse, ein 

Schienbein, ein Strumpf fertig gewiirkt . . . 

Aber wenn zwanzig bis dreiBig Ellen am Werke werden ab- 
gewoben sein : dann konnen ich und mein Beisitzer das erwarten, 
was ich hier schildern will: des Teufels vollig wird der Leser sein 
mit Eilen - einen Hundposttag hinauszubringen, lasset er sechs 
Schiisseln kalt werden und den Nachtisch warm - Doch was will 
20 dies sagen; einleibhafter romischer Konig reitedurch die StraBe, 
und ein Kanonendonner fahre hinterdrein, er horts nicht - seine 
Ehehalfte gebe in seinem Lesekabinett einem ehelichen Uberbein 
das beste Abendessen , er siehts nicht - das Uberbein selber hake ihm 
Teufelsdreck unter die Nase, es gebe ihm scherzend mit einem 
Waldhammer leichte Hiebe, er spurts nicht. . . so auBer sich ist er 
iiber mich, ordentlich nicht recht bei Sinnen. — 

Das ist nun das Ungluck, dessen GewiBheit ich mir vergeblich 
zu verbergen suche. Ists einmal da, und bring* ich ihn ungluck- 
licherweise in jene historische Hellseherei, wo er nichts mehr hort 
30 und sieht als meine mit ihm in Rapport gesetzte Personen, weder 
seinen Vater noch Vetter : so kann ich versichert sein, daB er einen 
Berghauptmann noch weniger hort- denn Geschichte will er, und 
von mir weiB er gar nichts mehr - ja ich will setzen, ich brennte 
die buntesten Feuerwerke des Witzes ab, ja es hingen aus meinem 
Maul philosophische SchluBketten, wie aus eines Taschenspielers 
seinem Bander, in Zaspeln heraus: hulFs mir was? - 



566 HESPERUS 

Dennoch miissen Bander heraushangen und Feuerwerke ab- 
brennen; es soil aber so werden: Wie von jedem Jahre so viel 
Stunden ubrigbleiben, daB aus den Oberbleibseln von vier Jahren 
ein Schalttag zu machen ist - und wie mir selber nach vier Hund- 
posttagen allezeit so viel Nachschriften, so viel Witz und Scharf- 
sinn ganz unniitz als Ladenhuter liegen bleiben, daB daraus recht 
gut ein eigner Schalttag zu machen ware: so soil er auch gemacht 
werden, sooft vier Hund-Dynastien voruber sind ; nur dies braucht 
es noch, daB ich vorher mit dem Leser folgenden Grenz- und 
Hausvertrag abschlieBe und ratifiziere, also und dergestalt: i< 

I. DaB von seiten des Lesers dem Berghauptmann auf St. Jo- 
hannis fur ihn und seine Erben zugestanden und bewilligt werde, 
von nun an nach jedem vierten Hundposttage einen witzigen und 
gelehrten Schalttag, in dem keine Historie ist, zu verfertigen und 
drucken zu lassen. 

II. DaB von seiten des Berghauptmanns dem Leser bewilligt 
wird, jeden Schalttag zu uberschlagen und nur die Geschichttage 
zu lesen — wofur beide Machte entsagen alien beneficiis juris - 
restitutioni in integrum - exceptioni laesionis enormis et enor- 
missimae - dispensation! - absolutioni etc. Auf dem KongreB zu 20 
St.Johannis den 4ten Mai 1793. 

So lautet das echte Instrument des so bekannten Hund-Ver- 
trags zwischen dem Berghauptmann und Leser, und diese Renun- 
ziationsakte kann und muB in zukiinftigen MiBhelligkeiten beider 
Machte von einem Mediateur oder einem Austragalgericht einzig 
zum Grunde gelegt werden. 



* 7. HUNDPOSTTAG 

Der groBe Pfarr-Park - Orangerie - Flamins Standes-Erhohung - Fest- 
Nachmittag der hauslichen Liebe - Feuerregen - Brief an Emanuel 

Den Lord ausgenommen, sitzt schon alles im Pfarrgarten und 30 
passet auf mich; aber den Garten kennt noch kein Henker. Er ist 
eine Chrestomathie von alien Garten, und doch nicht groBer als 



7. HUNDPOSTTAG 567 

die Kirche. Viele Garten sind wie er zugleich Kiichen-, Blumen-, 
Baumgarten; aber er ist noch ein Tiergarten - wie er denn die 
ganze Fauna von St.Lune enthalt - und noch ein botanischer - 
mit der vollstandigen Flora des Dorfs ist er bewachsen - und ein 
Bienen- und Hummelgarten - sooft sie gerade hineinfliegen. In- 
dessen sollte man doch solche kleinere Vorziige gar nicht nam- 
haft machen, wenn ein Garten wie er einmal den hat, daB er der 
grbBte englische ist, durch den je ein Mensch schritt. Er verbirgt 
nicht nur sein Ende - wie jeder Park gleich jeder Kasse tun muB -, 

a sondern auch seinen Anfang und scheint bloB die Terrasse zu 
sein, von der man in das hineinsehen kann, was man nicht uber- 
sehen, aber wohl wie Cook umfahren kann. Im englischen Pfarr- 
garten sind nicht einzelne Ruinen, sondern ganze zerschlagene 
Stadte, und die groBten Fiirsten haben sich um die Wette beeifert, 
ihn mit romantischen Wiisten und Schlachtfeldern und Galgen 
zu versorgen, an die noch dazu (das treibt die Tauschung hoher) 
wahre Spitzbuben gebunden sind als Fruchtgehange. - Die Ge- 
baude und Gestrauche verschiedener Weltteile sind darin nicht 
in eine widersinnige Nachbarschaft zusammengetrieben, sondern 

o durch ordentliche Meere oder Wasserpartien nett auseinander ge- 
stoBen, welches bei dessen GroBe leicht gewesen, da er iiber neun 
Millionen Quadratmeilen halt - und mit welchem Geschmack 
iiberhaupt diese Massen aneinander gelagert sind, mogen die 
Leser daraus ermessen, daB alle Lords und alle Rezensenten der 
Literaturzeitungen und die Leser selber in den Garten gezogen 
sind und oft sechzig Jahre darin bleiben. - 

Der Pfarrer denkt, mit ihm auch als hollandischem Garten 
einige Ehre einzulegen, besonders durch eine Periicke aus Wasser, 
die nicht an einem Peruckenstock, sondern an einem Blechauf- 

o satze hangt, und die so Iockig springt, daB schon mehre Stadt- 
pfarrer wunschten, sie konnten sie aufsetzen. Schmetterling- 
Glaskasten wendeten die Nachtkalte von friihzeitigen Rosen aus 
Seide ab und von Friihgurken aus Wachs. Gurken, die aus wahren 
Gurken bestanden, legte er unter alien Pastoren am friihesten ein, 
um in die Angst zu geraten, sie konnten erfrieren; denn diese 
Angst muBt' er haben, um sich zu freuen, wenn eine Glasflasche 



5 68 HESPERUS 

in seinem Hause zerbrochen wurde: er konnte dann den Eis- oder 
Glasberg, der in den Weinen leider jahrlich mit unserem Durste 
steigt, in den Garten tragen und mit dieser Mistglocke die Herz- 
blatter iiberbauen. - Um wichtigere Beete fiihrte er einen bunten 
musivischen Scherbenrand; seine Familie war seine Randelma- 
schine, ich meine, sie muBte ihm die wenigen Porzellantassen zer- 
brechen, die er brauchte, um mit diesem bunten Streuzucker an- 
sehnlichere Partien zu heben, wie ein Fiirst sich mit den bunten, 
durch die Knopflocher seiner Vorzimmer gezognen Ordensban- 
dern einfasset und beringet. Da er die Tassen nicht gani um die 1 
Beete setzen konnte, sondern erst durch seine Scheidekiinstler 
zerlegt: so muB ein Rezensent, der bei ihm isset, meinen Wink 
benutzen, um sichs zu erklaren, wenn ein solcher Lungensiichtiger 
nicht vor Zorn auBer sich ist, sobald sehr kostbares Geschirr zer- 
brochen' wird; denn bloB bei elendem ist er seiner nicht machtig. 
Jede Ehefrau sollte ein solches Beet als Arndts Paradiesgartlein, 
als Schadelstatte fur Porzellan von gednderter Fagon abstechen, 
zum Besten ihrer Seele, um bei Sinnen zu bleiben, wenn eine Tasse 
fallt - »Schatz!« wiird* ich sagen, »halte dieses Ungliick wie eine 
Christin aus, es niitzt dir entweder dort in der Ewigkeit oder hier 2 
- im Garten.« 

Nahe an einem Hause nehmen sich die hollandischen Garten- 
schnorkel mit ihrer hauslichen Winzigkeit besser aus als die er- 
schiitternde Natur mit ihrer ewigen Majestat. Eymanns geschnitz- 
ter Pfarrgarten war im Grunde bloB eine fortgesetzte Wohnstube 
ohne Dach und Fach. 

Als der Pfarrer unsern Viktor im Garten herumzerrete, hatte 
der Gast beinahe vergessen, das Ideenmagazin im Garten zu 
loben, bloB weil er zu neugierig und zu warm der Ankunft KIo- 
tildens und ihrem Benehmen gegen seinen Freund entgegensah. 3 < 
Zum Gliicke fiel es'ihm ein, daB der Pfarrer auf Rauchopfeir und 
Rauchfasser sich spitze; er hinterging ein Lorbeer-hoffendes Herz 
so ungern, daB er sich eben darum gern zu Personen von einigem 
Werte hielt ? um seinem menschenfreundlichen Hange,zu loben, 
ohne Kosten der Wahrheit nachzugeben. 

Viktor freuete sich auf Flamins und Klotildens Zusammen- 



7. HUNDPOSTTAG 569 

kommen: wie schon, dacht* er, wird auf sein und ihr stolzes Ge- 
sicht der Mondschein der weichen Liebe fallen ! - Und er hielt eine 
reichliche Duldung und Liebe fur ihre Liebe vorratig. Denn er 
hatte nicht nur so viel Einsicht in die Flucht unsrer Freuden, daB 
er kaum uber die tollsten zankte: sondern er konnte auch dem 
HandwerkgruB (oder der Methodologie) zweier Liebenden mil 
Vergnugen beiwohnen. »Es ist sehr toll« - sagt* er in Gottingen - 
»jeder gute Mensch tut seine Arme teilnehmend auf, wenn er 
Freunde oder Geschwister oder Eltern in den ihrigen sieht; wenn 

o aber ein Paar verliebte Schelme vor uns am Seile der Liebe her- 
umtanzen, und war's auf dem Theater, so will kein Henker Anteil 
nehmen - sie miiBten denn in einem Romane tanzen. Warum 
aber? - Sicher nicht aus Eigennutz, sonst blicbe das holzerne Herz 
im Menschenklotz auch bei fremder Freundschaft, bei kindlicher 
Liebe fest genagelt - sondern weil die verliebte Liebe eigennutzig 
ist, sind wirs auch, und weil sie im Roman es nicht ist, sind wirs 
auch nicht. Ich meines Orts denke weiter und mache mir von 
jedem verliebten Gespann, das mir begegnet, weis, es ware ge- 
druckt und eingebunden, und ich hatte es vom Bucherverleiher 

■o fiir schlechtes Lesegeld. Es gehort zur hohern Uneigenniitzig- 
keit, sogar mit dem Eigennutz zu sympathisieren. - Und vollends 
mit euch armen Weibern! WiiBtet ihr oder ich denn in eurem 
vernahten, verkochten, verwaschnen Leben oft, daB ihr eine 
Seele hattet, wenn ihr euch nicht damit verliebtet? Manche von 
euch brachte in langen Tranenjahren ihr Haupt nie empor als am 
sonnenhellen kurzen Tage der Liebe, und nach ihm sank das be- 
raubte Herz wieder in die kuhle Tiefe: so liegen die Wasser- 
pflanzen das ganze Jahr ersauft im Wasser, bloB zur Zeit ihrer 
Bliite und Liebe sitzen ihre heraufgestiegenen Blatter auf dem 

jo Wasser und sonnen sich herrlich und - fallen dann wieder hinab.« 
Endlich trat Klotilde mit der Pfarrerin in einem Gesprache 
herein. Sie hatte einen Florhut mit einem schwarzen Spitzen-Fall- 
gitter auf, das mit einem durchbrochnen Schatten ihr schones An- 
gesicht zugleich verschonerte, teilte und verbarg. Aber ihr Auge 
vermied Flamins Auge und schlich ihm nur zuweilen denkend 
nach. Er bewies, daB gerade Leute vom groBten Mute den klein- 



57° HESPERUS 

sten gegen Schonheit zeigen - er tat ihr nicht einen Schritt ent- 
gegen. Sie fragte unsern Viktor angelegentlich iiber die Ankunft 
und iiber das Befinden des Lords. Sie legte ihm dann mit der ge- 
wohnlichen medizinischen Unbestimmtheit ihres Geschlechts die 
Frage vor, ob eine solche Operation ofters so leicht gerate, und 
ob er vielen schon so viel wiedergegeben als seinem Vater; er ver- 
neinte beides, und sie seufzete unverhohlen. Seine ehrerbietige 
Entfernung von ihr ware durch die, worin sein Freund sich von 
ihr hielt, grofier geworden, hatt* er ihr nicht etwas zu geben ge- 
habt — Emanuels Zettel. Er konnte ihn nicht stehlen, da er ihr neu- i 
lich schon die erste Zeile vorgesagt; zweitens muBt* er ihn unter 
vier Augen - nicht z.B. durch Agathen - zustellen, weil :er ihre 
bis an die auBerste Grenze getriebne Diskretion kannte. Klotilde 
gehorte unter die - dem Lebensbeschreiber und dem Helden be- 
schwerlichen - Personen, die gern alles Kleine verbergen, z.B. 
was sie essen, wohin sie morgen gehen, die auf den Freund toll 
werden, wenn er ausplaudert, sie batten voriges Jahr am Thomas- 
tage leichte Kopfschmerzen gehabt. Bei Klotilden kams nicht von 
Furcht, sondern von der dunkeln Ahndung, daB der, der gleich- 
giiltige Mysterien ausschwatze, endlich wichtige sage. Er fiihlte, 2 < 
ihres Stolzes ungeachtet, gegen sie einen machtigen Zug zur Auf- 
richtigkeit. Er fuhrte sie allein dem Pomeranzenbaume zu und 
gab ihr dort - indem er ihr durch seine ofTenherzige Leichtigkeit 
die beschwerliche Verbindlichkeit fur ein Geheimnis ersparte — 
das Blatt zuriick. Sie erstaunte, sagte aber sogleich: ihr Erstaunen 
gehe bloB ihre eigne Nachlassigkeit an - d.h. sie glaubte ihm, 
hatt' aber irgendeinen Verdacht gegen ihre SchloBgenossen und 
gegen die Art, wie es in die Laube gekommen. Sie machte sich die 
Orangerie zunutze und drangte ihr beseeltes Angesicht in die 
Pomeranzenbluten. Viktor konnte unmoglich so dumm allein 3= 
dort stehen - er, noch ein wenig betroffen iiber das Erstaunen und 
am Ende iiber einen fast zu groBen Stolz, wurde auch liistern nach 
dem Pomeranzenweihrauch und hielt ihr darin.sein Gesicht ent- 
gegen. Er hatte aber wissen sollen, daB einer, der an etwas riecht, 
nicht auf das Etwas blicke, sondern geradeaus. Er war also kaum 
mit seinen Geruchnerven in den Bliiten, so schlug er seine Augen 



7. HUNDPOSTTAG 571 

auf, und Klotildens groBe standen ihm offers entgegen; sie waren 
gerade in der wirksamsten und hochsten Erhebung von 45 , man 
mag nun Augen oder Bogenschiisse meinen. Er drehte seine Aug- 
apfel gewaltsam auf die Blatter nieder, sie trat, noch kluger, von 
der betaubenden Orangerie zuruck. 

Gleichwohl war sie nicht verlegen ; er hielt es fur Unrecht gegen 
Flamin,ihre Gesinnungen gegen ihn selber zu beobachten; aber 
so viel merkte er doch, daB die Sternwarte, auf der man die Stern- 
bedeckungen ihres Herzens beobachten wollte, hoher sein miisse, 

» als gegen andre Weiber notig ist. Die Gewohnheit, bewundert 
zu werden, hatte sie gegen die Vorspieglung des Eindrucks ihrer 
Reize, mit der sich die Manner so oft die Aufmerksamkeit der 
weiblichen Eitelkeit erwerben, fest gemacht. Sie war, wie gesagt, 
nicht verlegen : sondern erzahlte ihrem Zuhorer noch etwas von 
Emanuels Charakter, was sie neulich vor so unheilige Ohren aus 
Achtung fur ihren Lehrer nicht bringen wollte - daB er namlich 
gewiB glaube, er werde nach einem Jahre in der Johannis-Mitter- 
nacht sterben. Viktor konnte leicht erraten, daB sie es selber glau- 
be; aber das erriet er nicht, daB diese Stolze aus bloBer Weichheit 

, des Herzens ihren Termin, zu Johannis aus Maienthal zu'ziehen, 
beschleunigt habe, um nicht dem geliebten Menschen an dem 
Namentage des kiinftigen Sterbetages zu begegnen. Zufolge ihrer 
Erzahlung hatte dieser Emanuel eine hart erhabne Stellung unter 
den Menschen : er war allein, an seiner Brust waren groBe Freunde 
gewesen - aber alles war ihm unter die Erde gegangen - darum 
wollt* er auch sich darunter verhiillen. Die Jahre geben den stiir- 
mischen uberkraftigen Menschen eine schonere Harmonie des 
Herzens, aber den verfeinerten kalten Menschen nehmen sie mehr, 
als sie geben; jene Kraftherzen gleichen den englischen Garten, 

3 die das Alter immer griiner, voller, belaubter macht; hingegen der 
Weltmann wird, wie ein franzosischer, durch die Jahre mit aus- 
gedorrten und entstellten Asten iiberdeckt. 

Viktor wurde angstlicher; jedes Wort, das er ihr abgewann, 
hielt er fur Tempelraub an seinem Freund, da ohnehin der letzte 
nicht so gut als er die Kunst verstand, mit einer Frau in ein Ge- 
sprach zu kommen. Jener hatte nicht den Mut zu glanzen, weil 



572 HESPERUS 

er dadurch um ihren Beifall mit seinem Freunde zu wetteifern 
besorgte. Sein Flamin kam ihm heute langer, schoner, besser vor; 
und er sich kiirzer und diimmer. Er wiinschte tausendmal, sein 
Vater ware schon da, damit er ihm Flamins Bitte, ihm Klotildens 
Besitz leichter zu machen, mit dem groBten Feuer iibergeben 
konnte. 

Endlich kam er, und Viktor atmete wieder voll. Der gute, 
Mensch sucht oft durch aufopfernde Taten sein Gewissen wieder 
mit seinen Gectanken auszusohnen. Mit herzklopfendem Enthu- 
siasmus wartete er auf die Minute der Einsamkeit. Ein Garten ver- i 
einzelt und verbindet Leute auf die leichteste Weise, und nur dar- 
in sollte man Geheimnisse verteilen; Viktor konnte bald in einer 
Laube, die sich an vier Kastanienbaumen mit Bliiten-Geader uber 
den Menschen zusammennistete, mit geriihrtem Zittern seinen 
Vater umfassen und fiir seinen Freund sprechen und gluhen mit 
Zunge und Herz. Des Lords Uberraschung war groBer als dessen 
Running. »Hier« (sagt' er) »ist deine Bitte auf eine andere Art 
langst erfiillt; ich wollte dir aber das Vergniigen der Botschaft 
aufheben« - und damit gab er ihm ein allerhochstes Handbillet, 
worin der Fiirst den praktizierenden Advokaten Flamin zum Re- 2c 
gierungrat beruft. 

Ein allerhochstes Handbillet ist das Tetragrammaton und Gna- 
denmittel, das die iibernaturlichen Wirkungen und Staats-Wun- 
der tut; und der durchlauchtige Schreib-Daumen ist gleichsam 
ein zauberischer Diebs-Daumen, der die verschiedenen Rader der 
Staats-Repetieruhr, das Heberad, das Zifferblattrad, oft bloB den 
Zeiger voraus- oder zuruckstoBet, je nachdem er eine Stunde 
friiher oder spater begehrt. Daher steigen oft Minister hinauf und 
schneiden sich einen solchen Diebs-Daumen fiir ihre Taschen ab. 

Sebastian wird von der Freude wie von Habakuks Engel beim y 
Schopfe erfaBt und durch den Garten gefiihrt und mit seiner No- 
velle an den ersten besten getrieben - an den Kaplan, welcher mit 
einem narrischen Gesicht beschwor, es waren nur Finten von 
Viktor; aber der verhaltene Jubel sprengte ihm fast die zugebun- 
dene Ader auf. Viktor hatte keine Zeit, zu widerlegen; sondern 
eilte mit einer solchen Botschaft an das rechte Herz, in das sie ge- 



7. HUNDPOSTTAG 573 

horte - ans miitterliche. Die Mutter konnte ihren Mund zu nichts 
als einem seligen Lacheln ofFnen, in das die Augen ihre Freuden- 
tropfen gossen. In der Natur ist keine Freude so erhaben ruhrend 
als die Freude einer Mutter iiber das Gluckeines Kindes. Aber der 
Sohn, in dessen heutiger Seele dieser Sonnenblick des Schicksals 
notig war, wurde in der Oberraschung nicht sogleich gefunden. 
Der Lord sprach unterdessen mit Klotilden wie mit seiner 
Tochter und gab ihr einen Brief von ihrer Mutter und die Nach- 
ncht seiner nahen Abreise. Sein von Achtung geleitetes und von 

» Feinheit verschonertes mannliches Wohlwollen veredelte ihre 
Aufmerksamkeit auf seine Mienen, und als sie aus dem warmen 
leisen Gesprach mit glanzenden Augen ging, war ihre hohe Ge- 
stalt, die sich sonst cin wenig buckte, von einer Begeisterung zum 
erhabnen Wuchse aufgerichtet, und sie stand unendlich schon in 
dem Tempel der Natur, wie eine Priesterin dieses Tempels. — Der 
Lord entfernte sich von ihr. - Sie fand Flamin am Tulpen-K, und 
die Gottin des Gliicks erschien ihm in der holdesten menschge- 
wordnen Gestalt, urn ihm ihr Geschenk zu liefern. Freilkh setzte 
ihn hier die Zeitung und die Zeitungtragerin in gleiches Ent- 
zucken. 

Die Freude hatte den ganzen Bienen-Garten in einem Schwarm- 
sack zum Chaos zusammengeruttelt. Die schaumende Wein- 
garung muBte sich erst zum hellen stillen Entziicken abarbeiten. 
Der Lord ging der mit so vielen Ripienstimmen besetzten Dank- 
barkeit aus dem Wege und an seinen Wagen, als ihn die Mutter 
mit ihrer stummen Herzensfulle erreichte; aber sie konnte nichts 
aus der froh beschwerten Brust auf die Lippen heben als die de- 
miitigen Worte: »heute sei sein Geburttag, iind sein Sohn wiss* 
es nicht und habe auch mit einer Entziickung uberrascht werden 

, soIlen.« Er wollte ihr mit einem dankbaren Lacheln entfliehen und 
sagte, dai3 er zum Fiirsten zuriickzueilen habe, der vielleicht auf 
eben diesen Tag eine so giitige Riicksicht genommen wie sie; 
allein Sebastian holte mit dem gefundnen Freund ihn an der Gar- 
tenschwelle ein, und der eilende Lord verspatete sich noch durch 
eine schnelle Umarmung seines Sohnes. Erst als er weg war, faBte 
die Mutter, die ihre Liebe zu entladen suchte, Viktors Hand zart- 



574 HESPERUS 

Hch an und yergaB die Abrede und fragte: »0 Teuerster! warum 
haben Sie ihm denn nicht Gliick gewiinscht zu seinem Geburt- 
tage? Denn ich konnte ja nicht.« Jetzo verstand und fuhlte ererst 
die schnelle Umarmung des Vaters und breitete die Arrhe nach 
ihm aus undwollte sie erwidern. 

Dariiber traf auch der alte Pfarrer aus dem Garten ein und sagte 
wie narrisch: »Ich wollt*, er ware Regierungrat«; aber die Frau 
sagte, ohne darauf zu antworten, mit iiberflie Bender Stimme und 
Liebe zu ihm: »So ein Wiegenfest hast du noch nicht erlebt wie 
heute, Peter !« Agathe sah sie fragend und zurechtweisend an. n 
»Fahre nur damit heraus« - sagte sie und umfmg die zwei Kinder 
und zog beide in die vaterliche Umarmung hinein -»und wiinscht 
eurem guten Vater lange Tage und noch drei begliickte Kinder.«- 

Der Vater konnte nichts sagen und streckte die Hand nach der 
Mutter entgegen, um die Gruppe des liebenden Edens zu runden. 
Viktors sympathetisches Blut haufte sich in sein Herz, um es in 
Liebe aufzulbfcen, und er dachte das stille Gebet : »ReiBe nie diese 
verschlungnen Arme, du Allgiitiger, durch ein Ungluck ausein- 
ander !« - Aber Flamin zog sich bald aus der Verkettung und sagte 
zu Viktor mit dem dankbarsten Handedruck : »Du weiBt nicht, wie 20 
unrecht ich dir immer tue.« Der Kaplan dachte, er werde alien 
seine Ruhrung verstecken, wenn er sage: »Ich wollt', ich hatt* 
euch nicht betrogen. - Ich habe zur Ader gelassen, es ist aber 
dumm - hatt' ichs nur gewuBt! - hatt' ichs nur nicht! - Wahr- 
lich, da sehts selber!« - Und als diese Maske nicht hinreichte, 
seine ganze geriihrte Seele zu bedecken, rief er der armen ver- 
gessenen Apollonia, die an der Haustiir den erwachten Bastian 
schwenkte, iiberlaut zu, herzukommen. Allein diese Arme, deren 
bloB entfernte freudige Teilnahme an der allgemeinen Annahe- 
rung unsern Viktor im Innersten ruhrte, zogerte scheu, bis die }0 
Mutter kam und sie schadlos hielt durch alles, was den Muttern 
nie vergolten wird. Aber erst als die Pfarrerin ihr Kind in ihren 
Armen und an ihren Lippen hatte, fuhlte sie, daB die gefangnen 
Flammen ihrer Gefuhle ihre Offhung fanden und ihr Herz seine 
Erleichterung. - 

O ! daB der Mensch gerade zu der Zeit die schonste Liebe emp- 



7* HUNDPOSTTAG 575 

fangt, wo er sie noch nicht versteht - O, daB er erst spat im 
Lebensjahre, wenn er seufzend einer fremden Eltern- und Kinder- 
liebe zusieht, hofFend zu sich sagt: »Ach meine haben mich gewiB 
auch so geliebt« - ach daB alsdann der Busen, zu dem du mit dem 
Danke fur ein halbes Leben, fur tausend verkannte Sorgen, fur 
eine unaussprechliche, nie wiederkehrende Liebe eilen willst, 
schon zerdriickt Hegt unter einem alten Giabe und das warme 
Herz verloren hat, das dich so lange geliebt!... 

In der hauslichen Gliickseligkeit sind die windstillen, zwischen 

io vier engen Wanden vorgetriebnen bequemen Freuden nur der zu- 
falligste Bestandteil : ihr Nerven- und Lebensgeist sind die lodern- 
den Feuerquellen der Liebe, die aus den verwandten Herzen in- 
einander springen. - 

Die unwillkiirliche Oberraschung hatte die willkiirlichen ver- 
eitelt. Aber die Freudenflut hatte alle Personen zusammenge- 
stromt; und sie blieben noch in der vertraulichen Nahe, als jene 
wieder verlaufen war. Man setzte sich zum Gastmahl im Garten- 
haus. Selten sind Schmause so wie dieser durch zwei auBerordent- 
liche Vorziige gewiirzt, durch Mangel an Essen und Mangel an 

20 Platz. Nichts reizt den Appetit so sehr als die Besorgnis, er finde 
nicht satt. Es war von Sebastian ausgesonnen, daB fur jeden Gast 
nur das Leibgericht besorgt wurde - fiir den Pfarrer farcierte 
Krebse und Erdapfelkase - fiir Flamin Schinken - fiir den Helden 
das Gemiise vom guten Heinrich. - Jeder wollte jetzo das Leib- 
gericht des andern, und jeder subhastierte seines. Sogar die Damen, 
die sonst wie die Fische essen und nicht essen, bissen an. Der 
zweite berauschende Bestandteil, den sie in ihren Freudenbecher 
geworfen hatten, war der Tisch samt Gartenstube, wovon jener 
die Kost, diese die Kostganger nicht faBte. Sebastian hatte sich 

3 o samt Agathen an ein Filialtischchen, das man auBen ans Fenster 
des Speisesaales gestoBen, begeben, bloB um drauBen mehr hin- 
einzularmen und zu klagen als zu essen. Dieser Mutwille war im 
Grunde die verdeckte Bescheidenheit,welchebefiirchtete,drinnen 
auf Kosten der andern Gaste, des Lords wegen, gefeiert zu werden. 
Sein eignes Alleinsein - vielleicht in einem schmerzlichen Sinn - 
make ihm die blode Appel vor, die als Herd-Vestalin erst von zu- 



57<> HESPERUS 

riickgehenden Speisen den Riickzoll aB, bloB um zu versuchen, 
wie es andern geschmeckt. Er konnte den Gedanken dieser Ab- 
trennung nicht langer erdulden, sondern nahm Wein und das 
Beste vom Nachtisch und trug es ihr in ihr Kuchen-Winterquar- 
tier hinein. Da er dabei auf seinem Gesicht statt seiner Munterkeit 
gegen Madchen, von def sie eine zu demutige Auslegung hatte 
machen konnen, den groBten hof lichen Ernst ausspannte : so war 
er so gliicklich, einer von der Natur selber zusammengedruckten 
Seele — die hier in keinem andern Blumentopf ihre Wurzeln her- 
umtreibt als in einem Kochtopf, und deren Konzertsaal in der 10 
Kiiche, und deren Spharenmusik im Bratenwender ist - einen 
goldnen Abend gegeben zu haben und ein geluftetes Herz und 
eine frohe lange Erinnerung. Kein Boshafter werfe einer solchen 
guten Schneckenseele seine Faust in den Weg und lache dazu, wie 
sie sich hinuberqualt - und der Aufgerichtete biicke sich gern und 
hebe sie sanft uber ihre Steinchen weg — 

Klotilden anlangend, so gings vor dem Essen recht gut; aber 
nachher recht schlecht. Ich rede von Sebastian, der nach der beim 
Lord eingelegten Bittschrift froher und leichter war und mit Klo- 
tilden wahrhaftig so freimutig sprach, als ware sie eine - Braut. 20 
Denn er hatt' es schon im Hannoverischen gesagt: »es gebe kein 
langweiligeres und heiligeres Ding als eine Braut, besonders eines 
Freundes seine; lieber woll* er an die murben Pandekten in Flo- 
renz oder an einen Wiener heiligen Leib im Glasschrank streifen 
und tippen als an sie.« - Oberhaupt wars schwer, sich in Klotilde 
zu verlieben; ich weiB, der Leser hatt' es nicht getan, sondern sich 
kalt wieder fortgemacht. »Ihre griechische Nase unter der fast 
mannlich breiten Stirne«, hatt' er gesagt, » - diese Schwester-Nase 
aller Madonnen und dieses seltne Grenzwildpret auf deutschen Ge- 
sichtern -, ihre stillen, aber hellen Augen, die auBer sich nichts 5Q 
suchen, dieser britische Ernst, diese harmonische denkende Seele 
erheben sie uber die Rechte der Liebe. - Wenn diese majestatische 
Gestalt auch lieben wollte: wer hatte den Mut, ihr seine darauf 
zu bieten, und wer ware so eigenniitzig, um das Geschenk eines 
ganzen Himmels einzustecken, oder so stolz, um sein Herz 
als Dampfkugel in ihres zu schieBen und damit diese stille 



7- HUNDPOSTTAG 577 

sinnende Heiterkeit zu benebeln?« - Der Leser lieset sich selber 
gern. - 

Aber nach dem Essen gings anders. Unter Viktors Gehirn- 
hauten hatte irgendein Poltergeist im innern Schriftkasten alle 
Lettern seiner Ideen so untereinander geworfen, daB er bisher 
lustig, aber unzufrieden war - er hatte versucht, Agathens Haare 
auf- und abzulocken, ihre Doppelschleifen in ungleiche und eben 
darum wieder in gleiche Halften- zu zerren - aber es hatt' ihm 
nicht wie sonst gefallen — die heutigen Zwischenspiele der haus- 
to lichen Liebe hatten seine ganze scherzende Seele aus den Fugen 
gezogen, und es war ihm, als wenn er, entfernt von der jetzigen 
Freude, wenigstens auf einige Minuten froher sein wurde in ir- 
gendeiner stillen Ecke, und besonders sehnt' er sich, die Sonne 
untergehen zu sehen. 

Dazu kam noch mehr: der Anblick von Klotildens warmerer 
Liebe gegen Agathe - der Anblick seines Freundes, der durch 
seine schweigende Zartlichkeit, durch seine mildereStimme, durch 
eine an heftigen Menschen so unwiderstehliche Ergebenheit jedem 
Herzen befahl : liebe mich ! - und endlich der Anblick der Nacht . . . 
to Er war schon Jangst traurig, als er noch lustig schien. Jetzo 
brachte die Mutter den kleinen Held des heutigen Vormittags in 
den lauen Abendhimmel heraus. Sie standen alle auBerhalb der 
Garten-Stiftshutte, im ersten Tempel des andachtigen Menschen. 
In die Wolken floB das Abend-Blut der versinkenden Sonne, wie 
ins Meer das Blut seiner in der Tiefe sterbenden Riesen. Das 
lockere Gewolke langte nicht zu, den Himmel zu decken; es 
schwamm um den Mond'herum und lieB sein bleiches Silber aus 
den Schlacken blicken. 

Das rote Gewolke schminkte den Saugling. Jeder fassete leise 
10 seine weichen Hande, die schon aus der Kissen-Knospe und 
Wickelbander-Verpuppung brachen. Klotilde - anstatt an den 
Kleinen korperliche kokette Liebkosungen zu verschwenden, wie 
manche Madchen vor oder fur Mannspersonen tun - goB einen 
fortstromenden Blick voll herzlicher Liebe auf den neuen Men- 
schen nieder, band seine schneidenden Hemd-Armel auf, ver- 
bauete ihm den angeschielten Mond und sagte spielend: »Lachle 



578 HESPERUS 

her und liebe mich, Sebastian! <{ Sie konnte unmoglich metapho- 
rische Rikoschet-Schusse in diese Zeile laden; auch wuBte der 
groBe uneingewickelte Sebastian recht gut, daB sie keinen Doppel- 
sinn vorausgesehen; ja er kannte die Regel, daB man aus der 
Angstlichkeit, womit einige gewisse Gedanken aus ihrem Spre- 
chen bannen, die Gegenwart derselben in ihrem Kopfe errate. 
Gleichwohl hatt' er doch nicht den Mut, zu lacheln wie die andern, 
oder das von ihr beriihrte Handchen in seines zu nehmen. Sie 
kehrte skh zu ihm und sagte: »Aber wie lernt das Kind unsere 
Sprache, wenn $s nicht schon eine kannFn 1 

. , Ich nab* es bloB aus Liebe zu den Weltweisen mit Schwa- 
bacher drucken lassen. 

»Also muB«, antwortete er, »die pantomimische Sprache gerade 
so viel bezeichnen wie die Ohrensprache. - Sooft ich einen Taub- 
stummen zum Abendmahl gehen sehe, denk' ich daran, daB aller 
Unterricht nichts in den Menschen bringe, sondern nur das Da- 
gewesene bezeichne und ordne. — Die Kindesseele ist ihr eigner 
Zeichenmeister, der Sprachlehrer der Kolorist derselben.« - »Wie,« 
fuhr sie fort, »wenn dieser schone Abend einmal wieder vor die 
Erinnerung dieses Kleinen kame? Warum sieht das sechste Jahr : 
schoner in der Erinnerung aus als das zwolfte, und das dritte noch 
schoner?« - Eine schone Frau unterbricht man nicht so leicht wie 
einen Exdekan ; sie durfte also darauf kommen : »Herr Emanuel 
sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre ver- 
gangnen erzahlen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken 
konnten bis ins zweite neblichte hinein.« Mir ist, als hort* ich die 
oben gedachte Hofdame leibhaftig sprechen, unter deren diinnen 
Blonden mehr Philosophic blieb als unter manchem Doktor-Filz- 
hut, wie Quecksilber im Flor beklebt und durch Leder rinnt. - 
Viktor antwortete mit der gewohnlichen Teilnahme seines guten ; 
Herzens : »Emanuel steht nahe am Menschen und kennt ihn — Den 
umgaukelten Menschen fuhren zwei Prospektmalerinnen durch das 
ganze Theater, die Erinnerung und die Hoffnung - in der Gegen- 
wart ist er angstlich, das Vergniigen wird ihm nur in tausend lilli- 
putische Augenblicke eingeschenkt wie dem Gulliver; wie soil 
das berauschen oder sattlgen? - Wenn wir uns einen vergniigten 



7- HUNDPOSTTAG 579 

Tag vorstellen, so drangen wir ihn in einen einzigen freudigen 
Gedanken; kommen wir hinan, so wird dieser Gedanke unter den 
ganzen Tag verdunnt.« - 

»Daran denk' ich,« versetzte sie ,»sooft ich durch Wiesen gehe: 
in der Feme stehen Blumen an Blumen - aber in der Nahe sind sie 
alle durch Gras auseinander geriickt. - Aber am Ende wird doch 
audi die Erinnerung bloB in der Gegenwart genossen.« . . . Viktor 
dachte bloB iiber die Blumen nach und sagte vertieft: »Und in der 
Nacht sehen die Blumen selber wie Gras aus« - als es plotzlich zu 

:° tropfen anfing. 

Sie traten alle feierlich in das Gartenhaus, auf dessen Dache 
der Regen aufschlug, indes in die offnen Fenster der auf- und zu- 
gedeckte Mond wie ein Gietscher seine Schneeblitze hineinwarf- 
der laue Bliiten-Atem der ganzen leuchtenden Landschaft hauchte 
jeden menschlichen Seufzer, jeden schweren Busen heilend an. - 
In dieser engen Nahe, durch die mit dem Monde abwechselnde 
Nacht abgeschieden von der Natur, muBte man zur Nachbar- 
schaft, zum alten Klaviere fliichten. Klotildens Stimme konnte die 
FIoten-Begleitungdes auBern Regen-Gelispels sein. Die Pfarrerin 

w bat sie darum, und zwar um ihre Lieblingarie aus Bendas Romeo : 
»Vielleicht, verlorne Run* ! vielleicht find' ich dich im Grabe wie- 
der« etc., ein Lied, dessen Tone wie feine auf losende Diifte in das 
Herz durch tausend Offnungen dringen und darin beben und im- 
mer starker beben, bis sie es endlich zerzittern und nichts von ihm 
in der harmonischen Vernichtung xibrig lassen als Tranen. 

Klotilde willigte ohne zogernde Eitelkeit in das Singen ein. 
Aber fur Sebastian, in welchem alle Tone an nackte zitternde 
Fiihlfaden schlugen, und der sich schon mit den Gesangen der 
Hirten auf dem Felde traurig machen konnte, war dieses an einem 

solchen Abend fur sein Herz zu viel; wahrend der musikalischen 
Aufmerksamkeit der andern muBt' er zur Ttire hinausgehen . . . 

Aber hier unter dem groBen Nachthimmel konnen unter hohere 
Tropfen ungesehen seine fallen - Welche Nacht! - Hier schlagt 
ein Glanz iiber ihn zusammen, der Nacht und Himmel und Erde 
aneinanderreiht, die magische Natur drangt sich mit Stromen ein 
ins Herz und macht es gewaltsam groBer. - Oben fiillet Luna die 



580 HESPERUS 

wehenden Wolken-Flocken mit flussigem Silber an, und die ge- 
trankte Silberwolle zittert herab, und Glanzperlen rinnen iiber 
glattes Laub und stocken in Bliiten, und das himmlische Gefilde 
perlt und glimmt — Durch dieses Eden, woriiber ein doppeltes 
Schneegestober von Funken und von Tropfen zwischen einem 
Staubregen von Blutendiiften spielte und wirbelte, und worin 
Klotildens Tone wie verirrte Engel sinkend und steigend urhher- 
fiogen, durch dieses Zauber-Gewimmel wankte Viktor geblendet 
— iiberstromt - zitternd - und weinend hin und sank miide in die 
Laube nieder, wo er heute am Herzen seines Vaters gewesen war. 10 
Er iiberdachte das Winterleben dieses guten Vaters unter lauter 
Fremdlingen des Herzens und dessen bange Feier des heutigen 
Tages und den kalten leeren Raum in der vaterlichen Brust, den 
sonst die verlorne Gestalt der Geliebten bewohnet hatte - und er 
sehnte sich schmerzlich an das Herz der unsichtbaren Mutter. Er 
hob das angelehnte Haupt in den Regen auf, und aus den weiten 
offnen Augen fielen fremde Tropfen -nicht allein. Er gliihte durch 
sein ganzes Ich, und Nachtwolken sollten es kiihlen. Seine Finger- 
spitzen hingen leise ineinander gefaltet nieder. Klotildens Tone 
tropften bald wie geschmolzene Silberpunkte auf seinen Busen, 2 < 
bald flossen sie wie verirrte Echo aus fernen Hainen in diesen 
stillen Garten herein. Er nannte nichts - er dachte nichts - er 
sprach sich nicht los, er klagte sich nicht an - er sah es wie im 
Traume, wenn bald eine dicke Nacht iiber den Garten rannte, 
bald ein Lichtmeer ihr nachschoB. 

Aber ihm war, als wollte seine Brust aufspringen, als war' er 
selig, wenn er jetzt geliebte Menschen umschlingen und an ihnen 
im seligen Wahnsinn seinen Busen und sein Herz zerquetschen 
konnte. Ihm war, als war' er iiberselig, wenn er jetzo vor irgend- 
einem Wesen, vor einem bloBen Gedankenschatten hingieBen y 
konnte all sein Blut, sein Leben, sein Wesen. Ihm war, als miifit' 
er in Klotildens Tone schreien und die Arme um Felsen driicken, 
um nur das peinliche Sehnen zu betauben. — 

Er horte die Blatter tropfen und hielt es noch fur Regen. Aber 
der Himmels-Staubbach hatte sich versprungen, und bloB Lunens 
Lichtfall ubersprengte noch die Gegend. Der Himmel war tief 



7. HUNDPOSTTAG 581 

blau. Agathe hatt' ihn unter dem Regen gesucht, und jetzt erst 
gefunden. Er wachte auf, ging folgsam und schweigend mit ihr 
hinaus und begegnete lauter ausgeheiterten Himmels-Gesichtern 
- da zuckten alle seine Nerven, und er muBte sich mit einer stum- 
men Verbeugung schmerzjiaft-freundlich entfernen. Jeder hatte 
andere Gedanken daruber. Aber die Pfarrerin sagte der Gesell- 
schaft, er hore die Musijk gern von feme, nur mache sie ihn 
allemal zu melancholisch. 

Ach in seinem Zimmer umfing ein gliicklicher trostender Ge- 
[o danke seine Seele. Klotildens Grablied und alles befestigte die Ge- 
stalt des erhabnen Emanuels vor sein" Auge - diese schien zu sa- 
gen : »In einem Jahre bin ich schon unter der Erde, komme nur zu 
mir, Armer, ich will dich so lange lieben, bis ich sterbe !« Ohne ein 
Licht zu begehren, schrieb er mit stromenden Augen, denen ohne- 
hin keines geholfen hatte, dieses Blatt an Emanuel: 

»Emanuel I 

Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! - Warum kann der 
Mensch auf dem schmalen Sonnenstaubchen Erde, auf dem er 
warm wird, und wahrend der schnellen Augenblicke, die er am 

to Pulse abzahlt, zwischen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des 
Todes, noch einen Unterschied machen unter Bekannten und Un- 
bekannten? Warum fallen die kleinen Wesen, die einer lei Wundefl 
haben, und von denen die Zeit das namliche MaB zum Sarge nimmt, 
nicht einander ohne Zogern mit dem Seufzer in die Arme: >Ach 
wohl sind wir einander ahnlich und bekannt<? - Warum mussen 
erst die Fleischstatuen, worein unsre Geister eingekettet sind, zu- 
sammenriicken und einander betasten, damit die darin vermumm- 
ten Wesen sich einander denken und lieben? — Und doch ists so 
menschlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als 

o Fleischstatuen - als das geliebte Angesicht unsern Augen - als die 
teuere Stimme unsern Ohren und die warme Brust der unsrigen? 
...Ach Emanuel! sei fur mich kein Toter! Nimm mich anl Gib 
mir dein Herz! Ich will es lieben! — Ich bin nicht sehr glucklich, 
mein Emanuel! - Da mein groBer Lehrer Dahore - dieser glan- 



582 HESPERUS 

zende 'Schwan des Himmels, der, vom zerknickten Fliigelgelenk 
ans Leben befestigt, sehnend zu andern Schwanen aufsah, wenn 
sie nach den warmern Zonen des zweiten Lebens zogen — auf horte 
an mich zu schreiben: so tat ers mit den Worten; >Suche mein 
Ebenbild! Deine Brust wird so lange bluten, bis du mit einer an- 
dern die Narben bedeckst, und die Erde wird dich immer starker 
schiitteln, wenn du allein stehst — und nur um den Einsamen 
schleichen Gespenster.< — Emanuel, bist du nicht ruhig und sanft 
und nachsichtig? — Sehnet sich deine Seele nicht, alle Menschen 
zu lieben, und ist ihr nicht ein einziges Herz zu enge, in das sie u 
mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine eingeschlafene Tulpe ein- 
geschlossen ist? - Hast du nicht satt das Repetierwerk unseres 
Freuden- und Trauergelautes, die Familienahnlichkeit aller Aben- 
de und Zeiten? - Schauest du nicht von dieser dahingerissenen 
Erde hinaus auf deinen langen Weg iiber dir, damit dich nicht 
ekle und schwindle, wie man eben deswegen aus dem Wagen auf 
die Strafie sieht? - Glaubst du nicht an Menschen, um welche die 
Bergluft einer hohern Stellung geht, und die oben auf ihrem Berge 
mitten in einem stillen Himmel stehen und herunterschauen in die 
Donner und Regenbogen an der Erde? - Glaubst du nicht an zc 
Gott und suchst seine Gedanken auf in den Lineamenten der Na- 

tur und seine ewige Liebe in deiner Brust? Wenn du das 

alles bist und denkst, so bist du mein; denn du bist besser als ich, 
und meine Seele will sich heben an einem hohern Freund. Baum 
des hohern Lebens, ich umfasse dich, ich umstricke dich mit tau- 
send Kraften und Zweigen, damit ich aufsteige aus dem zertrete- 
nen Kot um mich ! - Ach von einem groBen Menschen konnte ich 
geheilt, gestillet, erquickt, erhoben werden - ich Armer, nur an 
Wunschen reich - zerruttet vom Kriege zwischen meinen Trau- 
men und meinen Sinnen - wund hin- und hergeschlagen zwischen 3 c 
Systemen, Tranen und Narrheiten - anekelnd die Erde, die ich 
mir nicht ersetzen kann, lachend iiber die weinerliche Komodie 
bloB aus Jammer, und der widersprechendste, betrubteste und 

Iustigste Schatten unter den Schatten in der weiten Nacht O ! 

schone, gute Seele, liebe mich I 

Horion.« 



7. HUNDPOSTTAG 583 

Den Kopf auf die Hand gestiitzt, HeB er so lange seine Tranen, 
ohne zu denken und ohne zu sehen, rinnen, bis die Natur ein Ende 
machte. Dann trat er ans Klavier und sang unter dessen Beglei- 
tung die heftigsten Stellen seines Briefes ab; was ihn stark be- 
wegte, trieb ihn allezeit zum Singen an, besonders der AfFekt der 
Sehnsucht. Was kann es uns verschlagen, daB es Prose war? 

Bei der letzten Zeile seines Briefgesanges ging langsam die 
Tiire auf: »Du bists?« sagte eine Stimme. »Ach komm herein, Fla- 
min !« antwortete er. »Ich wollte nur sehen, ob du zuriick warest«, 
10 sagte Flamin und ging. — 

- Ich denke, es ist notig, daB ich wenigstens folgendes da- 
zwischenwerfe: - daB namlich Viktor zu viel Phantasie, Laune 
und Besonnenheit besaB, um nicht, wenn diese drei Saiten zugleich 
erschiittert wurden, lauter Dissonanzen anzugeben, die bei mehr 
harmonischen Intervallen dieser Krafte 1 weggeblieben waren - 
daB er daher mehr Neigung zu Schwarmereien und zu Schwar- 
mern hatte als Ansat^ dazu - daB seine negativ-elektrische Philo- 
sophic mit seinem positiv-elektrischen Enthusiasmus immer um 
das Gleichgewicht zu kampfen hatte - und daB aus dem Aufbrau- 
20 sen beider Spiritus nichts wurde als Humor - daB er alle Freuden- 
Nelken auf dem namlichen Beete haben wollte, obgleich eine die 
Farbe der andern verfalschte (z. B. Feinheit und Enthusiasmus, 
Erhebung iiber die Welt und Ton der Welt) - daB daraus auBer 
der Laune und hochsten Tolerant auch ein unbewegliches schweres 
Gefiihl der Nichtigkeit unserer voriiberstreichenden und mit einer 
solchen Kontrarietat der Farben entworfnen innern Zustande 
werden muBte - und daB er, den der Schlimme fur doppelseitig 
und der Gutmutige fur veranderlich halt, nichts zum Schmucken 
und Riinden seines in so viel Holz versteckten neuen Adams oder 
30 Palladiums bediirfe als die Sense der Zeit - Zeit also. 

1 Gerade der Besitz ungleichartiger Krafte in gleichem Grade macht inkon- 
sequent und widersprechend ; Menschen mit einer vorherrschenden Kraft 
handeln gleicher nur nach ihr. In Despotien ist mehr Ruhe als in Republiken; 
am heifien Aquator ist ein gleicherer Barometerstand als in den Zonen mit 
vier Jahrzeiten. 



584 HESPERUS 

8.HUNDP0STTAG 

Gewissens-Examinatorium und Dehortatorium - die Studier-Flitterwochen 

eines Gelehrten - das Natural ienkabinett - eingepacktes Kinn - Antwort 

von Emanuel 7- Ankunft des Fiirsten 

Ich wollte, die Historie ware aus, damit ich sie konnte drucken 
lassen; denn ich habe schon zu viele Pranumeranten darauf unter 
dem gemeinen Volk. Ein Schriftsteller nimmt in unsern Tagen 
Vorausbezahlung auf sein Buch vom schlechtesten Kerl an - der 
Schneider tut seinen VorschuB in Kleidern, der Friseur in Puder, 
der Hauswirt in Studierstuben. - I( 

JedenMorgen hunzte sich Viktor unter der Bettdecke aus wegen 
des Abends; das Bette ist ein guter Beichtstuhl und die Audienza 
des Gewissens. Er wunschte, der gestrige Garten-Verein hielte 
ihn fiir einen wahren Narren anstatt fur einen - Liebhaber. »Ach 
wenn gar Flamin selber sich'mit Mifitrauen krankte, und wenn 
unsre Herzen, die so lange geschieden waren, schon jetzo wieder 
es wiirden!« Hier wurde die Bettlade aus einem Beichtstuhl ein 
feuriger Ofen. Aber ein Engel legte sich zu ihm hinein und blies 
die Lohe weg: »Was nab* ich denn aber getan? Hab' ich nicht fiir 
ihn mit tausend Freuden gesprochen, gehandelt, geschwiegen? 2 
Kein Blick, kein Wort ist mir vorzuwerfen - was denn noch sonst?« 

Der Engel des Lichts oder Feuers muBte jetzt entsetzlich gegen 
die vorwedelnde Flamme blasen. 

»Sonst noch? Gedanken vielleicht, die aber, wie Feldmause, der 
Seele unter die FiiBe springen und sich wie Ottern anlegen. - 
Aber diirfen mir denn die Kantianer ansinnen, daB ich das kleine 
Bild der schonsten und besten Gestalt ? die ich in dreier Herren 
Landen bisher vergeblich zitierte, einen solchen RafTaels-Kopf, 
eine solche Paradieses-Antike zum Fenster hinauswerfe aus der. 
Villa meines Kopfes wie Apfelschalen und Prlaumenkerne? Mich 3, 
wiird* es von den Kantianern wundern. - Und wenns drinnen 
stehen bleiben soil, soil ich denn ein Vieh sein, ihr Katecheten, 
und es kalt anglotzen? - Ich mag nicht] Ja ich will mir selber 
trauen und von dem schonsten Herzen sogar die Freundschaft 
fodern und ihm doch die Liebe lassen.« - Lieber Leser, unter die- 



8. HUNDPOSTTAG 585 

sem ganzen summarischen Prozefi vor der Gesetzkommission des 
Gewissens hab' ich iiber dreiBigmal zu mir gesagt: »Ihr beide, du 
und der Leser, seid um kein Haar ehrlicher gegen das Gewis- 
sen !« 

Er zog sich langsam am Bettzopf aus dem Bette, das er sonst 
mit einem Sprunge verlieB: es stockte ein Ideenrad in ihm. Er 
las seinen gestrigen Brief und fand ihn" zu sturmisch : »Das ist 
eben«, sagte er, »unsre Nichtigkeit, daB alles, was der Mensch fur 
ewig halt, in einer Nacht erfriert; iiber unser Gesicht laufen die 

10 heftigsten Ziige nicht schneller'und spurloser als iiber unser Herz 
- Warum bin ich denn heute nicht, was ich gestern war und viel- 
leicht morgen sein werde? - Was gewinnt der Mensch durch 
dieses Auf- und Untcrkochen? Und auf was kann er in sich denn 
bauen?« 

Unterdessen hatte sich das Feuerrad der Erdenzeit, die Sonne, 
gieBend heraufgedreht und brannte am Ufer der Erde. - Er riB 
das Fenster auf und wollte die unbedeckte Brust im frischen 
Morgenwinde baden, und das heiBe Auge im roten Meer Auro- 
rens; aber etwas in ihm drangte sich wie ein Nachgeschmack 

20 zwischen den GenuB des Morgenlandes. Ein guter Mensch ist 
unter den Gewissensbissen kunftiger Handlungen durchaus zum 
Genusse verdorben. 

Es stieg in ihm eine iibermannende Riihrung langsam auf- die 
gestrige Nacht trug wieder ihren leuchtenden Regen, sein brau- 
sendes Herz und Emanuels Schatten voriiber - er lief immer star- 
ker und zwar in die Quere durchs Zimmer - strickte den Schlaf- 
rock knapper an - schiittelte etwas aus dem Auge- tat einen steil- 
rechten Sprung — schnellte ein »Nein!« hervor und sagte mit 
einem unaussprechlich-heitern Lacheln: »Nein! ich will meinen 

30 Flamin nicht betriigen! Ich will sie weder suchen noch meiden 
und ihre Freundschaft nicht eher begehren als zur Zeit seines 
hochsten Gliicks. Wie dich da 1 , so will ich die himmlische Glanz- 
buste anschauen, und nicht begehren, daB sie Warme annehme 
und das kalte Gipsauge auf mich wende. Aber du, mein Freund, 

1 Die Biiste des Vatikanischen Apollo, an cler er keine andre Gestalt bilden 
lernen wollte als seine eigne. 



586 HESPERUS 

sei glucklich und ganz selig und merke nicht einmal meinen 
Kampfk 

Jetzt erst erheiterte ihn der Kirchenschmuck des Morgens, und 
die Morgenluft floB wie ein kiihles Halsgehenk auf seinem heiBen 
Busen umher und legte spielend Haar und Busenstreif zuriick. Er 
fiihlte, nun sei er wert, an Emanuel geschrieben und an den Him- 
mel geschauet zu haben . . . 

Flamin trat ein mit einiger Kalte, die vom erblickten Brief noch 
etwas stieg. Viktor war nicht kalt zu machen; bloB als man unten 
ihn mit keinem Wort an seine gestrigen Dithyramben erinnerte: ic 
tat er aus Besorgnis, erraten zu sein, einen zornigen versteckten 
Schwur, wenn sie kame, nicht zu kommen - welches auch zu 
machen war, denn sie kam nicht. Sie hatte in Maienthal noch Ge- 
pack abzuholen, Freundschaften zu begieBen und noch einmal in 
den Zauberkreis ihres geliebten Lehrers zu treten ; und war also 
dahin abgegangen. 

Die nachsten Wochen tanzten jetzt wie ebenso viele Horen in 
Anglaisen und Kotillons vor Sebastian vorbei. Seine Vormittage 
hingen voll Fruchte, seine Nachmittage voll Blumen; denn am 
Morgen wohnte seine Seele mit ihren Anstrengungen in seinem 20 
Kopfe, gegen Abend in seinem Herzen. Abends liebt man Karten- 
Gedichte - Aufrichtigkeit - Weiber - Musik recht sehr, morgens 
recht wenig; in der Geisterstunde ist jene Liebe am allerstarksten. 

Zwei Sorgen ausgehommen - die erste war, ob sein Emanuel 
ihm bald genug schreiben wiirde, damit er ihn vielleicht noch be- 
suchen konnte, eh* er an die Deichsel des Hof- und Staatswagens 
geschirrt ware; die zweite war: letztes zu bald zu werden - hatt' 
er jetzt fast nichts zu tun, als glucklich zu sein oder glucklich zu 
machen; denn in diese Wochen flelen gerade seine stillen oder 
Sabbatwochen ein ... 3 c 

Ich weiB nicht, ob sie der Leser schon kennt: sie stehen nicht 
im verbesserten Kalender; aber sie fallen regelmaBig (bei einigen 
Menschen) entweder gleich nach der Friihling-Tag- und Nacht- 
gleiche oder in den Nachsommer. 

Bei Viktor war das erste, gerade mitten im Friihling. Ich 
brauch' es nicht auszumitteln, ob der Korper, das Wetter, oder 



8. HUNDPOSTTAG 587 

wer diesen Gottesfrieden in unserer Brust einlaute : sondern schrei- 
ben soil ichs, wie sie aussehen, die Sabbat wochen. Ihre Gestalt ist 
genau diese : in einer stillen oder Sabbatwoche (manche, z. B. ich, 
werden gar nur mit Sabbattagen oder -stunden abgeferrigt) 
schlummert man erstlich leicht wie auf gewiegten Wolken - 
Man erwacht wie ein heiterer Tag - Man hatte sich abends vorher 
gewifi vorgenommen und es deswegen in Chiffern an die Tiire 
geschrieben, sich zu bessern und das Jatemesser alle Tage wenig- 
stens an ein Unkraut-Beet anzusetzen - Beim Erwachen will mans 

to noch und setzet es wirklich durch - Die Galle, dieser auf brausen- 
de Spiritus, der sonst, wenn er, statt in den Zwolffingerdarm, in 
das Herz oder Herzblut gegossen wird, mit Wolken aufsiedet und 
zischt. wird in wenigen Sekunden eingesogen oder niederge- 
schlagen, und der erhohte Geistfuhlt ruhig das korperliche Auf- 
wallen ohne seines - In dieser Windstille unserer Lungenfliigel 
spricht man nur sanfte, leise Worte, man fasset Iiebend die Hand 
eines jeden, mit dem man spricht, und man denkt mit zerflieBen- 
dem Herzen: ach ich gonnte euchs alien wohl, wenn ihr noch 
gliicklicher waret als ich - Am reinen gesunden stillen Herzen 

to schlieBen sich, wie an den homerischen Gottern, leichte Wunden 
sogleich zu - »Nein!« (sagst du immerfort in der Sabbatwoche) 
»ich muB mich noch einige Tage so ruhig erhalten.« - Du ver- 
langst zum Stoffder Freude fast nichts als Dasein, ja der Sonnen- 
stich einer Entziickung wiirde diesen kuhlen magischen durch- 
sichtigen Morgen-Nebel in ein Gewitter verdichten - Du siehst 
immerfort hinauf ins Blaue, als mochtest du danken und weinen, 
und umher auf der Erde, als wolltest du sagen : »Wo ich auch 
heute ware, da ware ich gliicklich !« und das Herz voll schlafender 
Sturme tragst du, wie die Mutter das entschlummerte Kind, scheu 

10 und behutsam iiber die weichen Blumen der Freude. Aber 

die Sturme fahren doch auf und greifen nach dem Herzen! . . . 

Ach was mussen wir nicht alle schon verloren haben, wenn uns 
die Gemalde seliger Tage nichts abgewinnen als Seufzer! O Ruhe, 
Ruhe, du Abend der Seele, du stiller Hesperus des muden Her- 
zens, der allezeit neben der Sonne der Tugend bleibt - wenn unser 
Inneres schon vor deinem sanften Namen in Tranen zerrinnt: 



v 588 HESPERUS 

ach ist das nicht ein Zeichen, daB wir dich suchen, aber nicht 
haben? — 

Viktor verdankte die Sieste seines Herzens den - Wissenschaf- 
ten, besonders der Dichtkunst und der Philosophies die beide sich 
wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit) be- 
wegen und sich nur in der Figur ihres Umlaufs unterscheiden, da 
Kometen und Dichter bloB die groftere Ellipse haben. Seine Er- 
ziehung und Anlage hatte ihn an die Lebens- und Feuerluft der 
Studierstube gewohnt, die noch die einzige Schlafkammer (Dor- 
mitorium) unserer Leidenschaften und das einzige ProfeB-Haus ic 
und der Gliickhafen der Menschen ist, die dem breiten Strudel 
der Sinne und Sitten entgehen wollen. Die Wissenschaften sind 
mehr als die Tugend ihr eigner Lohn, und jene machen der 
Gliickseligkeit teilhaftig, diese nur wurdig; und die Preismedail- 
len, Pensionen und positiven Belohnungen und der Invention- 
dank, die viele Gelehrte fiir ihr Studieren haben wollen, gehoren 
hochstens den literarischen dienenden Briidern, die sich dabei ab- 
martern, aber nicht den Meistern vom Stuhle, die sich dabei ent- 
ziicken. Ein Gelehrter hat keine lange Weile; nur ein Thron-In- 
saB lasset sich gegen diese Nervenschwindsucht hundert Hof- 2 < 
Feste verschreiben, Gesellschaftkavaliere, ganze Lander und 
Menschenblut. 

Du lieber Himmel! ein Leser, der in Viktors Sabbatwochen 
eine Leiter genommen hatte und an sein Fenster gestiegen ware : 
hatte der etwas anders darin erblickt als ein jubelndes Ding, das 
auf den wissenschaftlichen Feldern wie unter seligen Inseln um- 
herglkt? - Ein Ding, das entziickt nicht wuBte, sollt' es denken 
oder dichten oder lesen, besonders was? oder wen? aus dem gan- 
zen vor ihm stehenden kohen Adel der Biicher. - In dieser Braut- 
kammer des Geistes (das sind unsere Studierstuben),in diesem 3 c 
Konzertsaal der schonsten aus alien Zeiten und Platzen versam- 
melten Stimmen hinderten ihn die asthetischen und philosophi- 
schen Lustbarkeiten fast an ihrer Wahl; das Lesen riB ihn ins 
Schreiben, das Schreiben ins Lesen, das Nachdenken in die Emp- 
findung, diese in jenes — 

Ich konnte in dieser Schilderung vergnugter fortfahren, wenn 



8. HUNDPOSTTAG 589 

ichs vorher hatte geschrieben gehabt, wie er studierte : da 6 er nam- 
lich nie schrieb, ohne sich iiber dieselbe Sache voll gelesen zu 
haben, und umgekehrt, dafi er nie las, ohne sich vorher dariiber 
hungrig gedacht zu haben. Man sollte, sagte er, ohne einen heftigen 
auBern, d.h. innern AnlaB und Drang nicht bloB keine Verse 
machen, sondern auch keine philosophischen Paragraphen, und 
keiner sollte sich hinsetzen und sagen: »Jetzt um drei Uhr am 
Bartholomaustag will ich doch driiber her sein und folgenden 
Satz geschickt priifen.« - Ich kann jetzo fortfahren. 

10 Wenn er nun in diesem geistigen Laboratorium, das weniger 
der Scheidekunst als der Vereinkunst diente, vom Turmalin an, 
der Aschestaubchen zieht, bis zur Sonne, die Erden zieht, und bis 
zur unbekannten Sonne, an welche Sonnensysteme anfliegen, auf- 
stieg - oder wenn ihm die anatomischen Tabellen der perspekti- 
vische AufriB einer gottlichen Bauart waren, und das anatomische 
Messer zum Sonnenweiser seiner Lieblingwahrheit wurde: daB 
es, um einen Gott zu glauben, nicht mehr bedurfe als zweier 
Menschen, wovon noch dazu einer tot sein konnte, damit ihn der 
lebende studiere und durchblattere 1 - oder wenn ihn die Dicht- 

20 kunst als eine zweite Natur, als eine zweite Musik sanft empor- 
wehte auf ihrem unsichtbaren Ather, und er unentschlossen wahlte 
zwischen der Feder und der Taste, sobald er in der Hohe reden 

wollte kurz, wenn in seiner Himmelkugel, die auf einem 

Menschen-Halswirbel steht, der Ideen-Nebel allmahlich zu hellen 
und dunkeln Partien zerfiel und sich unter einer ungesehenen Sonne 
immer mehr mit Ather fullte, wenn eine Wolke der Funken- 
zieher der andern wurde, wenn endlich das leuchtende Gewolk 
zusammenriickte : dann wurde vormittags um 1 1 Uhr der innere 
Himmel (wie oft drauBen der auBere) aus alien Blitzen eine Sonne, 

30 aus alien Tropfen wurde ein GuB, und der ganze Himmel der 

1 Ein Sonnensystem ist nur ein punktlertes Profil des Weltgenius, aber ein 
Menschenauge ist sein Miniaturbild. Die Mechanik der Weltkorper konnen 
die mathematischen Rechenmeister berechnen; aber die Dioptrik des unter 
lauter triiben Feuchtigkeiten helle gewordnen Auges iibersteigt unsre alge- 
braischen Rechenkammern, die daher von den nachgeafften Augen (von den 
Glasern) den Diffusionraum und das enge Feld nicht wegzurechnen ver- 
mogen. 



59° HESPERUS 

obern Krafte kam zur Erde der untern nieder, und . . . einige blaue 
Stellen der zweiten Welt waren fliichtig offen. 

— Unsere innern Zustande konnen wir nicht philosophischer 
und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d. h. durch die Far- 
ben verwandter Zustande. Die engen Injurianten der Metaphern, 
die uns statt des Pinsels lieber die ReiBkohle gaben, schreiben der 
Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu ; sie solltens 
aber blofi ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben. 
Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens Ieichter in den geraumi- 
gen abgeiognen Kunstwortern der Philosophen - da die Worte, 10 
wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Un- 
sichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren - als in den 
engen griinen Hiilsen der Dichter. Von der Stoa und dem Porti- 
kus des Denkens muB man eine Aussicht haben in die epikuri- 
schen Garten des Dichtens. 

- In drei Minuten bin ich wieder bei der Geschichte. - Er muBte, 
sagte Viktor, Berg-, Garten- und Sumpfwiesen haben, weil er drei 
verschiedne narrische Seelen besaBe, die er auf verschiedene Lan- 
dereien zur Weide treiben muBte. Er meinte damit nicht, wie die 
Scholastiker, die vegetative, sensitive und intellektuelle Seele - 20 
noch, wie die Fanatiker, die drei Teile des Menschen: sohdern 
etwas recht.Ahnliches, seine humor is tische, empfindsame und philo- 
sophische Seele. Wer ihm eine davon wegnahme, sagt* er, der 
mochte ihm immer auch die restierenden gar ausziehen. Ja zu- 
weilen, wenn gerade die humoristische auf der umwechselnden 
Querbank obenan saB, trieb er den Leichtsinn so weit, daB er den 
Wunsch auBerte, in Abraha SchoB wiirde SpaB gemacht, und er 
konnte sich auf die zwolf Stiihle mit seinen drei Seelen zugleich 
niederlassen. — 

Seine Nachmittage iibergab er bald einer stromenden Laune, die 30 
ihre rechten Zuhorer nicht einmal fand - bald den Pfarrleuten - 
bald der ganzen St.Liiner Schuljugend, deren Magen er (zur 
Argernis eines jeden guten Schulmeisters) mehr als ihre Kopfe 
verproviantierte, weil er glaubte, in den kurzen Jahren, wo das 
Geiferfleckchen sich ausbreitet bis zu einem Teller tuche, nehme 
das Vergnugen seinen Weg iiber die Kinderserviette und habe 



8. HUNDPOSTTAG 591 

keinen andern Eingang als den Mund. Er ging nie ohne eine ganze 
Operationkasse voll kleines Geld in der Weste aus : »Ich verteil' 
es ohne alien Verstand,« sagt' er; )>aber wenn aus diesem herum- 
gesaeten metallischen Samen ganze Freudenabende fur arme Teu- 
fel aufgehen; und wenn sie gerade die Unschuldigen so selten 
haben : warum will man nicht fiir die geschonte Tugend und fur 
die Freude zugleich etwas tun?« 

Er sagte, er habe Moral gehort und verlange fiir seine auBer- 
gerichtlichen Schenkungen und milden Stiftungen nichts als - 

io Verzeihung. Sein Flamin, der ihn fiir eine sorglose Saemaschine 
auf Felsen erklarte, verbrachte seine kleinen Ferien bis zu dem 
Sessiontisch in gliihenden Hoffriungen, an diesem Tische zu 
niitzen, und in Vorhereitungen, um es zu konnen; oft wenn der 
hohere Patriotismus mit Heiligenschein und Mosis-Glanz aus dem 
Angesicht des geliebten Flamins hervorbrach, so standen Tranen 
der freudigen Freundschaft in Viktors Augen, und im Augen- 
blick einer lyrischen Menschenliebe schworen sich beide an ihren 
Herzen fiir die Zukunft gegenseitige Unterstiitzung im Gutestun 
und gemeinschaftliche Aufopferungen fiir die Menschen zu. - Ihr 

io Unterschied war bloB wechselseitige Obertreibung - Flamin war 
gegen Laster zu intolerant, Viktor zu tolerant - jener verwarf als 
Regierungrat wie Anabaptisten alle Feste und wie die ersten 
Christen alle Blumen (in jedem Sinn) - dieser liebte gleich den 
Griechen beides zu sehr - jener hatte der Ehre Menschenopfer ge- 
bracht - dieser kannte keinen Ehrenrauber als das eigne Herz, er 
sprang iiber den papiernen HalbTAdel unserer jammerlichen 
Ehrenpunkte am Teetisch hinweg und war, spottend iiber den 
Spott, nur dem hohen Adel der Tugend untertan. — 

Viktor sog sich mit LaubfroschfuBen an jedes Blumenblatt der 

3 o Freude an, an Kinder, an Tiere, an Dorf-Luperkalien, an Stun- 
den; - am liebsten aber hatt* er den Sonnabend. Hier tat er Streif- 
ziige durch die freudige Unruhe des Dorfes, vor Knechten vor- 
bei, die ihre Sensen nicht magnetisch, sondern scharfer hammer- 
ten, und vor der Ladentiire des Schulmeisters, an der sein Auge 
als Schweizer oft eine halbe Stunde stand. Denn er konnte den 
St. Lunischen Handelflor recht gut im kleinen GroBavanturhandel 



59 2 HESPERUS 

des Schulmeisters bemerken, der keine geringere Borse der Kauf- 
leute kannte als die in seiner Hosentasche. Aus diesem ostindischen 
Hause sah er spat die wohlfeilen Freuden des Sonntags holen — 
der Grossierer (der Schulmeister wird gemeint) machte, von den 
Negersklaven unterstiitzt, den Sonntagmorgen von St.Liine mit 
seinem Sirup suB und mit seinem Kaffee heiB; und sowohl durch 
den Tabakbau in Deutschland wurde dieser Handelsherr instand 
gesetzt, mit Spiralwiirsten von Lausewenzel die Kopfe der Pfeifen, 
als durch den Seidenbau, der Tochter ihre mit Sabbat- Wimpeln 
zu versorgen aus seinem Auerbachischen Hofe. - Unsern Helden « 
kannte alles. Aus jeder Hundhiitte wedelte ihm ein Hund ent- 
gegen, dem er Brot hineingeworfen; aus jedem Fenster schrien 
ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor 
denen er voriiberlief, hielten sich fur gliicklich, wenn sie eine 
Miitze auf hatten - sie konnten sie vor dem Herrn abnehmen. Denn 
sein erstes Treiben in St.Liine war die Geschichte von St.Liine, 
die aus den miindlichen Konduitenlisten der historischen Personen 
selber und aus der Reichspostreiterin, aus der Pfarrerin, ge- 
schopft werden muBte. Letzte hielt als Plutarchin allemal zwei 
Charaktere wie Tiicher zusammen; und ihr Mann las ihm nach zc 
bestem Wissen und Gewissen iiber die Kirchen- und Reforma- 
tiongeschichte seines Beichtsprengels. Viktor legte sich auf diese 
mikrokosmische Weltgeschichte aus zwei Absichten : erstlich, um 
sie — welches Brotstudenten auch bei der groBern vorhaben - 
rein wieder zu vergessen; zweitens, um im Dorfe so zu Hause zu 
sein wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vorteil 
zu ziehen hofTte, daB er betriibt wurde, wenn ein St. Luner ver- 
starb, und frohlich, wenn er vorher heiratete. 

— Jetzo schreitet die Geschichte wieder von einem Tage auf den 
andern fort, gleichsam auf den Steinchen im Strome der Zeit. - 3 c 

So schon war also der Friihling vor ihm vorubergegangen mit 
Sabbatwochen, mit den Pfingsttagen, mit weiBen Bliiten, die dem 
Lenze allmahlich wie Schmetterlingfliigel ausfielen; - Viktor 
hatte den Besuch Le Bauts verschoben, weil er dachte: >>Ich muB 
ohnhin bald genug vom weichen SchoBe der Natur herunter und 
auf das Hof-Drahtgestell hinauf und auf den Objektentrdger 



8. HUNDPOSTTAG 593 

(Thron) des Hof-Mikroskops«; - er hatte sich zwar taglich zu- 
geredet, bald, noch vor Klotildens Ankunft, hinzugehen, um auf 
seine Absichten keinen Verdacht zu laden, aber immer vergeblich 
— als plotzlich (denn tags vorher war der i3te Jun.) der I4te er- 
schien und mit ihm Klotildens Gepack ohne sie. Nun passierte er 
(wie die offiziellen Hundbenchte enthalten) wirklich am 1 5ten den 
Bach von St. Liine und ging iiber die Alpen der kammerherrlichen 
Treppen und schlug auf Le Bauts Kanapee sein Casars-Lager auf. 
Er wuBte, daB heme niemand da war, nicht einmal Matz. 

10 »Der Himmel erhalt* uns« (sagt' er) »die Hoflichkeit gesund; es 
ware ohne sie nicht nur unter keinen Spitzbuben auszuhalten, son- 
dern sie gibt auch Minutensteuer von Freuden, indes die Wohl- 
tatigkeit nur Quartalsteuer und Kammerzieler und Karitativ- 
subsidien zahlt.« Herr und Frau Le Baut waren so hof lich als nie 
(ich schwore darauf, sie hatten etwas von Viktors Hof-Doktorhut 
und Doktorkrone ausgewittert) ; nur wuBten sie nicht, was fur ein 
Mundstiick auf ein so narrisch gewundnes Instrument, wie Viktor 
war, aufzuschrauben sei. Wie alle Studierstuben-Schaltiere sprach 
er lieber von Sachen als Personen; Flamin aber umgekehrt. Fiir 

20 das Ehepaar gabs in keiner Messiade etwas Erhabeners, als daB jetzt 
am Johannistage die italienische Prinzessin kommen wiirde; da- 
von konnte kein Sterblicher genug reden, zumal auf dem Dorfe. 
Ich weiB nicht, worin es Viktor versah, daB er die meisten Weiber 
auf die Meinung brachte, er liebe sie. Genug, die Kammerherrin, 
die in ihren Jahren nicht mehr Liebe> sondern den Schein der Liebe 
foderte, dachte: »VielIeicht!« Man verkenne sie nicht: sie brachte 
zwar allemal die erste Stunde mit einem Manne auf der Sternwarte 
der Beobachtung zu; aber die zweite nur dann im Jagdschirm, 
wenn die erste gliicklich gewesen, und sie war kalt genug, um 

3 o nicht mehr zu hofFen als zu sehen; sie verspottete sogar jeden, der 
bei ihr noch einer weiblichen Eitelkeit, Eroberungen zu leicht 
vorauszusetzen, anders schmeicheln wollte als offentlicL Genug, 
sie beurteilte heute unsern Viktor zu giinstig - in ihrem Sinn - 
oder zu ungiinstig - in unserem; wie uberhaupt die bloBen Hof- 
leute nur blofie Hofleute erraten. — Von Klotilde sprach man kein 
Wort, nicht einmal von der Zeit ihrer Zuriickkehr. 



594 HESPERUS 

Oberhaupt hatte die Le Baut einen ungeheuren Stolz in sich 
gegen ihre Stieftochter zu bestreiten, von dem mir mein Korre- 
spondent hatte melden sollen, worauf er sich steifte, ob auf Ver- 
haltnisse oder auf Verdienste; denn beides war reichlich da, indem 
die Kammerherrin von des jetzigen Fiirsten seligem Herrn Vater 
die H — gewesen. - Ich und ein gescheiter Mann habens hin und 
her iiberlegt, ob sie dem Casar in der Liebe oder im Ehrgeiz gleiche. 
Der gescheite Mann sagt : »In der Liebe«, weil eine Frau die Liebe 
nie vergesse, wenn ein Fiirst ihr Lehrer darin gewesen. Des sel. 
Herrn Vaters Herz hatte besonders zwei Schonheiten an ihr an- i< 
gebetet, die vor Zeiten von den Schotten 1 so gern gefressen wur- 
den, namlich den Busen und den SteiB. Die GroBen haben ihre 
eignen grossieretes, die den Kleinen nicht traumen. Ich wiird* es 
nicht drucken lassen, aber es war am ganzen Hofe bekannt, und 
also auch vielen meiner Leser. Da fuhrte der Teufel die Zeit her, 
die ihre Sense hammerte und alles wegmahte, was von beiden 
Reizen Uberhang in ihr Gebiet gewesen. Nun halt bei Weibern an 
Hofen - es sei in einem Schulhof, Packhof oder Viehhof - die 
Eitelkeit, sobald der alte Saturn (d.i. die Zeit) diese mit seinem 
Sichelwagen und mit dem kleinen Geschiitz aus seiner Sanduhr zc 
anfallt, einen der gescheitsten Ruckziige, die ich kenne - die Eitel- 
keit lasset sich aus einem Werke oder Gliede nach dem andern 
treiben - endlich aber wirft sie sich aus den weichen Teilen in die 
festen wie in feste Platte, z. B. in Fingernagel, Stirne, FiiBe u. s. w., 
und da zieht sie der Henker selber nicht heraus. Die Kammer- 
herrin muBte sich einen solchen festen Teil erst machen, namlich 
eine gorge de Paris und einen cul de Paris: diese vier Gren^hugel 
ihres Rekhs muBten taglich gegen die Grenzverruckung der Jahre 
aus Achtung fur das Eigentum hergestellt und erhohet werden. 
Daraus schlieBet nun der gescheite Mann, daB ihre Seele ihrem 3 o 
Korper immer Kaperbriefe schreibe. 

Ich bin gerade der GegenfiiBler vom gescheiten Mann und ver- 
fechte, daB der Amor nur ihr frere servant, nicht ihr Logen- 
meister - ihr Adjutant, nicht ihr Generalissimus ist; - und dies 
darum, weil sie noch immer an der Wiederherstellung ihres ersten 

1 Hieronym. cont. Jov. L. 2. 



8. HUNDPOSTTAG 595 

salomonischen Tempels, wo sie sonst am Hofe als Gottin neben 
dem Gott angebetet wurde, ihre eigne oder Le Bauts Hand anlegt 

- weil sie in diesem nichts heiratete als den Kammerherrnschlussel 
und seine Assembleen und seine Hoffnungen des kunftigen Ein- 
flusses - weil sie an Klotilden nicht das Gesicht, sondern das Ge- 
hirn anfeindet - weil ihre Liebe jetzt ohne Eifersucht ist. Nam- 
lich sie stand mit dem Evangelisten Matthieu in einem gewissen 
Liebeverstandnis, das sich (nach unserm burgerlichen Gefuhl) 
vom Hasse in nichts unterscheidet als in der- Dauer. Liebe-Persi- 

o flagen waren ihre Lieberklarungen -ihre Blicke waren Epigramme 

- seine Schaferstunden salzte er mit komischen Erzahlungen von 
seinen Schaferstunden an andern Orten - und zur Zeit, wo ein 
heiliger Mann seinen Psalm abzubeten pflegt 1 , waren beide iro- 
nisch. Eine solche erotische Verbindung ist nichts als die Unter- 
abteilung irgendeiner politischen.. . Aber zuriick zur Geschichte! 

Der Kammerherr wollte seinem Gaste jetzt etwas zeigen, was 
einen Doktor und Gelehrten mehr interessierte. Zu dem Zimmer, 
worin das Etwas war, kam man durch der Kammerherrin und 
durch Klotildens Zimmer. Da man in jener ihrem einen Rasttag 

:o hielt: so standen Viktors Augen traumend auf Klotildens Sil- 
houette fest, die Matthieu neulich aus dem Nichts geschnitten, 
und die die Kammerherrin hier aus Schmeichelei gegen den Schat- 
tenreiBer unter Glas aufgehangen hatte. Sonderbarer-, d.h. zu- 
falligerweise zersprang jetzo das Glas iiber dem schonen Ange- 
sicht, und Viktor und der Vater fuhren zusammen. Denn letzter 
war wie die meisten GroBen aus Mangel an Zeit aberglaubig und 
unglaubig zugleich; und bekanntlich halt der Aberglaube das Zer- 
springen eines Portratglases fur einen Vorboten des Todes des 
Urbildes. Der Vater warf sich angstlich die Erlaubnis vor, die er 

(o Klotilden gegeben, so lange in Maienthal zu bleiben, da sie doch 
da ihre Gesundheit in unniitzen jugendlichen Schwarmereien ver- 
derbe. Er meinte ihre Trauer um ihre begrabene Giulia; denn sie 
war (erzahlte er) bloB vor Schmerz iiber diese, ohne alles Gepack, 
am ersten Mai hieher geeilet; und sogar die Kleider der geliebten 
Freundin hatte sie heute mit unter den ihrigen geschickt. Er brach 
1 Bayles Dictionnaire art. Francois d'Assise not. C. 



59<> HESPERUS 

heiter ab; denn Matthieu kam, der Bruder dieser Giulia, der sich 
nur zeigen und beurlauben wollte, weil er, wie mehre von der 
Stief-Briidergemeine des Hofs, der Prinzessin entgegenreisete. 

Viktor wurde stiller und truber; seine Brust quoll ihm auf ein- 
mal voll unsichtbarer Tranen, deren Quelle er an seinem Herzen 
nicht finden konnte. Und als man noch dazu durch Klotildens 
stilles leeres Zimmer ging, wo Ordnung und Einfachheit an die 
schone Seele der Besitzerin zu stark erinnerten : so fiel sein plotz- 
Hches geruhrtes Verstummen auch andern auf. Er riB die Augen 
eiligst weg von einigen Blumenzeichnungen ihrer Hand, von i< 
ihrem weiBen Schreibzeug und von der schonen Landschaft der 
Oltapete und trat hastig auf das zu, was Le Baut aufsperrte - es 
war kein edles Herz, was dieser mit seinem obwohl wie eine Ka- 
none gebohrten Kammerherrnschliissel sperren konnte (die Titu- 
larkammerherren in Wien heften nur einen hermetisch-versiegel- 
ten an), sondern sein Cabinet d'histoire naturelle offnete er. Das 
Kabinett hatte rare Exemplare und einige Curiosa — einen Blasen- 
stein eines Kindes, %, Zoll lang und «/„ Zoll breit, oder umge- 
kehrt - die verhartete Hohlader eines alten Ministers - ein Paar 
amerikanische Federhosen - ertragliche Fungiten und bessere 2 < 
strombi (z. B. eine unechte Wendeltreppe) -das Modell eines Heb- 
ammenstuhls und einer Saemaschine - graue Marmorarten aus 
Hof im Voigtland - und ein versteinertes Vogelnest - Doubletten 
gar nicht gerechnet — inzwischen zieh' ich und der Leser diesem 
toten Geriimpel darin den AfFen vor, der lebte und der das Kabi- 
nett allein zierte und - besaB. Camper sollte von diesem lebendi- 
gen Exemplar den Kammerherrnkopf wegschneiden und sol- 
ches sezieren, um nur zu sehen, wie nahe der Affe an den Menschen 
grenze. 

Ein GroBer hat allemal irgendeinen wissenschaftlichen Zweig, 3 c 
nach dem er nichts fragt, und auf den er sich also vorzuglich legt. 
Fur Le Bauts wissen-hungrige Seele wars gleich viel, ob sie in ein 
Siegel- oder in ein Gemmen- oder ein Pistolenkabinett eingestellet 
wurde. War' ich ein GroBer: so wiird' ich mit dem groBten Eifer 
Knopfe - oder Entbindungen - oder Bucher# - oder Niirnberger 
Ware - oder Kriege - oder recht gute Anstalten machen, bloB 



8. HUNDPOSTTAG 597 

aus verdammter langer - Weile, dieser Essigmutter aller Laster 
und Tugenden, die unter Hermelinen und Ordensternen hervor- 
gucken. Nichts ist ein groBerer Beweis der allgemein wachsenden 
Verfeinerung als die allgemein wachsende Langeweile- Sogar die 
Damen machen sich hundertmal aus bloBer platter Langerweile 
Kurzweile ; und der gescheiteste Mensch sagt seine meisten Dumm- 
heiten und der beste seine meisten Verleumdungen bloB einem 
Zirkel, der ihn hinlanglich zu langweilen weiB. 

Der Hofjunker war der Musterschreiber des Kabinetts, um 

10 vielleicht herumzugehen. Viktor tat ihm unrecht durch die medi- 
zinische Vermutung, er affektiere einen gewissen schwankenden 
weichen Gang vornehmer Debauches; denn er hatt > ihn wirklich, 
und das darum, weil er aus ganz andern als Viktors schonen Griin- 
den ungern - soft. Aber weiter ! Wenn nicht die Kammerherrin 
den Vorhang vor Viktors Seele auseinanderschlagen und darin die 
Gesinnungen gegen sich und Klotilde durch den Schrecken, den 
ich erzahlen will, erforschen wollte; wenns also das nicht war: so 
- kann es nichts als ein sehr boser Geist gewesen sein, der dieser 
Kammerherrin die Hand fiihrte zu einer Silberstufe. Hinter der 

20 Stufe lag eine vielleicht von abgebrockeltem Arsenik verreckte 
Maus. Eine Lesertn, die in ahnlichen Gefahren als Dulderin litt, 
stellet sichs vor, wie der Kammerherrin war, als sie mit dem Har- 
ten etwas Weiches umgriff und hervorbrachte und dann ersah, 
was es war. Eine wahre Ohnmacht war unvermeidlich. Ich gesteh' 
es, ich wiirde selber ihre Ohnmacht bloB fur eine verstellte halten, 
ware der AnlaB geringer und z. B. der Angriff nicht auf ihre Sinne, 
sondern nur auf ihre Ehre gewesen; aber etwas anderes ist eine 
Maus. - Oberhaupt muBte sie vor so boshaften Zuschauern, wie 
ihr Mann und ihr Cicisbeo ist, diesen fiinften Akts-Mord langst 

30 von ihrem Theater wie vom gallischen verbannt haben; ja ich 
glaube, sie hatte sich vor einem siegenden Feind ihrer Tugend 
durch nichts (eine wahre Ohnmacht ausgenommen) so lacherlich 
machen konnen als durch eine scheinbare . Der Schrecken iiber den 
postiche-Tod beraubte den Evangelisten des Gebrauchs seiner 
Vernunft und Hefi ihm nur den Gebrauch seiner Bosheit und sei- 
ner Hande, mit denen er sogleich das Blendwerk und Sparrwerk 



598 HESPERUS 

ihres Busens,kurz die ganze optische Brust zerriB, um der wahren, 
in deren Brette er einen Stein hatte, namlich ihr Herz, Luft genug 
zu machen. Aber Viktor drangte ihn weg und spritzte sie, mit 
zarterer Achtung fur ihre Reize und fur ihr Leben, durch wenige 
Eistropfen wieder empor. Gleichwohl vergab sie dem Junker 
alles, was sie erriet, und dankte dem Hofmedikus fiir alles, worin 
sie irrte ... 

— Lasset mich einen Augenblick wegsehen von diesem HaB- 
Gespinste und die schonere Welt um mich mit Erquickung an- 
schauen auf meiner Insel, wo kein Feind ist - und das platschernde i<> 
Spiel der' Fische und Kinder am Ufer - und die spielende Mutter, 
die ihnen Blumen und hiitende Blicke zuwirft — und die groBen 
Ahornbaume, die sanft mit tausend Blattern und Mucken flusternd 
dem unter den Wellen gaukelnden Baumschlag entgegenschwan- 
ken - und wie die warme Erde und der warme Himmel in schla- 
fender Liebe aneinander ruhen und ein Jahrhundert urns andre 
gebaren ... 

Viktor ging, bange vor dem Ende seiner Iandlichen Tage, nach 
Haus. - Der Sonnabend (der i6te Junius) eike sanft voruber und 
schiittelte ein ganzes Blumenhaupt von befliigelten Samen zu * 
neuen Freudenblumen unter dem Eilen auseinander. 

Die Sterne glitten leise iiber seine Nacht. Ein freundlicher blauer 
Sonntagmorgen Iegte sich schwebend uber das geputzte Dorf- 
chen und hielt den Atem an, damit er nicht einmal eine reife Lin- 
denbliite oder Dotterblumen-Spreu ausriB. - Viktor konnte das 
Fortepianissirno aus dem Schlosse iiber das ausruhende Dorf her- 
ubertonen horen und muBte mit der Engbrustigkeit des gliick- 
lichen Sehnens seufzen: »Ach wann muB ich auf horen, iiber die- 
sem glanzenden stillen Meere, iiber diesem schonen Ankerplatz 
des Lebens aufzuschwimmen?« — als das Schicksal antwortete: 30 
heute! Denn gerade heute, am Sonntage, kam aus der Residenz- 
stadt Flachsenfingen ein leichter Narr (im Grunde zwei) in einer 
ebenso leichten Berline an und packte ein Briefchen vom Lord an 
ihn aus. 

»Den 2isten Junius (Donnerstags) trifft die italienische Prin- 
zessin in Kussewitz ein. Den Mittwoch reis* ich ab und prasen- 



8. HUNDPOSTTAG 599 

tiere dich in St. Liine dem Fursten, der mich bis dahin begleitet. 
Doch bitt* ich dich, am Sonnabend darauf dich in die Inset der 
Vereinigung 1 zu begeben, weil ich das wenige, was ich dir in St. 
Liine aus Mangel an Gelegenheit nicht sagen kann, auf die Insel 
verspare. Du wirst mich dort treffen. Der Oberbringer dieses ist 
unser Herr Hofapotheker Zeuset, in dessen Hause du deine kiinf- 
tige Wohnung als Hofmedikus haben wirst. Lebe wohl I 

H.« 
»Zeusel?« (fragt der Leser und denkt nach) »ich kenne die Zeu- 

io sel nicht !« - Und ich ebenso wenig; aber er sage mir, geht es nicht 
zu weit? Und ist es nicht wahre Plackerei, daB der Korrespondent 
dieses Werks durch alle Vorstellungen, die ich ihm durch den 
Hund tue, gleichwohl nicht dahin zu bringen ist, daB ers in dieser 
Historie nur so ordcntlich einrichtete, wie es ja in jedem elenden 
Roman und sogar im — Zuchthaus ist, wo jeder neue Ziichtling 
den alten gleich in der ersten Stunde seine samtlichen Fata bis zu 
den Initialprugeln des Eintritts, von denen der Historiker eben 
kommt, schdn vorerzahlt? Beim Himmel! die Leute setzen und 
springen ja in mein Werk wie in eine Passagierstube hinein, und 

zo kein Teufel und kein Leser weiB, wer ihre Hund' und Katzen sind. 

»Ich wollt' «, sagte Viktor und machte sechs Dehnzeichen 

darauf als Apostrophen von ebenso vielen weggelassenen Flii- 
chen. Denn er sollte jetzt aus der Idylle des Landlebens in die tra- 
vestierte Aneisdes Stadtlebens uberziehen; und kein Steig ist doch 
elender gepflastert als der von der Studierstube in die Hof- 
Schmelzhutten und chambres ardentes, von der Ruhe zum Ge- 
wiihl. Zudem hatt' ihm Emanuel noch nicht geschrieben. Klo- 
tilde, der Hesperus jener zwei schonen Abende, war gleich dem 
Hesperus am Himmel nicht zu sehen iiber St. Liine. Wie gesagt, 

3 o erbarmlich war ihm. Nun war noch dazu dieser Zeusel, sein kiinf- 
tiger Mietherr, der Hofapotheker, sozusagen ein Narr, ebenso 
leicht wie seine Berline oder wie der Hoffurier, mit dem er kam, 
aber 53 Jahre alter als der Wagen, namlich 54 Jahr alt, und im 
ganzen ein menschliches Diminutiv und Essigalchen an Leib und 

1 Sowohl der Hund als ich wissen davon, was das fur eine Inselist, 
weiter nichts. 



6oO HESPERUS 

Seele, iiberall spit{ geschaffen an Kinn, Nase, Witz, Kopf, Lippen 
und Achsel. Dieser feine Essigaal — denn der Aal verfocht, er 
kenne eine gewisse Feinheit, die nie die Sache eines Roturier ware, 
und er leugne nicht, daB sich seine Urahnen nicht Zeusels,sondern 
von Swobodas geschrieben - reisete mit dem Hoffurier, der in 
Kussewitz das Quartiermeistertum fur die furstliche Braut versah, 
dahin ab, um so lange da zu sein, als er da unnotig war. Zeusel 
wollte durchaus auf den f lachsenfingischen Hof mit etwas ande- 
rem EinfluB haben als mit seiner Klistier-Wasserkunst und durch 
anderes auf den Hofstaat wirken als durch Senesblatter; daher i< 
kaufte er alle geheime Nachrichten (er besserte sie sogleich in 
offentliche um), die er liber neue Lufterscheinungen der Hof luft 
einzog, teuer auf, und dann, wenn einige Leute von den Thron- 
staffeln herabpurzelten, lachelte er fein genug und bemerkte, er 
hoffe, diese hatten ihn fiir ihren Freund genommen und sein Bein 
nicht gesehen, das er ihnen aus seiner Apotheke heraus heimlich 
untergeschlagen. Er war trotz einiger Herzensgiite ein Liigner 
von Haus aus, nicht weil er boshaft, sondern weil er fein sein 
wollte; und dampfte seinen gesunden Verstand, um witzig zu 
perlen. — 2c 

Gegen Viktor, als klinftigen Hofmann und Gonner, wuBt* er 
doch nicht den aufrechten Hof-Anstand anzunehmen, der sich 
und andere zugleich ehret; aber gegen die Pfarrleute beobachtete 
er die ordentliche Hof-Verachtung hinlanglich und zeigte ihnen 
genugsam, wie wenig er, ohne Absichten auf den Sohn des Lords, 
nur iiber ihre Gartenmauer oder Fensterbriistung geschauet hatte, 
geschweige gekommen ware. Viktor haBte an seinem Nachsten 
nie etwas anders als den HaB der andern Nachsten; und seine 
Achtung alter Stande, seine Verachtung aller <Sra«<&.y-Narren, sein 
Groll gegen Zeremonien und seine humoristische Zuneigung zu 3 c 
den kleinen Biihnen des Lebens machten den groBten Kontrast 
mit dem pharmazeutischen AufguBtierchen und mit dessen Ekel 
vor Menschen und mit dessen Biicken vor GroBen. 

Viktor gab seinem Hausherrn dreiBig GriiBe an den Italiener 
Tostato in Kussewitz mit, der mit ihm von Gottingen aus 1 v t Tag 
gereiset und gelacht und getanzt hatte. - Der wegfahrende Apo- 



8. HUNDPOSTTAG 6oi 

theker HeB in Viktor einen verdrieBlichen sauern Bodensatz zu- 
riick; sogar iiber den Blasbalgtreter, der jeden Sonntag den Kaffee 
hinauftrug, konnt' er nicht wie sonst lachen. Ich will sagen, war- 
um er sonst lachte. 

Der Kutscher war dann rasiert, und zwar aus der ersten Hand, 
von seiner eignen. Nun hatte das Kinn dieses tragen Bock-Insassen 
mehr Maulwurfhiigel - so nenn* ich zierlich die Warzen - vor- 
gestoBen, als no tig sind zum Rasieren und Mahen. Inzwischen 
hobelte der alte Mann an den Sonntag-Morgen - denn da ziehen 

io die gemeinen Leute zugleich den alten Adam und das alte Hemd 
aus und lassen Siinden und Bart bloB die Werkeltage wachsen - 
mit seinem Messer kiihn zwischen dem Warzen- Chagrin auf und 
nieder und schnitt ab. Nun wiirde der Mensch erbarmlich mit 
seinem zerpfliigten Gesichtvorgrund ausgesehen haben — so da B 
man hatte Blut weinen mussen iiber dasjenige, so iiber das Kinn 
dieses steinernen FluBgottes in roten Linien ging -, wenn der 
Prosektor wie ein Romer seine Wunden aus Dummheit vor- 
gezeigt hatte; aber er zeigte nichts; er zausete, verstandiger, Ta- 
bakschwamm in kleine Kappen aus und setzte die Miitzen den 

20 wunden Warzen auf und stellte sich so dar. 

»Ein Spener, ein Kato der Jiingere«, sagte Viktor, »komm' ein- 
mal in meine Stube und lache nicht, wenn ein Balgtreter nach- 
kommt mit KafFeetassen und mit sechzehn skalpierten Warzen 
und mit einem in Schwamm gebundnen Kinn, das aussieht wie 
ein Gartenfelsen mit schon verteiltem Moos bewachsen - ein 
Spener lache nicht, sage ich, wenn er kann.<< 

Er konnt' es heute selber. Miide des Tags ging er hinaus in den 
friedlichen Abend und legte sich mit dem Riicken iiber die Gipfel 
eines steilen Bergs heriiber; und als die Sonne, in ein Goldge- 

30 wolke aufgeloset, iiber den quellenden Blumenfirnis zitternd zer- 
floB und an dem Grasermeere der Berge herunterschwamm - und 
als er naher am warmen schlagenden Herzen der Natur anlag, auf 
die weiche Erde wie ein ruhender Toter hingesenkt, die Wolken 
mit Seufzern in sich herunterziehend, von weit herkommenden 
Winden iiberflossen, von Bienen und Lerchen eingewiegt: so 
kam die Erinnerung, dieser Nachsommer der Menschenfreude, in 



602 HESPERUS 

seine Seek und eine Trane in sein Auge und Sehnsucht in die 
Brust, und er wiinschte, daB ihn Emanuel nicht verschmahen 
moge. — Plotzlich naherten sich kleine Tritte seinen liegenden 
Ohren : er fuhr auf, erschrak und erschreckte. Ein schwerer Reise- 
wagen taumelte matt herauf; hinten in den Lakaienriemen hatten 
statt der Bedienten drei bleiche Infanteristen die Hande gesteckt, 
die zusammen nur ein einziges Bein besaBen, das von Fleisch war, 
indem sie auf fiinf holzernen StelzfiiBen oder Schuster- Abzeichen 
fuBten, die sie nebst noch etwas Langerem von Holz, namlich 
drei gut gearbeiteten Bettelstaben, dem Feinde abgenommen hat- k 
ten - ein Kutscher ging neben dem Wagen und eine Kammerfrau, 
und nahe am aufgesprungnen Viktor stand — Klotilde. 

Sie kam aus Maienthal. Ihm verflnsterte diese plotzliche Ober- 
strahlung alle in seiner Seele aufgehangenen Gesetztafeln, und er 
konnte die Tafeln nicht gleich lesen. Sie schauete ihn mit sanftern 
Strahlen an als sonst, und die Sonne Heh einige dazu. Mit einem 
Lacheln, als erriete sie seine ersten Fragen, gab sie ihm einen - 
Brief von Emanuel. Ein zusammenfahrendes Ach! war seine Ant- 
wort; und eh' er sich in zwei Entziickungen schicken konnte: war 
der Wagen schon oben und sie darin und alles davon. zc 

Er zogerte zitternd, in den stillen blauen ParadiesfluB der schon- 
sten Seele, die sich je ergoB, versunken zu schauen. Endlich blickte 
er die Zuge einer geliebten Menschenhand, die er noch nicht be- 
riihrt hatte, an und las : 

»Horion! 

Auf eirien Berg steigt der Mensch wie das Kind auf einen Stuhl 7 
um naher am Angesicht der unendlichen Mutter zu stehen und sie 
zu erlangen mit seiner kleinen Umarmung. Um meine Hohe Hegt 
die Erde unter dem weichen Nebel mit alien ihren Blumenaugen 
schlafend - aber der Himmel richtet sich schon mit der Sonne un- 3 o 
ter dem Augenlide auf- unter dem erblaBten Arkturus glimmen 
Nebel an, und aus Farben ringen sich Farben los - der Erdball 
walzt sich grofit und trunken voll Bliiten und Tieren in den glii- 
henden SchoB des Morgens. — 



8. HUNDPOSTTAG 603 

Sobald die Sonne kommt, so schau' ich in sie hinein, und mein 
Herz hebt sich empor und schwort dir, daB es dich liebt, Ho- 
rion!... Durchgliihe, Aurora, das Menschenherz wie dein Ge- 
wolk, erhelle das Menschenauge wie deinen Tau und zieh in die 
dunkle Brust, wie in deinen Himmel, eine Sonne herauf ! . . . 

Ich habe dir jetzo geschworen - ich gebe dir meine ganze Seele 
und mein kleines Leben, und die Sonne ist das Siegel auf dem 
Bunde zwischen mir und dir. 

Ich kenne dich, Geliebter; aber weifit du, wessen Hand du in 
10 deine genommen? Sieh, diese Hand hat in Asien acht edle Augen 
zugeschlossen - mich uberlebte kein Freund - in Europa verhiilF 
ich mich - meine triibe Geschichte liegt neben der Asche meiner 
Eltern im Gangesstrom, und am 24Sten Junius des kiinftigen 
Jahres gen* ich aus der Welt. . . O Ewiger, ich gehe - am langsten 
Tage zieht der gliickliche Geist gefliigelt aus diesem Sonnen- 
tempel, und die griine Erde geht auseinander und schlagt iiber 
meine fallende Puppe mit ihren Blumen zusammen und deckt das 
vergangne Herz mit Rosen zu... 

Wehe groBere Wellen auf mich zu, Morgenluft! Ziehe mich in 
20 deine weiten Fluten, die iiber unsern A'uen und Waldern stehen, 
und fuhre mich im Bliitengewolk' iiber funkelnde Garten und 
iiber glimmende Strome und laB mich, zwischen fiiegenden Blii- 
ten und Schmetterlingen taumelnd, unter der Sonne mit ausge- 
breiteten Armen zerfiieBend, leise iiber der Erde schwebend 
sterben, und die Bluthiille falle, zerronnen zu einer roten Morgen- 
flocke, gleich dem Ichor des Schmetterlings 1 , der sich befreiet, in 
die Blumen herab, und den blauhellen Geist sauge ein heiBer 
Sonnenstrahl aus dem Rosenkelch des Herzens in die zweite Welt 
hinauf. — Ach ihr Geliebten, ihr Abgeschiednen, seid ihrs, zieht 
jo ihr denn jetzt als dunkle Wellen 1 im bebenden Blau des Him- 
mels dahin, wogen in jener Tiefe voll iiberhiillter Weiten jetzt 
eure Atherhiillen um die verdeckten Sonnen? Ach kommt 

1 Den Schmetterlingen entfallen in ihrer letzten Verwandlung rote Trop- 
fen, die man sonst Blutregen hieB. 

* Wenn man lange ins Himmelblaue schauet : so fangt es an zu wallen, und 
diese Luftwogen halt man in der Kindheit fur spielende Engcl. 



604 HESPERUS 

wieder, wogt wieder, in einem Jahr rinn' ich aufgelost in euer 
Herz! 

- Und du, mein Freund, suche mich bald! Dich kann auf der 
Erde keiner so lieben wie ein Mensch, der bald sterben muB. Du 
gutes Herz, das mir diese milden Tage noch zum Abschied in die 
Hande driicken, unaussprechlich will ich dich lieben und warmen 

- in diesem Jahr, wo ich noch nicht weggehoben werde, will ich 
bloB bei dir bleiben, und wenn der Tod kommt und mein Herz 
fodert, findet er es bloB an deiner Brust. 

Ich kenne meinen Freund, sein Leben und seine Zukunft. In 10 
deinen kommenden Jahren stehen dunkle Marterkammern offen, 
und wenn ich sterbe und du bei mir hist, werd* ich seufzen: war- 
urn kann ich ihn nicht mitnehmen, eh* er seine Tranen vergieBet! 

Ach Horion ! im Menschen steht ein schwarzes Totenmeer, aus 
dem sich erst, wenn es zittert, die gliickliche Insel der zweiten 
Welt mit ihrem Nebeln vorhebt! Aber meine Lippen werden 
schon unter dem ErdenkloB liegen, wenn die kalte Stunde zu dir 
kommt, wo du keinen Gott mehr sehen wirst, wo auf seinem 
Thron der Tod liegt und um sich maht und bis ans Nichts seine 
Frostschatten und seine Sensen-Blitze wirft. - O Geliebter, mein 20 
Hiigel wird dann schon stehen, wenn deine inhere Mitternacht an- 
bricht; mit Jammer wirst du auf ihn steigen und ergrimmt in die 
sanften Sternenkranze blicken und rufen 1 : >Wo ist der, dessen 
Herz unter mir entzweigeht? Wb ist die Ewigkeit, die Maske der 
Zeit? Wo ist der Unendliche? Das verhullte Ich greift nach sich 
selber umher und stoBet an seine kalte Gestalt.... Schimmere 
mich nicht an, weites Sternengefild, du bist nur das aus Farben- 
erden zusammengeworfene Gemalde an einem unendlichen Gottes- 
ackertore, das vor der Wuste des unter dem Raume begrabnen 
Lebens steht .... Hohnet mich nicht aus, Gestalten auf hohern 3 o 
Sternen, denn zerrinn' ich, zerrinnt ihr auch. Ein> ein Ding, das der 
Mensch nicht nennen kann, gluht ewig im unermeBlichen Rauche, 
und ein Mittelpunkt ohne MaB verkalkt einen Umkreis ohne MaB. 

- Doch bin ich noch; der Vesuv des Todes dampft noch iiber 

1 Dieser Monolog ist ein Stuck aus einer fruhern schwarzen Stunde, die 
jedes Herz von Empfindung einmal ergreift. 



8. HUNDPOSTTAG 605 

mich hinuber, und seine Asche hiillt mich zu - seine fliegenden 
Felsen durchbohren Sonnen, seine Lavagiisse bewegen zerlassene 
Welten, und in seinem Krater liegt die Vorwelt ausgestreckt, und 
Iauter Graber treibt er auf. . . . O Hoffnung, wo bleibst du?< , . . 

Walle trunken um mich, beseelter Goldstaub, mit deinen diin- 
nen Fliigeln, ich zerdriicke dein kurzes Blumenleben nicht - 
schwelle herauf, taumelnder Zephyr, und spule mich in deine 
Bliitenkelche hinab - o du unermeBlicher StrahlenguB, falle aus 
der Sonne iiber die enge Erde und fuhr' auf deinen Glanzfluten 

10 das schwere Herz vor den hochsten Thron, damit das ewige un- 
endliche Herz die kleinen, an Asche grenzenden nehme und heile 
und warme! 

1st denn ein armer Sohn dieser Erde so ungliicklich, daB er ver- 
zagen kann mitten im Glanze des Morgens, so nahe an Gott auf 
den heifien Stufen seines Throns? 

Fliehe mich nicht, mein Teurer, weil mich immer ein Schatten 
umzingelt, der sich taglich verdunkelt, bis er endlich als eine kleine 
Nacht mich einbauet. Ich sehe den Himmel und dich durch den 
Schatten; in der Mitternacht lachle ich, und im Nachtwind geht 

20 mein Atem voll und warm. Denn, o Mensch, meine Seele hat sich 
aufgerichtet gegen die Sterne : der Mensch ist ein Engbriistiger, 
der erstickt, wenn er liegt und seinen Busen nicht auf hebt. - Aber 
darfst du die Erde, diesen Vorhimmel, verachten, den der Ewige 
gewiirdigt, unter dem lichten Heer seiner Welten mitzugehen? 
Das GroBe, das Gottliche, das du in deiner Seele hast und in der 
fremden liebst, such auf keinem Sonnenkrater, auf keinem Pla- 
netenboden - die ganze zweite Welt, das ganze Elysium, Gott 
selbst erscheinen dir an keinem andern Ort als mitten in dir. Sei 
so groB, die Erde zu verschmahen, werde groBer, um sie zu ach- 

30 ten. Dem Mund, der an sie gebuckt ist, scheint sie eine fette Blu- 
men-Ebene - dem Menschen in der Erdnahe ein dunkler Welt- 
korper - dem Menschen in der Erdferne ein schimmernder Mond. 
Dann erst flieBet das Heilige, das von unbekannten Hohen in den 
Menschen gesenkt ist, aus deiner Seele, vermischt sich mit dem 
irdischen Leben und erquickt alles, was dich umgibt: so muB das 
Wasser aus dem Himmel und seinem Gewolk erst unter die Erde 



606 HESPERUS 

rinnen und aus ihr wieder aufquellen, eh' es zum frischen hellen 
Trunk gelautert ist. - Die ganze Erde bebt jetzo vor Wonne, daB 
alles ertont und singt und ruft, wie Glocken unter dem Erdbeben 
von selber erklingen. - Und die Seele des Menschen wird immer 
groBer gemacht vom nahen Unsichtbaren — 
Ich Hebe dich sehr! - 

Emanuel.« 

Horion las durch schwimmende Augen: »Ach,« wunscht* er, 
»war' ich schon heute mit meinem unordentlichen Herzen bei dir, 
du Verklarterk und jetzt fiel ihm erst die Nahe des Johannistages i 
ein, und er nahm sich vor, ihn da zu sehen. Die Sonne war schon 
verschwunden, die Abendrote sank wie eine reife Apfelblute hin- 
ab, er fiihlte nicht die heiBen Tropfen auf seinem Angesicht und 
den Eistau der Dammerung an seinen Handen und irrte mit einer 
von Traumen erleuchteten Brust, mit einem beruhigten, mit der 
Erde ausgesohnten Herzen zuruck. 

- Beilaufig! ists denn notig, daB ich eine Schutzschrift aus- 
arbeite fiir Emanuel als Stilisten und als Styliten (im hohernSinne)? 
Und wenn sie notig ist, brauch' ich darin etwas anders beizubrin- 
gen als dieses - daB seine Seele noch das Echo seiner indischen ; 
Palmen und des Gangesstromes ist - daB der Gang der bessem 
entfesselten Menschen, so wie im Traume, immer ein Flug ist - 
daB er sein Leben nicht wie Europaer mit fremdem Tierblut dungt 
oder in gestorbnem Fleisch auswarmt, und daB dieses Fasten im 
Essen (ganz anders als das Oberladen im Trinken) die Fliigel der 
Phantasie leichter und breiter macht - daB wenige Ideen in ihm, 
da er ihnen alien geistigen Nahrungsaft einseitig zuleitet (welches 
nicht nur Wahnsinnige, sondern auch auBerordentliche Menschen 
von ordentlichen abtrennt), ein unverhaltnismaBiges Gewicht be- 
kommen miissen, weil die Fruchte eines Baums desto dicker und 3 
siiBer werden, wenn man die andern abgebrochen - und der- 
gleichen mehr? - Denn, aufrichtig zu sprechen, die Leser, die 
eine Schutzschrift begehren, bediirfen selber eine, und Emanuel 
ist etwas Besseres wert als einer - peinlichen Defension - 

Jetzo sprang dem Helden der Trost wie eine Quelle auf, daB er 



8. HUNDPOSTTAG 607 

am Donnerstag seine Seelenwanderung durch die Natur, seine 
Reise, anhebe: »Beim Henker!« sagt* er aufhupfend, »was hat ein 
Christ da notig, daB er Notmunzen schlagt und Trauermantel 
umtut, wenn er am Donnerstage nach Kussewitz zur Vbergabe 
der italienischen Prinzessin reisen kann - und am Sonnabend nach 
der Insel der Vereinigung und noch am namlichen Tage, welches 
ein Tag vor Johannis ist, nach Maienthal zu seinem Teuern, zu 
seinem Engel?« - 

O Himmel, ich wollt*, er und ich waren schon tiber die Reise 
o her - wahrhaftig sie kann, wenn mich nicht alle Hoffnungen be- 
liigen, vielleicht ganz ertraglich werden! - 

- Unter der Wochenbetstunde des Mittwochs rollten zwei 
Wagen vor; aus dem vollen traten der Lord und der Fiirst, aus 
dem leeren nichts. Die alte Appel hatte sich prachtig angekleidet 
und in die Speisekammereingesperrt. Der Kaplan war gliicklicher, 
er dozierte im Tempel. Man macht selten ein gescheites Gesicht, 
wenn man vorgestellt wird - oder ein dummes, wenn man vor- 
stellt. Der Lord fiihrte dem Fiirsten seinen Sohn als ein Unter- 
pfand seiner kunftigen Treue in die Hande und ans Herz, aber mit 

o einer Wiirde, die ebensoviel Ehrfurcht erwarb, als sie erwies. 
Mein guter Held betrug sich wie ein - Narr; er hatte weit mehr 
Witz, als unsre Achtung gegen Hohere oder die ihrige gegen 
uns verstattet; ein Talent, das auBer dem Hof-Lehndienste sich 
auBert, kann als Hochverrat betrachtet werden. 

Sein Witz war bloB eine versteckte Verlegenheit, worin ihn zwei 
Gesichter und eine dritte Ursache setzten. Erstlich dasfurstliche . . . 

- Wenn sich die Lesewelt beschwert, da 8 so allmahlich, wie 
sie sehe, ein neuer Name und Akteur nach dem andern in diesen 
Venusstern hereinschleiche und ihn so voll mache, bis aus dem 

io historischen Bildersaal ein ordentlicher Vokabelsaal werde, in 
welchem sie mit einem AdreBkalender in der Hand herumwan- 
deln musse : so hat sie wahrhaftig nur zu sehr recht, und ich habe 
mich selber schon am meisten dariiber beschwert; denn mir 
bleibt am Ende doch die groBte Last auf dem Halse, weil jeder 
neue Tropf ein neues herausgezogenes Orgelregister ist, das ich 
mit spielen muB und das mir das Niederdriicken der Tasten saue- 



608 HESPERUS 

rer macht; aber der Korrespondent schickt mir im Kiirbis, ohne 
anzufragen, alle diese Einquartierung zu, und der Schnaken- 
macher schreibt gar, ich sollt* es nur der Welt sagen, es komme 
noch mehr Volk. - 

DasfUrstlicheGesichtsetztedenHelden in Verlegenheit, nicht 
weil es imponierte, sondern weil es dieses bleiben HeB. Es war ein 
Wochentags* und Kurrentgesicht, das auf Miinzen, aber nicht 
auf Preismedaillen gehorte - mit Arabesken-Zugen, die weder 
Gutes noch Boses bedeuten - von wenigem Hof-Mattgold iiber- 
flogen — eingeolet mit einem sanften Ol, das die starksten Wellen « 
erdrucken konnte - eine Art siiBer Wein, mehr den Weibern als 
Mannern tfinkbar. Von den feinsten Wendungen, die Viktor zu 
erwidern gesonnen war, stand nichts zu horen und zu sehen; aber 
von passenden leichten desto mehr. Viktor wurde durch den 
Kampf und Wechsel zwischen Hoflichkeit und Wahrheit ver- 
Iegen. Die geselligen Verlegenheiten entstehen nicht aus der Un- 
gewiBheit und Unwegsamkeit des Steigs, sondern auf den Kreu%- 
wegen der Wahl und zwischen den zwei Heubiindeln des scho- 
Iastischen Esels. Viktor, dessen Hoflichkeit immer aus Mtnschen- 
Hebe entsprang, muBte die heutige aus Eigennutz entspringen *c 
lassen; aber dieses wollt* ihm eben nicht ein. AuBer dem Vater- 
Gesicht, vor dem schon bei den meisten Kindern das ganze Rader- 
werk eines freien Betragens knarrt und stockt, macht' ihn drittens 
das verlegen und witzig, daB er etwas haben wollte. Ich kanns 
einem jeden - einen Hofmann ausgenommen, dessen Leben wie 
das eines Christen ein bestandiges Gebet um etwas ist - ansehen, 
wenn er zur Tur hereinkommt, ob er als Almosensammler und 
Werkheiliger oder als bloBer Freudenklubist einspricht. 

Noch ehe die Leute aus der Kirche gingen, fassete Viktor schon 
herzliche Liebe zum Fiirsten — die Ursache war, er wollt' ihn lie- 3c 
ben, und stande der Teufel selber da. Er sagte oft: gebt mir zwei 
Tage oder eine Nacht, so will ich mich verlieben, in wen ihr vor- 
schlagt. Er fand mit Vergnugen auf Jenners Gesicht keinen Se- 
kunden-, keinen Monatzeiger der Schaferstunden, mit denen ein 
guter Casar sonst gern die langweiligen Ehejahre wie mit Flitter- 
wochen zu durchschieBen sucht: sondern in seinem Gesichte war 



8. HUNDPOSTTAG 609 

nichts als Enthaltsamkeit aufgeschlagen, und Viktor pflichtete 
lieber dem Geskhte als dem Rufe bei. Er schieBet fehl; denn auf 
das mdnnliche Gesicht - ob es gleich, wie gewisse Gemalde aus 
Schreib-Lettern, ebenso aus lauter Buchstaben der Physiognomik 
gemacht ist - hat doch die Natur die Lesemiitter und Malzeichen 
der Wollust sehr klein geschrieben, auf das weibliche aber groBer; 
welches ein wahres Gluck fur das erste und starkere und - un- 
keuschere Geschlecht ist. Uberhaupt ist Ehebrechen fur Jenner- 
Fiirsten nichts als eine gelindere Art von Regieren und Kriegen. 
10 Und doch stellen rechtschaffene Regenten die Weiber, sobald sie 
solche erobert haben, stets dem vorigen Eheherrn mit Vergnugen 
wieder zu. Es ist aber dies dieselbe GroBe, womit die Romer den 
groBten Konigen ihre Reiche wegnahmen, um sie nachher damit 
wieder zu beschenken. 

Da Fiirsten nicht wie die Juristen bose Christen, sondern lieber 
keine sind: so nahm Jenner unsern Viktor durch verschiedene 
Funken von Religion und durch einigen HaB gegen die gallischen 
Enzyklopadisten ein; wiewohl er einsah, daB fiir einen Fiirsten 
die Religion zwar ihr Gutes, aber auch ihr Schlimmes habe, da nur 
to ein gekronter Atheist, aber kein Theist das unschatzbare privile- 
gium de non appellando besitzt, das darin besteht, daB die be- 
schwerte Partei nicht (per saltus oder durch einen salto mortale) 
an die hochste Instanz auBerhalb der Erde appellieren darf. 

Das Gesprach war gleichgiiltig und leer wie jedes in solchen 
Lagen. Oberhaupt verdienen die Menschen fiir ihre Gesprache 
stummzu sein; ihre Gedanken sind allezeit besser als ihre Ge- 
sprache, und es ist schade, daB man an gute Kopfe keinen BarO- 
metrographen oder kein Setzklavier anbringen kann, das auBen 
alles nachschreibt, was innen gedacht wird. Ich wollte wetten, 
jo jeder groBe Kopf geht mit einer ganzen Bibliothek ungedruckter 
Gedanken in die Erde, und bloB einige wenige Biicherbretter voli 
gedruckter lasset er in die Welt auslaufen. 

Viktor stellte an den Fiirsten die gewohnlichen medizinischen 
Fragstiicke, nicht bloB als Leibarzt, sondern auch als Mensch, um 
ihn zu Iieben. Obgleich Leute aus der groBen und groBten Welt, 
wie der Unter-Mensch, der Urangutang, im 25sten Jahre ausge- 



6lO HESPERUS 

lebt und ausgestorben haben — vielleicht sind deswegen die Ko- 
nige in manchen Landern schon im i4ten Jahre miindig -, so 
hatte doch Jenner sein Leben nicht so weit zuriickdatiert und war 
wirklich alter als mancher Jiingling. - Am meisten bemachtigte 
sich der Fiirst des guten warmen Herzens Sebastians durch das 
schlichte Betragen ohne Anspriiche, das weder der Eitelkeit noch 
dem Stolze diente, und dessen Aufrichtigkeit sich durch nichts von. 
der gewohnlichen unterschied als durch Feinheit. Viktor hatte 
schon Vasallen neben dem Munde ihres Lehnherrns so stehen 
sehen, daB der letzte aussah wie ein Haifisch, der quer einen > 
Menschen im Rachen tragt; aber Jenner glich einem Petermann- 
chen 1 , das darin einen hiibschen Stater vorweist. 

Dem Hofkaplan wars, da er kam, in seinem Erstaunen iiber 
einen gekronten Gast unmoglich, Lippe oder FuB zu riihren; er 
verblieb unbeweglich in der weiten Wasserhose des Priester- 
rocks, der um ihn wie um Marzipan ein Regalbogen geschlagen 
war. Das einzige, was er sich erlaubte und erfrechte, war - nicht, 
die Bibel (den Mauskloben) wegzulegen, sondern - die Augen 
heimlich in der Stube herumzutreiben, um herauszubringen, ob 
sie gehorig geheftet, foliiert und uberschrieben sei von den Stu- * 
ben-Registratorinnen. 

Der Fiirst reisete sogleich mit dem Lord weiter, der seinen Ab- 
schied vom Sohne und seine Abschiedpredigten bis auf den ein- 
samen Tag auf der Insel der Vereinigung versparen muBte. Der 
Sohn bekam zur Nachbarschaft des Fiirsten Lust, wenn er dessen 
Betragen gegen seinen Vater iiberdachte; er hatte die doppelte 
Freude des Kindes und des Menschen, da sein Vater das eigne 
Gluck in das Gluck des armen Landes verwandelte und bloB, um 
Gutes zu tun, in dem Thronfelsen sich FuBstapfen austrat, wie 
man in Italien die FuBtritte der Engel, die erschienen und be- ? 
gliickten, in den Felsen zeigt. Andre Gunstlinge gleichen dem 
Henker, der sich im Sande FuBstapfen aushohlt, um fester zu 
stehen, wenn er - kopft. 

In der ausgeleerten Stube wurde unter Eymanns Gliedern - er 
stand noch im Priesterrock-Schilderhaus - der Zeigefinger zuerst 

1 So heiBet der Fisch, in dessen Maule Petrus die Steuer Christi gefunden. 



ERSTER SCHALTTAG 6ll 

wach, der sich ausstreckte und dem Familienzirkel das Bette wies: 
»Es ware mit lieber und dienlicher,« sagte er, »hatte man mich mit 
diesem Lumpen totstranguliert, als daB ihn der Serenissimus aus- 
spioniert.« Er meinte aber seine eigne beschmutzte Halsbinde, die 
er selber in das Ehebette - die Kunstkammer und den Packhof 
seiner Wasche - geworfen hatte. Wenn man ihm einen Qual-Ein- 
fall widersprach, so bewies er ihn so Iange, bis er ihn selber glaub- 
te; raumte man ihn aber ein, so sann er sich einige Skrupel aus 
und nahm eine andere Meinung an : »Durch die Vorhange muB 
10 Seine Durchlaucht unfehlbar den Fetzen gesehen haben«, ver- 
setzte er. Endlich bereisete er alle Platze, wo Jenner gestanden 
hatte, und visierte nach der Lumpenbinde und untersuchte ihre 
Parallaxe. »Ans Blenden der Fenster miissen wir uns halten, wenn 
wir ruhig bleiben wollen«, beschloB er und — ich. 

Nachschrift. Ich werde allemal nach einem achten Kapitel - 
weil ich gerade zwei Hundtage in einer Woche fertig bringe - be- 
merken, daB ich wieder einen Monat lang gearbeitet habe. Ich 
berichte daher, daB morgen der Junius angeht. 



Erster Schalttag 

*° Miissen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daB man sie macht? - 

Das letzte. - Heute ubt der Berghauptmann zum erstenmal auf 
des Lesers GrUnd und Boden das Recht (Servitus oneris ferendi, 
oder auch Servitus projiciendi) aus, das er nach dem Vertrag vpm 
4ten Mai wirklich besitzt. Die Hauptfrage ist jetzt, ob ein Hund- 
Vertrag zwischen zwei so groBen Machten - indem der Leser alle 
Weltteile hat, und ich wieder den Leser - nach dem SchlieBen 
noch zu halten ist. 

Friedrich, der Antimachiavellist, antwortet uns und stutzt sich 

auf den Machiavell: allerdings muB jeder von uns sein Wort so 

° lange halten, als er - Nutzen davon hat. Dieses ist so wahr, daB 

solche Traktaten sogar nicht gebrochen wiirden, wenn sie nicht 



6l2 HESPERUS 

einmal — geschlossen waren; und die Schweizer, die noch 171 5 
einen mit Frankreich beschworen, hatten ebensogut in alien Kan- 
tons die Finger auf heben und beeidigen konnen, daB sie alle Tage 
ordentlich - ihr Wasser lassen wollten. 

Sobald aber der Nutzen von Vertragen aufhort, so ist ein Re- 
gent befugt, deren zweierlei zu brechen - die mit andern Regen- 
ten, die mit seinen eignen Landes-Stiefkindern. 

Als ich noch im Kabinett arbeitete (schon um 6 Uhr mit dem 
Flederwisch, die Sessiontische abzustauben, nicht mit der Feder), 
hatt' ich ein gescheites fliegendes Blatt unter der letzten, worin ic 
ich die Traktaten-Ouvertiire : au nom de la Sainte Trinite, oder 
in nomine sanctissimae et individuae Trinitatis, fiir die Chiffre 
ausgeben wollte, welche die Gesandten zuweilen iiber ihre Be- 
richte zum Zeichen setzen, daB man das Gegenteil zu verstehen 
habe - es wurd* aber nichts aus dem fliegenden Blatt als ein - 
Manuskript. In diesem war ich einfaltig genug und wollte den 
Fiirsten erst raten, von iVor-Liigen und Not-Wahrheiten der 
Traktaten miiBten sie in jeder Breite und Stunde deklinieren und 
inhtinieren ; ich wollte die Staatskanzleien in einen Winkel zu mir 
heranpfeifen und ihnen in die Ohren sagen: ich wurd' es, und 2 < 
hatt' ich nur neun Regimenter in Sold und Hunger, nie leiden, 
daB man mir mit dem Wachs und Siegellack der Vertrage Hande 
und FiiBe zusammenpichte und mit der Dinte die Flugel verklebte ; 
das wollt' ich in die Staatspraxis erst einfuhren — . aber die Staats- 
kanzleien lachten mich von weitem in meinem narrischen Winkel 
aus und sagten: der Pfeifer muB glauben, wir machens anders. 

In den Werken des Herrn Herkommen - des besten deutschen 
Publizisten, der aber keine acta sanctorum schreibt - wird es er- 
wiesen, daB ein Landesfurst die Vertrage, Privilegien und Bewilli- 
gungen zwischen seinem Vorfahrer und den Untertanen gar nicht 3< 
zu beachten brauche; - daraus folgt, daB er noch weit weniger 
seine eignen Vertrage mit ihnen zu halten vonnoten habe, da ihm 
die NutznieBung dieser Vertrage, die in nichts als im Halten oder 
Brechen besteht, offenklar als Eigentumer gebuhrt. Herr Her- 
kommen sagt das namliche auf alien Blattern und schwort gar 
dazu. - Ja kann es einen Dekan oder Rektor Magnifikus geben, 



9. HUNDPOSTTAG 613 

der so wenig Vernunft annimmt, daB ihm - da doch nach einer 
allgemeinen Annahme ein Konig nicht stirbt und mithin Vor- und 
Nachfahrer zu einem Mann ineinanderverwachsen - nicht der 
SchluB daraus beizubringen ist, daB der Nachfahrer seine eigne* 
Vertrage fur die seines Vorfahrers halten und mithin, da beide 
nur ein Mann sind, ebensogut wie geerbte brechen konne? 

Wer philosophisch daruber reden wollte, der konnte dartun, 
daB iiberhaupt gar kein Mensch sein Wort zu halten brauche, 
nicht bloB kein Fiirst. Nach der Physiologie riickt der alte Kor- 

o per eines Konigs (eines Lesers, eines Berghauptmanns) in drei 
Jahren einem neuen zu; - Hume treibts mit der Seele noch weiter, 
weil er sie fiir einen dahinrinnenden (nicht gefrornen) FIuB von 
Erscheinungen halt. So sehr also der Konig (Leser, Autor) im 
Augenblick des Versprechens an dessen Haltung gefesselt ist: so 
unmoglich kann er noch daran gebunden sein im nachsten Augen- 
blick darauf, wo er schon sein eigner Nachfahrer und Erbe ge- 
worden, so daB in der Tat von uns beiden am 4ten Mai hier kon- 
trahierenden Wesen am heutigen Mai nichts mehr da ist als unsre 
bloBen Posthumi und Nachfahrer, namlich win Da nun gliick- 

3 licherweise niemals in einen und denselben Augenblick zugleich 
Versprechen und Halten hineingehen: so kann die angenehme 
Folge fiir uns alle daraus flieBen, daB iiberhaupt gar keiner sein 
Wort zu halten verbunden sei , er mag Kuppel oder Sagespan eines 
Thrones sein. Auch die Hofleute (die Thron-Eckenbeschlage) 
setzen sich diesem Satze nicht darwider. 

Das Publikum wird gebeten, die Vorrede fiir den zweiten 
Schalttag zu halten, damit schones EbenmaB da ist. 



9. HUNDPOSTTAG 

Himmels-Morgen, Himmels-Nachmittag- Haus ohne Mauer, Bette ohne Haus 

Ach der arme Bergmann, der Minierer im Steinsalz und der 
Insel-Neger haben in ihrem Kalender keinen solchen Tag, als hier 
beschrieben oder wiederholet wird ! Sebastian stand Donnerstags 



6 14 HESPERUS 

schon um 3 Uhr auf dem Flugbrett seines Bienenstocks, urn in 
Groftkussewiti in einem Tage anzulanden und wegzusein, eh' man 
auf war. Ein Leser, der einen Atlas unten auf dem FuBboden hat, 
*kann unmoglich diesen Marktflecken, wo die Obergabe der 
Fiirstenbraut vorgeht, mit einem Namenvetter von Dorf ver- 
wirren, den die Stadt Rostock zu ihrem unbeweglichen Vermogen 
geschlagen. Das ganze Haus hatte ihn lei der so lieb, daC es schon 
eine halbe Stunde friiher aus den Morgenfedern, woraus die groB- 
ten Fliigel der Traume gemacht werden, heraus war. Unter dem 
Getose der Wagenketten, der Hunde und Hahne trennte er sein 
sanftes Herz von lauter liebenden Augen, und indem ihn das 
Klopfen des einen und das Erweichen der andern verdroB, wurde 
alles noch arger; denn der auBere Larm stillt den innern der Seele. 

DrauBen schwammen alle Grasebnen und Samenfelder im 
Tropfbad des Taus und im kalten Luftbad des Morgenwinds. Er 
wurde darin wie heiBes Eisen gehartet; ein Morgenland voll un- 
ubersehlicher HofTnungen umzog ihn, er entkleidete seine Brust, 
warf sich brennend ins tropfende Gras, wusch sich (aber aus 
hohern Absichten als Madchen) das feste Gesicht mit fliissigem 
Juniusschnee und trat, mit straffen Fibern bespannt, aus dem ; 
Tropfbad in den Anzug zuruck - bloB Haar und Brust steckt* er 
in kein Gefangnis. 

Er ware gewiB eher abgegangen; aber er wollte dem Monde 
ausweichen, den er so wenig mit der Sonne gatten konnte als die 
Kinder von beiden, namlich Nachtgedanken mit Morgengedan- 
ken. Denn wenn die Morgenwolken um den Menschen tauen, 
wenn die liebenden Vogel schreiend durch den Glanznebel schie- 
Ben, wenn die Sonne aus der Wolkenglut vorschwillt: so driickt 
der erfrischte Mensch seinen FuB tiefer in seine Erde ein und 
wachset mit neuem Lebens-Efeu fester an seinen Planeten an. 

Langsam watete er durch einen niedrigen Haselstauden-Gang 
und streifte ungern ihre erkalteten Kafer ab ; er hielt an sich und 
stand endlich, um sich zu verspaten, damit er nicht im nahen 
Waldchen ware, wenn gerade die Sonne ihr Theater betr at. Er 
horte schon den musikalischen Wirrwarr im Waldchen - Rosen- 
wolken waren als Blumen in die Sonnenbahn gebreitet- die Wane 



9. HUNDPOSTTAG 6 1 5 

des Pfarrdorfs, dieser Hochaltar, worauf sein erster schoner 
Abend gebrannt, entflammte sich - die singende Welt der Luft 
hing jauchzend in den Morgenfarben und im Himmelblau - Fun- 
ken von Wolken hupften vom Goldbarren am Horizont empor - 
endlich wehten die Flammen der Sonne uber die Erde herein .... 

Wahrlich, wenn ich an jedem Abende den Sonnenaufgang 
make und an jedem Morgen ihn sahe : ich wiirde doch wie Kinder 
rufen: noch einmal, noch einmal! 

Mit betaubten Sehnerven und mit vorausschwimmenden Far- 
io benflocken ging er langsam in den Wald wie in einen dunkeln 
Dom, und sein Herz wurde groB bis zur Andacht... 

- Ich will nicht voraussetzen, daB mein Leser ein so prosaisches 
Gefiihl fiir den Morgen habe, um dieses poetische unvertraglich 
mit Viktors Charakter zu fin den - ja ich darf seiner Menschen- 
kenntnis zutrauen, daB sie wenig Mtihe habe, zwischen solchen 
entlegnen Tonarten in Viktor, wie Humor und Empfindsamkeit 
sind, den Leitton auszufinden; ich will mich also unbesorgt dem 
frohen Anschauen seiner weichen Seele und dem Vertrauen auf 
fremden Einklang uberlassen. - 
to Der Venusstern und ein Wald bluhen am schonsten am Mor- 
gen und Abend; auf beide treffen dann die meisten Strahlen der 
Sonne. Daher war unserm Viktor im Walde, als ging' er durch 
die Pforte eines neuen Lebens, da er an diesem feurigen Morgen 
mit der Sonne, die neben ihm von Zweigen zu Zweigen flog, durch 
das brausende Geholze, hinweg unter vollstimmigen Asten, die 
ebenso viele bewegte Spiel- Walzen waren, uber das im griinen 
Sonnenfeuer stehende Moos und unter dem ins himmlische Blau 
getauchten Tannengriin durchwankte. - Und an diesem Morgen 
erneuerte sich in seinem Herzen die schmerzhafte Ahnlichkeit von 
o vier Dingen - von dem Leben, von einem Tage, einem Jahre, 
einer Reise, die einander gleichen im frischen Jubel-Anfang - im 
schwulen Mittelstiick - im miiden satten Ende. - 

DrauBen im Anfluge, im Hintergrund des Waldchens, rollte 
vor ihm die Natur ihr meilenlanges Altarblatt auf mit den Hiigel- 
Ketten desselben, mit seinen blendendenLandhausern, die sich mit 
Garten wie mit Fruchtschnuren putzten, und mit den Miniatur- 



6 1 6 HESPERUS 

farben der Bliimchen, die sich an der silbernen Schonheitlinie der 
Bache bewegten. Und eine Wolke trunkner, spielender, schwirren- 
der Kleinwesen aus Seidenstaub zog und hing iiber das wallende 
Gemalde her. - Welchen Weg sollte Viktor im Labyrinth der 
Schonheit nehmen? - Alle 64 Strahlen des Kompasses streckten 
sich als wegweisende Arme aus, und er hatte soviel Verstand, da 6 
er sich keine Stunde vorsetzte, um anzukommen - er wich daher 
iiberall rechts und links aus - er stieg in jedes Tal, das sich hinter 
einem Hiigel versteckte -er besuchte die durchbrochnen Schatten- 
wiirfe jeder Baumreihe - er legte sich zu den Fiifien einer schonern 1 
Blume nieder und erquickte sich mit reiner Liebe an ihrem Geiste, 
ohne ihren Korper abzuknicken - er war der Reisegefahrte des 
gepuderten Schmetterlings und sah seinem Einwiihlen in seine - 
Blume zu, und der Grasmiicke folgte er durch Gebiische in ihre 
Brutzelle und Kinderstube nach - er lieB sich festmachen durch 
den Kreis, den eine Biene um ihn zog, und lieB sie ruhig in den 
Schacht seines eignen B lumen strauBes einschlagen - er iibte in 
jedem Dorfe, das ihm der bunte Grund vorhielt, die Durchgang- 
gerechtigkeit und begegnete am liebsten den Kindern, deren Tage 
noch so spielten wie seine Stunden 2 

Aber Menschen vermied er — 

Und doch sprang aus seinem Herzen eine hohe Quelle der 
Liebe, die bis zum entferntesten Bruder drang; und doch war er 
so sehr ohne Ichsucht, so ohne jene empfindsame Intoleranz, die 
den Grad und die Quelle mit der herrnhutischen gemein hat. — 
Der Grund aber war der: der erste Tag einer Reise war ganz an- 
ders als der zweite, dritte, achtzigste. Denn am zweiten, dritten, 
achtzigsten war er prosaisch, humoristisch, gesellig,-d. h. sein Herz 
hing sich wie gehakelter Same iiberall an und schlug die Wurzeln 
seines Gliicks in jedem fremden Schicksal ein. Aber am ersten 3 
Tage kamen verhiillte Geister aus alten Stunden in seine Seele, 
welche verschwanden, wenn ein Dritter sprach - eine sanfte 
Trunkenheit, die ihm der Dunstkreis der Natur wie der eines 
Weinlagers mitteilte, legte sich wie eine magische Einsamkeit um 
seine Seele. .. Warum will ich aber den ersten Tag schildern, eh* 
ich ihn schildere? 



9» HUNDPOSTTAG 617 

In den ersten Stunden der Reise war er heute frisch, froh, gliick- 
lich, aber nicht selig; er trank noch, allein er war nicht trunken. 
Aber wenn er so einige Stunden mit schopfendem Auge und 
saugendem Herzen gewandelt war durch Perlenschnure betaueter 
Gewebe, durch sumsende Taler, iiber singende Hiigel, und wenn 
der veilchenblaue Himmel sich friedlich an die dampfenden Hohen 
und an die dunkeln, wie Gartenwande iibereinander steigenden 
Walder anschloB; wenn die Natur alle Rohren des Lebenstromes 
offnete, und wenn alle ihre Springbrunnen aufstiegen und bren- 
nend ineinander spielten, von der Sonne iibermalt: dann wurde 
Viktor, der mit eiriem steigenden und trinkenden Herzen durch 
diese fliegenden Strome ging, von ihnen gehoben und erweicht; 
dann schwamm sein Herz bebend wie das Sonnenbild im unend- 
lichen Ozean, wie der schlagende Punkt des Radertiers im flat- 
ternden Wasserkiigelchen des Bergstroms schwimmt. — 

Dann losete sich in eine dunkle UnermeBlichkeit die Blume 

auf, die Aue und der Wald; und die Farbenkorner der Natur zer- 

gingen in eine einzige weite Flut, und iiber der dammernden Flut 

stand der Unendliche als Sonne, und in ihr das Menschenherz als 

o luriickgespiegelte Sonne. — 

Alles ward eins - alle Herzen wurden ein groBtes - ein einziges 
Leben schlug - die griinenden Bilder, die wachsenden Bildsaulen, 
der Staubklumpe des Erdballs und die unendliche blaue Wolbung 
wurden das anblickende Angesicht einer unermeBlichen Seele — 

Er mochte immerhin die Augen zuschlieBen : in seiner dunkeln 
Brust ruhte noch diese bliihende Unendlichkeit. 

Ach wenn er sich in die Wolken hatte hinaufstiirzen konnen, 
um auf ihnen durch den wehenden Himmel iiber die uniiberseh- 
liche Erde zu ziehen ! - Ach wenn er mit dem Blutendufte hatte 
' iiber die Blumen hiniiberrinnen, mit dem Winde iiber die Gipfel, 
durch die Walder hatte stromen konnen ! - O jetzt war' er einem 
groBen Menschen lieber an das Herz gefallen und trunken und 
weinend in seinen Busen versunken, um zu stammeln : »Wie gliick- 
lich ist der Mensch!« 

Er muBte weinen, ohne zu wissen woriiber - er sang Worte 
ohne Sinn, aber ihr Ton ging in sein Herz - er lief, er stand - er 



6l8 HESPERUS 

tauchte das gliihende Angesicht in die Wolke der Bliitenstauden 
und wollte sich verlieren in die sumsende Welt zwischen den 
Blattern — er driickte das zerritzte Angesicht ins hohe kuhlende 
Gras und hing sich im Taumel an die Brust der unsterblichen 
Mutter des Fruhlings. 

Wer ihn von weitem sah, hielt ihn fur wahnsinnig; vielleicht 
jetzt mancher noch, der es nie selber erfahren hat, daB durch die 
ausgehellte selige Brust, wie durch den heitersten Himmel, Sturm- 
winde Ziehen konnen, die in beiden in Regen zerflieBen. 

In dieser Tagzeit seines Wiedergeburt-Tages gab sein Genius i 
seinem Herzen die Feuertaufe einer Liebe, die alle Menschen und 
alle Wesen in ihre Flammen fassete. - Es gibt gewisse kostliche 
Wonne-Minuten - ach warum nicht Jahre? -, wo eine unaus- 
sprechliche Liebe gegen alle menschliche Geschopfe durch dein 
ganzes Wesen flieBet und deine Arme sanft fur jeden Bruder auf- 
tut. — Das wenigste war, daB Viktor, dessen Herz in der Sonnen- 
seite der Liebe war, jedem, der ihm neben einem Berge aufstieB, 
gegen die steile Seite auswich — daB er vor keinem, der angelte, 
voriiberging, um keinen verscheuchenden Schatten ins Wasser zu 
werfen - daB er langsam durch Schafe wanderte und vor dem 2 
Kinde, das ihn scheuete, einen Umweg nahm. - Nichts ging uber 
die sanfte Stimme, womit er jedem Pilgrim mehr als diesen gliick- 
lichen Morgen wiinschte; nichts uber den vorausgeriihrten BHck, 
womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren Schwielen und 
Narben und Schnittwunden einen Blutschwamm oder schmerzen- 
lindernden Tropfen notig hatten, auskundschaften wollte. »Ach 
ich weiB es so gut als ein Famulus bei einem Professor der Moral,« 
(sagt' er zu sich) »daB es keine Tugend, sondern nur eine Wollust 
ist, die Dornenkrone von einer zerritzten Stirne, den Stachel- 
giirtel von wunden Nerven wegzunehmen; aber diese unschul- ; 
dige Freude wird man mir doch vergonnen, und da auf so vielen 
Wegen zersplitterte Menschen liegen, warum streckt auf meinem 
keiner seine Hand aus, damit ich etwas hineinlegen konnte fiir 
diesen unverdienten Himmel in meiner Brust?« 

Er wollte seine Freude einem fremden Herzen zum Kosten ent- 
gegentragen, wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen 



9' HUNDPOSTTAG 619 

einer andern iibergibt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, da- 
von eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angestrickt war, und 
das andere vornen als schiebender Fuhrmann nachgespannt. Der 
Karren war mit sechs Iocherichten Sacken voll Tannenzapfen be- 
frachtet, die das arme Gespann zu einem schwindsiichtigen Feuer 
zusammenfuhr. Beide vertauschten haufig ihre Amter, um es aus- 
zudauern; und der Fuhrmann wollte immerfort sogleich wieder 
der Gaul werden. »Ihr guten Kinder! kann denn nicht euer Vater 
schieben?« - »Der Baum hat ihm die zwei Beine entzweige- 

:o schlagen.« - »So konnte doch euer groBer Bruder in den Wald?« 
- »Er muB dort brachen.« - Viktor stand am Brachacker neben 
einem Warns mit ebensoviel Farben als Lochern und neben einem 
schmutzigen Brotsack, welches beides dem Bruder angehorte, der 
in der Feme mit einem halben Postzug magerer Kuhe auf der 

Buhne dieses Auftritts ackerte. Eine voile Hand, die sich in 

den SchoB des Elends ausleerte, machte Viktors schwere Seele 
leichter, wie das voile Auge, das sich jener nachergoB; sein Ge- 
wissen, nicht sein Eigennutz war sein Einwender gegen die Grdfie 
seiner Gabe - er gab sie doch, aber in kleinen Miinzsorten - die 

o Kinder verlieBen ihre Kaufmannsguter, und das eine lief uber das 
Feld hiniiber zum Pfluge und das andre ins Dorfchen hinab zur 
Mutter. - Der Ackermann zog in der Feme den Hut ab - wollte 
Iaut danken, konnte sich aber nur schneuzen - ackerte ohne Hut 
heran - aber als er dem Jungling den Dank nachrief, war dieser 
schon weit aus dem Gehor-Kreise hinausgefliichtet . . . 

- Wiinsche, lieber Leser, nicht diesen oder den kommenden 
Zwischenakt des Menschengrams aus den groBen Auftritten der 
gliicklichen Natur her'aus, und dein Herz verdiene wie Viktor 
durch Geben das Nehmen ! - 

a Er kam in seiner gutherzigen Eile bald einem fieberkranken 
Schmiedegesellen nach, dessen Reisekoffer oder Mantelsack ein 
angefulltes Schnupftuch war; am Stecken trug er noch ein ent- 
farbtes elendes Stiefelpaar, das er schonen muBte, weil das andre, 
das er an andern Stecken, namlich an den Beinen, schleppte, noch 
elender und weniger ohne Farbe als ohne den Boden dazu war. 
Als er den Fiebrischen schonend gegriiBet und beschenkt hatte, 



620 HESPERUS 

so sah er ihm ins bleiche erstorbene Gesicht, und er konnte ihm 
einiges Sckmeriengeld nicht versagen . . . Ach das ganze Schmerzen- 
geld fur dieses Leben wird erst in einem hoheren ausgezahlt!... 
Als er ihn hoflich ausgefragt und sich um seine hungrige Wander- 
schaft, um seine Zuchthaus-Kost, um sein Fliichten von Landern 
in Lander und um seinen dunnen Zehrpfennig, den ihm die 
Meisterin abschlug, wenn der Meister aus war, erkundigt hatte: 
so schamte er sich vor dem Allgutigen seines Blumenfeldes von 
Entziickungen, welches er nicht mehr verdiene »wie der arme 
Teufel da«, und er begabte noch einmal nach - Und als er wieder 
ihn erwartete und sein funfzigjahriges Alter ohne Aussicht erfuhr, 
und ihn die Beklemmung iiberwaltigte, die ihm allezeit alte, aber 
unentwickelte Menschen machten, graue Gesellen, alte Schreiber, 
alte Provisores, alte Famuli : so war er etwas entschuldigt, daB er 
wieder zuriicklief und dem erstaunten Alten stumm die neuen 

Zeichen seiner iiberflieBenden begluckenden Seele gab Und 

als er in der neuen Entfernung sein in Liebe zergangnes, gleich- 
sam nur um seine Seele schwimmendes Herz immer mehr nach 
Wohltun diirsten und einen unbegreif lichen Hang zu neuem 
Geben und das Sehnen fuhlte, irgendeinem Menschen heute alles, 
alles hinzulegen : so merkt* er erst, daB er jetzt zu weich sei und 
zu selig und zu trunken und zu schwach. 

Sobald man im Dorfe die gewissen Nachrichten von diesem 
Durchgangzoll der Wohltatigkeit in Handen hatte: so legten sich 
nachmittags ungefahr 1 5 Kinder in verschiednen Posten an den 
Weg, besetzten die engen Passe und stellten Schildwachen und 
enfants perdus aus, um Zollverkiirzungen abzukehren . . . 

Ein Mensch, der aus drei geraden Stunden sieben krumme kon- 
struierte wie Viktor, hat oft Hunger, aber sicher groBern als er; - 
er nahm bloB das Leibnizische Monaden-Mahl aus der Tasche, : 
Zwieback und Wein, und speisete damit den an den Geist ge- 
hangnen ziehenden Magen ab, um die helle, mit Himmelblau und 
Himmelrot ausgewolbte See seines Innern durch keine hinein- 
geworfne Fleischstiicke dunkel und schmutzig zu machen. Ober- 
haupt haBte er Fresser als Menschen von zu grobem Eigennutz, 
so wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen den Geist, 



9. HUNDPOSTTAG 62 1 

wie Schneeklumpen eine Hutte, einquetschen. Die Seele, sagt' er, 
nimmt von den Inlagen des Korpers, wie der Wein vom Obst, 
das neben ihm im Keller ist, den Geruch an, und im mephitischen 
Dampfe, in welchem die Seelen der Flachsenfinger iiber den ihre 
Kartoffeln und Biere siedenden Braukesseln ihrer Magen zappeln, 
miissen wohl die armen Vogelchen besofFen und erstickt in dieses 
Tote Meer herunterfallen. 

Er brach seinen Zwieback nicht in einem Hause, sondern im 
Knochengebaude, d. h. im Sparrwerk eines Hauses, das erst aus 
den Handen und Beilen der Zimmerleute vor das Dorf gekommen 
war. Indem er durch alle Abteilungen und Unterabteilungen 
dieses Baugerippes und auf einmal durch Stube, Ktiche, Stall und 
Boden sah: so dachte er: »Wieder ein Schauspielhaus fur eine 
arme kleine Menschentruppe, die hier ihre Benefizkomodie, ihre 
Gays-Bettleroper abspielet, ohne da6 eine Stimme aus der groBen 
Loge schreiet: bis! Ach bis diese Balken der Winterrauch zu 
Ebenholz gerauchert hat, wird manche Augenhohle rot gequalet 
werden; mancher Nordwestwind des Lebens wird durchs Fenster 
an zagende Herzen fahren, und in diese Winkel, die erst dunkel 
vermauert werden, wird mancher Riicken mit Quetschwunden 
vom Gewehrtragen des biirgerlichen Lebens treten, um den 
SchweiB abzutrocknen oder das Blut. - Aber die Freude« (dacht* 
er fort und sah an die Stelle des Ofens und des Tisches) »wird 
euch Insassen auch ein paar Nelkenbaume vors Fenster setzen 
und mit dem Brautwagen der drei heiligen Feste und der Kirmes 
und der Kindtaufe vor eurer Haustiire, die erst eingesetzt wird, 

vorfahren und abladen. Himmel, wie narrisch, daB ich mir 

hier im gegitterten alles das lieber denke, als in den ausgemauerten 
Hausern des Dorfes dort sehe/« 

Unter dieser Tisch- und Baurede, wobei kein Trinkglas zer- 
schlagen wurde, strich die weiBe Brust der Schwalbe tief iiber den 
Fuhrweg, und ihr Schnabel lud den geloschten Kalk zu ihrem 
Dachstubchen auf. Die Wespe hobelte sich aus dem Sparrwerk 
Papierspane zu ihrer Zwiebel-Kugel. Die Spinne hatte ihr Spinn- 
haus schon ins groBe hineingekniipft. Alle Wesen zimmerten und 
mauerten sich im unendlichen Meere ihre kleinen Inseln; aber der 



622 HESPERUS 

wiihlende Mensch wendet sich nicht urn und sieht nicht, daB ihm 
alles ahnlich ist. 

Sebastian verlieB sein holzernes Gasthaus, sein Gerippe von 
einem frankfurtischen Roten Hause, trunkner und glucklicher, 
als er aus einem ausgemauerten hatte gehen konnen. In gewissen 
Menschen breitet sich eine dunkle Wehmut, ein desto groBerer 
Seelen-Schatten aus, wenn die Schatten auBer ihnen am kleinsten 
sind, ich meine um i Uhr nachmittags im Sommer. Wann nach- 
mittags unter der briitenden Sonne Wiesen starker duftend und 
mit gesenkten Blattern, Walder sanfter brausend und ruhend da- 10 
stehen, und die Vogel darin als stumme Figuranten sitzen: dann 
umfaBte im Eden, woniber schwiil das Bliitengewolke auflag, 
eine sehnsiichtige Beklommenheit sein Herz - dann wurd' er von 
seinen Phantasien unter den ewigblauen Himmel des Morgen- 
landes und unter die Weinpalmen Hindostans verweht - dann 
ruhte er in jenen stillen Landern aus, wo er ohne stechende Be- 
dtirfnisse und ohne sengende Leidenschaften auseinanderfloB in 
die traumende Ruhe des Brahminen, und wo die Seele sich in 
ihrer Erhebung festhalt und nicht mehr zittert mit der zitternden 
Erde, gleich den Fixsternen, deren Schimmer nicht zittert, auf 20 
Bergen angeschauet — dann war er zu gliicklich fiir einen deutschen 
Kolonisten, zu dichterisch fiir einen Europaer, zu schwelgend fiir 
einen Nordpol-Nachbar... An jedem Sommermorgen besorgt' 
er, daB er am Sommernachmittagzu weichlichphantasierenwerde. 

Das Fasten - der Wein - der Himmel - die Erde hatten heute 
seine Herzkammern so freigebig mit dem Schlaftrunk der Wonne 
vollgegossen, daB sie, wenn nachgeschiittet wurde, iiberflieBen 
muBten durch die Augen. Jene gossen nach; und hinter seinen 
verdunkelten Augen, in seinem iiberschatteten, mit dem Griin 
der Natur ausgeschlagnen Innern, das gleichsam abendrote Vor- 3° 
hange dunkel machten, brach eine Farben-Nacht an, in welcher 
alle kleine Gestalten seiner Kindheit neblig aufstiegen - das erste 
Spielzeug des Lebens wurde ausgelegt - seine ersten Wonne- 
monate spielten wie kleine Engel auf einer Abendwolke, und sie 
konnten nicht in ihren Fliigelkleidern um die groBe Wolke flie- 
gen, und die Sonne versengte sie nicht. — 



9. HUNDPOSTTAG 623 

Ach was er langst vergessen, langst verloren - langst geliebt 
hatte - Lieder ohne Sinn und Tone ohne Worte - namenlose 
Gespielen - beerdigte Warterinnen - verstorbne Bedienten — 
diese alle wurden lebendig, aber vor ihnen voraus ging am groBe- 
sten sein erster, sein teurester Lehrer Dahore in England tind 
sagte zur zerschmolzenen Seele : »Wir waren sonst beisammen.« — 
O, dieser ewig geliebte Geist, der schon damals in unserem Viktor 
die Flugel sah, die sich nach der andern Welt aufrichten, der schon 
damals mehr der Freund als der Lehrmeister seines so weichen, so 

1° wogenden, so liebevollen, so ahnungvollen Herzens war, dieser 
unvergeBliche Geist wollte nicht weichen, seine Gestalt schlug 
den Leichenschleier zuriick, ring an zu glanzen und an zu reden: 
»Horion, mem Horion, warst du nicht an meiner Hand, warst du 
nicht an meinem Herzen? Aber es ist lange, daB wir uns geliebt 
haben, und meine Stimme ist dir nicht mehrkenntlich, kaum noch 
mein Angesicht - ach die Zeiten der Liebe rollen nicht zuriick, 
sondern ewig weiter hinab.« Er lehnte sich an einen Baum und 
trocknete unaufhorlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand, 
und seine Blicke ruhten fest an den Waldern, die nach St.Liine 

'■o gehen, und an den neblichten Bergen, die sich vor Maienthal und 
vor seinem zweiten Lehrer stellen . . . 
- Kussewitz sprang vor. 

Aber zu bald; seine bewegte Seele wollte noch nicht unter 
fremde Menschen. Es war ihm lieb, daB er an eine umgestiirzte 
Rinne stieB, aus welcher Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, 
der sie zu nachts behiitet, und an die Hiitte auf zwei Radern, worin 
ihr Warter schlaft. Er hatte eine eigne Neugierde und Vorliebe 
fur kleine Nachbilder der Hauser; er trat in oder an jede Kohler- 
hiitte, in jede Jager- und Vogelhiitte, um sich mit seiner eignen 

jo Einschrankung und mit den Parodien unsers kleinen Lebens und 
mit dem ErdgeschoB der Armut zu betriiben und zu erfreuen. Er 
ging vor nichts Kleinem blind vorbei, woruber der Welt- und 
Geschaftmann verschmahend schreitet; so wie er wieder vor 
keinem Pomp des biirgerlichen Lebens stehen blieb. Er machte 
also ein Tiirchen am Fahr-Bette des Schafers auf: es sah darin so 
armselig aus, und das Stroh, das Eiderdunen und Seidensacke er- 



624 HESPERUS 

setzte, war so niedrig und zerknullt, daB er sich unbeschreiblich 
hineinsehnte; er brauchte jetzt eine Taucherglocke, die ihn aus 
dem treibenden, driickenden, erhabnen Meere um ihn absonderte. 
Ich wollt', man kdnnt' es den europaischen Kabinetten, dem 
Reichstag und dem Prinzipalkommissarius verbergen, daB er 
sich wirklich hineinlegte. Hier aber ging die Anspannung seiner 
Sinne, in welche die Bett-Pforte nur einen kleinen Ausschnitt 
vom Himmelblau einlieB, bald in die ErschlafFung des Schlummers 
zuriick, und iiber das heiBe Auge sank das Augenlid. 



10. HUNDPOSTTAG IC 

Zeidler — OszilHeren Zeusels — Ankunft der Prinzessin 

Seit einem Posttage schlaft der Held. Die deutschen Reiensoren 
sollten mir den Gefallen tun, ihn aufzuschreien. 

Aber Schelme sind sie, diese Nachrichter und Maskopeibriider 
der Zensoren; sie wecken weder Leser noch Fursten, nur home- 
rische Schlafer auf. Die Sonne steht schon tief und guckt gerade 
waagrecht in sein Doktor Grahams-Bette^ und er gliiht noch von 
ihr... 

— Das Schafvieh muBt* es tun durch Bloken und Glocken. Als 
in seine aufgehenden Ohren die Turmglocke aus GroBkussewitz, 20 
unter Begleitung der Schafglocken, mit einem in Musik gesetzten 
Abendgebet eindrang - als in seine aufgehenden Augen der rote 
SchattenriB der vergangnen Sonne, die seine heutigen Paradiese 
beschienen hatte, und das Abendrot einfiel, dessen Goldblattchen 
der Abendwind den Wolken anhauchte - als die wie sein Blumen- 
strauB betaute Luft seine Brust erfrischte: so war aer heutige 
schwiile Nachmittag um eine ganze Woche zuruckgerollet; Vik- 
tor war in eine neue selige Insel herabgefallen; neugeboren und 
froh kroch er riickwarts aus seiner fahrenden Habe. »0 ich tolles 
Ich !« sagt' er - »ich freue mich aber nicht auBerordentlich dariiber, 30 
daB ein halbes Lot Schlafkorner eine ganze gluhende Welt im 
Menschen wegbeizen kann, ganz weg - und daB das Umlegen 



IO. HUNDPOSTTAG 625 

des Korpers der Erdfall seines Paradieses und seiner Holle 
wird.« 

Auf der LandstraBe sprangen zwei Sanftentrager in kurzem 
Galopp zwischen den Tragestangen ihres ledernen Wiirfels dahin. 
Er setzte ihnen nach - ihre Last, dacht* er, muB ihnen noch viel 
leichter sein als ein ganzes Land und dessen Zepter, die beide 
gleichwohl ein Regent, wie ein Gaukler den Degen, tanzend zu 
tragen versteht auf der Nase, auf den Zahnen, auf allem. Sie trugen 
aber das schwerste Ding in der Welt, worunter oft Stadte und 

10 Thronen und Weltteile einbrachen. 

»Womit setzt ihr so herum?« fragt* er. - »Mit unserem aller- 
gnadigsten Herrn!« — Januar wars — es ist aber den asthetischen 
Kunstgriffen, womit ein Autor die Erwartung seiner Leser so 
auBerordentlich anspannt, ganz gemaB, daB ichs nicht eher er- 
ofFne, was von Jenner in der springenden Sanfte saB, als in dem 
folgenden Wort. 

Sein Bild wars. Das Bruststiick reisete allemal vor der Braut 
voraus, um bei Zeiten in ihrem Schlafzimmer anzukommen und 
sich an die Wand an einen Nagel zu begeben. Auf der ganzen 

20 empfindsamen Reise hatte der Kubikinhalt der Braut in lauter Zim- 
mern geschlafen, an denen der Flackeninhalt des Brautigams wie 
eine Kreuzspinne die ganze Nacht herunterhing . . . 

Da ich mir durch den Barneren-Traktat, den ich mit dem Vetter 
Leser abgeschlossen, das Recht auf keine Weise-abgeschnitten 
haben will, auBer den Schalttagen auch noch Extrablatter - Extra- 
blattchen - und Pseudo-Extrablatter zu machen, indem ich mirs 
vielmehr durch gewisse geheime Separatartikel, die ich bloB im 
Kopfe gemacht, wie der Papst gewisse Kardinale, erst erteilt habe : 
so will ich das Recht, das mir mein von mir gemachter Neben- 

jo RezeB anbeut, auf der Stelle ausiiben. 

Extrablattchen tiber obige Bruststiicke 

»Ich behaupte,« - sagt* ich auf dem Billard in Scheerau, als ich ge- 
rade nicht stieB - »daB Herzoge, Mark- und andre Grafen und 
viele vom hohen Adel dumm waren, wenn sie in unsern Tagen - 



626 HESPERUS 

oder gar in den kunftigen -, wo die Scheitelhaare sich fortmachen, 
eh' die Barthaare ankommen - wo manchem Gesicht zur Brille 
nichts fehlt als der Sattel dazu - wo besonders der Mann von 
Stande froh ist, statt eines Abgusses doch ein Abrifi von einem 
Menschen zu sein — nicht weise waren sie,« rekapituliert' ich, »wenn 
sie kein besseres Beilager hielten als ein wahres, kein gemaltes 
namlich ; wenn ihre Brustbilder auf nichts Besseres - an keine 
Brust namlich — gedriickt wiirden als auf zinnerne Deckel von 
Bierkriigen, so daB sie auf keine andre Art berauschten als auf die 
Ietzte; und wenn sie, da sie iiberall durch Bevollmachtigte han- « 
deln, auf Reichbanken,in Sessionsttihlen, in Brautbetten (bei der 
Vermahlung durch Gesandte), dachten, es gabe in der Sache einen 
treuern und unschuldigern Prinzipalkommissarius als eine Elle 
Leinwand, worauf sie selber hingefarbt sind.«. . Da wir gerade in 
Menge spielten und ich eben Konig war und im Feuer so fort- 
fuhr : »Was Teufel ! wir Konige wissen die in der Tugend und in 
der Ehe bildenden Kiinste gescheit genug durch die ^eichnenden zu 
ersetzen; und nicht blofi im Billard steht ein Konig ganz muBig da 
mit seinem Zepter~Queue!« so sollte und konnte das Feuer wenig 
auffallen. 20 

Ende des Extrablattchens iiber obige Bruststiicke 

Beim Grafen von O - so hieB im Siebenjahrigen Kriege auch ein 
beriihmter Offizier und bei Shakespeare die Erde; und das ganze 
Gebet einer alten Frau; und nach Bruce liebten die Hebraer diesen 
Vokal vorzuglich; das ist aber im Grunde hier unniitze Gelehr- 
samkeit - stieg die Prinzessin und der gemalte Eheherr ab. Viktor 
wollte sich mit seinem heutigen Anzug und seinem heutigen Her- 
zen nicht in den Taumel der Welt mischen - Und ware doch gern 
bei allem gewesen. 

Aus Kussewitz drangte sich ein rot und weiBes kleines Haus- 3 o 
chen hervor, so rot wie ein Eichhornbauer und so frohlich wie 
ein Gartenhaus. Er trat hinan und an dessen widerscheinende 
Fenster - aber wieder davon zuriick; er wollte ein altes Menschen- 
paar, fur das die Glocke die Orgel gewesen, gar hinausbeten 
lassen. Als er mit seinem vom Widerschein der heutigen Verr 



10. HUNDPOSTTAG 627 

klarung erhohten Gesichte hineintrat: wandte ein alter Mann 
einen Silberkopf, der wie ein lichter Mond iiber dem Abend seines 
Lebens stand, mit lachelnden Runzeln gegen den Gast. Nur ein 
Heuchler - der Agioteur der Tugend - ist nach dem Beten nicht 
sanfter und gefalliger. Die alte Frau legte zuerst die Miene der 
Andacht ab. Viktor begehrte mit seiner siegenden Unbefangenheit 

- ein Nachtquartier. Es ihm bewilligen - das konnten nur so zu- 
friedne Leute wie diese ; es verlangen — das konnte nur einer, der 
so wie er die Wirte floh, weil ihre mit jedem Gast ankommende 

3 und abgehende eigensiichtige kalte Teilnahme und Liebe seiner 
warmen Seele zu sehr zuwider war. Zweitens zog ihn die Rein- 
lichkeit an, die sogar der Schmutzfink mfremden Stuben liebt und 
die darin ein Beweis der Zufriedenheit und der - Kinderlosig- 
keit ist. Drittens wollt' er im Inkognito und aus dem Gassen- 
Gewiihle heute mit seiner von der Natur geweihten Seele 
bleiben. 

Er wurde bald einheimisch; noch eh* das Essen abgewaschen 
und abgeblattet und fertig war, hatt* ers heraus oder vielmehr 
hinein, daB der sanfte Greis - Lind mit Namen - ein Zeidler sei. 

Letztes glaub* ich; denn sonst war* er nicht so sanft, wie denn in 
den meisten Fallen die tierische Gesellschaft weniger verdirbt als 
menschliche: daher Plato die Langischen Kolloquia mit den Tie- 
ren als das Beste aus Saturns goldner Regierung angibt. Es ist 
nicht einerlei, ob man ein Hunde-, ein Lowen- oder ein Bienen- 
warter ist; denn unser Tiergarten im Unterleib - nach der plato- 
nischen Allegorie - bellt und blokt dem Unisono des auBern nach. 

- Als Viktor vollends mit dem Alten um das Haus und um die 
Bienenkorbe ging : so kam er wieder ins Tafelzimmer mit dem Ge- 
sichte eines Menschen, der in der Kussewitzer Kirche schon einen 

Stuhl und im Kirchenbuch eine Blattseite behauptete; wuBt* er 
nicht schon, daB der Bienenvater drei Pfarrer undfunf Amtmanner 
in Kussewitz zu Grabe begleitet - daB er die erste Hochzeit mit 
seiner Mutter (so hieB er die Frau) in dem Alter gemacht, in das 
sonst die Silberhochzeit fallt- daB sein Kopf noch das Gedachtnis 
und die Haare habe - daB er unter den Sargdeckel schwarze Au- 
genbraunen zu bringen gedenke - daB er, Lind, ganz und gar 



628 HESPERUS 

nicht, wie etwan der alte Gobel und selber der Vogt Sten^ in der 
Kirche der Augen wegen die Stellung neben dem Kirchenfenster 
zu nehmen brauche, sondern seinen Vers liberal 1 lesen konne, und 
da 8 er jahrlich nach Maienthal in die Kirche einmal gehe und ein 
Kopfstiickin den kirchlichen Billardsack stoBe, weil der Kirchhof 
da alle seine Verwandten von vaterlicher Seite bedecke? 

O, diese Zufriedenheit mit den Abendwolken des Lebens er- 
quickt den hypochondrischen Zuhorer und Zuschauer, dessen 
melancholischer Saitenbezug so leicht in eines alten Menschen 
Gegenwart gleich einem Todesanzeiger zu zittern anfangt* und i 
ein feuriger Greis scheint uns ein unsterbliches, gegen die Todes- 
sense verhartetes Wesen und ein in die zweite Welt wegweisender 
Arm! — Viktor besonders sah mit schweren Gedanken in einem 
alten Menschen eine organisierte Vergangenheit, gebiickte ver- 
korperte Jahre, den Gipsabdruck seiner eignen Mumie vor sich 
stehen. Jeder kindische, vergeBIiche, versteinerte Alte erinnerte 
ihn an die Eisenhammermeister, die in ihrem Alter wie die Men- 
schenseele eine krebsgangige Beforderung erdulden und wegen 
ihrer gewohn lichen Erblindung wieder AufgieBer - dann Vor- 
schmiede - dann Huttenjungen werden. Der gute Newton, Linne, 2 
Swift wurden wieder Huttenjungen der Gelehrsamkeit. Aber so 
sonderbar furchtsam ist der Mensch, daB er, der die Seele bei der 
groBten vorteilhaften Abhangigkeit von den Organen doch noch 
fur einen Selbstlauter ansieht - und mit Recht — , gleichwohl bei 
einer nachteiligen besorgt, sie sei bloB der Mitlauter des Korpers - 
und mit Unrecht 

Da ein Spaziergang um einen fremden Ort einem Reisenden 
die beste Naturalisationakte gibt - und da Viktor nirgends fahig 
war, ein Fremder zu sein ; so ging er — ein wenig hinaus. In man- 
chen Nachten wird es nicht Nacht. Er sah drauBen - nicht weit 3 
von den Gartenstaketen des Seniors, nicht des adeligen, sondern 
des geistlichen - ein sehr schones Madchen sitzen, in ein latei- 
nisches Pfingstprogramm vertieft und daraus mit gefalteten Han- 
den betend. Einer vereinigten Schon- und Tollheit widerstand er 
nie; er gruBte sie und wollte sie ihr lateinisches Gebetbuch nicht 
aufrollen und einstecken lassen. Die gute Seele hatte, da sie ihr 



10. HUNDPOSTTAG 629 

Gebetbuch und Paternoster verloren, aus dem Pfingstprogramm 
„de Chalifis literarum studiosis"ihre AndachtmitLeichtigkeitver- 
richtet, da sie weder Lateinisch noch Lesen konnte und das Hande- 
falten fur die Maurerische Fingersprache ansah, die man hohern 
Orts schon verstehen wurde. Sie wickelte einen sechsten abge- 
schnittenen Finger aus einem Papier heraus und sagte, den hatte 
das Marienkloster zu Flachsenfingen, an dessen Mutter Gottes ihr 
Vater ihn zur Dankbarkeit habe henken wollen, nicht angenom- 
men, weil er nicht von Silber sei. - Da Buffon den Fingern des 

10 Menschen die Deutlichkeit seiner Begriffe zuschreibt - so daB 
sich die Gedanken zugleich mit der Hand zergliedern -: so muB 
einer, der eine Sexte von Finger hat, um V* oder Vn deutlicher 
denken; und bloB so einer konnte mit einem solchen Supranume- 
rar-Schreibfinger mehr in den Wissenschaften tun als wir mit der 
ganzen Hand. - 

Sie erzahlte, daB ihr Vater sie erst in zwei Jahren heiraten werde, 
und daB sein Sohn ihre Schwester bekommen konnte, wenn diese 
nicht erst sechs Jahre alt ware - und daB sie beide wie an Kindes 
Statt beim Sechsfinger angenommen worden - und daB er seine 

20 Bijouteriebude, womit er aus einem graf lichen Schlosse ins andre 
wanderte, gerade in dem des Grafen von O habe, nebst Tisch und 
Wohnung - und daB er ein Italiener sei, mit Namen — Tostato* 
Himmel ! den kannte ja Viktor so gut. Ohne weitere Frage - denn 
er ging ohnehin gern mit jedem Madchen und mit jedem Spitz - 
hunde ein paar Sabbaterwege und sagte, zwischen einem neuen 
und einem schonen Gesichte wiird* er gar keineri Unterschied 
machen, wenn er auch muBte - marschierte er mit ihr gerade hin 
zum Vater beim Grafen. Er enthulsete immer mehr an seiner klei- 
nen Gesellschaftdame : sie war nicht nur auBerordentlich schon, 

30 sondern auch ebenso - dymm. 

Jetzt aber entlief sie ihm; der flachsenfingische Hofstaat kam 
gefahren, und sie muBte das Aussteigen der Damen sehen. Er 
hielt sich nahe an den Schwanz des ganzen Corps, der noch auf 
der StraBe aufstreifte, indes der halbe Rumpf schon im Schlosse 
steckte. Der nachfahrende Schwanz war etwas kurz und diinn, 
der Hofapotheker Zeusel y der aus Eitelkeit mit seinen 54 Jahren 



63O HESPERUS 

und Jugendkleidern und mit seiner stoBenden Kutsche bei der 
Sache war. Das kleinste Mannchen von der Welt war im groBten 
Wagen von der Weltso wenigfiireinenszunehmen,daBichseinen 
Wagen fiir einen leeren Zeremonienwagen anrechne, in welchem 
ihn derKutscherwie einendiirrenKernineinerWalnuBschuttelte. 

Ich wills weitlauftig beschreiben, wie ihn der Kutscher worfelte 
und siebte, und mich dafur in unwichtigern Dingen kurzer fassen. 

Wenn ichs freilich dem Kutscher zuschreibe und sage, daB er 
dem Kutschkasten durch Steine und Schnelle jenen harten Puls- 
schlag zu geben wuBte, daB Zeusel mehr auf der Luft aufsaB als 10 
auf dem Kutschkissen : so wird Kastner in Gottingen gegen mich 
schreiben und dartun, daB der Apotheker selber durch die Gegen- 
wirkung, die er dem Kissen durch seinen Hintern tat, an dem Ab- 
stoBen des gleichnamigen Poles schuld war; allein hier ist uns 
hoffentlich weniger um die Wahrheit als um den Apotheker zu 
tun. Viktor als Hofdoktor nahm von weitem Anteil am Hofapo- 
theker und Iachte ihn aus; ja er hatte ihn gern gebeten, sich selber 
einsetzen zu dtirfen, damit ers deutlicher sehen konnte, wie der 
gewandte Vetturin den Zeuselschen Ball geschickt in die Liifte 
schlug. Aber den weichen Nerven Viktors wurden komische *<> 
Szenen durch das physische Leiden, das sie in der Wirklichkeit 
bei sich fuhren, zu hart und grell - und er begniigte sich damit, 
daB er dem springenden Kasten hinten nachging und sich es bloB 
dachte, wie drinnen das Ding stieg gleich einem Barometer, um 
das heitere Wetter des betrunknen Kutschers anzudeuten - er 
make sichs bloB aus (daher ichs nicht brauche), wie das gute Hof- 
mannchen bei einem Klimax, wozu es der Kerl trieb, der jede Er- 
hebung mit einer groBern endigte, die linke Hand, statt in die 
Westentasche, bloB in den Kutschriemen stecken, und in der 
rechten eine Prise Schnupftabak seit einer Stunde warmen und 30 
drucken muB und sie aus Mangel an Ruh* und Rast nicht eher in 
die ode Nase heben kann, als bis der Spitzbube von Kutscher 
schreiet: brrrr! 

»Fort!« sagte die Dumme zu Viktor und zog ihn zum Vater. 
Der Italiener machte seine Windmiihlen-Gestus und Iegte sich an 
Viktors Ohr an und sagte Ieise hinein: »dio vi salvi«; und dieser 



IO. HUNDPOSTTAG 63 1 

dankte ihm noch leiser ins italienische : »gran rnerce«. Darauf tat 
Tostato drei oder vier ungemein leise Fliiche in Viktors Gehor. 
Er hatte nicht den Verstand verloren, sondern nur die Stimme, 
und durch nichts als einen Schnupfen. Er fluchte und kondolierte 
daruber, daB er gerade morgen so stockflsch-stumm sein musse, 
wo so viel zu schneiden ware. Viktor gratulierte ihm aufrichtig 
dazu und bat ihn, er mochte ihn bis auf morgen nicht nur zum 
Doktor annehmen, sondern auch zum Associe und Sprecher; er 
wolle morgen in der Bude fur ihn reden, um besser und inkognito 

10 allem zuzusehen; »wenn Ihr mir heute«, versetzte Tostato, »noch 
eine lustige Historie erzahlt.« Da er nun die von Zeusel vorbrachte 
mit einer italienischen Systole und Diastole der Hande; und da 
Tostato daruber narrisch wurde vor SpaB - der Italiener und 
Franzose lachen mit dem ganzen Korper, der Brite nur im Ge- 
hirne — : so wars kein Wunder, daB er mit ihm in Handels-Kom- 
pagnie trat. Das Doktorat fing er damit an, daB er dem Patienten 
den Strumpf auszog und damit den verstimmten Hals umringelte, 
weil ein warmer Strumpf mit gleichem medizinischen Vorteil am 
FuB und am Halse getragen wird; - mit einem Strumpf band war* 

20 es anders. 

Jetzo kam ihm die Schonheit und Dummheit der Programmen- 
Beterin noch groBer vor; er hatte sie gern gekuBt; es war aber 
nicht zu machen : der Bijoutier setzte uberall seinen witzigen Aus- 
leerungen nach und hielt die beiden Ohren unter. 

Er hatte bei dieser Gelegenheit, als er an die deutsche Kalte 
gegen Witz und schone Kiinste dachte, den grundfalschen Satz : 
der Brite, der Gallier und der Italiener sind Menschen - die Deut- 
schen sind Burger - diese verdienen das Leben - jene geniefien es; 
und die Hollander sind eine wohlfeilere Ausgabe der Deutschen 

30 auf bio Bern Druckpapier ohne Kupfer. 

Er wollte wieder zum Zeidler Lind zuruck: als so spat in der 
Nacht - so, daB der Hoffurier die Erscheinung dieses Haarkometen 
um eine ganze Stunde zu bald in seinen astronomischen Tabellen 
angesetzt hatte - die Pnnzessin samt ihrem Begleit-Dunstkreis 
anfuhr. Da er so lange von ihr gesprochen hatte: so brauchte er, 
um sie zu lieben, nichts als noch das Rollen ihres Wagens und das 



632 HESPERUS 

Seidengerausch ihres Ganges zu horen. »Eine furstliche Braut« - 
sagt' er — »ist viel eher auszustehen als eine andre; man zeige mir 
zwischen einer Kron-Prinzessin, einer Kron-Braut und einer Kron- 
Ehefrau einen andern Unterschied, als der Staatskalender angibt.« 
Wer noch bedenkt, daB er ihre personliche Abneigung gegen den 
Fiirsten kannte, der bei der ersten Vermahlung sie ihrer Schwester 
■nachgesetzt hatte — und wer jetzo lieset, daB ihm Tostato sagte, 
mit einem Schnupftuch in der Hand sei sie ausgestiegen : der ist 
schon so gescheit, daB er sich iiber seine Rede nicht erzurnt: »lch 
wollte, diese Krontiere, die einem so schonen Kinde so schone 10 
weiche Hande wegschnappen diirfen, wieSchweine den Kindern 
die zarten abfressen — ich wollte . . . Aber meine Waren sind doch 
morgen nahe genug an^ihr, daB das Schnupftuch zu sehen ist, 

Herr Associe?« 

Beim Bienenvater, zu dem er heimkehrte, war eine ruhigere 
Welt) und sein Haus stand im Griinen, stumm wie ein Kloster des 
Schlafes und eine heilige Statte der Traume. Viktor schob auf dem 
Dachboden sein Bettchen vor eine Miindung des einstromenden 
Mondes, und so uberbauet mit verstummten Schwalben- und 
Wespennestern, sah er die Ruhe in Lunens Gestalt auf sein eignes 20 
Nestchen niederschweben - aber sie lachelte ihn so machtig an, 
bis er sich in unschuldige Traume auflosete. Guter Mensch! du 
verdienst die Freuden-B lumens tucke der Traume, und einen 
frischen Kopf- und BruststrauB im Wachen - du hast noch keinen 
Menschen gequalt, noch keinen gestiirzt, keine weibliche Ehre 
bekriegt, deine eigne nie verkauft; und bist bloB ein wenig zu 
leichtsinnig, zu weich, zu lustig, zu menschlich! 



II. HUNDPOSTTAG 

Ubergabe der Prinzessin - KuB-Kaperei - montre a regulateur - Sammliebe 

Voltaire, der kein gutes Lustspiel schreiben konnte, ware nicht 30 
imstande, den eilften Hundposttag zu machen. — 

Bei dem eilften Hundtag bemerk* ich freilich, daB die Natur 



1 1 . HUNDPOSTTAG 63 3 

Gewachse mit alien Anzahlen von Staubfaden geschaffen, nur 
keine mit eilf; und auch Menschen mit eilf Fingern selten. 

Inzwischen ist das Leben, gleich den Krebsen, am schmack- 
haftesten in den Monaten ohne R. 

Darwider sagen einige, die Feder eines Autors gehe wie eine 
Uhr desto schneller, je langer sie geht; ich aber wend' es um und 
sage, aus Vielschreibern werden vielmehr Schnellschreiber. 

Und doch will man Menschen, die das funfte Rad am Wagen 
sind, nicht leiden; aber jedem Rustwagen ist ein fiinftes hinten 
10 aufgeschnallet, und im Unglikk ist es ein wahres Glikkrad. Rein- 
hold las Kants Kritik funfmal durch, eh' er ihn verstand - ich er- 
biete mich, ihm verstandlicher zu sein, und verlange nur halb so 
oft gelesen zu werden. 

Frei heraus zu reden, so heg' ich einige Verachtung gegen einen 
Kopf voll Spring- 1 deen y die mit ihren SpringfuBen von einer Ge- 
hirnkammer in die andre setzen; denn ich finde keinen Unterschied 
zwischen ihnen und den Springwurmern im Gedarm, welche Goeze 
vor einem Licht drei Zolle hoch springen sah. 

Allerdings hangt der folgende Gedanke nicht recht mit der 
20 vorigen SchluB- und Blumenkette zusammen : daB ich besorge, 
Nachahmer zu finden, um so mehr, da ich hier selber einer von 
gewissen witzigen Autoren bin. In Deutschland kann kein groBer 
Autor eine neueFackel anbrennen und sie solangeindie Welthin- 
aushalten, bis er miide ist und das Stumpchen wegwirft, ohne daB 
die kleinen daruber herfallen und mit dem Endchen Licht noch 
halbe Jahre herumlaufen und herumleuchten. So liefen mir (und 
andern) in Regensburg tausendmal die Buben nach und hatten 
Uberbleibsel von Wachsfackeln, die das Ge$andten-V ersonzle 
weggeworfen hatte, in Handen und wollten mich bis zu meinem 
30 Hauswirt leuchten fur wenige Kreuzer Stultis sat! 

- Viktor eilte am Morgen ins SchloB. Er bekam einen kauf- 
mannischen Anzug und die Bude. Um zehn Uhr fiel die »t)ber~ 
gabe{{ der Prinzessin vor. Die drei Zimmer, worin sie vorgehen 
sollte, lagen mit ihren Fliigelturen seinem Kaufladen entgegen. 
Er hatte die Prinzessin noch nie gesehen - auBer die ganze Nacht 
in jedem Traum - und konnte alles kaum erwarten . . . 



634 HESPERUS 

Und der Leser auch : schneuzt er nicht jetzt Licht und Nase - 
fullt Pfeife und Glas - andert die Stellung, wenn er auf einern so- 
genannten Lese-Esel reitet - driickt das Buch glatt auseinander 
und sagt mit ungemeinem Vergnugen : »Auf die Beschreibung 
spitz' ich mich gewissermaBen«? - Ich wahrlich nicht; mir ist, als 
sollt' ich arkebusiert werden. Wahrhaftig ! ein Infanterist, der mit- 
ten im Winter Sturm lauft gegen eine feindliche Mauer vom dick- 
sten Papier in einer Oper, hat seinen Himmel auf der Erde, mit 
einem Berghauptmann meines Gelichters verglichen. 

Denn einer, der Kaffee trinkt und eine Beschreibung von irgend- ic 
einem Schulaktus des Hofs machen will - z. B. von einem Cour- 
tag - von einer Vermahlung (im Grunde von den Vorerinnerun- 
gen dazu) - von einer Obergabe -, ein solcher Trinker macht sich 
anheischig, Auftritte, deren.Wurde so auBerst fein und fliichtig 
ist, daB der geringste falsche Nebenzug und Halbschatten sie 
vollig lacherlich macht - daher auch Zuschauer wegen solcher 
dazugedachter Nebenstriche iiber sie in natura lachen — er macht 
sich anheischig,. sag' ich, solche ans Komische grenzende Aufzuge 
so wiederzugeben, daB der Leser die Wurde merkt und so wenig 
dabei lachen kann, als spielte er selber mit. Es ist wahr, ich darf 20 
ein wenig auf mich bauen, oder vielmehr darauf bauen, daB ich 
selber an Hofen gewesen und den angeblichen Klaviermeister ge- 
macht (ob dieser eine Maske hoherer Wtirden war oder nicht, 
lass' ich hier unentschieden); man sollte also von einem Vorzug, 
der mir fast vor der ganzen schreibenden Hanse zuteil geworden, 
und dem ich wirklich mein (von einigen) in der Hof-Scientia me- 
dia entdecktes Ubergewicht iiber die schriftstellerische so niedrige 
SchifFmannschaft gern verdanke, davon sollte man sich fast auBer- 
ordentliche Dinge versprechen. - Man wird aber schlimm ab- 
fahren; denn ich war nicht einmal imstande, meinem Zogling 30 
Gustav den Kron-ProzeB in Frankfurt so ernsthaft vorzutragen, 
daB dieser aufhorte zu - lachen. So wuBte auch Yorick niemals so 
zu schelten, daB seine Leute davonliefen, sondern sie muBten es 
fur SpaB halten. 

Mein Ungliick war's gewesen, wenn ich die Obergabe der Prin- 
ze ssin — anfangs dacht* ich freilich, es ware dann mehr Wiirde 



1 1 . HUNDPOSTTAG 63 5 

darin - unter dem Bilde einer mit einem Tiirspan besiegelten 
Haus-Obergabe an Glaubiger abgeschildert hatte, oder wie eine 
Obergabe dries Feudums durch investitura per ionam - oder per 

annulum - oder per baculum secularem 1 . Ich bin aber zum 

Gliick darauf gekommen, die Obergabe unter der poetischen Ein- 
kleidung einer historischen BenefizkomodiemitderjenigenWurde 
abzumalen, die Theater geben. Ich habe dazu soviel und mehr 
Einheit des Orts - (drei Zimmer) — , der Zeit - (den Vormittag) - 
und des Interesse - (den ganzen SpaB) - in Handen, als ich 

10 brauche. Und wenn ein Autor noch dazu - das tu' ich - vorher 
die betrubtesten ernsten Werke durchlieset, Youngs Nachtge- 
danken - die akatholischen gravamina der Lutheraner - den dritten 
Band von Siegwart - seine eignen Liebebriefe; ferner wenn er 
sichs noch immer nicht getrauet, sondern gar vorher Homes und 
Beatties treffliche Beobachtungen uber die Quellen des Komischen 
vor sich legt und durch geht, um sogleich zu wissen, welchen ko- 
mischen Quellen er auszuweichen habe : so kann ein solcher Autor 
schon ohne Besorgnis der. Prahlerei seinen Lesern die HorTnung 
machen und erfullen, da 6 er, des Komischen sich so komisch er- 

*o wehrend, vielleicht nicht ohne alle Zuge des Erhabnen Iiefern und 
malen werde folgende 

historische Benefizkomodie von der Obergabe der 
Prinzessin, in funf Akten 

(Das halbe Wort Benefiz bedeutet bloB den Nutzen, den ich selber 
davon habe.) 

Erster Akt. Unter drei Zimmern ist das mittlere der Schauplatz, 

wo man spielt, der Handelsplatz, wo man auslegt, der Korre- 

lationsaal (regensburgisch zu reden), wo alles Wichtige zeitigt 

und reift - hingegen in dem ersten Nachbar- Zimmer steckt der 

30 italienische, im zweiten der flachsenfingische Hofstaat, und jeder 

1 Ein Konig von Frankreich schickte einmal einem Vasallen ilium bacu- 
lum, quo se sustentabat, in symbolum traditionis zu. Du Fresne Gloss. Aus 
du Fresne* Glossario ist meines Wissens noch kein guter und brauchbarer 
Auszug fur Frauenzimmer gemacht worden. 



6$6 HESPERUS 

erwartet ruhig den Anfang einer Rolle, fiir die ihn die Natur ge- 
schaffen. Diese zwei Zimmer halt* ich nur fiir die Sakristeien des 
groBten. 

Das Mittelzimmer, d.h. sein Vorhang, der aus zwei Fliigel- 
tiiren gemacht ist, geht endlich auf und zeigt dem Associe Seba- 
stian, der aus seinem Laden neben der katarrhalischen Firma 
hereinguckt, viel. Es tritt auf an der Tiire der Kulisse No. i ein 
rotsamtner Stuhl; an der Tiire der Kulisse No. 2 wieder einer, ein 
Bruder und Anverwandter von jenem; es sind diese Duplikate die 
Sessel, worin sich die Prinzessin setzt im Verfolge der Handlung, 10 
nicht weil die Miidigkeit, sondern weil ihr Stand es ausdrucklich 
begehrt. Mitten im Handeln ist schon ein langer befranster Tisch 
begriffen, der das Mittelzimmer, das selber ein Abteilzeichen der 
zwei Kulissen ist, abteilt in zwei Halften. Man sollte nicht erwarten, 
daB dieser Sektiontisch sich seines Orts wieder von etwas werde 
halbieren lassen, was ein Dummer kaum sieht. Aber ein Mensch 
trete in Viktors Laden : so wird er einer Seidenschnur ansichtig, 
die, unter dem Spiegeltisch anfangend, iiber den Achatboden und 
unter dem Partage-Tisch wegstreichend, aufhort vorn an der 
Turschwelle; und so teilt ein bloBer Seidenstrang leicht den 20 
Abteiltisch und dadurch das Abteilzimmer und am Ende die 
Abteilschauspielergesellschaft in zwei der gleichsten Halften - 
lasset uns daraus lernen, daB am Hofe alles tranchiert wird, und 
selber der Prosektor wird zu seiner Zeit hingestreckt auf den 
Zergliedertisch. Von dieser seidenen Schnur, womit der GroB- 
herr seine Giinstlinge von oben dividiert, aber in Bruche, kann 
und soil im ersten Akt nicht mehr die Rede sein, weil er - aus 
ist ... 

Es wurde mir ungemein leicht, diesen Auftritt ernsthaft abzu- 
fassen; denn da nach Plainer das Lacherliche nur am Menschen 30 
haftet, so war das Erhabene, das in meinem Aufzuge die Stelle des 
Komischen einnimmt, in einem Akte leicht zu haben, wo gar 
nichts Lebendiges spielte, nicht einmal Vieh. 

Zweiter Akt. Das Theater wird jetzo Iebendiger, und auf das- 
selbe hinaus tritt nun die Prinzessin an der Hand des italienischen 
Ministers aus der Kulisse No. 1 ; beide wirken anfangs, gleich der 



1 1 . HUNDPOSTTAG 637 

Natur, still auf diesem Paradeplatz, der schon auf dem Papier 
zwei Seiten lang ist... 

Nur einen Blick vom Theater in die Hauptloge ! Viktor spielt 
fiir sich, indem er unter den Lorgnetten, die er zu verkaufen hat, 
sich die hohleste ausklaubt und damit die Heldin meiner histo- 
rischen Benefizkomodie ergreift . . . Er sah den Beicht- und Bet- 
schemelj auf dem sie heute schon gekniet hatte; »Ich wolIt',« (sagt' 
er zu Tostato) »ich ware heute der Pater gewesen, ich hatt* ihr ihre 
Sunden vergeben, aber nicht ihre Tugenden.« Sie hatte zwar jenes 

d regelmafiige Stamen- und Madonnengesicht, das ebensooft hohle* 
als voile Weiberkopfe zudeckt; ihre Hofdebiit-Rolle verbarg 
zwar jede Welle und jeden Schimmer des Geistes und Gesichts 
unter der Eiskruste des Anstandes* aber ein sanftes Kindesauge, 
das uns auf ihre Stimme begierig macht, eine Geduld, die sich 
lieber ihres Geschlechtes als ihres Standes erinnert, eine mude 
Seele, die sich nach doppelter Ruhe, vielleicht nach den miitter- 
lichen Gefilden sehnte, sogar ein unmerklicher Rand um die 
Augen, der von Augenschmerzen oder vielleicht von noch tiefern 
gezeichnet war, alle diese Reize, die zu Funken wurden, welche in 

o den getrockneten Zunder des Associe hinter der Brille geschlagen 
wurden, machten diesen in seiner Loge ordentlich - halbtoll iiber 
das Schicksal solcher Reize. Und warum sollt' es auch einem den 
Kopf nicht warm machen — zumal wenn schon das Herz warm ist -, 
daB diese unschuldigen Opfer gleich den Herrnhuterinnen zwi- 
schen ihrer Wiege und ihrem Brautbette Alpen und Meere ge- 
stellet sehen, und daB die Kabinette sie wie Seidenwurmsamen in 

Depeschen-Duten versenden? Wir kehren wieder zu unserem 

zweiten Akte, in dem man noch weiter nichts vornimmt, als daB 
man - ankommt. 

,0 Die Kulissen No. i und 2 stecken noch voll Akteurs und Ak- 
tricen,'die nun herausmussen. An diesem Tage ist es, wo zwei 
Hofe wie zwei Heere einander in zwei Stuben gegeniiber halten 
und sich gelassen auf die Minute riisten, wo sie ausrucken und 
einander im Gesichte stehen, bis es endlich wirklich zu dem 
kommt, wozu es nach solchen Zuriistungen und in solcher Nahe 
ganz naturlich kommen muB, zum - Fortgehen. Der Kubikinhalt 



638 HESPERUS 

von No. 1 quillet der Fiirstin nach, er besteht aus Italienern — in 
der namlichen Minute richtet auch der Hofstaat aus der Kulisse 
No. 2 seine Marschroute ins Hauptquartier herein, er besteht aus 
Flachsenfingern. Jetzo stehen zwei Lander — eigentlich nur der 
aus ihnen abgezogene und abgedampfte Geist - sich einander 
ganz nahe, und es kommt jetzt alles darauf an, daB der Seiden- 
strang, den ich im ersten Akt iiber die Stube gespannt, anfange zu 
wirken; denn die Grenzverriickung und Volkermischung zweier 
so naher Lander, Deutschlands und Welschlands, ware in einem 
Zimmer fast so unvermeidlich wie in einer pdpstlichen Gehirn- n 
kammer^ hatten wir den Strang nicht - aber den haben wir, und 
dieser halt zwei zusammengerinnende Volkerschaften so gut aus- 
einancfer, daB es nur Jammer und Schade ist - die Ehrlichkeit hat 
den groBten — , daB die deutschen Kabinette keinen solchen Sperr- 
strick zwischen sich und die italienischen hingezogen haben; und 
kams denn nicht auf sie an, wo sie den Strick anlegen wollten, am 
FuBboden, oder an welschen Handen, oder an welschen Halsen? - 

Wenn die englische allgemeine Weltgeschichte und ihr deutscher 
Auszug einmal die Zeit so nahe eingeholet haben, daB sie das Jahr 
dieser Ubergabe vornehmen und erzahlen und unter andern das z< 
bemerken konnen, daB die Prinzessin nach dem Eintritt sich setzte 
in den Samtsessel: so sollte die Weltgeschichte den Autor,an- 
fiihren, aus dem sie schopft - mich.... Das war der zweke Akt, 
und er war sehr gut und nicht sowohl komisch als erhaben. 

Dritter Akt. Darin wird bloB gesprochen. Ein Hof ist das Par- 
loir oder Sprachzimmer des Landes, die Minister und Gesandten 
sind Horbriider 1 . Der flachsenfingische Sekretar las entfernt ein 
Instrument oder den Kaufbrief ihrer Vermahlung vor. Darauf 
wurden Reden gelispelt - vom italienischen Minister zwei - vom 
flachsenfingischen (Schkunes) auch zwei - von der Braut keine, 3c 
welches eine kurzere Art, nichts zu sagen, war als der Minister 
ihre. 

Da wahrlich jetzt dieser erhabne Akt aus ware, wenn ich nichts 
sagte: so wird mir doch nach vielen Wochen einmal erlaubt sein, 

1 So wie es Horschwestern (les Tourieres oder Soeurs £coutes) gibt, die mit 
den Nonnen ins Sprachzimmer gehen, urn auf ihr Reden achtzugebeh. 



II. HUNDPOSTTAG 639 

ein Extra- Bldttcken zu erbetteln und anzuhenken und darin etwas 
zu sagen. 

Erbetteltes Extrablattchen uber die groBere Freiheit 
in Despotien 

Nicht nur in Gymnasien und Republiken, sondern auch (wie man 
auf der vorigen Seite sieht) in Monarchien werden Reden genug 
gehalten - ans Volk nicht, aber doch an dessen curatores absentis. 
Ebenso ist in Monarchien Freiheit genug, obgleich in Despotien 
deren noch mehr sein mag als in jenen und in Republiken. Ein 

10 wahrer despotischer Staat hat, wie ein erfrornes FaB Wein, nicht 
seinen (Freiheit-) 6Wj* verloren, sondern ihn nur aus dem wasse- 
rigen Umkreis in einen Feuerpunkt gedrangt; in einem solchen 
gliicklichen Staate ist die Freiheit bloB unter die wenigen, die 
dazu reifsind, unter den Sultan und seine Bassen, verteilt, und 
diese Gottin (die noch ofter als der Vogel Phonix abgebildet wird) 
halt sich fiir die Menge der Anbeter desto besser durch den Wert 
und Eifer derselben schadlos, da ihre wenigen Epbpten oder Ein- 
geweihten - die Bassen - ihren EinfluB in einem MaB genieBen, 
dessen ein ganzes Volk nie habhaft wird. Die Freiheit wird gleich 

10 den Erbschaftmassen durch die Menge der Erbnehmer kleiner; 
und ich bin iiberzeugt, der ware am meisten frei, der allein frei 
ware. Eine Demokratie und ein Olgemalde sind nur auf eine Lein- 
wand ohne Knoten (Ungleichheiten) aufzutragen, aber eine Des- 
potic ist eine erkobene Arbeit - oder noch sonderbarer: die despo- 
tische Freiheit wohnt wie Kanarienvogel nur in hohen Vogel- 
bauern, die republikanische wie Emmerlinge nur in langen. - 

Ein Despot ist die praktische Vernunft eines ganzen Landes; 
die Untertanen sind ebenso viele dagegen kampfende Triebe, die 
iiberwunden werden miissen. Ihm gehort daher die gesetzgebende 

jo Gewalt allein (die ausxibende seinen GiinstHngen); - schon bio Be 
gescheite Manner (wie Solon, Lykurg) hatten die gesetzgebende 
Gewalt allein und waren die Magnetnadel, die das StaatschifF 
fiihrte; ein Despot besteht, als Thronfolger von jenen, fast aus 
lauter Gesetzen, aus fremden und eignen zugleich, und ist der 



64O HESPERUS 

Magnetberg, der das Staatschiff zu sich bewegt. - »Sein eigner 
Sklave sein, ist die harteste Sklaverek, sagt ein Alter, wenigstens 
ein Lateiner; der Despot fodert aber von andern nur die leichtere 
und nimmt auf sich die schwerere. - Ein anderer sagt: parere 
scire par imperio gloria est; Ruhm und Ehre erbeutet also ein 
Negersklave so viel wie ein Negerkonig. - Servi pro nullis haben- 
tur; daher fuhlen auch politische Nullitaten den Druck der Hof- 
luft so wenig wie wir den der andern Luft; despotische Realitaten 
aber verdienen schon darum ihre Freiheit, weil sie den Wert der- 
selben so sehr zu fuhlen und zu schatzen wissen. - Ein Republi- 1 
kaner im edlern Sinn, z.B. der Kaiser in Persien, dessen Freiheit- 
mutze ein Turban und dessen Freiheitbaum ein Thron ist, ficht 
hinter seiner militarischen Propaganda und hinter seinen Ohne- 
hosen mit einer Warme fur die Freiheit, wie sie die alten Auto res 
in den Gymnasien fodern und schildern. Ja wir sind nie berechtigt, 
solchen Thron-Republikanern Brutus-Seelengrofie friiher abzu- 
sprechenj als man sie auf die Probe gesetzt; und wenn in der Ge- 
schichte das Gute mehr aufgezeichnet wiirde als das Schlimme, 
so muBte man schon jetzt unter so vielen Schachs, Khans, Rajahs, 
Kalifen manchenHarmodion, Aristogiton, Brutus etc. aufzuweisen 2 
haben, der imstande war, seine Freiheit (Sklaven kampfen fiir 
eine fremde) sogar mit dem Tode sonst guter Menschen und 
Freunde zu bezahlen. - 

Ende des erbettelten Extrablattchens uber die grofiere Freiheit 
in Despotien 

Das Extrablattchen und der dritte Akt sind aus, aber dieser war 
ernsthafter und kurzer als jenes. 

Vierter Akt. Indem ich den Vorhang herab und wieder hinauf 
warf : setzte ich die Welt aus dem kiirzesten Akt in den langsten. 
Zur Prinzessin — die jetzt, wie die deutsche Reichsgeschichte mel- 3 
det, sitzt - trat ihre Lands mannschaft 1 , die weder sehr ehrlich, 
noch sehrdumm aussah, die Oberhofmeisterin, der Hof-Beicht- 
vater, der Hof-Askulap, Damen und Bedienten und alles. Dieser 

1 Der flachsenfingische Hofstaat kiifite zwar die Hand eher; aber man wird 
schon sehen, warum ichs umkehre. 



1 1 . HUNDPOSTTAG 64 1 

Hofstaat nimmt nicht Abschied - der 1st schon ingeheim genom- 
men — , sondern rekapituliert ihn bloB durch eine stille Verbeu- 
gung. Der nachste Schritt aller Welschen war aus dem Mittel- 
zimmer nach - Italien. 

Die Italiener gingen vor Sebastians Warenlager vorbei und 
wischten aus ihrem Gesicht, dessen feste Telle en haut-relief 
waren — die deutschen waren en bas-relief—, einen edlern Schim- 
mer weg, als jener ist, den Hofe geben; - Viktor sah unter so 
vielen akzentuierten Augenknochen die Zeichen seiner eignen 

o Wehmut vervielfaltigt, die ihn fur das willige fremde Herz be- 
klemmte, das allein zuriickblieb unter dem frostigen Thron- und 
Wolkenhimmel der Deutschen, von alien geliebten Sitten und 
Szenen weggerissen, mikroskopischen Augen vorgefuhrt, deren 
Brennpunkt in weiche Gefiihle sengt, und an eine Brust von Eis 
gebunden — 

Als er alles dieses dachte und die Landsleute sah, wie sie ein- 
packten, weil sie kein Wort mehr mit der Fursiin sprechen durf- 
ten - und als er die stumme gelenkte Gestalt drinnen ansah, die 
keine andere Perlen zeigen durfte als orientalische (obgleich der 

o Traum und der Besitz der letztern abendlandische bedeutet: 
Tranen mein* ich), so wiinscht' er: »Ach du Gute, konnt* ich nur 
einen dreifachen Schleier so lange tiber dein Auge ziehen, bis es 
eine Trane vergossen hatte! — Diirft* ich dir nur die versteigerte 
Hand kiissen, wie deine Hofdamen jetzt tun, um mit meinen 
Tranen die Nahe eines geruhrten Herzens auf die verkaufte Hand 
zu schreiben . . .« 

Seid weich und erweitert nicht FiirstenhaC zu Fiirstinnen-HaB ! 
Soil uns ein gebeugtes weibliches Haupt nicht ruhren, weil es sich 
auf einen Tisch von Mahagoni stiitzt, und groBe Tranen nicht, 

o weil sie in Seide fallen? »Es ist zu hart,« - sagte Viktor im Hanno- 
verschen - »daB Dichter und magistri legentes, wenn sie neben 
einem LustschloB vorbeigehen, mit einer neidischen Schaden- 
freude die Bemerkung machen, darin werde vielleicht ebensoviel 
Tranenbrot gebacken wie in Fischerhiitten. O wohl groBeres und 
harteres ! Aber ist das Auge, aus dem im Dachsbau eines Schotten 
nichts Tranen presset als der Stubenrauch, eines groBern Mit- 



642 HESPERUS 

leids wert als jenes zarte, das gleich dem eines Albinos schon von 
Freudenstrahlen schmerzt und das der gequalte Geist mit geistigen 
Zahren erfullt? Ach unten in den Talern wird nur die Haut, aber 
oben auf den Hohen der Stande das Herz durchstochen; und die 
Zeigerstange der Dorfuhr rtickt bloB um Stunden des Hungers 
und des SchweiBes, aber der mit Brillanten besetzte Sekunden- 
zeiger fliegt um ode, durchweinte, verzagende, blutige Minuten.«- 

Aber zum Gliick wird uns die Leiden geschichte jener weib- 
lichen Opfer nie vorgelesen, deren Herzen zum Schlagschatz und, 
wie andre Juwelen, zu den Throninsignien geworfen werden, die 1 
als beseelte Blumen, gesteckt an ein mit Hermelin umgebhes 
Totenherz, ungenossen zerfallen auf dem Paradebett, von niemand 
betrauert als von einer entfernten weichen Seele, die 1m Staats- 
kalender nicht steht ... 

Dieser Akt besteht fast aus lauter Gangen: uberhaupt gleicht 
diese Komddie dem Leben eines Kindes - im ersten Akt war Haus- 
rat-Besorgung fur das kiinftige Dasein - im zweiten Ankommen - 
im dritten Reden - im vierten Gehenlernen u. s. w. 

Als Deutschland an Welschland und dieses an jenes Reden ge- 
nug gehalten hatte : so nahm Deutschland oder vielmehr Flachsen- 2 
fingen oder eigentlich ein Stiick davon, der Minister Schleunes, 
die Fiirstin bei der Hand und fiihrte sie aus dem heiBen Erdgiirtel 
in den kalten — ich meine nicht aus dem Brautbette ins Ehebette, 
sondern — aus dem italienischen Territorium der Stube ins flach- 
senfingische iiber den seidnen Rubikon hinweg. Der nachsenfin- 
gische Hofstaat steht als reenter Fliigel drtiben und ist gar noch 
nicht zum Gefechte gekommen. Sobald sie die seidne Linie pas- 
siert war; so wars gut, wenn das erste, was sie in ihrem neuen 
Lande tat, etwas Merkwiirdiges war; und in der Tat tat sie vor 
den Augen ihres neuen Hofs 4V2 Schritte und - setzte sich in den ; 
flachsenfingischen Sessel, den ich schon im ersten Akt vakant dazu 
hingestellt. Jetzo riickte endlich der rechte Fliigel ins Feuer, zum 
Hand- und RockkuB. Jeder im rechten Fliigel - der linke gar 
nicht — fiihlte die Wiirde dessen, was er anhob, und dieses Gefiihl, 
das sich mit personlichem Stolz verschmolz, kam - danach Platner 
der Stolz mit dem Erhabnen verwandt ist - meiner Benefizfarce 



II. HUNDPOSTTAG 643 

recht zupasse, in der ich nicht erhaben genug ausfallen kann. GroB 
und still, in seidne Fischreusen eingeschifft, in einen Roben-Golf 
versenkt, segeln die Hofdamen mit ihren Lippen an diesfille Hand, 
die mit Ehe-Handschellen an eine fremde geschlossen wird. Weni- 
ger erhaben, aber erhaben wird auch das adamitische Personale her- 
angetrieben, worunter ich leider den Apotheker Zeusel mit sehe. 
Wir kennen unter ihnen niemand als den Minister, seinen Sohn 
Matz, der unsern Helden gar nicht bemerkt, den Leibarzt der 
Prinzessin Kuhlpepper, der, vom Fette und Doktorhut in eine 

[o schwere Lots-Salzsaule verwandelt, sich wie eine Schildkrote vor 
die Regentin und Patientin schiebt. - 

Kein Mensch weiB, wie mich Zeusel angstigt. Gegen alle Rang- 
ordnung stell' ich lieber fruher als ihn die feisten, in schelmische 
Dummheit verquollenen Livreebedienten vor, deren Rocke we- 
niger aus Faden als aus Borten bestehen, und die sich als gelbe 
Bander-Praparate vor miiden, an schonere Gestalten gewohnten 
Augen bttcken. Viktor fand durch seine bntische Bnlle die italie- 
nischen glasierten Hofgesichter wenigstens malerisch-schon, hin- 
gegen die deutschen Parade-Larven so abgegriffen und doch so 

o gesteift, so matt und doch so gespannt, die Blicke so verraucht 

und doch so geschwefelt ! Ich hake Zeuseln noch durch einige 

Osterlammer oder agnus dei von Pagengesichtern auf, so weich 
und so weiB wie Maden; eine Amme mochte sie mit ihrer Milch- 
pumpe von Mund an den Busen Iegen. 

Langer war Zeusel nicht mehr zu halten, er ist hereingebrochen 
und hat die Fiirstin beim Fliigel - der ganze Spafi dieser Komodie, 
ich meine der Ernst, ist uns nunmehr verdorben. Dieser graue 
Narr hat sich in seinen alten Tagen - seine Nachte sind noch alter 
- in einen ganzen historischen Kupferstich geknopft, das will 

> sagen, in eine zoologische Modeweste, worin er samt seinen vier 
bunten Ringen ordentlich aussieht wie ein griiner Purschwagen, 
an dem die Tierstucke der ganzen Jagd angemalet und vier Ringe 
zum Anketten der Sauen in natura sind. Ich muB es jetzt sehen 
und leiden - da er alles in der Vergangenheit tut -, daB er nun, 
besoffen von Eitelkeit und kaum vermogend, Uhrketten von 
Galarocken zu unterscheiden, hinlauft und sich etwas Seidenzeug 



644 HESPERUS 

herausfangt zum Kusse. Es war leicht vorauszusehen, da6 mir der 
Mensch mein ganzes Altarblatt verhunzen wurde mit seiner histo- 
rischen Figur; und ich hatte den Hasen gar unterdriickt und mit 
dem Rahmen des Gemaldes iiberdeckt, wenn er nicht mit seinen 
LofFeln und Laufen zu weit herausstande und -klaffte; auch ist er 
vom Korrespondenten ausdrucklich. unter den Benefiz-Kon- 
foderierten mit aufgefuhrt und angezeichnet. — Es lohnt kaum 
der Miihe zu schreiben : 

Fiinfter Akt; da nun alles versalzen ist und die Lesewelt lacht. 
Im funften Akt, den ich ohne alle Lust mache, wurd' auch weiter i< 
nichts getan - anstatt daB Tragodiensteller und Christen die Be- 
kehrung und alles Wichtige in den Ietzten Akt verlegen, wie nach 
Bako ein Hofmann seine Bittschriften in die Nachschrift ver- 
schob — , als daB die Prinzessin ihre neuen Hofdamen das erste 
Rechen- oder Abziehexempel ihres Erzamtes machen lieB : das nam- 

lich, sie auszukleiden Und da mit dem Auskleiden sich die 

funften Akte der Trauerspiele-der Tod tuts - und der Lustspiele 

- die Liebe tuts — beschlieBen : so mag sich auch dieses Benefiz- 
ding, das wie unser Leben zwischen Lust- und Trauerspiel 
schwankt, matt mit Entkleidung enden. 2 

Ende der Benefizakte 

- Ich war gestern zu aufgebracht. Der Apotheker ist zwar der 
Hund und die Katze in meinem Gemalde, die einander unter dem 
Tische des Abendmahls beiBen; aber im ganzen ist die Posse 
schon erhaben. Man bedenke nur, daB alles ineiner monarchischen 
Regierungform abgetan wird- daB diese nach Beattie dem Ko- 
mischen mehr als die republikanische aufhilft - daB nach Addison 
und Sulzer gerade die spaBhaftesten Menschen (z. B. Cicero) am 
ernsthaftesten sind, und daB folglich das namliche auch von dem 
Zeug, das sie machen, gelten musse: so sieht man schon aus dem * 
Komischen, das meine Akte haben, daB sie ernsthaft sind. — 

Mein Held hielt im Laden eine heftige Pater Merzische Kontro- 
verspredigt gegen etwas, wofiir die Reichsstadter und Reichs- 
dorfer predigen - dagegen: »daB die Menschen ohne alles weiBe 



1 1 . HUNDPOSTTAG 645 

und graue Gehirn und ohne Geschmack und Geschmackwarzchen 
in dem Grade handeln konnen, daB sie sich nicht schamen, die paar 
Jahre, wo sie der Schmerz noch nicht auf seinem Piirsch^ettel und 
der Tod noch nicht auf seinem Nacht^ettel hat, sundlich und hund- 
maBig zu verzetteln, nicht etwa mit Garnichtstun, oder mit den 
halben Takt-Pausen der Kanzleiferien, oder den ganzen Takt- 
Pausen der Komitialferien, oder mit den Narrheiten der Freude - 
was ware ruhmlicher? -, sondern mit den Narrheiten der Qual, 
mit zwolf herkulischen Nichts-Arbeiten, in den Raspelhausern der 

jo Vorzimmer, auf dem tratto di corda des gespannten Zeremoniells 
....Mein lieber Hofmarschall, meine schonste Oberhofmeisterin, 
ich billige alles; aber das Leben ist so kur^ daB es nicht die Muhe 
lohnt, sich einen langen Zopf darin zu machen. - Konnten wir 
nicht das Haar auf binden und iiber alle Vorsale, d. h. Vorhollen, 
iiber alle Vorfechter und Vortanzer hinwegsetzen gleich mitten in 
die Maiblumen unsrer Tage hinein und in ihre Blumenkelche . . . 
Ich will mich nicht abstrakt und schblastisch ausdriicken : sonst 
miiBt' ich sagen: wie Hunde werden Zeremonien durchs Alter 
toll; wie Tanzhandschuhe taugt jede nur einmal und mufi dann 

10 weggeworfen werden; aber der Mensch ist so ein verdammt zere- 
monielles Tier, daB man schworen sollte, er kenne keinen grofiern 
und langern Tag als den Regensburger Reichstag.« 

Solange er aB, war Tostato nicht da, sondern im Laden. Nun 
hatt* er schon am vorigen Abend einen Entwurf zum Kusse der 
schonen Dunsin nicht aus dem Kopfe bringen konnen : »Eine vieh- 
dumme Huldin kiiss' ich einmal^ sagt' er, »dann hab' kh Ruh' 
auf Lebenlang.« Aher zum Ungliick muBte um die Dunsin die 
sogenannte Kleins te (die Schwester), deren Verstand und deren 
Nase zu groB waren, als Senkfeder der Angel schwimmen, und 

die Feder wiirde sich, hatt* er nur eine Lippe an den Koder ge- 
setzt, sogleich gereget haben. Er war aber doch pfiffig: er nahm 
die Kleinste auf die Schenkel und schaukelte sie wie Zeusels 
Kutscher und sagte dieser Klugen siiBe Namen iiber den Kopf 
hiniiber, die er alle mit den Augen der Dummen zueignete (am 
Hofe wird er mit umgekehrtem Scheine zueignen). Er druckte 
der Kleinsten zweimal zum SpaBe die Spionenaugen zu, bloB um 



646 HESPERUS 

es im Ernst zum dritten Male zu tun, wo er die Dunsin an sich zog 
und sie mit der rechten Hand in- eine Stellung brachte, daB er ihr - 
zumal da sie es Htt, weil Madchen der List ungern abschlagen, oft 
aus bloBer Freude, sie zu erraten - unter den Hofdiensten gegen 
die Blinde den schleunigen KuB hinreichen konnte, fur den er 
schon so viele avant propos und Marschrouten verfertigt hatte. 
Jetzo war er satt und heil; hatt' er noch zwei Abende dem KuB 
nachstellen miissen, er hatte sich sehr verliebt. 

Er saB wieder in seinem Mastkorb, als die Fiirstin aB. Es ge- 
schah bei offnen Tiiren. Sie schiirte sein Lauffeuer der Liebe mit ic 
dem goldnen Loffel an, sooft sie ihn an ihre kleinen Lippen 
driickte - sie storte das Feuer wieder auseinander mit den zwei 
Zahnstochern (siiBen und sauern), sooft sie zu ihnen griff. Tostato 
et Compagnie setzten heute die teuersten Waren ab: kein Mensch 
kannte die et Compagnie; bloB Zeusel sah dem Viktor scharfer 
ins Gesicht und dachte: »Ich sollte dich gesehen haben.<< Gegen 
2 2 / 3 Uhr nachmittags ereignete sich das Gluck, daB die Pnnzessin 
selber an die Bude trat, um italienische Blumen fur ein kleines 
Madchen, das ihr wohlgefallen, auszusuchen. Bekanntlich nimmt 
man sich in jeder Maske Maskenfreiheit und auf jeder Reise MeB- 2< 
freiheit: Viktor, der in Verkleidungen und auf Reisen fast allzu 
kuhn war, versuchte es, in der Muttersprache der Prinzessin und 
zwar mit Witz zu sprechen. »Der Teufel«, dacha' er, »kann mich 
doch deswegen nicht holen.« Er merkte daher mit dem zartesten 
Wohlwollen gegen dieses schone Kind in Molochs Armen nur so 
viel liber die seidnen Blumen an: »Die Blumen der Freude werden 
auch leider meistens aus Samt, Eisendraht und mit dem Formeisen 
gemacht.« Es war nur ein Wunder, daB er hof lich genug war, um 
den Umstand wegzulassen, daB gerade der italienische Adel die 
italienische Flora verfertige. Sie sah aber auf seine Ware und 3 
schwieg; und kaufte statt der Blumen eine montre a regulateur 1 , 
die sie nachzubringen ersuchte. 

1 Bekanntlich eine Damenuhr, wie ein Herz gestaltet, auf dem Riicken mit 
Sonnenweiser und Magnetnadel versehen. Letzte zeigt den Damen, die die 
Kdlte hassen, im Grunde auch Siiden, und der Sonnenweiser taugt zum Mond- 



1 1 . HUNDPOSTTAG 647 

Er iiberbrachte ihr die Uhr eigenhandig; aber leider ebenso 
eigenhandig - der Leser erschrickt; aber an fangs erschrak er sel-r 
ber und dachte doch den Einfall so oft, bis er ihn genehmigte — 
hatt* er vorher liber den Imperator der Uhr ein zartes Streifchen 
Papier gepicht, worauf er eigenhandig mit Perlenschrift geschrie- 
ben: Rome cacha le nom de son dieu et elle eut tort; moi je cache 
celui de ma deesse et j'ai raison 1 . 

»Ich kenne die Leute schon,« dacht' er, »sie machen und ziehen 
in ihrem Leben keine Uhr auf!« Ei, Sebastian, was wird mein 
10 Leser denken oder deine Leserin? 

Sie reisete noch abends in ihr erheiratetes Land, das kiinftige 
Hackbrett ihres Zepters. Unserem Viktor war beinahe, als hatt' 
er ihr ein andres Herz als das metallene mit dem Zettel mitgegeben, 
und er freuete sich auf den Flachsenfinger Hof. Vor ihr lief ihr 
nachgedruckter Brautigam oder seine Sanfte, aus der er ausstieg 
an die Wand des Schlafzimmers. Da er ihr Gott war, so kann ich 
ihn oder sein Bild mit den Bildern der alten Gotter vergleichen, 
die auf einem eignen vis-a-vis - thensa genannt - herumgefahren, 
oder in einer Portratbiichse - voloq genannt - oder in einem 
20 Bauer - xadioxov genannt - herumgetragen wurden. 

Darauf ging Viktor mit seinem Handelskonsul hinter den Ku- 
lissen des Beneflztheaters herum. Er schniirte die seidne Demarka- 
tionlinie und Sperrkette ab - zog sie in die Hohe wie ein ekles 
Haar - befuhlte sie - hielt sie erst weit vom Auge — dann nahe an 
dieses - zerrte sie auseinander, eh' er sagte: »Die Kraft stecke, wo 
sie will - es mag nun eine seidne Schnur politiscke Korper so gut 
wie elektrische isolieren - oder es mag mit Furs ten wie mit Hiih- 
nern sein, die keinen Schritt weiter setzen, wenn man Kreide 
nimmt und damit von ihrem Schnabel herab eine gerade Linie 
^o auf den Boden hinfiihrt - soviel seht Ihr doch, Associe: wenn ein 
Alexander die Grenzsteine der Lander verriicken wollte, so ware 
ein solcher Strang dagegen das beste ins Enge gezogne Naturrecht 
und eine dergleichen Barriereallianz.« Er ging in ihr Schlafzimmer 
zum ausgeleerten heiligen Grabe, d. h. zum Bette der auferstand- 

1 Rom verbarg den Namen seines Gottes, aber es hatte unrecht; ich ver- 
berge meiner Gottin ihren, aber ich habe recht. 



648 HESPERUS 

nen Braut, in welches der an der Wand vor Anker liegende Spon- 
sus von seinem Nagel sehen konnte. Ganze Divisionen von Ein- 
fallen marschierten stumm durch seinen Kopf, den er damit an 
ein seidnes Kopfkissen - so groB wie ein Hunde- oder ein Seiten- 
kissen eines Wagens — mit der Wange andriickte. So anliegend 
und kniend sprach ers halb in die Federn (nicht in die Feder) hin- 
ein: »Ich wollt', auf dem andern Kissen lag* auch ein Gesicht und 
sari' in meines — du lieber Himmel ! zwei Menschengesichter ein- 
ander gegeniiber — sich einander in die Augen ziehend - einander 
die Seufzer belauschend - von einander die weichen durchsichtigen ic 
Worte wegatmend - das standen ich und Ihr gar nicht aus, Asso- 
cie!« — Er sprang auf, patschte sein Hasenlager leise wieder platt 
und sagte: »Bette dich weich um das schwere Haupt, das auf dich 
sinkt; erdriicke seine Traume nicht; verrate seine Tranen nicht!« 
— Ware sogar der Graf von O mit seiner feinen ironischen Miene 
dazugekommen : er hatte nichts darnach gefragt. Es ist ein Un- 
gliick fur uns Deutsche, dafi wir allein - indes dem Englander so- 
gar vom Weltmann seine Hasen-, Bock- und Luftspriinge fiir 
zierliche Ruck-, Vor- und Hauptpas angerechnet werden - gar 
nicht ernsthaft und gesetzt genug einherschreiten konnen. 2 < 

Er lief abends wieder in den Hafen seines Zeidlers ein; und sein 
schwankendes Herz warf auf die stille bluhende Natur um ihn die 
Anker aus. Der alte Mann hatte unterdes alle seine alten Papiere, 
Tauf-, Trauscheine und Manualakten vom Niirnberger Zeidler- 
gericht etc., zusammengefahren und sagte: »Les* Er!« - Er wollt' 
es selber wieder horen. Er zeigte auch seinen »Dreifaltigkeksring« 
aus Niirnberg, auf welchem stand : 

Hier dieser Ring der weist, 

Wie drei in Einem heiBt 

Gott Vater, Sohn und Geist. 3 

Der Bienenvater machte weiter kein Geheimnis daraus, daB er 
vorher, als er diesen Ring sich noch nicht in Niirnberg an einem 
Gerichttage angeschafft hatte, die Dreifaltigkeit nicht glauben 
konnen: »jetzt aber miiBt' einer ein Vieh sein, wenn ers nicht be- 
griffe.« - Am Morgen vor der Abreise war Viktor in der doppelten 



1 1 . HUNDPOSTTAG 649 

Verlegenheit: er wollte gern ein Geschenk haben-zweitens eines 
machen. Was er haben wollte, war eine plumpe Stundenuhr - bei 
einer Ausspielung fur ein Los a 20 kr. gewonnen -; dieses Werk, 
dessen dicke Zeigerstange den Lebensfaden des Greises auf dem 
schmutzigen ZifFerblatte in lauter bunten frohen Bienen-Stunden 
weggemessen hatte, sollte eine Lorenzo-Dose fur ihn sein, ein 
Amulett, ein Ignatius-Blech gegen Saulische Stunden. »Ein Hand- 
werker«, sagt' er, »braucht wahrlich nur wenig Sonne, um zu- 
frieden und warm durchs Leben zu gehen; aber wir mit unsrer 

to Phantasie sind oft in der Sonnenseite so schlimm daran als in der 
Wetterseite - der Mensch steht fester auf Dreck als auf Ather und 
Morgenrot.« Er wollte dem glucklichen Lebens-Veteranen als 
Kaufschilling fur die Stundenuhr und als Preismedaille fur das 
Quartier seine Sekundenuhr aufdringen. Lind hatte das Herz nicht, 
wurd' aber rot. Endlich stellte ihm Viktor vor, die Sekundenuhr 
sei eine gute Leuchtkugel zum Dreifaltigkeitsringe, ein Theses- 
bild dieses Glaubenartikels, denn die dreifaltigen Zeiger machten 
doch nur eine Stunde. - Lind tauschte. 

Viktor konnte weder der Spotter noch der Bunklische Refor- 

:o mator einer solchen irrenden Seele sein, und seine sympathetische 
Laune ist nichts als ein zweifelnder Seufzer iiber das menschliche 
Gehirn, das 70 Normal] ahre hat, und iiber das Leben, das ein 
Glaubens-Interim ist, und iiber die theologischen Doktorringe, 
die solche Dreifaltigkeitsringe sind, und iiber die theologischen 
Hor- und Sprechsale, worin solche Sekunden-Uhren zeigen und 
schlagen. 

- Endlich geht er aus Kussewitz um 6 Uhr morgens. Eine sehr 
schone Tochter des Grafen von O kam erst um 7 Uhr zuriick: das 
ist unser alter Gliick, er saBe sonst noch da. 

o Der Hundposttag ist aus. Ich weiB nicht, soil ich ein Extrablatt 
machen oder nicht. Der Schalttag ist an der Tiire; ich wills also 
bleiben lassen und nur ein Pseudo-Extrablatt hersetzen, welches 
sich bekanntlich von eineni kanonischen ganz dadurch unter- 
scheidet, daB ichs im apokryphischen durch keine Oberschrift 
merken lasse, sondern nur unter der Hand von der Geschichte 
wegkomme zu lauter Fremdsachen. 



65O HESPERUS 

Ich nehme meinen historischen Faden wieder auf und befrage 
den Leser: was halt er von Sebastians Weiber-Liebhaberei? Und 
wie erklart er sich sie? - Wahrhaft-philosophisch versetzt er : » Aus 
Klotilden: sie hat ihn durch ihr Magnetisieren mit der ganzen 
Weiber- Welt in Rapport gesetzt ; sie hat an diesen Bienenschwarm 
geklopft, nun ist kein Ruhen mehr. - Ein Mann kann 26 Jahre 
kalt und seufzerlos in seinem Biicherstaube sitzen; hat er aber den 
Ather der Liebe einmal geatmet: so ist das eirunde Loch des 
Herzens auf immer zu, und er muB her aus in die Himmelluft und 
bestandig nach ihr schnappen, wie ich in den kiinftigen Hundpost- k 
tagen sicherlich sehe.« Einen narrischen philosophischen Stil hat 
sich der Leser angewohnt; aber es ist wahr; daher ein Madchen 
nie so begierig fur ihr Theater den zweiten Liebhaber wirbt als 
nach dem Hintritt des ersten und nach den Schwiiren, ihr Werbe- 
patent wegzuwerfen. 

Wie konnte aber der Leser auf noch wichtigere Ursachen 1 nicht 
fallen, 1) auf die Gesamtliebe und 2) auf Viktors Muttermaler? 

1) Die Gesamt- oder Zugleichliebe ist zu wenig bekannt. Es ist 
noch keine Beschreibung davon da als meine: in unsern Tagen 
sind namlich die Lesekabinette, die Tanzsale, die Konzertsale, die 2C 
Weinberge, die Kaffee- und Teetische, diese sind die Treibhauser 
unsers Herzens und die Drahtmuhlen unserer Nerven, jenes wird 
zu groB, diese zu fein - wenn nun in diesen ehelustigen und ehe- 
losen Zeiten ein Jiingling, der noch auf seine Messiasin wie ein 
Jude passet und der noch ohne den hochsten Gegenstand des 
Herzens ist, von ungefahr mit einer Tanz-Halfte, mit einer Klu- 
bistin oder Associee oder Amtschwester oder sonstigen Mitarbei- 
terin hundert Seiten in den Wahlverwandtschaften oder in den 
Hundposttagen Heset - oder mit ihr uber den Kleebau oder Seiden- 
bau oder uber Kants Prolegomena drei bis vier Briefe wechselt - 3 c 
oder ihr funfmal den Puder mit dem Pudermesser von der Stirne 
kehrt - oder neben und mit ihr betaubende Sabelbohnen anbindet 
- oder gar in der Geisterstunde (die ebensooft zur Schaferstunde 
wird) uber den ersten Grundsatz in der Moral uneins wird : so ist 

1 Eine vierte Ursache ware, daB ihm jetzt jede Liebe gegen eine andre als 
gegen Klo tilde ein Verdimst um seinen Freund zu sein schien. 



II. HUNDPOSTTAG 65 I 

soviel gewiB, daB der besagte Jiingling (wenn anders Feinheit, 
Gefuhl und Besonnenkeit einander die Waage in ihm halten) ein 
wenig toll tun und fiir die besagte Mitarbeiterin (wenn sie anders 
nicht mit Hockern des Kopfes oder Herzens an seine Fuhlfaden 
stoBet) etwas empfinden muB, das zu warm ist fiir die Freund- 
schaft und zu unreiffiXr die Liebe, das an jene grenzt, weil es mehre 
Gegenstande einschlieBt, und an diese, weil es an dieser stirbt. 
Und das ist ja eben nichts anders als meine Gesamt- oder Zugleich- 
liebe, die ich sonst Simultan- und Tuttiliebe genannt. Beispiele 

10 sind verhaBt: sonst zog* ich meines an. Diese Universalliebe ist 
ein ungegliederter Fausthandschuh, in den, weil keine Verschlage 
die vier Finger trennen, jede Hand leichtlich hineinfahrt - in die 
Partialliebe oder in den Fingerhandschuh drangt sich nur eine 
einzige Hand. Da ich zuerst diese Sache und Insel entdeckt habe : 
so kann ich ihr den Namen schenken, womit sie and re nennen und 
rufen mussen. Man soil sie kiinftighin die Samm- oder Zugleich- 
liebe benamsen, ob ich sie gleich auch, wenn ich und Kolbe woll- 
ten, die Praludierliebe - die Maskopei-Zartlichkeit - die General- 
Warme - die Einkindschafttreue nennen lassen konnte. 

20 Den Theologen und ihrer Kannengiefierei von den Endabsichten 
zu Gefallen werf* ich noch diesen festen Grundsatz her: ich 
mochte den sehen, ders ohne die Sammliebe in unsern Zeiten, wo 
die einspannige Liebe durch die Foderungen eines groBeren me- 
tallischen und moralischen Eingebrachten seltner wird, drei Jahre 
aushielte. 

2) Die zweite Ursache von Viktors Weiber-Liebhaberei war 
sein Muttermal, d. h. eine Ahnlichkeit mit seiner und jeder Mutter. 
Er behauptete ohnehin, seine Ideen hatten gerade den Schritt, d.h. 
den Sprung der weiblichen, und er hatte iiberhaupt recht viel von 

jo einer Frau; wenigstens gleichen die Weiber ihm darin, da£ ihre 
Liebe durch Sprechen und Umgang entsteht. Ihre Liebe hat sicher 
noch viel ofter mit HaB und Kalte angefangen als aufgehort. Aus 
einem aufgedrungenen verhaBten Brautigam wird oft ein geliebter 
Ehemann. »Ich will,« - sagte er im Hannoverischen - »wenn nicht 
in ihr Herz, doch in ihre Herzohren. Sollte denn die Natur in die 
weibliche Brust zwei so weite Herzkammern - man kann sich 



652 HESPERUS 

darin umkehren - und zwei so nette Herzalkove — den Herzbeutel 
nab' ich gar nicht beruhrt - bloB darum hineingebauet haben, daB 
eine Mannseele diese vier Zimmer mutter seelenallein miete, wie 
eine weibliche die vier Gehirnkammern des Kopf-Frauengemachs 
bewohnt? Ganz unmoglich! und sie tuns auch nicht: sondern - 
aber wer iibermaBigen Witz scheuet, gehe mir jetzt aus den FuBen 
— in die zwei Flugel dieser Rotunda und in die Seitengebaude 
wird hineingelagert, was hineingeht, d. h. mehr als herausgeht - 
wie in einem Zoll- oder Taubenhause gehts aus und ein - man 
kann nicht zahlen, wenn man zusieht - es ist ein schoner Tempel, *° 
der Durchganggerechtigkeit hat. - Solche kehren sich an die weni- 
gen gar nicht, die sich einschranken und die Hauptloge des Her- 
zens nur einem einzigen Liebhaber geben und bloB die zwei 
Seitenlogen tausend Freunden.« 

Gleichwohl konnt' es Jean Paul - es mochte immerhin Platz 
genug ubrig sein — nie so weit treiben, daB er nur in die zwei 
Koloniekorbe, namlich in die Herzohren hineingekommen ware, 
welches doch das Allerwenigste ist. Weil sein Gesicht zu mager 
aussieht, die Farbe zu gelb, der Kopf viel voller als die Tasche und 
sein Einkommen das einer Titular-Berghauptmannschaft ist: so 20 
quartieren sie den guten Schelm bloB am kdltesten Orte ganz oben 
unter den Kopf-Mansarden ein, nicht weit von den Haarnadeln - 
und da sitzt er noch jetzunder und scherzet (schreibend) sein eilf- 
tes Kapitel hinaus — 

12. HUNDPOSTTAG 

Polar-Phantasien - die seltsame Insel der Vereinigung - noch ein Stuck aus 
der Vor-Geschichte - der Stettinerapfel als Geschlechtwappen 

Wir leben jetzt im fin stern Mittelalter dieser Lebensbeschreibung 
und lesen dem aufgeklarten achtzehnten Jahrhundert oder Hund- 
tag entgegen. Allein schon in diesem zwolften fliegen, wie in der 30 
Nacht vor einem schonen Tag, groBe Funken. Mich frappiert 
dieser Hundtag noch immer. »Spitz,« sagt* ich, »friB mir weg, was 
du willst, und klare nur die Welt auf.« 



12. HUNDPOSTTAG <>53 

Sebastian eilte am Sonnabend mit lustiger Seele unter einem 
iiberwolkten Himmel auf die Insel der Vereinigung zu. Er konnte 
da anlangen, wenn er sich nicht aufhielt, ehe das Gewolk einge- 
sogen war. Unter einem blauen Himmel fuhrte er, wie Schikane- 
der, die Trauerspiele, unter einem aschgrauen aber die Lustspiele 
seines Innern auf. Wenns regnete, lacht* er gar. Rousseau bauete 
in seinem Kopfe eine empfindsame Buhne, weil er weder aus der 
Kulisse noch in eine Loge des wirklichen Lebens gehen wollte — 
Viktor aber besoldete zwischen den Beinwanden seines Kopfes 

io ein komisches Theater der Deutschen, bloB um die wirklichen 
Menschen nicht auszulachen: seine Laune war so ideal wie die 
Tugend und Empfindsamkeit andrer Leute. In dieser Laune hielt 
er (wie ein Bauchredner) lauter innerliche Reden an alle Poten- 
taten - er stellte sich auf die Ritterbank mit Kirchenvisitations- 
reden - auf die Stadtebank mit Leichenreden -auf dem papstlichen 
Stuhl hielt er an die Jungfer Europa und kirchliche Braut Stroh- 
kranzreden - die Potentaten muBten ihm alle wieder antworten, 
aber man kann denken wie, da er, gleich einem Minister, ihnen aus 
seinem Kopf-Souffleurloch alles in den Mund legte - und dann 

20 ging er doch fort und lachte jeden aus. 

Mandeville sagt in seinen Reisen, am Nordpol gefriere im 
Winterhalbjahr jedes Wort, aber im Sommerhalbjahre tau' es 
wieder auf und werde gehort. Diese Nachricht malte sich Viktor 
auf dem Wege nach der Insel aus; wir wollen unsere Ohren an 
seinen Kopf legen und dem innern Gesumse zuhorchen. 

»Ich und Mandeville sind gar nicht verbunden, es zu erklaren, 
warum am Nordpol die Worte so gut wie Speichel unter dem 
Fallen zu Eis werden, gleich dem Quecksilber allda; aber ver- 
bunden sind wir, aus dem Vorfalle zu folgern. Wenn ein lachender 

30 Erbe da seinem Testator lange Jahre wiinscht: so hort der gute 
Mann den Wunsch nicht eher als im nachsten Fruhjahr, das ihn 
schon kann totgeschlagen haben. - Die besten Weihnachtpredig- 
ten erbauen nicht friiher gute Seelen als im Heumonat. - Vergeb- 
lich stattet der Polarhof seine Neujahrwunsche vor Serenissimo 
ab; er hort sie nicht, als bis es warm wird, und dann ist schon die 
Halfte fehlgeschlagen. Man sollte aber einen Zirkulierofen als 



654 HESPERUS 

Sprachrohr in das Vorzimmer setzen, damit man in der Warme - 
die Hof-Sprecher horen konnte. - Ein Bruder Redner ware dort 
ohne einen Ofenheizer ein geschlagner Mann. - Der Pharospieler 
tut zwar am Thomastag seine Fliiche; aber am Johannistag, wo er 
schon wieder gewonnen, fahren sie erst herum; und aus den 
Winterkonzerten konnte man Sommerkonzerte machen ohne alle 
Instrumente: man setzte sich nur in den Saal. - Woher kommts 
anders, daB die Polar-Kriege oft halbe Jahre vor der Kriegerkla- 
rung gefuhret werden, als daher, daB die schon im Winter er- 
lassene Erklarung erst bei gutem Wetter laut wird? — Und so kann i° 
man von den Winterfeldziigen der Polar-Armeen nicht eher et- 
was horen als unter den Sommerfeldzugen. - Ich meines Orts 
mochte nur auf den Winter nach dem Pole reisen, bloB um da den 
Leuten, besonders dem Hofstaat, wahre Injurien ins Gesicht zu 
sagen; wenn er sie endlich vernahme, saBe der Injuriant schon 
wieder in Flachsenfingen. - Die Winterlustbarkeiten slnd gar 
nicht schuld, wenn die nordliche Regierung eine Menge der wich- 
tigsten Dinge nicht vortragt und entscheidet: sondern erst unter 
den Kanikularferien ist das Abstimmen zu horen; und da konnen 
auch die Bescheide der Kammer auf Gnaden- und Hofysachen zur 20 
Sprache kommen. — Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol — indes 
die Sonne im Steinbock ware und mein Herz im Krebs — nieder- 
flele vor der schonsten Frau und ihr die langste Nacht hindurch 
die heiBesten Lieberklarungen tate, die aber in einer Drittels- 
Terzie Eis ansetzten und ihr gefroren, d.h. gar nicht zu Ohren 
kamen : was wiird' ich im Sommer machen, wo ich schon kalt ware 
und sie schon hatte, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tiichtig 
mit ihr zu zanken verhoffte, nun mitten unter dem Keifen meine 
Steinbocks-Lieberklarungen aufzutauen und zu reden anflngen? 
Ich wiirde gelassen nichts machen als die Regel: man sei zartlich 30 
am Pol, aber erst im Widder oder Krebs. - Und wenn vollends die 
Obergabe einer Prinzessin am Pol vorginge, und zwar an dem 
Punkt, wo die Erde sich nicht bewegt, der sich am besten fur die 
zwiefache Untatigkeit einer Prinzessin und einer Dame schickt, 
und wenn gar die Obergabe in einem Saale ware, wo jeder, be- 
sonders Zeusel, in den langen Winterabenden sie gelastert hatte; 



12. HUNDPOSTTAG 655 

wenn dann die Luft im Saal zu lastern anfinge, und Zeusel in der 
Not fort wollte : so wurd* ich ihn freundlich packen und fragen : 
>Wohin, mein Freund?<« 

»Nach GroBkussewitz, ich helfe fangen«, antwortete ihm der - 
reelle Biittel aus St. Liine, der hinter einem Gemauer mit der einen 
Hand ein Buch auf- und mit der andern eine Tasche zugeknopft 
hatte. Viktor fuhlte ein frohes Beklemmen iiber eine Antike aus 
St.Lune. Er fragte ihn um alles mit einem Eifer, als war* er seit 
einer Ewigkeit a parte ante weg. Der zuknopfende Leser wurde 
10 ein Autor und faBte vor dem Herrn die Jahrbiicher, d. h. Stunden- 
bucher dessen ab, was seitdem im Dorfe vorgefallen war. In 
zwanzig Fragen wickelte Viktor die nach Klotilden ein; und er- 
fuhr, daB sie bisher alle Tage beim Pfarrer gewesen war. Das ver- 
droB ihn: »Als ob ich«, dacht* er, »nicht soviel Seelenstarke hatte, 
der Liebe eines Freundes zuzusehen - und auch sonst als ob.« 
Oberhaupt meinte er, in einer solchen Feme sei es ihm mehr er- 
laubt, an sie zu denken. 

Der lesende Hascher war ein Leser unter meinem Regiment: 
das Buch, das er auf seinen Diebs-Heckjagden herumtrug, war die 
20 unsichtbare Loge 1 . Viktor lieB sich den ersten Teil vorstrecken: 
der Biittel stand im zweiten gerade an der Pyramide beim ersten 
KuB. - Unser Held tat immer schnellere Schritte im Lesen und im 
Gehen und hatte Buch und Weg miteinander zu Ende — 

Die Insel stand vor ihm! - 

Hier auf diesem Eiland, mein Leser, mache Augen und 

Ohren auf! Nicht, als ob merkwurdige Dinge erschienen - 

denn diese wiirden sich schon durch halbofthe Ohren und Augen- 
sterne drangen -, sondern eben weil lauter alltagliche kommen. 

Der Lord stand einsam am Ufer der See, die um die Insel floB - 
jo und erwartete und empfing ihn miteinem Ernst, der seine Freund- 
Hchkeit iiberhullte, und mit einer Riihrung, die noch mit seiner 
gewohnlichen Kalte rang. Er wollte jetzt zur Insel hinuber, und 
Viktor sah doch kein Mittel des Obergangs. Es war kein Boot da. 
Auch ware keines fortzubringen gewesen, weil eiserne Spitzen 
unter dem Wasser in solcher Menge und Richtung standen, daB 

1 Die unsichtbare Loge; eine Biographie in 2 Teilen. 8°. 



6y6 HESPERUS 

keines gehen konnte. Die Schildwache, die bisher am Ufer die 
Insel gegen die zerstorende Neugier des Pobels deckte, war heute 
entfernt. Der Vater ging mit dem Sohne langsam um das* Ufer und 
riickte nach und nach 27 Steine, die in gleichen Entfernungen aus- 
einanderlagen, aus ihrem Lager heraus. Die Insel war vor der 
Blindheit des Lords gebauet worden und den Zuschauern noch 
unverwehrtj aber in derselben hatt' er ihr Inneres durch unbe- 
kannte nachtliche Arbeiter vollenden und verstecken Iassen. Unter 
dem Rundgang um die Insel sah Viktor ihr Stab- und Fruchtge- 
lander von hohen Baumstammen, die ihre Schatten und ihre ic 
Stimmen in die Insel hineinzurichten schienen und deren Laub- 
werk die bebenden Wellen mit ihren zerteilten Sonnen und Ster- 
nen besprengten — die Tannen umarmten Bohnenbaume, und um 
Tannenzapfen gaukelten Purpur-Bliitenlocken, die Silberpappel 
biickte sich unter der thronenden Eiche, feurige Biische von ara- 
bischen Bohnen loderten tiefer aus Laub-Vorhangen, ablaktierte 
Baume auf doppelten Stammen vergitterten dem Auge die Ein- 
gange, und neben einer Fichte, die alle Gipfel beherrschte, war 
eine hohere vom Sturm halb iiber das Wasser hereingedruckt, die 
sich iiber ihrem Grabe wiegte - weiBeSaulen hoben in der Mitte at 
der Insel einen griechischen Tempel unbeweglich iiber alle wan- 
kende Gipfel hinaus. - Zuweilen schien ein verirrter Ton durch 
das griine Allerheiligste zu laufen - ein hohes schwarzes, an die 
Tannenspitzen reichendes Tor sah, mit einer weiBen Sonnen - 
scheibe bemalt, nach Osten und schien^ zum Menschen zu sagen : 
gehe durch mich, hier hat nicht nur der Schopfer, auch dein Bru- 
der gearbeitet! - 

Diesem Tore gegeniiber lag der 27Ste Stein. Viktors Vater ver- 
riickte ihn, nahm einen Magnet heraus, bog sich nieder und hielt 
dessen sudlichen Pol in die Lucke. Plotzlich fingen Maschinen an 3 < 
zu knarren und die Wellen an zu wirbeln - und aus dem Wasser 
stieg eine Briicke von Eisen auf. Viktors Seele war von Traumen 
und Erwartungen iiberfullt. Er setzte schauernd hinter seinem 
Vater den FuB in die magische Insel. Hier beruhrte sein Vater 
einen diinnen Stein mit dem nordlichen Ende des Magnets, und die 
Eisenbrucke fiel wieder hinunter. Ehe sie an das erhohte Tor hin- 



12. HUNDPOSTTAG 657 

traten : drehte sich von innen ein Schliissel um und sperrte auf, und 
die Tiire klafFte. Der Lord schwieg. Auf seinem Gesicht war eine 
hohere Sonnenseele aufgegangen - man kannte ihn nicht mehr - 
er schien in den Genius dieses zauberischen Eilandes verwandelt 
zu sein. 

Welche Szene! Sobald das Tor geoffnet war, lief durch alle 
Zweige ein harmonisches Hiniiber- und Herubertonen - Liifte 
flogen durch das Tor herein' und sogen die Laute in sich und 
schwammen bebend damit weiter und ruhten nur auf gebognen 

10 Bliiten aus. — Jeder Schritt machte einen groBen diistern Schau- 
platz weiter. - Im Schauplatz lagen umher Marmorstiicke, auf 
welche die Schmiedekohle RafFaels Gestalten gerissen hatte, ein- 
gesunkne Sphinxe, Landkartensteine, worauf die dunkle Natur 
kleine Ruinen und ertretene Stadte geatzet hatte - und tiefe OfF- 
nungen in der Erde, die nicht sowohl Graber als Formen zu 
Glocken waren, die darin gegossen werden - dreifiig giftvolle 
Eibenbaume standen von Rosen umflochten, gleichsam als waren 
sie Zeichen der dreiBig wiitend-leidenschaftlichen Jahre des 
Menschen - dreiundzwanzig Trauerbirken waren zu einem nie- 

20 drigen Gebiisch zusammengebogen und ineinander gedriickt - in 
das Gebiisch liefen alle Steige der Insel - hinter dem Gebiisch 
verfinsterten neunfache Flore in verschlungenen Wallungen den 
Blick nach dem ho hen Tempel - durch die Flore stiegen fiinf Ge- 
witterableiter in den Himmel auf, und ein Regenbogen aus zweien 
ineinander gekriimmten aufspringenden Wasserstrahlen schwebte 
fiimmernd am Gezweige, und immer wolbten sich die zwei Strah- 
len herauf, und immer zersplitterten sie einander oben in der Be- 
riihrung — 

Als Horion seinen Sohn, dessen Herz von lauter unsichtbaren 

30 Handen gefasset, erschreckt, gedriickt, entziindet, erkaltet wurde 
in das niedrige Birkengebiisch hineinzog: so begann die lallende 
Totenzunge eines Orgel-Tremulanten durch die ode Stille den 
Seufzer des Menschen anzureden, und der wankende Ton wand 
sich zu tief in ein weiches Herz. - Da standen beide an einem vom 
Gebiische dunkel iiberbaueten Grabe - auf dem Grabe lag ein 
schwarzer Marmor, auf dem ein uberschleiertes blutloses weiBes 



658 HESPERUS 

Herz und die bleichen Worte standen : Es ruht. »Hier wurde«,.sagte 
der Lord, »mein zweites Auge-blind : Marys 1 Sarg steht in diesem 
Grabe; als dieser aus England ankam in der Insel, entztindete sich 
das kranke Auge zu sehr und sah niemals wieder.« - Nie schauderte 
Viktor so : nie sah er auf einem Gesicht eine solche chaotische 
wechselnde Welt von fliehenden, kommenden, kampfenden, ver- 
gehenden Empfindungen; nie starrte ein solches Eis der Stirne 
und Augen iiber krampf haften Lippen - und ein Vater sah so aus, 
und ein Sohn empfand es nach. 

»Ich bin ungliicklich«, sagte langsam sein Vater; eine beiBende ic 
bittere Trane brannte am Augapfel; er stockte ein wenig und 
stellte die fiinf offnen Finger auf sein Herz, als wollt' ers ergreifen 
und herausziehen, und blickte auf das steinerne blasse, als wollt* 
er sagen : warum ruht meines nicht auch? — Der gute sterbende 
Viktor, zermalmet von liebendem Jammer, zerrinnend in Mitleid, 
wollte an den teuern verheerten Busen fallen und wollte mehr als 
den Seufzer sagen : »0 Gott, mein guter Vater !« Aber der Lord hielt 
ihn sanft von sich ab, und die Gallenzahre wurde unvergossen 
vom Auge zerquetscht. Der Lord flng wieder an, aber kalter: 
»Glaube nicht, daB ich besonders geriihrt bin - glaube nicht, daB 20 
ich eine Freude begehre, oder einen Schmerz verwiinsche - 
ich lebe nun ohne HofTnung und sterbe nun ohneHoffnung.« - 

Seine Stimme kam schneidend uber Eisfelder her, sein Blick 
war scharf durch Frost. 

Er fuhr fort : »Wenn ich sieben Menschen vielleicht gliicklich 
gemacht habe, so muB auf meinem schwarzen Marmor geschr-ieben 
werden: Es ruht... Warum wunderst du dich so? Bist dujet^t 
schon ruhig?« - Der Vater sah starr auf das weiBe Herz, und starrer 
geradeaus, als wenn eine Gestalt sich aufhobe aus dem Grabe — 
das frierende Auge legte und drehte sich auf eine aufdringende 30 
Trane - schnell zog er einen Flor von einem Spiegel zuriick und 
sagte : »Blicke hinein, aber umarme mich darauf !«. . . Viktor starrte 
in den Spiegel und sah schaudernd ein ewig geliebtes Angesicht 
darin erscheinen - das Angesicht seines Lehrers Dahore - er bebte 

1 So hieC die Gemahlin des Lords, die im 23sten Jahre der Ruhe in die 
ewigen Arme fiel. 



12. HUNDPOSTTAG 659 

wohl zusammen, aber er sah sich doch nicht um und umfaBte den 
Vater, der ohne HofTnung war. 

»Du zitterst viel zu stark,« (sagte der Lord) »aber frage mich 
nicht, mein Teurer, warum alles so ist: in gewissen Jahren tut 
man die alte Brust nicht mehr auf; so voll sie auch sei.« 

Ach du dauerst mich! Denn die Wunden, die aufgedeckt wer- 
den konnen, sind nicht tief ; der Schmerz , den ein menschenfreund- 
liches Auge finden, eine weiche Hand lindern kann, ist nur klein. 
- Aber der Gram, den der Freund nicht sehen darf, weil er ihn 
10 nicht nehmen kann, dieser Gram, der zuweilen ins begluckte Auge 
in Gestalt eines plotzlichen Tropfens aufsteigt, den. das wegge- 
wandte Angesicht vertilgt, hangt uberdeckt schwerer und schwerer 
am Herzen und zieht es endlich Ios und fallt mit ihm unter die 
heilende Erde hinab : so werden die Eisenkugeln an den iiber dem 
Meer gestorbnen Menschen angeknupft, und sie sinken mit ihm 
schneller in sein groBes Grab. — 

Er fuhr fort : »Ich werde dir etwas sagen ; aber schwore hier auf 
dieser teuern Asche, zu schweigen. Es betrirTt deinen Flamin, und 
diesem muBt du es verhehlen.« Das ftel dem von einer Welle auf 
20 die andre gestiirzten Viktor auf. Ererinnerte sich, daB ihm Flamin 
das Versprechen auf der Warte abgedrungen, daB sie miteinander, 
wenn sie sich zu sehr beleidigt hatten, sterben wollten. Er stand 
mit dem Schwur an - endlich sagt* er: »Aber kurz vor meinem 
Tode darf ichs. ihm sagen?« - »Kannst du ihn wissen?« sagte sein 
Vater. - »Aber im Fall?« - »Dann!« sagte jener kalt. - 

Viktor schwur ; und zitterte vor dem kunftigen Inhalt des Eides. 

Auch muBt' er versprechen, vor der Wiederkehr des Lords 
diese dunkle Insel nicht zu besuchen. 

Sie traten aus dem Laub-Mausoleum und lieBen sich auf eine 

30 umgesturzte Stalaktite nieder. Zuweilen fiel unter dem Reden ein 

fremder Harmonika-Ton von Blatt zu Blatt, und in einer weiten 

Feme schienen die vier Paradieses -Flusse unter einem mitbeben- 

den Zephyr hinwegzuhallen. 

Der Vater begann: »Flamin ist Klotildens Bruder und des 
Fursten Sohn.« — 

Nur ein solcher Gedanken-Blitz konnte noch in Viktors ge- 



660 HESPERUS 

blendete Seele dringen: eine neue Welt ging in ihm jetzt in die 
Hohe und riB ihn aus der nahen groBen weg. - 

»Auch« (fuhr Horion fort) »leben Januars drei andere Kinder in 
England noch, bloB das vierte auf den sieben Inseln ist unsicht- 
bar.« Viktor begriffnichts; der Lord riB der Vergangenheit alle 
Schleier ab und fuhrte ihn vor eine neue Aussicht ins nahe Leben 
und ins verflossene. Ich werde nachher alle Entdeckungen und 
Geheimnisse des Lords dem Leser geben : jetzt will ich erst den 
Abschied des Vaters und des Sohns erzahlen. 

Wahrend der Lord seinen Sohn in die dustern unterirdischen 10 
Gange der vorigen Zeit begleitete und ihm alles sagte, was er der 
Welt verschwieg: so gingen aus Viktors Augen Tranen uber 
manche Geringfiigigkeit, die keine verdienen konnte; aber der 
Strom dieser weichen Augen wurde nicht durch diese Erzahlung, 
sondern durch das zuriickkehrende Andenken an den ungluck- 
lichen Vater und durch die Nahe der bedeckten schonen Aschen- 
gestalt und des Trauermarmors aus dem fortweinenden Herzen 
gedriickt. - Endlich horten alle Tone der Insel auf- das schwarze 
Tor schien zuzufallen - alles war still - der Lord war mit der Ent- 
hullung und allem zu Ende und sagte: »Geh immer heute noch 20 
nach Maienthal - und sei vorsichtig und glucklich!« - Aber ob er 
gleich den Abschied mit jener zuruckhaltenden Feinheit nahm, die 
in seinem Stande sogar Eltern und Kindern die Hande und die 
Arme fiihrt: so driickte doch Viktor den kindlichen, von Seufzern 
und Gefiihlen schwangern Busen an den vaterlichen mit einer 
Heftigkeit, als wollt' er sein verarmendes Herz zu den Tranen 
entzweipressen, die er immer heiBer und groBer zeigen muBte. 
Ach der Verlassene! Als die Briicke, welche die vaterlichen und 
die kindlichen Tage auseinanderspaltete, aufgestiegen war, ging 
Viktor allein dariiber, wankend und taub - und als sie ins Wasser 30 
wieder eingesunken und der Vater in die Insel verschwunden war, 
driickte ihn das Mitleiden auf das Ufer darnieder - und als er alle 
Tranen aus dem leidenden Herzen wie Pfeile gezogen hatte, ver- 
lieB er langSam und traumend die sdlle Gegend der Ratsel und 
Schmerzen und den dunkeln Trauergarten der toten Mutter und 
des dustern Vaters, und seine ganze erschiitterte Seele rief unauf- 



12. HUNDPOSTTAG 66l 

horlich: ach guter Vater, hoffe wenigstens und kehre wieder und 
verlaB mich nicht! — 

Wir wollen jetzt alles, was in der bisherigen Geschichte Dunkel- 
heiten machte, und was der Lord seinem Sohne auf hellte, uns auch 
aufklaren. Man erinnert sich noch, daB zur Zeit, da er nach Frank- 
reich abging, um die Kinder des Fiirsten- den sogenannten Walli- 
ser, Brasilier und Asturier und den Monsieur - abzuholen, die 
finstere Nachricht ihrer Entfiihrung einlief. Diese Entfiihrung 
hatt' er aber (das gestand er nun) selber veranstaltet, bloB das 

io Verschwinden des Monsieur auf den sieben Inseln war ohne sein 
Wissen vorgefallen; und in seine Unwahrheit konnt* er also einige 
Wahrheit als Mundleim mischen. Diese drei Kinder lieB er ver- 
borgen nach England bringen und sie in Eton zu Gelehrten und 
in London zu Semperfreien erziehen, um sie einmal ihrem Vater 
als blutverwandte Beistande seiner wankenden Regierung wieder- 
zuschenken. Daher hatt* er dem sogenannten Infanten (Flamin) 
Regierrat werden helfen. Sobald er einmal die ganze Kinderkolo- 
nie beisammen hat, so uberrascht und begliickt er den Vater mit 
ihrer frohen Erschelnung. Den jetzt unsichtbaren Sohn des Ka- 

20 plans, der Blattern und Blindheit vor dem Einschiffen bekam, ver- 
heimlicht er darum, weil sonst leicht zu erraten ware, wem Flamin 
eigentlich angehore. 

Viktor fragte ihn, wie er den Fiirsten von der Verwandtschaft 
mit vier oder fiinf Unbekannten uberfiihre. »Durch mein Wort«, 
versetzte Horion anfangs; dann fugte er die iibrigen Beweismittel 
hinzu: bei Flamin das Zeugnis der mitkommenden Mutter (der 
Nichte), bei den iibrigen ihre Ahnlichkeit mit ihren Abbildern, 
die er noch hat, und endlich das Muttermal eines Stettinerapfels. 
Viktor hatt' es schon lange von der Pfarrerin gehort, alle Sohne 

50 Jenners hatten ein gewisses Mutter- oder Vatermal auf dem linken 
Schulterblatt, das wie nichts aussahe, ausgenommen im Herbst, 
wenn die Stettiner reifen : da werd' es auch rot und gleiche dem 
Urbild. - Dem Leser selber miissen aus den Jahrbiichern der ku- 
riosen und gelehrten Gesellschaften ganze Fruchtkorbe voll 
Kirschen vorgekommen sein, deren Rotelzeichnung nur matt auf 
Kindern war, und die sich erst mit den reifenden Urbildern auf 



662 HESPERUS 

den Zweigen hoher roteten. Ware einem Bad-Gesellschafter von 
mir zu glauben, so hatt* ich selber ein solches Stettiner Frucht- 
stiick auf der Schulter hangen : die Sache ist nicht wahrscheinlich 
und nicht erheblich; inzwischen durft' ich doch im kiinftigen 
Herbste - denn ich setzte mirs einige Herbste vor, nun aber er- 
innert mich Knef mit seinem Hunde daran -, sobald die Stettiner 
zeitigen, einen Spiegel nehmen und mich von hinten besehen. - 
Und aus demselben Grunde schiebt diese Stettiner Fruchtschnur 
die Riickkehr des Lords, wenigstens die Obergabe und Erken- 
nung der Kinder, auf die Herbstzeit ihrer Rote auf. 10 

Ich mache mir kein Bedenken,hier ein satirische Note meines 
Korrespondenten zu iibergeben. »Stellen Sie sich« (schreibt er) 
»bei dieser Nachricht, als taten Sie es auf mein Geheifi, und er- 
zahlen Sie des Lords Exposition und OfFenbarung, wenn Sie sie 
einmal erzahlet haben, Ihrem Leser ganz ruhig zum zweitenmal; 
damit er sie nicht vergiBt oder verwirrt. Leser kann man nicht 
genug betrugen, und ein gescheiter Autor wird sie gern an seinem 
Arm in Mardereisen, Wolfgruben und Prellgarne geleiten.« Ich 
bekenn' es, zu solchen PflfTen hatt' ich von jeher schlechten An- 
satz - und bringt es iiberhaupt nicht mir und dem Leser mehr 20 
Ehre, wenn ers gleich aufs erstemal behalt, da 6 Flamin Jenners 
naturlicher und Le Bauts angeblicher Sohn ist-daB des Pfarrers 
seiner blind und nicht da ist - dafi noch drei oder vier andre Jen- 
ners-Kinder aus den gallischen Seestadten nachkommen — , mehr 
Ehre, sag* ich, als wenn ichs jetzt ihm zum zweiten Male (im 
Grunde war's zum dritten Male) vorkauen muBte, daB Flamin 
Jenners naturlicher und Le Bauts angeblicher Sohn ist, daB des 
Pfarrers seiner blind und nicht da ist, und daB noch drei oder vier 
andre Jenners-Kinder aus den gallischen Seestadten nachkommen? 
Ich frage. 3° 

Der Lord hatte seinem Sohn den Eid des Schweigens gegen 
Flamin darum abgefodert, weil dieser aus RechtscharTenheit 
alle Geheimnisse bewahrte, aber aus Zornhitze alle verriet - weil 
er in dieser seine Geburt geltend machen wiirde, bloB um sich 
mit einem Widersacher herumzuschieBen - weil er noch morgen 
deswegen aus einem Vorfechter mit dem Themis-Schwerte ein 



12. HUNDPOSTTAG 663 

Nachfechter mit dem Kriegsdegen werdenkonnte-undweilsich 
iiberhaupt ein Geheimnis gleich der Liebe noch besser unter zwei 
Teilnehmern befindet als unter dreien. Auch glaubte der Lord, aus 
einem Menschen, dem man Geld gabe, damit er etwas wiirde, 
wiirde mehr als aus einem, der etwas ware, weil er Geld hatte, und 
der die Miinzen-fiir seine Erbschaftwappen und nicht fiir ausge- 
setzte Preismedaillen kiinftiger Auflosungen ansahe. 

Nach alien diesen Eroffnungen machte der Lord unserem Vik- 
tor noch eine wichtige, auf die er in der iibereiseten Laufbahn 

10 seines kiinftigen Hof lebens immer wie auf eine Warntafel zuriick- 
zublicken habe. 

A)s der Lord vor dem Aschen-Hause seiner Geliebten erblin- 
dete, wurde seine ganze Korrespondenz mit England, mit der 
Nichte und mit den Lehrern der Fiirstenkinder erschwert, wenig- 
stens verandert. Er muBte sich die einlaufenden Briefe von einem 
Freunde vorlesen lassen, dem er trauen konnte; er konnt' aber 
keinem trauen. Allein eine Freundin fand er aus, die Sen glanzen- 
den Vorzug seines Vertrauens verdiente, und die niemand war als 
- Klotilde. Er, der seine Gehcimnisse nicht wie ein Jiingling ver- 

20 schleuderte, durft' es dennoch wagen, Klotilden in den Besitz 
seiner groBten zu setzen und sie zur Buchhalterin und Vorleserin 
der Briefe ihrer Mutter zu machen, der sogenannten Nichte. Ober- 
haupt hielt er die weibliche Verschwiegenheit fiir grofier als 
unsere - wenigstens in wichtigen Dingen und in Sachen geliebter 

Manner. Aber man hore, was der Teufel im letzten Winter 

tat; mir ists bedenklich. 

Der Lord erhielt einen Brief von der Mutter Flamins, worin sie 
ihre alten Bitten um eine schnellere Erhebung des geliebten Kin- 
des und die Fragen iiber sein Schicksal im Pfarrhaus wiederholte. 

30 Zum Gliick machte gerade Klotilde einen Besuch in St.Liine und 
ersparte ihm die Reise nach Maienthal. Er besuchte den Kammer- 
herrn, um von seiner Vorleserin den Brief zu horen. Mit Miihe 
fand er im Zimmer Klotildens eine unbelauschte Stunde aus. Als 
er sie endlich hatte, und Klotilde den Brief verlas, wird diese durch 
die Stiefmutter von der Vorlesung weggerufen. Der Lord horet 
sie sogleich wiederkommen, den Brief nur dunkelmurmelnd iiber- 



664 HESPERUS 

lesen und leise sagen, sie gehe wieder, kommeaber gleich zuriick, 
Nach einigen Minuten kommt Klotilde, und da der Lord fragt, 
warum sie zum zweitenmal fortgegangen, streitet sie das zweite 
Gehen ab - der Lord beteuert - sie gleichfalls - endlich fallt Klo- 
tilde auf die bittere Vermutung, ob nicht Matthieu dagewesen 
und mit seiner Theaterkunst und Kehle, worin alle Menschen- 
stimmen steckten, sie selber nachgespielt und travestieret habe, 
um unter ihrem Kreditiv den wichtigen Brief zu lesen. Ach es war 
zu viel fur die Vermutung, und zu wenig dagegen ! Zwar konnte 
Matthieu jetzt an Flamin, dessen akademische Laufbahn eben aus- : 
gelaufen war, die Oktoberprobe der Schulterdevise nicht vor- 
nehmen; aber er klebe sich doch (schien es nachher Klotilden und 
dem Lord) mit seinen LaubfroschfiiBen an diese gute Seele an, 
und unter dem Deckmantel der Liebe gegen Agathe und gegen 
den Freund hang' er seine Faden aus, lasse sie vom Winde 
zwischen dem Fiirstenschlosse und Pfarrhause aufspannen, spinne 
immer einen uber den andern, bis endlich sein Vater, der Minister 
Schleunes,das rechte Netzzum Umwickeln desFanges zusammen- 
gezwirnt hatte — Ich gesteh' es, durch diese Vermutung geht mir 
ein Lkht uber tausend Dinge auf. - ; 

Viktor erstaunte arger als wir und schlug dem Lord vor, ob er 
nicht ohne Schaden seines Eides Klotilden seinen Eintritt in diese 
Mysterien offenbaren konnte, da er zwei Grunde dazu hatte : erst- 
lich werde ihrer Delikatesse die Verlegenheit uber den Schein er- 
spart, den ihre schwesterliche Liebe sonst nach ihrer Meinung in 
seinen Augen haben muBte 1 - zweitens behalte man ein Geheim- 
nis besser, wenn -nur noch einer daran schweigen helfe, wie von 
Midas' Barbier und dem Schilfrohr bekannt sei - der dritte Grund 
war, er hatte mehre Grunde. Natiirlicherweise schlug es ihm der 
Lord nicht ab. 3 

Obrigens fiihrte er seinen Viktor mit keinem pedantischen 
Marschreglement auf die Eisbahn und Stechbahn des Hofes. Er 
riet ihm bloB, niemand zu absichtlich zu suchen und zu meiden - 
besonders das Schleunessche Haus - bloB seinen Freund Flamin, 

1 Daher sie auch, solange Viktor im Pfarrhause war, der Gesellschaft 
Flamins auswich. 



12. HUNDPOSTTAG 665 

den Matthieu lenke, abzuzaumen und ihn, anstatt am Zaume, 
lieber an der freundschaftlichen Hand zu fiihren - bloB den Rang 
eines Doktors zu begehren, und mehr nicht. Er sagte, Regeln vor 
Erfahrungen waren Geometrie vor dem Starstechen. Sogar nach 
der Ernte der Erfahrungen ware Gracians homme de cour und 
Rochefoucaults Maximen nicht so gut als die memoires und Ge- 
schichte der Hofe, d.h. die Erfahrungen andrer. Endlich berief er 
sich auf sein eignes Beispiel und sagte, es waren erst wenige Jahre, 
daB er folgende Regeln seines Vaters begriffe : 

10 Der groBte HaB ist, wie die groBte Tugend und die schlimm- 
sten Hunde, still. - Die Weiber haben mehr Wallungen und weni- 
ger Ober wallungen als wir. - Man hasset am andern nichts so sehr 
als einen neuen Fehler, den er erst nach Jahren zeigt. — Die meisten 
Narrheiten veriibt man unter Leuten, nach denen man nichts 
fragt. - Es ist die gewohnlichste und schadlichste Tauschung, daB 
man sich allzeit fur den ein(igen halt, der gewisse Dinge bemerkt. 
- Die Weiber und sanfte Leute sind nur zaghaft in eignen Ge- 
fahren, und herzhaft in fremden, wenn sie retten sollen. - Traue 
keinem (und war' es ein Heiliger), der in der geringsten Kleinig- 

20 keit seine Ehre im Stiche lasset; und einer solchen Frau*noch 
weniger. - Die erste Gefalligkeit gewahrt dir jeder gern, die 
zweite ungern, die dritte gar nicht. - Die meisten verwechseln 
ihre Eitelkeit mit ihrer Ehrliebe und geben Wunden der einen fur 
Wunden der andern aus, und umgekehrt. - Was wir aus Menschen- 
liebe vorhaben, wiirden wir allemal erreichen, wenn wir keinen 
Eigennutz einmischten. - Die Warme eines Mannes wird von 
nichts leichter verkannt als von der Warme eines Jiinglings. — 
Die letzte Bemerkung, die sich vielleicht naher bezog, hatt' er 
schon am Ufer der Insel in der Stellung des Abschieds gemacht, 

30 den er mit jener besonnenen Hoflichkeit nahm, die in seinem 
Stande sogar Eltern und Kindern die Hande und Arme fiihrt. 



666 hesperus 

Dritter Schalttag 
Wetterbeobachtungen uber den Menschen 

Da ich im vorigen Kapitel die Kernspriiche des Lords nieder- 
schrieb: so sari' ich, daB mir selber eigne einfielen, die fur Schalt- 
tage zu brauchen waren. Ich habe niemals eine Bemerkung allein 
gemacht, sondern allemal zwanzig, dreiBig hintereinander - und 
gerade diese erste ist ein Beweis davon. 



Wenn jemand bescheiden bleibt, nicht beim Lobe, sondern beim 

Tadel, dann ist ers. 

* 

Das Gesprach des Volks und noch mehr die Briefe der Madchen *<> 
haben einen eignen Wohlklang durch einen steten Wechsel mit 
langen und kurzen Silben (Trochaen oder Jamben). 



Zwei Dinge vergisset ein Madchen am leichtesten, erstlich wie sie 
aussieht - daher die Spiegel erfunden wurden -, und zweitens, 
worin sich das von dafi unterscheidet. Ich besorg' aber, daB sie 
den Unterschied, bloB um meinen Satz umzustoBen, von heute 
an behalten werden. Und dann geht mir einer von den beiden 
Probiersteinen verloren 1 , an die ich bisher gelehrte Frauenzimmer 
strich — der zweite, den ich behalte, ist ihr linker Daumennagel, 
welchen das Federmesser zuweilen voll Narben geschnitten, aber 20 
selten, weil sie die Feder leichter fiihren als schneiden. 



Einer, der viele Wohltaten empfangen, hort auf, sie zu ^ahlen^ und 
fangt an, sie zu wdgen ~ als warens Stimmen. 



1 Es lief gliicklicher und ohne Verlust der Steine ab; und ich hatte die 
Genugtuung, daB keine, Welche die erste AufJage dieses Werks gelesen, im 
weiblichen Rochieren oder Chargentausche des das und dafi etwas geandert 
hat. - Ja sogar die Leserinnen der zweiten Auf lage sind sich gleich geblieben. 



DRITTER SCHALTTAG 667 

Die Versetzung in gute Charaktere tut einem Dichter und Schau- 
spieler, der seinen behalt, mehr Schaden als die Versetzung in 
schlimme. Ein Geistlicher, der noch dazu nur die erstere Verset- 
zung frei hat, ist der moralischen Atonie mehr bloBgestellet als der 
Vers- und Rollenmacher, der eine heilige Rolle wieder durch eine 
unheilige gutzumachen vermag. 



Die Leidenschaft macht die besten Beobachtungen und die elen- 
desten Schlusse. Sie ist ein Fernrohr, dessen Feld desto heller, je 
enger es ist. 

[o Die Menschen fodern von einem neuen Fursten - Bischof- Haus- 
hofmeister - Kinderstuben-Hofmeister - Kapaunenstopfer - 
Stadtmusikus und Stadtsyndikus nur in der ersten Woche ganz 
besondere Vorzuge, die dem Vorfahr fehlten: - denn in der 
zweiten haben sie vergessen, was sie gefodert und was sie ver- 

fehlet haben. 

* 

Solche Sentenzen gefallen und bleiben den Weibern am meisten. 



Daher will ich zur Belohnung mehr als eine iiber sie selber ver- 
fertigen. Sie halten andere nur fiir jiinger, nicht fiir schoner als 

sich. 

* 

20 Sie sind noch zehnmal listiger und falscher gegen einander als 
gegen uns; wir aber sind gegen uns fast noch redlicher als gegen 



Sie sehen nur darauf, dafi man sich bei ihnen entschuldige, nicht 
wie. 

Sie vergeben dem Geliebten mehre Flecken als wir der Geliebten. 
Daher die Romanschreiber die Helden ihres Kiels saufen, toben, 
duellieren und uberall xibernachten lassen, ohne den geringsten 



668 



Nachteil der Helden. - Die Heldin hingegen muB zu Hause neben 
der Mutter sitzen und ein Engelein sein. 



Oberhaupt sind sie so weich, so mild, so teilnehmend, so fein, so 
liebevoll und liebesehnsuchtig, daB es mir gar nicht in denKopf 
will, warum sie - einander selbst nicht recht leiden konnen, - 
wenns nicht etwa darum ist, weil sie gegen einander zu hoflich 
sind, um sich formlich auszusohnen oder fdrmlich zu entzweien. 
Ihr Lieben! ihr liebt zuweilen einen Menschen, weil er einen 
Freund hat und einer ist - o, wie gut wurde euch erst eine Freun- 

din kleiden. 1 

* 

Man lernt Verschwiegenheit am meisten unter Menschen, die 
keine haben - und Plauderhaftigkeit unter Verschwiegenen. 



Wenn Selbkenntnis der Weg zur Tugend ist: so ist Tugend noch 
mehr der Weg zur Selbkenntnis. Eine gebesserte gereinigte Seele 
wird von der kleinsten moralischen Giftart wie gewisse Edel- 
steine von jeder andern trtibe, und jetzo nach der Besserung merkt 
sie erst, wie viele Unreinigkeiten sich noch in alien Winkeln auf- 

halten. 

* 

Ich will mit einigen Regeln der Besserung schliefien: Stelle kei- 
nem, sobald deine Brust den Seitenstich des Zorns befurchten 20 
muB, beredt seine Fehler vor; denn indem du ihn von seiner 
Straflichkeit iiberreden willst, so uberredest du dich selber davon 
und wirst also erbost. — Male dir an jedem Morgen die ungefahren 
. Lagen und Leidenschaften vor, worin du am Tage kommen 
kannst: du betragst dich dann besser, denn man ist selten in einer 
wiederholten Lage zum zweitenmal schlecht. - Zurnet dein Freund 
mit dir: so verschaff ihm eine Gelegenheit, dir einen groBen 
Gefallen zu erweisen; dariiber muB sein Herz zerflieBen, und er 
wird dich wieder lieben. - Keine Entschliisse sind groB als die, 
welche man mehr als einmal auszufuhren hat. Daher ist Unter- 30 



13. HUNDPOSTTAG 669 

lassen schwerer als Unternehmen j denn jenes muB langer fortgeset- 
zet werden, und dieses ist noch mit dem Gefuhle einer doppelten 
KraftauBerung verkniipft, einer psychologischen und einer mora- 
lischen. - Verzage nur nicht, wenn du einmal fehlest; und deine 
ganze Reue sei eine schoriere Tat. - Mache dich (durch Stoizismus 
oder womit du kannst) nur rukig, dann hast du wenig Muhe, dich 
auch tugendkaft zu machen. - Fange deine Herzausbildung nicht 
mit dem Anbau der edeln Triebe, sondern mit dem Ausschneiden 
der schlechten an. Ist einmal das Unkraut verwelkt oder aus- 
10 gezogen: dann richtet sich der edlere Blumenflor von selber 
kraftig in die Hohe. - Das tugendhafte Herz wird, wie der Kor- 
per, mehr durch Arbeit als durch gute Nakrung gesund und stark. 
Daher kann ich aufhoren. 



13. HUNDPOSTTAG 

t) ber des Lords Charakter - ein Abend aus Eden - Matentkal — der Berg 
und Emanuel 

Uber den Lord muB ich drei "Worte sagen, namlich drei Mei- 
nungen. 

Die erste ist ganz unwahrscheinlich : er halt nach ihr wie alle 

> Welt- und Geschaftmanner das Menschengeschlecht fiir einen 
Apparat zu Versuchen, fiir Jagdzeug, fiir Kriegsgerate, fiir Strick- 
zeug - diese Menschen sehen den Himmel nur fiir die Klaviatur 
der Erde und die Seele fiir die Ordonnanz des Korpers an - sie 
fiihren K.riege, nicht urn die Kranze der Eichen, sondern um ihren 
Boden und ihre Eicheln zu erbeuten - sie ziehen den Gliicklichen 
dem Verdienstvollen vor und den Erfolg der Absicht - sie brechen 
Eide und Herzen, um dem Staate zu dienen - sie achten Dicht- 
kunst, Philosophic und Religion, aber als Mittel; sie achten 
Reichtum, statistischen Landesflor und Gesundheit, aber als 

3 Zwecke - sie ehren in der reinen Mathesis und in reiner Weiber- 
tugend nur beider Verwandlung in unreine fiir Fabriken und 
Armeen, in der erhabnen Astronomie nur die Verwandlung der 



67O HESPERUS 

Sonnen in Schrittzahler und Wegweiser fur Pfefferflotten, und 
im erhabensten magister legens nur den ankodernden Bierkranz 
fur arme Universitaten. — 

Die zweite Meinung ist wenigstens der ersten entgegen und 
besser : dem Lord ist, wie andern grofien Menschen, die Laufbahn 
das Ziel, und die Schritte sind ihm die Kranze - Gluck unter- 
scheidet sich bei ihm von Ungliick nicht im Werte^ sondern in der 
Ar^ ihm sind beide zwei zusammenlaufende Rennbahnen zum 
Ewigkeit-Ringe der innern Erhebung- alle Zufalle dieses Lebens 
sind ihm bloBe Rechenexempel in unbenannten Zahlen, die er i< 
durchmacht, aber nicht als Kaufmann, sondern als IndifFerentialist 
und Algebraist, welchem die Produkte und die Multiplikanden 
gleich lieb sind, und dem es einerlei ist, mit Buchstaben oder mit 
Zentnern zu rechnen. 

Wahrhaftig, der Mensch hat sich fast ebensoviel vorzuwerfen, 
wenn er miBvergniigt, als wenn er lasterhaft ist; und da es auf 
seinen Gedanken-Ozean ankommt, ob er aus ihm die unterste 
Holle oder ein Arkadien-Otaheiti als Insel heben will : so verdient 
er alles, was er erschafFt — 

Gleichwohl ist die dritte Meinung die wahre und zugleich die 2c 
meinige : der Lord, so sehr er ein indeklinabler Mensch zu sein 
scheint, der nach nichts geht, sondern ein Verbum in jbtc ist, hat 
doch folgendes Paradigma - (und so Iiegt umgekehrt im gewohn- 
lichsten Menschen der kurze AbriB zum sonderbarsten) -: er ist 
einer der ungliicklichen GroBen, die zu viel Genie, zu viel Reich- 
turn und zu wenig Ruhe und Kenntnisse haben, um gliicklich zu 
bleiben - sie hetzen Freude statt der Tugend und verfehlen beide 
und schreien zuletzt uber jeden bittern Tropfen, der ihnen in 
einem Zuckerhut eingegeben wird - gleich der Silberflache sind 
sie gerade in der Zerschmelzung durch Freuden-Feuer am ge- 30 
neigtesten, sich mit einer dunkeln Haut zu iiberziehen - ihr Ehr- 
geiz, der sonst durch Plane die Leerheit des vornehmen Lebens 
bedeckt, ist nicht stark genug gegen ihr Herz, das in dieser Leer- 
heit verwelkt - sie tun Gutes aus Stolz, aber ohne Liebe dazu, sie 
spielen mit dem ausgekernten Leben wie mit einer Locke und 
halten es nicht einmal der Miihe wert, es abzukiirzen - aber doch 



13- HUNDPOSTTAG 67 1 

halten sie es dieser Miihe wert, wenn ihnen, indes sie in diesem 
Nachtfrost der Seele dastehen, auBen lachelnd und kalt, innen 
iibergliiht, ohne Hoffnung, ohne Furcht, ohne Glauben, ent- 
sagend, spielend und zugeschlossen, wenn ihnen ein Todesfall, 
ein groBer Schmerz ins ungluckliche Herz greift. — Ach armer 
Lord ! kann denn deines nicht eher als unter der Decke des schwar- 
zen Marmors ruhen? 

Ach armer Lord! wiederholte unaufhorlich sein Sohn, der nach 
Maienthal mit einer gepreBten Seele ging. AuBen um ihn war der 

10 Himmel still; ein groBes Gewolk iiberdeckte ihn ganz, aber es 
stand ringsum auf einem blauen Saum am Horizont. Hingegen in 
Viktors Brust zogen Luftstrdme gegeneinander und wirbelten 
sich zu einer Windhose zusammen, die Bache auftrinkt und 
Baume aufzieht. - Sein Vater hing bleich in diesem Sturm. - Vik- 
tors kiinftige Tage wurden hin- und hergeschleudert. - Sein 
kiinftiges Leben drangte sich in ein enges uberflortes Bild zu- 
sammen und machte ihn ebenso angstlich daruber, dafizx es leben 
miiBte, als wie er es muBte. 

Am wehesten tat ihm gerade die sinnlicheKleinigkeit,daB sein 

20 Vater noch allein und verhullt in der Insel geblieben war. Einmal 
fiel ihn die Vermutung an, ob nicht das meiste nur dramatische 
Maschinerie gewesen sei, die sein Vater (der in der Jugend ein 
Tragodiendichter gewesen) gebraucht habe, um seinem Geliibde 
der Verschwiegenheit mehr Festigkeit zu geben - aber sogleich 
ekelte ihn seines eignen Herzens. Warum sind die reinsten Seelen 
mit einer Menge ekelhafter, giftiger Gedanken gequalt, <Jie wie 
Spinnen an den glanzenden Wanden hinaufkriechen und die sie 
nur die Miihe totzudriicken haben? Ach unsre Kriege unter- 
scheiden' sich nicht ganz von unsern Niederlagenl 

30 Es ist sonderbar, daB er den perspektivischen Gedanken an 
Klotildens Blutverwandtschaft mit Flamin am wenigsten ver- 
folgte. - 

Wenn der Mensch von der Vernunft keine balsamische Mittel 
erlangen kann : so fleht er die Hoffnung und die Tauschung dar- 
um an; und beide zerteilen dann gern den Schmerz. So wie heute 
nach und nach am Himmel durch lichte Fugen das Blaue durchriB, 



672 HESPERUS 

und wie das Nebelmeer zu hangenden Seen einlief : so gingen auch 
in Viktors Seele die dunkeln Gedanken auseinander. - Und als 
die geschwollnen Wolkenklumpen im weiten Blau zu Flocken 
eingingen, bis endlich das blaue Meer alle Nebelbanke verschlang 
und nichts auf seiner unendlichen Flache trug als die herunter- 
lodernde Sonne : so reinigte sich auch Viktors Seele von Diinsten, 
und das Sonnenbild Emanuels, den er heute erreichen sollte, 
schien sanft und warm und wolkenlos in alle seine Wunden... 
Die Gestalt seines geliebten Dahore - die Gestalt seines geliebten 
Vaters — die Gestalt seiner verhiillten Mutter und alle geliebten it 
Bilder ruhten wie Monde in einer wehmutigen Gruppe iiber ihm, 
und diese Wehmut und der heilige Schwur, tugendhaft zu blei- 
ben und alien Wiinschen seines Vaters zu gehorchen, wehten sei- 
ner entziindeten Brust einigen Trost iiber das vaterliche Schick- 
sal zu. 

Er konnte heute noch die Sonne hinter Maienthals Kirchturm 
untergehen sehen. 

Der weite ausgeheiterte Himmel macht ihn weicher - der Ge- 
danke, heute an das Herz eines edeln Menschen zu fallen, dessen 
Seele iiber diesem blauen Dunstkreis wohnte, machte ihn groBer *c 
- die Hoffnung, von diesem Menschen iiber das ganze Leben ge- 
trostet zu werden, machte ihn stiller. - 

Er eilte, und sein Eilen zog den wehmiitigsten Lautenzug seiner 
Seele. Denn er ging nicht iiber die Sommergefilde, sondern die 
Sommergefilde wandelten vor ihm voruber - eine Landschaft 
nach der andern, Theater mit Waldern, Theater mit Saaten flogen 
vorbei - neue Hiigel stiegen mit andern Lichtern auf und hoben 
ihre Walder empor, und andre sanken mit denihrigen unter- lange 
Schatten-Steppen liefen zuriick vor heranflieBendem gelben 
Sonnenlicht - bald stromten Taler voll Blumen um ihn, bald er- 30 
hoben ihn heiBe leere Hiigel-Ufer - der Strom rauschte nahe an 
sein Ohr, und plotzlich blinkten seine Kriimmungen entfernt iiber 
Mohnfelder heriiber - weiBe Strafien und griine Pfade begegneten 
und entflohen ihm und zogen um die weite Erde - voile Dorfer 
riickten mit glimmenden Fenstern vorbei und Garten mit ent- 
kleideten Kindern - die gesenkte Sonne wurde bald erhoben, 



13. HUNDPOSTTAG 673 

bald vertieft, bald auf Gipfel der Walder, bald auf Gipfel der 
Berge gezogen - 

Dieses Voruberfliehen der Szenen verdunkelte sein benetztes 
Auge und erhellte die innere Welt; aber das Stehenbleiben eines 
unaufhorlichen Tones, dieses iiber ihm bleibende Lerchenchor, 
dessen streitende Rufe in seiner Seele zu einem zerflossen, dieses 
entfernte Getone aus Waldern und Biischen und Liiften, diese 
Harmonika der Natur machte, daB er zu sich sagte : »Warum halt* 
ich in dieser Einsamkeit jeden Tropfen an, der fallen will? Nein, 

10 ich bin ohnehin heute zu weich, und ich will mich erschopfen, eh' 
ich den geliebten Menschen sehe.« 

Endlich stieg er den breiten Berg hinauf, der sich vor das zu 
dessen FiiBen grunende Matenthal mk seinen zerstreueten Baum- 

saulen und grauen Quadern stellt Da klang die vom Ewigen 

gestimmte Erde mit tausend Saiten; da bewegte dieselbe Harmo- 
nie den in Gold und Nacht zerstuckten Strom und den sumsenden 
Blumenkelch und die bewohnte Luft und den durchwehten 
Busch; da standen der gerotete Osten und der gerotete Westen 
wie die zwei rosataftnen Flugeltiiren eines Fliigels aufgespannt, 

20 und ein hebendes Meer quoll aus dem geoffneten Himmel und aus 
der geoffneten Erde ... 

Er ergoB sich in Freuden- und Trauertranen miteinander, und 
die Zukunftund die Vergangenheit bewegten zugleich sein Herz. 
Die Sonne fiel immer schneller den Himmel herab, und er bestieg 
schneller den Berg, um ihr langer nachzusehen. Und hier sah er 
in das Dorfchen Maienthal hinab, das zwischen feuchten Schatten 
glimmte.... 

Zu seinen FiiBen und an diesem Berge lagerte sich, wie ein be- 
kranzter Riese, wie eine versetzte Friihlings-Insel, ein englischer 

10 Park. Dieser Berg gegen Siiden und einer gegen Norden waren 
zu einer Wiege zusammengeruckt, in der das stille Dorfchen 
ruhte, und iiber welche die Morgen- und die Abendsonne ihr 
goldnes Gespinst hindeckte.In fiinf blitzenden Teichen schwank- 
ten funf dunklere Abendhimmel, und jede aufhupfende Welle 
malte sich im dariiberschwebenden Sonnenfeuer zum Rubin. 
Zwei Bache wateten in veranderlichen Entfernungen, von Rosen 



674 HESPERUS 

und Weiden verdunkelt, iiber den langen Wiesengrund, und ein 
wasserndes Feuerrad trieb wie ein gehendes Herz das vom Abend 
gerotete Wasser durch alle grunende BIumengefaBe. Oberall 
nickten Blumen, diese Schmetterlinge unter den Gewachsen - auf 
jedem bemoosten Bachstein, aus jedem miirben Stocke, um jedes 
Fenster wiegte sich eine Blume in ihrem Duft, und spanische 
Wicken iiberzogen mit blauen und roten Adern einen Garten ohne 
Zaun. Ein durchsichtiges Waldchen von goldgriinen Birken stieg 
in hohem Gras driiben den nordlichen Berg hinan, auf dessen 
Kuppel fiinf hohe Tannen als Ruinen einer gestiirzten Waldung i. 
horsteten. 

Emanuels kleines Haus stand am Ende des Dorfes in einem Ge- 
strick von Jelangerjelieber und in der Umarmung eines Linden- 
baums, der es durchwuchs... Sein Herz quoll auf: »Sei gesegnet, 
stiller Hafen ! den eine Seele heiligt, die hier gen Himmel sieht und 
wartet, um ins Meer der Ewigkeit zu gehen!« - Plotzlich warfen 
die Fenster der Abtei,wo sichKlotilde erzogen hatte,dieFlammen 
des Abendrots auf ihn - und die Sonne ging sanft wie ein Penn 
nach Amerika — und die diinne Nacht legte sich iiber die Natur 

heriiber - und die grune Klause Emanuels hullte sich ein Da * 

kniete er einsam auf dem Gebirge, auf dieser Thronstufe, nieder 
und sah in den gliihenden Westen und iiber die ganze stille Erde 
und in den Himmel und machte seinen Geist groB, um an Gott 
zu denken .... 

Als er kniete : war alles so erhaben und so mild - Welten und 
Sonnen zogen von Morgen herauf, und das schillernde Wiirmchen 
drangte sich in seinen staubichten Blumenkelch hinab - der 
Abendwind schlug seinen unermeBlichen Fliigel, und~die kleine 
nackte Lerche ruhte warm unter der federweichen Brust der 
Mutter - ein Mensch stand auf dem Gebirge, und ein Gold- y 
Kaferchen auf dem Staubfaden . . . und der Ewige Hebte seine 
"ganze Welt. — 

Sein Geist war jetzt gemacht, einen groBen Menschen zu fassen, 
und er sehnte sich nach der Stimme eines Bruders. 

Er wankte ohne Steig ins Dorf hinab, umzogen von den grofien 
Kreisen des Kibitzvogelsund von den kleinen des Maikafers. Am 



13- HUNDPOSTTAG 675 

FuBe des Berges war der Zwittertag dunkler - am Sternenhimmel 
hob sich der Vorhang auf- der Dam pf des Abends, der heiB auf- 
gezogen war, fiel kalt, wie Menschen, in die Erde zurtick: noch 
eine laute Lerche drehte sich als das letzte Echo des Tages iiber 
dem Berge. 

Endlich hort* er Emanuels Linde. - Er hatte ihn lieber um;er 
dem groBen Himmel als unter der engen Stubendecke umarmt. 
Hinter dem Fenster sah er einen auBerordentlich schonen Jiang- 
ling stehen, der auf der Flote blies. Dieser zog aus ihren Himmel- 

10 pforten ein fliehendes schwebendes Elysium; Viktor horte ihn 
lange an, um sein schlagendes Herz zu stillen; endlich ging er mit 
tranenvollen Augen um das Haus und wollte sprachlos und blind 
an den Jungling und an Emanuel fallen. Als er vor dem Fenster 
vorbeiging, erwiderte der Jungling den Grufi nicht - als er die 
Hausture eroffnete, fing ein sanftes Glockenspiel zu tonen an. So- 
gleich kam der Jungling heraus und fragte ihn freundlich, wer da 
sei; denn er war blind. Viktor trat in ein Allerheiligstes, da er in 
die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geflugelten 
Menschen umgab, der jetzt auBer derselben unter der groBen 

10 Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht sollte Emanuel zuriick- 
kommen. Das Zimmer war offen und rein - einige Blatter von 
genossenen Fruchten lagen auf dem Tisch - um alle Fenster 
gluhten Blumen - ein Sternrohr lehnte an der Wand - Reste 
einer orientalischen Kleiderkammer verkundigten denlndier.-- 
Die Stimme des schonen Jiinglings hatte etwas unaussprech- 
lich Ruhrendes fur ihn, weil sie ihm bekannt vorkam; sie zog tief 
in sein Herz hinein, wie die Melodie eines Liedes, das aus der 
Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem steten Blick der 
Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angesicht ruhen; 

s° er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien kiissen und zogerte 
noch; - aber da er wieder aus dem Hause ging, um Emanuel zu 
suchen, und da das Glockenspiel wieder anfing - denn es tonte, 
wenn die Tiir auflief, um dem Blinden alles anzumelden -, so 
konnt' er sich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getone, 
sondern er beriihrte den Mund des Blinden, da er am offnen 
Fenster lehnte, mit einem weichen Kusse wie mit einem Hauch. 



676 HESPERUS 

»Ach Engel! bist du denn wieder vom Himmel herunter?« sagte 
der Blinde, der ihn mit irgendeinem bekannten Wesen verwech- 
selte. 

Wie war drauBen alles so gut! Die Abendglocke des Dorfes 
rief iiber die entschlummerten Fluren, und eine entfernte Seele 
neigte sich vielleicht nach ihren verwehten gebrochnen Tonen 
heriiber. Der Abendwind rauschte mir Gipfeln voll griiner 
Friichte darein. Der Abendstern - der Mond unserer Dammerung 
- ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und 
schickte seinen Trost zwischen die Abwesenheit von beiden.- i< 
»Wo wirst du jetzt sein,mein Emanuel? Ruhest du vielleicht vor 
dem Abendrot - oder schauest du in das Sternenmeer - bist du in 
der Entzuckung, die wir ein Gebet nennen - oder . . .« 

Jetzo blitzte in ihm auf einmal der Gedanke, sein Emanuel sei, 
da heute nachts der Johannistag anfing, vielleicht am Genusse des 
Abends verschieden . . . Er suchte ihn mit den Augen eifriger unter 
jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen 
auf, als konnt* er ihn da sehen, und zu den Sternen, als durft* er 
ihn da suchen. - Er umging das Dorf, dessen Ringmauer eine 
Fruchtschnur von Kirschbaumen war, die mit einer herabgeworf- a< 
nen MilchstraBe von langst gefallnen Bliiten den griinen Umkreis 
versilberten, und eilte uber die Ruinen der Hauser, die die Kinder 
am Tage erbauet hatten, gegen die ausglimmenden Fenster der 
Abtei zu, die sich am siidlichen Berge, wovon er hereingestiegen 
war, in die Hohe richtete. Denn der Blinde hatte ihm gesagt, da 6 
dieser Berg Emanuels Stern warte sei, und daB er jede Nacht dahin 
komme. Die griine Treppe, die mit Terrassen und Moosbanken 
absetzte, und an der ein Treppengelander von Buschwerk hinauf- 
wuchs, fuhrte ihn einem Berge zu, der sich erhaben im Ather mit 
einer hohen Trauerbirke schloB. Mit jedem Rasenplatz hoben y 
sich, wie aus einem Bade,neue Glieder der dunkeln Natur heraus - 
er zog gleichsam von einem Planeten in den andern. Ober das 
aufsteigende verhullte Gefilde stromte der Nachtwind und zog 
einsam von Wald zu Wald und spielte krauselnd am Gefieder des 
schlafenden Vogels und des schwirrenden Nachtschmetterlings. 
Viktor sah hinuber zur Abendrote, die die Nacht wie eine Vor- 



13. HUNDPOSTTAG 677 

steckrose vor den Busen, an dem die Sonnen Hegen, vorgenom- 
men hatte. Das Meer der Ewigkeit stand in Gestalt der Nacht auf 
dem Silbersand der Welten und Sonnen, und aus dem Meeres- 
grund blinkten die Sandkorner tief herauf. 

Um die Trauerbirke nahm ein unbekanntes melodisches Tonen 
zu, das er schon-heute auf der Insel gehort: endlich stand er oben 
unter der Birke, und das Tonen, wie das einer Harmonika, das 
erst iiber Paradiese und durch Blumenhecken geflossen ist, war 
laut um ihn; aber er sah nichts weiter als einen hohen Grasaltar 

to (die Geburtstatte von Emanuels Brief) und eine tiefe Grasbank. 
Aus welcher unsichtbaren Hand, dacht' er schauernd, gehen diese 
Tone, die von Engeln abzugleiten scheinen, wenn sie iiber die 
zweite Welt fliegen, von vereinigten Seelen, wenn eine zu groBe 
Wonne sich zum Seufzer ausatmet und der Seufzer sich in ver- 
wehtes Geton zerlegt? Es ist ihm zu vergeben, daB er an einem 
solchen Tage, der seine Seele in immer groBere Erschiitterungen 
setzte, in diesem Schauder der Nacht, unter diesem melodischen 
Trauerbaum, an diesem AllerheiHgsten des unsichtbaren Ema- 
nuels, daB er endlich glaubte, dieser sei an diesem Abend aus dem 

to Leben geflohen, und seine Seele vollLiebe fliege noch in diesen 
Echos um ihn und sehne sich nach der ersten und letzten Um- 
armung. Er verlor sich immer mehr in die Tone und in die Stille 
rings um sie - seine Seele wurde ihm zu einem Traum, und die 
ganze Nachtlandschaft wurde zum Nebel aus Schlaf, in dem dieser 
lichte Traum stand - die Quelle des unendlichen Lebens, die der 
Ewige ausgieBet, flog weit von der Erde im unermeBlichen Bogen 
mit den staubenden Silberfunken der Sonnen iiber die Unendlich- 
keit, sie bog sich glimmend um die ganze Nacht, und der Wider- 
schein des Unendlichen bedeckte die dunkle Ewigkeit. 

o O Ewiger, wenn wir deinen Sternenhimmel nicht sahen, wie 
viel wiiBte denn unser in den Erdenkot untergesunknes Herz von 
dir und von der Unsterblichkeit? - 

Plotzlich wurde in Osten die Nacht Hchter, weil der zerflossene 
Schimmer des Mondes an den Alpengebirgen, die ihn bedeckten, 
heraufschlug - und auf einmal wurden die unbekannten Tone 
lauter und die Blatter und der Nachtwind. Da erwachte Viktor 



678 HESPERUS 

wie aus einem Traume und Leben und driickte die harmorrischen 
zerrinnenden Liifte an die schmachtende Brust und rief unter den 
vorquellenden Tranen, die ihm das ganze Gefilde wie eine Regen- 
wolke einhiillten, aufier sich aus: »Ach Emanuel, komme! - ach 
ich diirste nach dir. - Tone nicht mehr, du Seliger, nimm dein 
abgelegtes Menschenangesicht und erscheine mir und tote mich 
durch einen Schauder und behalte mich in deinen Armen!«... 

Siehe ! als der dunkle Tranentropfen noch auf dem Auge lag 
und der Mond noch hinter den Alpen verzog: da stieg den Berg 
herauf eine weiBe Gestalt mit zugeschlossenen Augen - lachelnd - i- 
verklart - selig - gegen den Sirius gewandt 

»Emanuel, erscheinst du mir?« rief be bend Horion und riB seine 
Tranen herab. Die Gestalt schlug ihre Augen auf. Sie brekete 
ihre Arme aus. Viktor sah nicht und horte nicht, er gliihte und 
zitterte. Die Gestalt flog ihm entgegen, und er gab sich hin: 
»Nimm mich!« Sie beriihrten einander - sie umschlangen einander 
— der Nachtwind riB durch sie - das fremde Geton klang naher - 
ein Stern zerschoB - der Mond flog iiber die Alpen herauf 

Und als er mit seinem Edenlicht die Wangen der unbekannten 
Erscheinung begoB: erkannte Viktor, daB es sein teurer Lehrer - *■ 
Dakore war, der heute in den Spiegel der Insel seine Gestalt ge- 
worfen. Und Dahore sagte: »Geliebter Sohn, kennst du deinen 
Lehrer noch? Ich bin Emanuel und Dahore.« Da wurde die Um- 
armung enger - Horion wollte den Dank fur eine ganze Kindheit 
in einen KuB zusammenpressen und lag aufgelost in den Armen 
des Lehrers und in den Armen der liebenden Wonne. 

Umschlinget euch fest, ihr Glticklichen, drucket eure gefiillten 
Herzen bis zum Tranen-Erpressen aneinander, vergesset Himmel 
und Erde und verlangert die erhabne Umarmungl - Ach sobald 
sie zerfallen ist, so hat dieses schlafTe Leben nichts Starkeres mehr, 3 
womit es euch verkmipfen kann, als den Anfang des - zweiten .... 

Emanuel trat endlich aus der Stellung der Liebe heraus und 
schauete abgebogen, wie eine Sonne, groB und ofFen in Horions 
Angesicht und begegnete mit Entziickung dem veredelten Geiste 
und Angesicht seines bliihenden Lieblings. Dieser sank voir dem 
Blick der Liebe mit aufgehobenem Angesicht unwillkurlich auf 



14- HUNDPOSTTAG 679 

die Knie und sagte: »0 mein Lehrer, mein Vater - o du Engel, 
Iiebst du mich denn noch so sehr?« - Aber er weinte zu sehr, und 

seine Worte waren unverstandlich und erstarben im Herzen 

Ohne zu antworten, legte Emanuel die Hand auf das Haupt des 
knienden Schiilers und wendete sein verklartes Auge gegen den 
schimmernden Himmel und sagte mit feierlicher Stimme : »Dieses 
Haupt, du Ewiger, weiht sich heute dir in dieser groBen Nacht. - 
Nur deine zweite Welt fulle dieses Haupt und dieses Herz aus - 
und die kleine dunkle Erde befriedig' es nie 1 - O mein Horion I 

o hier auf diesem Berge, auf dem ich iiber ein Jahr aus der Erde 
ziehe, beschwor' ich dich bei der groBen zweiten Welt iiber uns, 
bei alien groBen Gedanken, womit dir jetzt der Ewige in dir er- 
scheint, beschwor' ich dich, daB du gut bleibst, auch wenn ich 
lange gestorben bin.« 

Emanuel kniete zu ihm nieder, hielt den Erschopften und neigte 
sich an sein erblassendes Angesicht und sagte leiser und betend : 
»Mein Geliebter! - mein Geliebter! wenn wir beide tot sind, in 
der zweiten Welt scheid* uns Gott nie, nie mich und dich!« - Er 
weinte nicht, aber konnte doch nicht mehr sprechen; ihre zwei 

:o Herzen ruhten verknupft aneinander, und die Nacht umhiillte 
. schweigend ihre stumme Liebe und ihre groBen Gedanken 



14. HUNDPOSTTAG 
Das philosophische Arkadien - Klotildens Brief - Viktors confessions 

Ich habe nur vorher zwei Dinge zu erklaren, das unbekannte 
Geton und das VerschlieBen der Augen. Jenes floB von einer auf 
die Trauerbirke gelegten Aolsharfe aus; sooft Emanuel zu nachts 
hieherkam, mischte er in die flusternden Blatter diese abgehauch- 
ten Tone wie Bliiten ein, um sich zu erheben, wenn er allein die 
erhabne Nacht ansah. Die Augen tat er oft vor der Sonne und 
o dem Monde zu, wenn sein innerer, wie ein Cherub geflugelter 
Mensch gerade die.Erlaubnis hatte, sich in weiche Phantasien ein- 
zusenken: in die flieBenden bunten Licht-Wogen, die durch die 



680 HESPERUS 

Augenlider drangen, tauchte er sich dann wie in einen Zephyr mit 
suBem Verschwimmen unter, und in diesem Lichtbad sog der 
hohere Lichtmagnet in ihm Himmellicht aus Erdenlicht. Da es 
nur wenige Seelen gibt, die wissen, wie weit die Harmonie der 
auBern Natur mit unserer reicht, und wie sehr das ganze All nur 
eine Aolsharfe ist, mit langern und kiirzern Saiten, mit langsamern 
und schnellern Bebungen vor einem gottlichen Hauche ruhend; 
so fodre ich nicht, daB jeder diesem Emanuel vergebe. 

Nach dem iiber ein ganzes Leben hinschimmernden Wieder- 
finden kamen beide bei dem blinden Jungling an, und seine Flote k 
hob das Herz aus dem schlagenden Fieberblut sanft in den be- 
ruhigten Ather des Himmels im Traume hinuber. 

Da ich so gerne Urn Emanuel bin: so gonne mir der Leser die 
Freude, alle Stunden auseinander zu blattern, die wir in seinem 
Hause verbringen durfen, und recht Schritt vor Schritt zu gehen. 

Der Morgen deckte dem Zoglinge Emanuels wie Kindern erst 
auf, was die Nacht seinem Herzen fur ein Christgeschenk be- 
scheret hatte. Welche Gestalt trat im Morgenglanz vor ihn, da das 
stille, kindliche, beruhigte Gesicht des Lehrers, iiber das einmal 
Sturme gezogen waren, wie auf dem sanften weiBen Monde Vul- * 
kane gelodert haben, ihn auf eine Weise anlachelte, daB sein In- . 
neres in stummer Wonne zerfloB ! Besonders im /Vo/£/angeblickt, 
schien diese hohe Gestalt am Ufer der Erde zu stehen und hin- 
unterzuschauen in die %weite Halbkugel des Himmels, die uns der 
Stein auf dem Grabe und der fette Trift-Boden dieses Lebens ver- 
deckt. Sein Angesicht verklarte sich, wenn er es zum Himmel auf- 
hob - wenn er Gott nannte oder die Ewigkeit - wenn er vom 
langsten Tage sprach; in seinem Liclite erblaBte das Glanzgold 
der Gegenwart zum Mattgold der Vergangenheit, und sein Geist 
ruhte schwebend auf dem Korper, wie in Arabesken Genien aus 3 
Blumen keimen. So leicht stimmte sich Viktor nie aus dem Traum 
in den neuen Tag als an diesem Morgen durch Emanuels Stimme, 
die sozusagen die Spharenmusikzum blauen Himmel seiner Augen 
war, aus welchem wie aus dem agyptischen nie ein Tropfe fiel ; er 
konnte aus Unvermogen seiner Tranendriisen niemals weinen; 
auch erschutterte dieses Leben seine Seele nicht mehr. 



14. HUNDPOSTTAG 68 1 

Das reine Morgenzimmer machte gleichsam die Seele rein und 
still. Er war der groBte korperliche Purist, er wusch seinen Kor- 
per ebensooft als seine Kleider, und der Schmutz der medizi- 
nischen Sprache wurde bis sogar auf Worter, wie z. B. Zahn- 
stocher etc., von seiner unbefleckten Zunge gemieden. Ebenso 
blieb sein Herz sogar von den bio Ben Bildern groBer Sunden un- 
besudelt; und diese unwissende Unschuld, so wie eine Unbekannt- 
schaft mit unsern listigen Sitten, machte ihn in drei verschiedenen 
Augen entweder zum Kinde — oder zum Madchen — oder zum 

10 Engel. - 

Das Fruhstuck von Wasser und Friichten - die uberhaupt 
seinen ganzen Kiichenzettel besetzten - ruckte strafend unserm 
Viktor den Wein und Kaffeesatz vor, womit er die Blumen seines 
Geistes, wie irdische, zuweilen diingen mufite. Blumenscherben 
waren Dahores Dosen und gliihten unter dem Linden grun, das, 
von zwei zahmen und doch freien Grasmucken durchhupft, das 
lebendige wachsende Deckenstiick des Zimmers war, Auch seine 
Seele schien, wie ein Brahmin, von poetischen Blumen zu leben, 
und seine Sprache war oft, wie seine Sitten, indisch, d. h. poetisch. 

20 So war uberall, wie bei mehren Menschen-Magnaten, eine auf- 
fallende vorherbestimmte Harmon ie zwischen der auBern Natur 
und seinem Herzen - er fand im Korperlichen leicht die Physio- 
gnomic des Geistigen und umgekehrt - er sagte : die Materie ist 
als Gedanke ebenso edel und geistig als irgendein anderer Ge- 
danke, und wir stellen uns in ihr doch nur die gottlichen Vor- 
stellungen von ihr vor: - z.B. unter dem Fruhstuck vertiefte er 
sich in den glimmenden Tautropfen in einer Levkoje und spielte 
durch das Wiegen des Auges das Farbenklavier derselben durch. 
»Es muB« - sagte er - »irgendeine Harmon ie zwischen diesem 

30 Wasserstaubchen und meinem Geiste zusammenklingen, wie 
zwischen der Tugend und mir, weil beide mich sonst nicht ent- 
ziicken konnten. Und ist denn dieser Einklang, den der Mensch 
mit der ganzen Schopfung (nur in verschiedenen Oktaven) 
macht, nur ein Spiel des Ewigen und kein Nachhall einer nahern, 
groBern Harmonie?« Ebenso blickte er oft eine glimmende Kohle 
so Iange an, bis sie ihm zu einer Flammen-Aue sich ausgebreitet 



682 HESPERUS 

hatte, die er, von sanften Phantasien beleuchtet, auf- und nieder- 
wandelte .... 

Erdulde, Leser, diese blumige Seele; wir wollen beide denken, 
daB die Menschen leichter eine Religion als eine Philosophic haben 
konnen, und daB jedes System sein eignes Gewebe des Herzens 
voraussetze, und daB das Herz die Knospe des Kopfes sei. 

Der einzige Umstand schmerzte den begluckten Viktor an 
diesem Morgen, daB er den schonen Blinden nicht umfassen und 
fragen durfte : »Haben wir nicht schon beisammengelebt, und ist 
dir meine Stimme nicht so bekannt wie mir deine?« Denn er hie It i< 
ihn (wie ich auch) aus mehren Griinden fur den zuriickgebliebnen 
Sohn des Pfarrers Eymann. Da aber Dahore daruber schwieg - 
in dessen hellen lichten Himmel man sonst bis zum kleinsten 
Nebelstern hinabschauen konnte -: so furchtete er, vor diesen 
frommen Ohren seinem Eide des Schweigens zu nahe zu reden, 
wenn er auch nur seine fragenden Vermutungen tiber den Blinden 
entdeckte. Dieser Julius schien nur zwei Wurzelaste seines Wesens 
zu haben, deren einer in die Flote und der andre in seinen Lehrer 
ging. Auf seinem weiBen Angesicht, worauf die Trunkenheit des 
musikalischen Genies und die Abgezogenheit des traumenden *< 
Blinden sich mit einer fast weiblichen Schonheit verband, stand 
der Widerschein seines Lehrers, und die Fibern desselben hatten 
sich wie Lautensaiten nur in harmonischen Bewegungen geregt. 
Der arme Blinde, der seinen Dahore fur seinen Vater ansah, wurde 
wie eine Flaumfeder bloB von seinem kleinsten Hauch gelenkt. 
Viktor zog oft den Kopf des lieben Blinden nahe an sein Gesicht, 
um die zerstorten Augen zu mustern, ob sie wieder herzustellen 
waren. Aber ob er gleich mit Schmerzen sah, daB der Ungluck- 
liche unheilbar in der vollen lichten Erde bleibe: so wiederholt' 
er doch immer die nahe Erforschung, bloB um die reizende liebe y 
Gestalt naher an seinem Auge und an seiner Seele zu haben. 

Emanuel fiihrte am Morgen als Cicerone der Natur seinen Gast 
durch die Ruinen und Antiken der Erde; denn jeder Baum ist eine 
ewige Antike. Wie verschieden ist ein Spaziergang mit einem 
frommen Menschen, und einer mit einer gemeinen Weltseele! 
Die Erde kam ihm heilig vor, erst aus den Handen des Schopfers 



14- HUNDPOSTTAG 683 

entfallen - ihm war, als ging* er in einem uber uns hangenden 
uberblumten Planeten. Ernanuel zeigte ihm Gctt und die Lkbe 
iiberall abgespiegdt, aber iiberall verandert, im Lichte, in den 
Farben, in der Tonleiter der lebendigen Wesen, in der Bliite und 
in der Menschenschonheit, in den Freuden der Tiere, in den Ge- 
danken der Menschen und in den Kreisen der Welten - denn ent- 
weder ist alles oder nichts sein Schattenbild -; so malt die Sonne 
ihr Bild auf alle Wesen, groB im Weltmeere, bunt in Tautropfen, 
klein auf die Menschen-Netzhaut, als Nebensonne in die Wolke, 

10 rot auf den Apfel, silbern auf den Strom, siebenfarbig in den 
fallenden Regen und schimmernd uber den ganzen Mond und uber 
ihre Welten. 

Viktor fiihlte heute zum ersten Male die VergroBerung und 
Verklarung seines Ichs vor einem Geiste, der, ihm ahnlick, aber 
iiberfegen, gleich einem spharischen Hohlspiegel alle Ziige seines 
edlern Teils kolossalisch zuriickwarf. Der ganze pobelhafte Teil 
seiner Natur verkroch sich, als der hohere sich, von Dahore ins 
GroBe gemalt, uber die liegenden Triebe aufrichtete. Ein Mensch, 
den die Sonnennahe eines groBen Menschen nicht in Flammen 

10 und auBer sich bringt, ist nichts wert. Er wollte kaum sprechen, 
um nur immer ihn zu horen, ob er gleich vorhatte, recht viele 
Tage dazubleiben. Er war wie vor einem hohern Wesen und vor 
einer Geliebten, vor denert man weder seinen Kopf noch seine 
Zunge zeigen will, mit Verzicht auf sein Ich in lautere Wahrheit 
und Liebe versunken. Von den kleinen Verhaltnissen des Orts 
und des biirgerlichen Lebens war aller Firnis so rein abgesprun- 
gen, und sie standen ihm alle so vermooset da, daB er nicht ein- 
mal die Namen von Gottingen, von Flachsenfingen, oder leere 
Lebenvorfalle oder fremde Personalien nennen wollte. Viktor 

30 hatte uberhaupt eine kleine Verachtung fur die Menschen, denen 
die Nachricht an den Buchbinder lieber ist als das Buch, und die 
Rezension eines Autors lieber als sein System, und fiir welche die 
Erde keine Entzifferkanzlei des Buchs der Natur, sondern ein 
Sprachzimmer, eine Zeitungbude elender Personalien ist, die sie 
weder benutzen noch behalten noch beurteilen, sondern nur er- 
zahlen wollen; und es ekelten ihn die deutschen Gesellschaften, 



684 HESPERUS 

in denen man so wenig philosophiert. - wie selig war er, einmal 
einen ganzen Tag mit einem andern denken, und was noch schoner 
ist, zugleich dichten zu durfen! 

Seine Zweifel liber das GroBte, was unsern Kopf erdriicken 
und unser Herz erheben kann, wurden heute zu Fragen - die 
Fragen zu HofTnungen - die HofTnungen zu Ahnungen. Es gibt 
Wahrheiten, von denen man hofft, groBe Menschen werden 
starker von ihnen iiberzeugt sein, als man es selber sein kann; und 
man will daher durch ihre Uberzeugung die seinige erganzen. Da- 
hore hielt die zwei groBen Wahrheiten (Gott und Unsterblich- h 
keit), die wie zwei Saulen das Universum tragen, fest an seinem 
Herzen ; aber er fragte wie die seltnern Menschen, denen die Wahr- 
heit nicht bloB das Schaugericht der Eitelkeit und der Nachtisch 
des Kopfes ist, sondern ein heiliges Abend- und Liebemahl voll 
Lebengeist fur ihr miides Herz, er fragte wenig darnach, wenn er 
keine Anhanger machen konnte. Viktor fuhlte, daB er den Ar- 
tillerietrain und die elektrischen Pistolen und Batterien der Dispu- 
tierkunst besser zu handhaben verstehe als Emanuel; aber er 
wiirde seine eigne Zunge verabscheut haben, wenn sieihre Leich- 
tigkeit gegen diese schone Seele gerichtet hatte. Er schwieg aus ie 
zwei Griinden. »Versuch es,« sagt* er, »von einer groBen, dein gan- 
zes Wesen umfassenden leuchtenden Wahrheit auf dem fliegenden 
Sekundenweiser, worauf man im fliichtigen Gesprache steht, mit 
den wenigen trocknen Tuschen, womit menschliche Ideen anzu- 
farben sind, und mit der unbehulflichen Menschenzunge, womit 
du diese Farbenkorner ausbreiten muBt, versuch es, von deiner 
Wahrheit ein Schmelzbild, ein Altarblatt zu geben - wahrhaftig 
ein SchattenriB, ein durchsichtiges Sternbild wird alles sein, was 
du liefern kannst.« Der lichte Himmel gewisser einfacher tief- 
fiihlenden Menschen hullet, wie der auBere,alle seine Sonnen, die 30 
warmste ausgenommen, mit dem Schein eines oden Blaues 
zu; aber der unreine Himmel anderer voll Witz und Logik ist 
mit Nebensonnen, Bogen, Nordscheinen, Wolken und Rot ge- 
putzt. 

Der zweite, bessere Grund, warum er die Opponenten-Ehre 
verschmahte, war sein Herz, das mehr in sich schloB, als der Kopf 



14- HUNDPOSTTAG 685 

beleuchten konnte. Gewisse Ansichten konnen nicht so leicht wie 
Mauergemalde in Italien abgeloset werden und aus einem Kopfe 
in den andern gebracht - das Licht, das dir der andre geben kann, 
leigt^ aber limmert nicht den Hausrat deines Innern, und das, was 
das Licht bei einigen wirklich erschafft, ist Lufterscheinung, op- 
tischer Betrug, aber kein Korper 1 . - Daher komiht es nicht auf 
das Zeigen und Ersehen einer Wahrheit, d. h. eines Gegenstandes 
an, sondern auf die Wirkungen, die er durch dein ganzes Inneres 
macht. Warum gibt es denn Menschen, die uns, wie Sokrates den 

10 Aristides, heiligen, bloB wenn wir bei ihnen sind? - Wie ver- 
mogen es groBe Schriftsteller, daB ihr unsichtbarer Geist in ihren 
Werken uns ergreift und festhalt, ohne daB wir die Worte und 
Stellen angeben konnen, womit sie es tun, wie ein vollbelaubter 
Wald immer brauset, ohne sich mit einzelnen Asten zu bewegen? 
- Warum uberwaltigte Emanuel seinen geliebten Horion — mehr 
als durch breite Thesesbilder, rationes decidendi und sententiae 
magistrales — bloB durch die Verklarung in seinem Angesicht, 
durch den leisen Echoton seiner Stimme, durch den Glanz in 
seinem Blick und dureh die Andacht in seiner Brust, wenn er 

20 Wahrheiten, die der Sprache alt und dem Herzen neu waren, feier- 
lich sagte, wie folgende : 

Der Mensch geht wie die Erde von Westen nach Osten, aber es 
kommt ihm vor, er gehe mit ihr von Osten nach Westen, vom 
Leben ins Grab. 

Das Hochste und Edelste im Menschen verbirgt sich und ist 
ohne Nutzen fiir die tatige Welt (wie die hochsten Berge keine 
Gewachse tragen), und aus der Kette schoner Gedanken konnen 
sich nur einige GHeder als Taten ablosen'. 

Unsere zwecklose Tatigkeit, unsere GrifFe nach Luft miissen 

3° * Aufklarung in einem leeren Herzen ist bloC Gedachtniswerk, sie strenge 
iibrigens den Scharfsinn noch so sehr an; die meisten Menschen unsererTage 
gleichen den neuen Hausern in Potsdam, in die (nach Reichard) Friedrich II. 
zu nachts Lichter setzen lieB, damit jeder und selber Reichard denken sollte, 
sie seien - bewohnt. 

2 Die meisten Menschen haben vielleicht nur eine gleiche Zahl guter Ge- 
danken und Taten; aber es ist noch nicht bestimmt, wie lange der Tugend- 
hafte die guten Gedanken, die weniger als gute Handlungen der auBern Welt 
bediirfen, durch gleichgiiltige unterbrechen darf. 



686 HESPERUS 

hoheren Wesen vorkommen wie das Fangen der Sterbenden nach 
dem Deckbette. 

Der Geist erwacht und wird erwachen, wenn das Sinnenlicht 
ausloschtj wie Schlafende erwachen, wenn das Nachtlicht aus- 
loscht. 

Warum blieben diese Gedanken als Schauder in der Seele? 
Weil Horion etwas Hoheres fuhlte, als je die Sprache, die nur fur 
die Alltag-Empfindungen erfunden ist, wiedergeben kann - weil 
er schon in seiner Kindheit die Systeme haBte, die alles Unerklar- 
liche verstecken, und weil der Menschengeist sich im Erklarlichen 10 
und Endlichen so erdruckt empfindet, als er es in einem Bergwerk 
oder durch den Gedanken ist, daB sich oben irgendwo der Him- 
melraum zuspiinde. 

Wie hatt* er den Mut oder AnlaB haben konnen, an einem 
solchen Tage Emanuel um seinen Sterbetag zu befragen, oder um 
Klotilden? - Viktor hatte jene gesellschaftliche Phantasie, die sich 
leicht in die Stelle der unahnlichsten Menschen, des Weibes und 
des Philosophen, versetzt. Abends ging Dahore ins Stift, um 
Astronomie, seine geliebteste Wissenschaft, zu lehren. Unter der 
astronomischen Lehrstunde wurde Julius ofFnes Gesicht ein ofFner 20 
Himmel; er sagte seinem Viktor alles wie einem zweiten Vater. 
Hier erzahlte er ihm treuherzig, daB im vorigen Jahr immer ein 
Engel zu ihm gekommen, der seine Hand ergriffen, ihm Blumen 
gegeben, ihn freundlich angeredet und endlich von ihm in den 
Himmel gewichen, ihm aber einen Brief dagelassen habe, den er 
nach einem Jahre zu Pfingsten sich von Klotilden diirfe lesen 
lassen; ja dieser gute Engel sei gestern mit einem Kusse vor ihm 
vorbeigeflogen. Viktor lachelte froh, aber verschwieg seine Ver- 
mutung, daB er den Engel fur ein scheues liebendes Madchen aus 
dem Frauleinstift ansehe. - »Gestern aber«, sagte Viktor, »war 3° 
bloB ich der Engel gewesen, der dich so kiiBte!« - und wieder- 
holte es. - Julius wuBte geliebten Personen nichts Schoneres zu 
geben als das Bild seines Vaters - die Schilderung von der er- 
habenen Liebe desselben, die keinen Menschen vergafi, weil sie 
nicht auf die Vorzuge, sondern auf die Bediirfnisse der Menschen 
gebauet war - ferner von seiner Nachsicht, seiner Uneigenniitzig- 



14. HUNDPOSTTAG 687 

keit, da ihm eine lange Tugend den Kampfgegen sein Herz er- 
sparte, und er nun nichts tat, als was er wiinschte, und da ihm die 
tief herabhangende zweite Welt eine eigne Unabhangigkeit von 
Bediirfnissen predigte. 500000 Fixsterne erster GroBe leuchten 
nach Lambert kaum dem nahern Vollmond gleich; und so iiber- 
glanzt die Gegenwart immer unser Inneres; aber steige naher auf 
zum Fixstern der zweiten Welt, so wird er eine Sonne, die den 
Mond der Zeit und der Gegenwart in einen schmalen Nebel ver- 
wandelt. - Diesen Emanuel hatten alle Maienthaler lieb (sogar 

10 der Pfarrer, obwohl jener ein Nichtkatholik, Nichtlutheraner und 
Nichtkalvinist war); und er war gern von etwas abhangig, von 
fremder Liebe 1 . Unter dieser Schilderung sehnte sich Viktor wieder 
so bewegt nach ihm, als waren sie ein Jahr auseinander gewesen ; da- 
her Iegt' er sich im Abendrote unter Birkenblatter, dem Stifte gegen- 
iiber, um ihn sogleich mit heiBen Armen in Verhaft zu nehmen. 
Und als Viktor seine Seele hob an hohen weiBen Saulen des 
vom Lord entworfenen Parks, an dem erhabenen Bildwerk, das 
einen grofien Gedanken schrieb, der wie ein Gewitter aussah; und 
als er gerade eine herabgefallne Biene, deren Flugwerk ihr Honig 

20 verpichte, auf das Bienenbrett getragen hatte : so wandelte freund- 
lich Dahore daher. Dieser verflel selber - denn Viktor hatte das 
versteckte Heramreiben einer Materie fiir Sunde genommen - 
auf Klotilde und sagte, das sei ihre Lieblingstelle und die Ruhe- 
bank ihrer stillen Seele gewesen. Der Ort war nicht erhaben, aber, 
was noch mehr ist, dem Erhabnen gegeniiber - (sogar die phy- 
sische GroBheit, z.B. ein Berg, hat die Feme als ein FuBgesteil 
notig) - er lag am tiefsten im Tal, von Emanuels Blumenketten 
umfasset - die er oft unverzaunt anlegte, weil alle Maienthaler 
seine kleinen Freuden schonten -, von groBen Kleefeldern ange- 

30 weht, vom Monde, der im Friihling erst vom Berg herab diese 

Tiefe anstrahlte, mit einem schwermutigen Gemisch von Birken- 

schatten, Wasserglanz und lichten Stellen iiberdeckt und endlich 

1 Denn der edelste Mensch hangt eben am meisten von liebenden Seelen 
ab, oder doch von seinen Idealen derselben, mit denen er aber nur insofern 
ausreicht, als er sie fur Pfander kiinftiger Urbilder ansieht. Ich nehme den 
Stoiker (diesen epikurischen Gott) und den Mysttker nicht aus: beide lieben 
in dem Schopfer nur den Inbegriff seiner Geschopfe; wir jenen in diesen. 



688 HESPERUS 

mit einer Grasbank geziert, deren ich nicht erwahnte, ware sie 
nicht an beiden Enden mit grofien niederwankenden Blumen be- 
steckt, die zartlich keiner erdruckte, der sich zwischen ihnen 
niederlieB. Wie wurde Viktor betroffen - oder entzuckt, als 
Emanuel nach dieser Klotilde fragte! Wie Tau-Juwelen, wie 
Freudentranen fielen alle Worte des Lehrers in sein lechzendes 
Herz, weil es Lobspruche auf ihre weiche Seele waren, die ihre 
Tranen nur in fremde leitet und vor trocknen Herzen verdeckt, 
auf ihre feine Ehrliebe, die der mannliche Tadel zu Kdlte und der 
weibliche su Stoli verdreht, und auf eine liebende Warme, die 10 
man in ihrem wie eine Knospe festgeschlossenen Herzen nicht 
gesucht hatte, das jetzt die leblose Natur mit der belebten ver- 
mengt, um art jener diese lieben zu Iernen. Es rtihrte Viktor bis zu 
Tranen, da Emanuel ihm seine aus diesem Eden entriickte Schii- 
Ierin so warm anlobte; - und als er ihn noch dazu unbefangen 
bat, der Freund seiner Freundin zu werden und jetzo, weil er 
sterbe und weil sie nicht mehr komme - denn sie war das letzte- 
mal bio B dagewesen, um zu Pfingsten, unbelachelt von ihren 
Eltern, offentlich mit den Stiftfraulein das Abendmahl*zu emp- 
fangen — , jetzo seine Stelle zu besetzen bei diesem gegen die *o 
Sterne gehobnen Auge, bei diesem fur die Ewigkeit bewegten 
Herzen : so hatt* er vor Ruhrung und vor Liebe dem Freund und 

der Freundin zu FiiBen sinken mogen. In einem solchen 

Munde gibt das Lob des Gegenstandes allzeit der Liebe einen 
auBerordentlkhen Wachstum, weil diese immer Vorwand sucht 
und dann auf einmal zeitigt, wenn sie ihn gefunden. 

Wenn dir, mein Freund, das Herz fur ein fremdes nicht schnell 
und heftig genug schlagt - ob es gleich meines Erachtens schon 
fieberhaft pulsiert, namlich 1 1 imal in einer Minute -, so gehe, um 
dein kaltes Fieber in ein warmes umzusetzen, dein viertagiges in 30 
ein tagliches, nur zu andern besonders geachteten Leuten hin und 
lasse dir sie vorloben, die Gute, oder nur oft vornennen : todkrank 
und mit deinen 140 Pulsschlagen versehen, gehst du weg und hast 
das verlangte Fieber am Hals. 

Der unschuldige Emanuel, der Viktors Warme nicht erriet, 
glaubte, er musse noch mehr tun, um ihm die siebenfache Weihe 



14- HUNDPOSTTAG 689 

zum Pries ter der Freundschaft fur Klotilden zu geben, und gab 
ihm einen - Brief von ihr, Du konntest es tun, Ostindier, da du 
hier ein im limbus infantum (im Kinder-Himmel) zum Engel ge- 
wordnes Kind bist, da du keine Geheimnisse hast, ausgertommen 
das Geheimnis der drei Kinder (daher dich der Lord nicht zum 
Vorleser seiner Briefe machte), und da du gar nicht ahnest, die 
Weggabe des fremden Briefes sei nicht recht. Doch dein Schiiler 
hatte ihn nicht lesen sollen. 

Der las ihn aber. Er kann sich mit nichts decken als mit meinem 
to Leser, der hier diesen namlichen fremden Brief, den dessen Stelle- 
rin nie fur ihn geschrieben, doch auf seinem Sessel genau durch- 
sieht. Ich meines Orts Iese nichts, sondern schreibe nur das ab, was 
mir der Hund gebracht. - Es ist schon, daB dieser Brief von ihr 
gerade in der regnenden, melodischen Nacht des Gartenfestes ge- 
macht war, wo er seinen ersten an Emanuel geschrieben hatte. 

»St.Liine den 4. Mai 179*. 
Sie verlangen es vielleicht nicht, verehrungwerter Lehrer, daB ich 
mich entschuldige, da ich kaum aus Maienthal bin und schon mit 
einem Briefe wiederkomme. Ich wollte gar schon unterweges 

10 schreiben, dann am ^weiten Tage und endlich gestern. Dieses 
Maienthal wird mir noch viele Taler verderben; jede Musik wird 
mir wie ein Alphorn klingen, das mich traurig macht und in mein 
Herz die Erinnerung an das Alpenleben unter der Trauerbirke 
bringt. 

In dieser Stimmung wiird* ich es meinem Herzen nicht ver- 
weigern konnen, sich zu offnen und sich vor dem Ihrigen in den 
warmsten Dank fur die schonsten und lehrreichsten Tage meines 
Lebens zu ergieBen: wenn ich nicht den EntschluB hatte, in eini- 
gen Tagen wieder in Maienthal zu sein; nach meiner zweiten Zu- 

jo riickkehr soil mein Herz seinen Willen haben. 

In unserm Hause fand ich nichts verandert 1 - auch in unsers 

1 Der Leser dieses Briefes wird leicht voraussetzen, daB Klotilde, da sie 
nicht weiB, in wessen Hande er fallen werde - ist er doch gar in unsern -, 
iiber ihre Verhaltnisse und Geheimnisse (z.B. wegen Flamin, Viktor etc.) 
in einer Dunkelheit hinubereilen musse, die fur ihren rechtmaBigen Leser 
hell genug war. 



69O HESPERUS 

Nachbars seinera nichts; und ich fand in alien Seelen die Liebe 
wieder, womit wir auseinander geschieden waren, nur ist meine 
Agathe zwar lustig, aber doch es minder als sonst. Die einzige 
Veranderung in Herrn Eymanns Hause ist ein Gast, den jeder 
anders nennt: Viktor - Horion - Sebastian - junger Lord - Dok- 
tor. Diesen letzten Namen verdient er in vollem MaBe durch seine 
erste Handlung und erste Freude in St.Lune, welche die Heilung 
des blinden Lords Horion war. Welch ein Gliick fiir den Ge- 
retteten und fiir den Retter!-M6ge dieser Jungling doch einmal 
durch Ihr Eden gehen und Ihren guten Julius antreffen, um an u 
ihm die schone Kunst zu wiederholen ! - O sooft ich daran denke, 
daB das mannliche Geschlecht mit dem Stoffe zu den groBten 
gottlichen Wohltaten begliickt ist, daB es, wie ein Gott, Augen, 
Leben, Recht, Wissenschaften austeilen kann, indes mein Ge- 
schlecht sein Herz, das sich nach Wohltun sehnt, auf kleinere Ver- 
dienste, auf eine Trane, die es abtrocknet, auf eine eigne, die es 
verbirgt, auf eine geheime Geduld mit Glucklichen und Ungliick- 
lichen einschranken muB : so wunsch' ich, mochte doch dieses Ge- 
schlecht, das die hochsten Wohltaten in Handen hat, uns die 
groBte vergonnen, es - nachzuahmen und Giiter in die Hande zu i< 
bekommen, die uns begliickten, wenn wir sie verteilten! - Jetzo 
kann ein Weib mit nichts in ihrer Seele groB sein als nur mit 
Wiinschen. 

Ich komme gerade vom freien Himmel herein aus einem kleinen 
Gartenfeste bei meiner Agathe ; und mir ist ordentlich jedes schone 
tief blaue Stuck vom Himmel nicht recht, wenn es nicht iiber Ihrer 
Trauerbirke steht, wo Ihr Auge alle seine Schatze und Sonnen 
aufzahlt und meinem Herzen alle Winke der unendlichen Macht 
und Liebe zeigt. Ich flachte heute im Garten mit einer fast zu trau- 
rigen Sehnsucht an Ihr Maienthal; Herr Sebastian erinnerte mich 3< 
noch ofter daran, weil er einen Lehrer gehabt zu haben scheint, 
der dem meinigen ahnlich war 1 . Er sprach heute sehr gut und 
schien aus zwei Halften zusammengesetzt zu sein, aus einer bri- 
tischen und einer franzosischen. Einige seiner schonen Anmer- 

1 Der Leser erinnere sich, daB sie so viel von dieser Lebensbeschreibung 
innen hat wie er, wenn nicht mehr. 



14- HUNDPOSTTAG 69 1 

kungen sind mir nicht entfallen - z. B. >Die Leiden sind wie die 
Gewitterwolken; in der Feme sehen sie schwarz aus, uber uns 
kaum grau. - Wie traurige Traume eine angenehme Zukunft be- 
deuten : so werd* es mit dem so oft qualenden Traume des Lebens 
sein, wenn er aus sei. - Alle unsere starken Gefiihle regieren wie 
die Gespenster nur bis auf eine gewisse Stunde, und wenn ein 
Mensch immer zu sich sagte : diese Leidenschaft, dieser Schmerz, 
diese Entzuckung ist in drei Tagen gewiB aus deiner Seele heraus : 
so wiird' er immer ruhiger und stiller werden.< Ich berichte Ihnen 
o alles dieses so ausfuhrlich, um mich gleichsam selber zu bestrafen 
fur ein voreiliges Urteil, das ich vor einigen Tagen (wiewohl in 
mir) uber seinen Hang zur Satire fallte. Die Satire scheint auch 
bloB fiir das starkere Geschlecht zu sein; ich habe in dem meini- 
gen noch keine gefunden, die Swifts oder Cervantes' oder Tri- 
strams Werke recht goutiert hatte. — 

Zwei Tage spater. Ich und mein Brief sind noch hier; aber heute 
reiset er auf vier Tage vor mir voraus. Ich denke ordentlich, dieses 
letzte Mai werde mir jede Blume in Maienthal und jedes Wort, 
das mir mein bester Lehrer sagt, noch groBere und tiefere Freude 

:o machen als je, weil ich gerade aus dem Gerausche der Besuche 
und mit einem so melancholischen Herzen hinkomme. Am Mor- 
gen nach jener schonen Nacht des Kirchgangfestes saB ich allein 
in einer Laube neben dem groBen Teiche und machte mich durch 
alles trauriger, was ich sah und dachte - denn diesen ganzen Mor- 
gen stand wegen eines Traumes meine erblichene Freundin 1 in 
meiner Seele - ihr Grab lag durchsichtig auf ihr, und ich blickte 
hinein und sah diese Himmellilie blaB und still in ihm liegen - ich 
dachte wohl daran, als der Gartner Blumen mit den Topfen in die 
Erde grub, daB der Korper, in dem wir griinen, auf gleiche Weise 

o in die Erde zum kiinftigen Bluhen komme, aber ich konnte doch 
meine Tranen nicht mehr stillen. - Vergeblich sah ich den heitern 
Fruhling an, der jeden Tag neue Farben, neue Mucken, neue Blu- 
men aus der Erde zieht - ich wurde nur betriibter, da er alles ver- 

1 Sie meint die Giulia, von deren Leichnam sie der Schmerz weggetrieben 
hatte. 



692 HESPERUS 

jungt, aber den Menschen nicht. — Und als ich Herrn von Schleu- 
nes von weitem mit einem Froschschnepper auf den Teich zu- 
gehen sah, muBt' ich mich, weil er von feme im Vorbeigehen 
meine Augen sehen konnte, schlafend stellen, urn sie nicht zu ver- 

raten. Aber vor meinem teuersten Lehrer wiird' ich sie ge- 

ofFnet haben, wie fetzt, weil er mir meine Schwachen vergibt. 

Klotilde v.L.B.« 

Viktor hatte den linken Arm, womit er den Brief hielt, zu nahe 
ans Herz gelegt; und sein Arm und Brief fingen mit dem pochen- 
den Herzen zu zitternan, und er konnte ihn kaum vor Running jc 
lesen und fassen. »Ein solcher Lehrer! — eine solche Schulerin!« 
weiter konnten seine Blicke nichts sagen. 

Es war in ihm ein Streit, ob er seinem Freund die Liebe fur 
Klotilden sagen sollte. Fur das Gestandnis war Emanuels Bitte, 
mit ihr umzugehen — sein gleichsam aus Fixsternen alle Kleinig- 
keiten der Erde beschauendes Auge - Viktors dankbare Begierde, 
ein Geheimnis mit dem andern zu vergelten - und am meisten, o! 
diese Liebe zu seinem Lehrer, diese Liebe seines Lehrers zu ihm 

— Und diese siegte auch, so viel auch sonst dagegen war. Denn 
wenn Viktors ganze Natur im Feuer der Freundschaft gluhte, so * 
stieg sein Herz immer hoher und brannte, sich zu offnen - er 
kampfte noch mit ihm, und es schwieg noch - es liebte unendlich 
- es hob sich wie voaeiner unsichtbaren Macht empor - es brach 
endlich entzwei - die Brust gingwie vor Gott auseinander, und 
nun, Geliebter! schau hinein, aber verzeih ihm alles. 

Er kriegte noch in sich, als der hinter i-hrem Rucken herauf- 
gehobene Mond ihre beiden Schatten-Kniestucke vor ihnen vor- 
austrieb* - Er wurde durch Emanuels ziehenden Schatten an eine 
Stelle in seine'm Briefe 1 erinnert und an sein sieches Leben und 
friihes Verschwinden . . . Dieses zerspaltete sein Inneres, er wen- 3 c 
dete sanft seinen Emanuel gegen den herunterstromenden Mond 
um und sagte und zeigte ihm alles - aber nicht bloB seine Liebe, 
sondern seine ganze Geschichte - seine ganze Seele - alle seine 

1 »Fliehe mich nicht, weil mich immer ein grofier Schatten umgibt, der 
sich vergroftert, bis er mich einbauet.« 



15* HUNDPOSTTAG 693 

Fehler - alle seine Torheiten - alles, er war so beredt in dieser 
Minute wie ein Engel und ebenso groB - sein Herz wallete zer- 
schmolzen in Liebe, und je mehr er sagte, je mehr wollte er zu 
sagen haben. 

Auf dieser Erde schlagt keine erhabnere und seligere Stunde als 
die, wo ein Mensch sich aufrichtet, erhoben von der Tugend, er- 
weicht von der Liebe, und alle Gefahren verschmaht und einem 
Freunde zeigt, wie sein Herz ist Dieses Beben, dieses Zergehen, 
dieses Erheben ist kostlicher als der Kitzel der Eitelkeit, sich in un- 

10 nutze Feinheiten zu verstecken. Aber die vollendete Aufrichtigkeit 
steht nur der Tugend an : der Mensch, in dem Argwohn und Fin- 
sternis ist, leg* immer seinem Busen Nachtschrauben und Nachtrie- 
gel an, der Bose verschon' uns mit seiner Leichenoffnung, und wer 
keine Himmeltur an sich zu ofFnen hat, lasse das Hollentor zul 

Emanuel hatte die gottliche oder mutterliche Freude, die ein 

Freund uber die Tugend und Veredlung des Freundes empfindet, 

und vergaB iiber der Freude die verschiedenen Anlasse derselben. 

Ungern trenn' ich mich auf eine Nacht von diesem tugend- 

haften Paar. Moge ich noch viele Tage von Maienthal zu malen 

20 bekommen und Viktor noch viele da verleben ! - 



15. HUNDPOSTTAG 
Der Abschied 

Ach heute geht er schon! Die bisherigen Ruhrungen und Ge- 
sprache hatten die zarte Hiille, die Emanuels schonen Geist wie 
eine Tulpe die Biene verschlieBet, zu sehr erschuttert: blaB und 
wankend stand er auf; und der Blinde war am glucklichsten, der 
weder diese Blasse, noch das weiBe Tuch erblickte, das er zu 
nachts, statt vollzuweinen, vollgeblutet hatte. Er selber hatte noch 
das bleiche Abendrot der gestrigen Freude auf dem Angesicht; 
30 aber eben diese Gleichgiiltigkeit gegen seine ausloschenden Tage, 
dieses schwachere leisere Sprechen machte, daB Viktor die Augen 
von ihm wegwenden muBte, sooft sie lange an ihm gewesen 



694 HESPERUS 

waren. Emanuel sah ruhig, wie eine ewige Sonne, auf den Herbst 
seines Korpers herab; ja je mehr Sand aus seiner Lebens-Sanduhr 
herausgefallen war, desto heller sah er durch das leere Glas hin- 
durch. Gleichwohl war ihm die Erde ein geliebter Ort, eine 
schone Wiese zu unsern ersten Kinderspielen, und er hing dieser 
Mutter unsers ersten Lebens noch mit der Liebe an, womit die 
Braut den Abend voll kindlicher Erinnerungen an der Brust der 
geliebten Mutter zubringt, eh' sie am Morgen dem Herzen des 
Bfautigams entgegenzieht. 

Viktor warf sich jeden vergossenen Bluttropfen Emanuels vor i< 
und entschloB sich, heute zu gehen, weil diese Psyche mit ihren 
groBen Fliigeln sich in ihrem Gewebe nicht mehr ohne Risse be- 
wegen konnte. In Emanuels Augen glanzte eine unaussprechliche 
Liebe fiir seinen geruhrten Schuler. Er fing selber von seinem 
Todestag zu reden an,um diesen zu trosten, und stellte ihm vor, 
daB er erst in einem Jahre von hinnen gehen konne; er bauete 
seine schwarmerische Weissagung auf zwei Griinde: daB erstlich 
seine meisten mannlichen Verwandten am namlichen Tage und 
im namlichen Stufenjahre gestorben waren, zweitens daB schon 
mehre Schwindsuchtige in ihrer zerstorten Brust wie in einem *c 
Zauberspiegel ihren letzten Tag gelesen hatten. Viktor bestritt 
ihn; er zeigte, die Erklarung der letzten Erscheinung, als konne 
der Hektiker aus dem regelmaBigen stufenweisen Fallen der 
Lebenskraft leicht die letzte Stufe oder den Gefrierpunkt voraus- 
fuhlen, sei falsch, weil Gefiihle der Zukunft in der Gegenwart 
Widerspriiche (in adjecto) wiiren, und weil wir mitten im Leben 
so wenig den Eintritt des Todes als im Wachen den Eintritt des 
Schlafes (trotz gleicher Stufenfolge) voraus empfinden konnten. 
Viktor stellte ihm alles dieses vor; aber er glaubte es selber nicht 
recht: ihn ubermannte der hohe Mensch, der seinen Eintritt in 3° 
den Todesschatten so zuverlassig wie einen Eintritt des Mondes 
in den Erdschatten ansagte. - Wir wollen dem Kranken vergeben 
und uns deswegen nicht fiir weiser halten, weil er schwarme- 
rischer ist. - Am meisten wurde Viktor durch Emanuels Wahn 
getrostet, daB ihm vor seinem Tode erst sein verstorbner Vater 
erscheinen werde. 



15- HUNDPOSTTAG 695 

Viktor zogerte und wollte nicht zogern, hinderte als Arzt das 
Sprechen des Emanuel, urn sich die Entschuldigung eines un- 
schadlichen Aufschubs zu machen, und wurde eben, weil er selber 
wenig zu reden suchte, immer betriibter. - Wie kannst du, guter 
Viktor, schon heute von ihm eilen, von diesem Engel, der 
vielleicht iiber dem nachsten Grabe verschwindet? - Es muB 
dir hart fallen, da es schon so schwer ist, vom Maienthal voll Blii- 
ten, vom Blinden voll sanfter Tone wegzugehen - schmerzlich 
ist hier der letzte Handedruck, Viktor, und schon jede Verzoge- 
:o rung! 

Er beschloB, in der Nacht zu scheiden, weil eine Trennung am 
Morgen zu lange wehe tut und die Stelle des Herzens, wo sich das 
geliebte abgerissen, den ganzen Tag fortblutet. Emanuel hatte 
abends sich wieder ins Stift entfernen sollen, wie gestern: Viktor 
wurde dann seine gefullten Augenhohlen, mit denen er immer 
hinausgehen muBte, um den Schmerz hinwegzunehmen, vor dem 
Blinden, den er um die traurigste Melodie von der Welt gebeten 
hatte, satt haben stromen lassen konnen. 

Als er abends das letztemal aB und die Abendglocke anfing, 
20 wurde seinem Herzen, als ware von demselben die Brust weg- 
gehoben und Eisspitzen wiirden darauf geweht. Er umschlang 
voll Liebe den blinden Jiingling, den er nicht als den Gespielen 
seiner Kindheit erkennen durfte, und der mit seinen Tonen mehr 
Entziickungen gegeben hatte, als er in seiner Nacht zuruckbekam; 
und lieB Tranen ihren Lauf,deren doppelte, vielleicht dreifache 
Quelle Emanuel nicht erriet: denn der Anblick dieser Augen, die 
nie mehr zu offnen waren, tat nun seiner Seele nach Klotildens 
Wunsche ihrer Heilung viel weher. Emanuel bat er noch mit einer 
iiber den Nebensinn hiniibereilenden Stimme, ihn ein wenig zu 
30 begleiten, bis Maienthal verschwunden ware. 

In der dunkeln stillen Gegend drauBen blieben alle Schmerzen 
in der Brust neben ihren Seufzern. »Wenn der Mond in dieses 
Bliitental hereinschimmert,« dacht' er, »hab' ich es auf lange ver- 
lassen.« BloB die Altarlichter, die Sterne, brannten im groBen 
Tempel. Er wollte sich von seinem Lehrer auf dem Berge tren- 
nen, wo er sich mit ihm vereinigt hatte; aber er ging durch Um- 



696 HESPERUS 

wege - Emanuel folgte ihm gern, wohin er ihn fuhrte - hinauf, 
um das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu uberwal- 
tigen. 

Aber sie kamen an unter der Trauerbirke, und sein Auge und 
seine Stimme hatte noch der Schmerz. »Ach« (dacht* er) »wie freu- 
dig war hier die erste Nacht, und wie schmerzhaft ist diese!« Sie 
ruhten auf der Erde nebeneinander an der Grasbank, einsam, 
schweigend, trauernd vor dem dunkel schimmernden AIL Viktor 
konnte den belasteten Atemzug der zerstorten Brust vernehmen, 
und das kunftige Grab auf diesem Berge schien sich neben ihm :c 
aufzuwiihlen. O wenn es bitter ist, neben dem Bette zu stehen, 
worin ein geliebtes erloschendes Angesicht mit den Farben des 
Todes liegt: so ist es noch viel bitterer, mitten in den Szenen der 
Gesundheit hinter der aufgerichteten teuern Gestalt den leise 
grabenden Tod zu horen und so oft zu denken, als die Gestalt 
frohlich ist: »Ach sei noch frohlicher, in kurzem hat er dich um- 
genagt, und du bist vergangen mit deinen Freuden und mit mei- 
nen!« - Aber ach, es gibt ja keinen Freund und keine Freundin, 
bei denen wir das nicht denken muBten! - 

Er wuBte nicht, warum Dahore so lange still war. - Er sah 2c 
nicht voraus, dafi der Mond den Berg fruher bestrahlen werde als 
die Tiefe. Der Mond, dieser Leuchtturm am Ufer der zweiten 
Welt, umzog jetzt den Menschen mit bleichen Gefilden, die aus 
Traumen genommen waren, mit blaB schimmernden Auen aus 
einer iiberirdischen Perspekdve, und die Alpen und Walder losete 
er in unbewegliche Nebel auf - iiber der halben Erdkugel stand 
tief der LethefluB des Schlafes, unter der griinen Rinde stand das 
Totenmeer, und zwei liebende Menschen lebten zwischen dem 
weiten Schlafe und Tod . . . Jetzt dachte Viktor zwar noch gliihen- 
der: hier neben diese Birke, unter diesen kalten Boden wird seine 3 c 
zerfallne Brust auf ewig verborgen, und sie blutet nicht mehr, 
aber sie schlagt auch nicht mehr - er dachte zwar an triibe Ahn- 
lichkeiten, als die unbeweglichen Sterne auf- und abiusteigen schie- 
nen, bloB weil die spielende Erde sich um sie wendet und sie leigt 
und deckt - er sah zwar melancholisch von den Irrlichtern weg, 
die, iiber Taler rennend, nur an der ernsten Nacht und an den 



15- HUNDPOSTTAG 697 

Grabern hinanhiipften und die um einen einsamen Pulverturm 

gaukelnde Kreise beschrieben 

Allein doch schwieg er und dachte : »Wir haben uns ja noch.« 
Aber dann wurd* es seinem blutigen Herzen zu viel, als die 
Flotenklagen des Blinden aus dem einsamen Hause in die Nacht 
auszogen und iiber den Berg und uber das kiinftige Grab hinuber- 
gingen. - Dann wurden den Seufzern Stimmen und der Zukunft 
Totenglocken gegeben, und es tat ihm zu wehe, als er unter dem 
Flotengeton es dachte : dieser einzige, dieser unersetzlicheMensch, 

10 der in seinem groBen Herzen doch so viel Liebe fur dich bewahret, 
geht dahin und erscheint nie wieder. - Ach, da noch dazu gerade 
jetzt Emanuel, der still in den Himmel versenkt und wie ein Hin- 
geschiedener neben ihm gelegen, seine Lage wegen des schmerz- 
Hchen und gedruckten Atemholens wechselte, aber mit einem hei- 
tern, von den Bruststichen nicht getroffnen Angesicht; so fuhr 
eine kalte Hand in Viktors geschwollnes Herz und wendete sich 
darin um, und sein Blut gerann an ihr an, und er sagte, ohne ihn 
ansehen zu konnen, schwach, bittend, gebrochen: »Stirb nicht 
nach einem Jahr, mein teurer Emanuel - wiinsche nicht zu ster- 

20 ben!« 

Der Genius der Nacht stand bisher unsichtbar vor Emanuel 
und goB hohe Entziickungen in seine Brust, aber keine Leiden- 
schaften, und er sagte : »Wir sind nicht allein - meine Seele fiihlt 
das Vorbeigehen ihrer Verwandten und richtet sich auf- unter der 
Erde ist Schlaf, uber der Erde ist Traum, aber zwischen dem 
Schlaf und Traum seh' ich Lichtaugen wandeln wie Sterne. - Ein 
kiihles Wehen kommt vom Meer der Ewigkeit iiber die gluhende 
Erde. - Mein Herz steigt auf und will abbrechen vom Leben. - Es 
ist alles so groB um mich, wie wenn Gott durch die Nacht ginge. 

30 - Geister ! fasset meinen Geist, er windet sich nach euch, und zieht 

ihn hinuber « 

Viktor wandte sich um und sah flehend ins schone, freudige, 
unbetrante Angesicht: »Du willst sterben?« 

Emanuels Entziickung stieg uber das Leben : »Der dunkle Streif 
in der zweiten Welt ist nur eine Blumen-Aue 1 - es leuchten uns 
1 Wie die Flecken im Monde Blumen- und Pflanzenfelder sind. 



6$% HESPERUS 

Sonnen voraus, es ziehen uns fliegende Himmel mit Friihling- 
luften entgegen - bloB mit leeren Grabern fliegt die Erde urn die 
Sonne; denn ihre Toten stehen entfernt auf hellern Sonnen.« - 

»Emanuel?« - fragte Viktor laut weinend und mit der Stimme 
des innigsten Sehnens, und die Flotentone sanken jammernd unter 
in die weite Nacht - »Emanucl?« 

Emanuel sah ihn, zuriickkommend, an und sagte ruhig: »Ja, 
mein Geliebter! — Ich kann mich nicht mehr an die Erde gewoh- 
nen; der Wassertropfen des Lebens ist flach und seicht geworden, 
ich kann mich nicht mehr darin bewegen, und mein Herz sehnt k 
sich unter die groBen Menschen, die diesen Tropfen verlassen 
haben. — O Geliebter, hore doch« - (und hier driickte er das Herz 
seines Viktors wund) - »diesen schweren Atem gehen - siehe doch 
diesen zerbrochnen Korper, diese dichte Hiille meinen Geist um- 
wickeln und seinen Gang erschweren. — 

Siehe, hier klebt mein und dein Geist angefroren an die Eis- 
scholle, und dort decket die Nacht alle hintereinander ruhende 
Himmel auf, dort im blauen glimmenden Abgrunde wohnt alles 
GroBe, was sich auf der Erde entkleidet hat, alles Wahre, das wir 
ahnen, alles Gute, das wir lieben. - 2C 

Sieh, wie alles so still ist drtiben in der Unendlichkeit-wie leise 
ziehen die Wei ten, wie still schimmern die Sonnen - der gro fie 
Ewige ruhet wie eine Quelle mit seiner uberflieBenden unend- 
lichen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und beruhigt alles; 
und um Gott steht kein Grab.« 

Hier stand Emanuel, wie von einer unendlichen Seligkeit ge- 
hoben, auf und sah liebend zum Arkturus empor, der noch unter 
dem Gipfel des Himmels hing, und sagte, gegen die blinkende 
weite Tiefe gerichtet: »Ach wie unaussprechlich sehn' ich mich 
hinuber zu euch — ach zerfalle, altes Herz, und verschlieB mich 3< 
nicht so lange!« - »So stirb denn, groBe Seele,« (sagte Viktor) 
»und ziehe hinuber; aber brich mein kleines Herz durch deinen 
Tod und behalte den Armen bei dir, der dich nicht verlassen und 
nicht entbehren kann.« 

Die Flote hatte aufgehort, die beiden Menschen waren anein- 
ander gesunken, um ihren Abschied zu endigen. »Teurer, Ge- 



1 5 . HUNDPOSTTAG <$99 

liebter, Un verge Blicher,« (sagte Emanuel) »du bewegst mkh zu 
sehr - aber wenn ich nach einem Jahre auf diesem Berge ver- 
scheide, so sollst du bei mir stehen und sehen, wie dem Menschen 
die Banden abgenommen werden. Deine Tranen werden meine 
letzten Erden-Schmerzen sein; aber ich werde sagen, was ich jetzt 
sage: wir scheiden uns in der Nacht, aber wir finden uns wieder 
am Tage.« Hier ging er. 

Viktor hatte sich leise von den kindlichen Lippen losgewunden 

- er jagte nicht auf seinem Nacht-Steige - langsam ging er vor 
. lauter Schlaf vorbei. - Er wandte sich oft um und verfolgte mit 

Augen voll fallender Tranen die fallenden Sterne tiber Maienthal 

- und um 4 Uhr morgens kam er mit einer himmlischen Seele in 
St.Liine an und trat in den Garten voll alter Szenen und legte in 
der bekannten Laube das gluhende Haupt und das bekampfte 
Herz in den Tau des Morgens zu einer kiihlenden Ruhe nieder. 

O ruhe, ruhe ! - Ach den ewig erschiitterten Busen des Menschen 
stillet nur ein Schlaf, entweder der irdische oder der andre .... 

Ende des ersten Heftleins 



ZWEITES HEFTLEIN 



1 6 . HUNDPOSTTAG 

Kartoffeln-Formschneider - Hemmketten in St. Lune - Wachs-Bossierun- 

gen - Schach nach der regula falsi - die Distel der Hoffnung - Begleitung 

nach Flachsenfingen 

Man sollte wie der alte Friti gern in Kleidern schlafen, sobald 
man weiB, daB man, wie zuweilen Viktor und ich, im Hemde von 
den Vampyren der mitternachtlichen Melancholie umzingelt und 
angefallen wird; sie bleiben aus, wenn man sitzt und alles anhat; 
besonders erhalten uns Stiefel und Hut das Gefuhl des Tages am 

ro meisten. - 

Eine warme Hand hob Viktors betautes Haupt vom Schlaf- 
tisch auf und richtete es der ganzen daherschlagenden Flut des 
Morgens entgegen. Seine Augen gingen (wie allemal) unbe- 
schreiblich mild und ohne Nachtwolken vor Agathen auf und 
iiberstrahlten sie. Aber sie fuhrte ihn mit seinen Strahlen eilig aus 
der belaubten Schlafkammer hinweg: denn er sollte sich einen 
Frisierkamm und einen Morgensegen suchen, und zweitens sollte 
das Tischbett zu einem Teebrett fur Klotilden werden, die die 
warmert Getranke gern an kalten Orten nahm. 

zo - Und so steht er drauBen zwischen Pfarrhaus und SchloB mit- 
ten im Morgen - alles schien ihm erst wahrend seiner Reise ge- 
mauert und angestrichen zu sein - denn alles, was darin wohnte, 
schien sich verandert zu haben und machte ihn wehmutig. »Die 
Eltern drinnen« (sagt' er zu sich) »haben keinen Sohn - mein 
Freund hat keine Geliebte, und ich... kein ruhiges Herz.« Da er 
nun endlich in die Wohnung trat und wieder ein heller Ehren- 
bogen des liebenden Familienzirkels wurde; da er mit teilnehmen- 
den und doch belehrten Augen die zartlichen Tauschungen der 
Eltern, die grundlosen HofFnungen seines Freundes und das Auf- 

30 steigen der gewitterhaften Tage anschauen muBte: so stand sein 
Auge in einer unverruckten Trane uber die Zukunft, und sie wurde 
nicht kleiner, da seine Adoptiv-Mutter sie durch weiches An- 
blicken rechtfertigen wollte. — Zum Teil aber wehete auch dieser 



704 HESPERUS 

Flor iiber seine Seele bloB aus der vorigen Nacht heriiber, deren 
dammernde Szenen nur durch einen kleinen Zwischenraum aus 
Schlaf von ihm geschieden waren: denn eine in Empfindungen 
verwachte Nacht endigt sich allezeit mit einem schwermiitigen 
Vormittag. 

Der Kaplan machte gerade Butter- Vignetten; ich meine, er 
sagte mit keiner andern Atzwiege als mit einem Federmesser und 
in keine andre Kupferplatten als in Kartoffeln Buchdruckerstocke 
und SchlieBquadratchen ein, die auf die Juliusbutter des Schmuk- 
kes wegen zu drucken waren. Man hatte denken sollen, Viktor 1 
hatte sich dadurch viel geholfen, daB er Witz hatte und anmerkte, 
die alten Drucke waren zwar langer Biicher dariiber und langer 
allgemeiner deutschen literarischen Rezensionen der Biicher ganz 
wurdig, aber keines menschlichen Gedankens, und waren zehn- 
mal ungenieBbarer als diese neuesten Butter-Inkunabeln; denn 
wenn es etwas Elenderes geben konnte als die Weltgeschichte 
(d. h. die Regentengeschichte), deren Inhalt aus Kriegen, wie das 
Theater) ournal anderer Marionetten aus Prugeleien, bestande, so 
war's bloB die Gelehrten- und Buchdruckerhistorie 1 . Auch das 
hatt' ihm zustatten kommen sollen, daB er hinterdrein philoso- * 
phisch war und verlangte, man sollte den Menschen weder ein 
lachendes noch vernunftiges Tier nennen, sondern ein pudencies; 
zu welcher Anmerkung die Kaplanin nichts setzte als die Anwen- 
dung davon auf ihre Tochter. 

Aber in Menschen seiner Art haben Kummer, Satire und Philo- 
sophic nebeneinander Platz. Er erzahlte dem Kartoffeln-Medailleur 
und der Kaplanin, die alle Weiber auf der Erde zu ihren Tochtern 
zahlte und gegen sie ahnliche Strafpredigten hielt, seine-Reise mit 
so vielen Satiren und Rasuren, als fiir beide Parteien notig waren; 
aber als er die Wiinsche der Familie horte, daB der Lord gluck- 3< 

1 Er ist zwar nur gegen die typographische Geschichte gelehrter Werke 
aufgebracht und verachtet nur das angstliche Forschen nach den Geburt- 
tagen etc. verstorbener und dummer Biicher mitten in einer Welt voll Wun- 
der; aber auch hier muC er bedenken, daB Kopfe, die iiber nichts als das 
Drucken selber drucken lassen konnen, doch besser dieses kleine Etwas tun, 
das den Besseren am meisten wuchert und erspart, als gar nichts, oder etwas 
iiber ihre Kraft. 



l6. HUNDPOSTTAG 7°5 

lich mit dem geliebten Furstenkinde zuriickkommen moge, und 
die Nachricht, daB der Regierrat schon alles eingepackt habe, um 
mit seinem Freunde jede Stunde, die er wolle, in die Stadt zu 
Ziehen: so hatte Viktor nichts zu tun als - die absondernden TrM- 
neawege in seinen Augenhohlen hinauszutragen .... 

- Aber in den Garten ! - Das war uiuiberlegt. Flamin ging nach, 
und sie Iangten miteinander im Laub-Klosett vor den Teetrfnke- 
rinnen an. Niemals verschatteten die Zweige desselben ein ver- 
legneres Gesicht, weichere Augen, vollere Blicke und lebhaftere 

to oder schonere Traume, als Viktor darunter mitbrachte. Er dachte 
sich jetzo Klotilde als ein ganz neues Wesen und dachte also — da 
er nicht wuBte, ob sie ihn liebe - recht dumm; der Mensch achtet 
allezeit, wenn er den Berg iiberstiegen hat, den kommenden Hiigel 
fur nichts; Flamin war sein Berg gewesen, und Klotilde sein 
Hugel. - In alien Gesprach-Untiefen, wo man schon halb im 
Sitzen oder Sinken ist, gibts keine herrlichere SchifFpumpe als eine 
Historie, die man zu erzahlen hat. Man gebe mir Verlegenheit und 
den groBten Zirkel und nur ein Ungliick, namlich die Anekdote 
davon, die noch keiner weiB als ich, so will ich mich schon retten. 

to Viktor brachte also seinen Schwimmgiirtel heraus, namlich sein 
SchirTtagebuch, aus dem er fur die Laube einen pragmatischen 
Auszug machte - ich gesteh* es, ein Zeitungschreiber hatte mehr 
verfalschen, aber schwerlich mehr weglassen konnen. 

Er tat sich, glaub* ich, wieder Vorschub bei der Kaplanin, und 
noch mehr Schaden bei Klotilden - so sehr er auch nur aus Wohl- 
wollen fur die Zuhorer und aus zu starkem HaB des Hofes gegen 
Klotildens Satiren-Verbot in ihrem Briefe verstieB - dadurch un- 
bezweifelt, daB er - da iiberhaupt die Madchen nur den Spott, 
nicht die Spotter lieben - die Benefizkomodie der Prinzessin nicht 

10 von der erhabenen Seite darstellte, wie ich, sondern von der 
Iustigen : Klotilde lachelte, und Agathe lachte. 

Da aber der Name Emanuel von ihm genannt wurde und sein 
Haus und sein Berg: so breitete die Freundschaft und die Ver- 
gangenheit auf dem schonsten Auge, woriiber noch ein Augen- 
braunenbogen, aus einer Schonheitlinie gezogen, floB, einen sanf- 
ten Schimmer aus, der jeden Augenblick zur Freudetrane werden 



706 HESPERUS 

wollte. Doch muBte er zu einer andern werden, als Viktor der 
Frage um seine Gesundheit, welche Klotilde hofFend an ihn als 
Kunstverstandigen tat, die Antwort der leis' umschriebenen Ge- 
schichte seines nachtlichen Blutens geben muBte? Er konnte den 
Schrherz des Mitleidens nicht verhehlen, und Klotilde konnt'ihn 
nicht bezwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetsch- 
wunden wird euer Herz noch von eufem groBen Freund em- 
pfangen ! 

Wohin anders konnte sie jetzt ihr liebendes und trauerndes 
Auge als gegen ihren guten Bruder Flamin hinkehren, gegen den k 
ihr Betragen durch den doppelten Zwang, den ihr ihre Verschwie- 
genheit und seine Auslegungen anlegten, bisher so unbeschreib- 
lieh mild geworden war? - Da nun Viktor das alles mit so ganz 
andern Augen sah; da er seinem armen Freund, der mit seinem 
gegen warti gen Gluck vielleicht die giftige Nahrung seiner ktinf- 
tigen Eifersucht vergroBerte, offen und heftend in das feste An- 
gesicht schauete, das einst schwere Tage zerreiBen konnten; da 
ihn iiberhaupt kunftige oder vergangner Leiden des andern mehr 
angriffen als gegenwdrtige, weil ihn die Phantasie mehr in der Ge- 
walt hatte als die Sinne: so konnt* er einen Augenblick die Herr- *< 
schaft iiber seine Augen nicht behaupten, sondern sie legten ihren 
Blick, von mitleidigen Tranen umgeben, zartlich auf seinen 
Freund. Klotilde wurde iiber den Ruheplatz seines Blickes ver- 
legen — er auch, weil der Mensch sich der heftigsten Zeichen des 
Hasses weniger schamt als der kleinsten der Liebe - Klotilde ver- 
stand die kokette Doppelkunst nicht, in Verlegenheit zu setzen 
oder daraus zu Ziehen - und die gute Agathe verwechselte das 
letzte immer mit dem ersten . . . »Frag ihn, was ihm fehlt, Bruder !« 
sagte Agathe zu Flamin . . . 

Dieser lenkte ihn mit ahnlichem Gutmeinen hinter die nachsten 5 
Stachelbeerstauden hinaus und fragte ihn nach seiner festen Art, 
die immer Behauptung fiir Frage hielt: »Dir ist was passiert!« - 
»Komm nur !« sagte Viktor und zerrte ihn hinter hohere spanische 
Wande aus Laub. 

»Nichts ist mir« — hob er endlich mit gefullten Augenhohlen 
und lachelnden Ziigen an - »weiter passiert, als daB ich ein Narr 



1 6. HUNDPOSTTAG 7°7 

geworden seit etwan 26 Jahren« - (so alt war er) - »Ich weiB, du 
bist leider ein Jurist und vielleicht ein schlechterer Okulist als ich 
selbst und hast wohl wenig in Herrn Janin 1 gelesen : nicht?« 

Nicht bloB vom Nein wurde Flamins Kopf geschmtelt. 

»Ganz naturlich; aber sonst konntest du es aus ihm selber oder 
aus der Obersetzung von Selte recht schon haben, daB nicht bloB 
die Tranendriise unsre Tropfen absondere, sondern auch der gla- 
serne Korper, die Meibomischen Driisen, die Tranenkarunkel 
und — unser gequaltes Herz, setz' ich dazu. — Gleichwohl mtissen 
10 von diesen Wasserkiigelchen, die fur die Schmerzen der armen, 
armen Menschen gemacht sind, sich in 24 Stunden nicht mehr als 

(wenns recht zugeht) 4 Unzen abseihen. Aber, du Lieber, es 

geht eben nicht recht zu, besonders bei mir, und es argert mich 
heute, nicht daB du in den Herrn Janin nicht geguckt, sondern 
daB du meine fatale, verdammte, dumme Weise nicht merkst. . .« 
- »Welche denn?« - »Jawohl, welche; aber die heutige mein' ich, 
daB mir die Augen iiberlaufen - du darfst es kuhn bloB einem zu 
matten Trcinenheber beimessen, worunter Petit alle einsaugende 
Tranenwege befaBt -, wenn mir z. B. einer unrecht tut, oder wenn 
10 ich nur etwas stark begehre, oder mir eine nahe Freude oder nur 
uberhaupt eine starke Empfindung oder das menschliche Leben 
denke oder das bio Be Weinen selber.« 

Sein gutes Auge stand voll Wasser, da ers sagte, und recht- 
fertigte alles. 

»Lieber Flamin, ich wollte, ich ware eine Dame geworden oder 
ein Herrnhuter oder ein Komodiant — wahrlich, wenn ich den Zu- 
schauern weismachen wollte, ich ware daruber (namlkh,uber dem 
Weinen), so war* es noch dazu auf der Stelle wahr.« - 

Und hier legt' er sich sanft und froh mit Tranen, die entschul- 

(o digt flossen, um die geliebte Brust Aber zur Vipern- und 

Eisenkur seiner Mannlichkeit hatt* er nichts als ein »Hm!« und 
einen Zuck des ganzen Korpers vonnoten : darauf kehrten die 
Jiinglinge als Manner in die Laube zuriick. 

Es war nichts mehr darin; die Madchen waren in die Wiesen 
geschlichen, wo nichts zu meiden war als hohes Gras und betau- 

1 Ein bekannter guter Schriftsteller uber die Augen. 



708 HESPERUS 

ter Schatten. Die leere Laube war der beste einsaugende Tranen- 
heber seiner Augen; ja ich schlieBe aus Berichten des Korrespon- 
denz-Spitzes, daB es ihn verdroB. Da die Schwester spat allein 
wiederkam: so verdroB es den andern auch. Oberhaupt, sollte 
sich etwa der Held - welches fur mich und ihn ein Ungliick ware 
- mit der Zeit gar in Klotilden verlieben: so wird uns beiden — 
ihm im Agieren, mir im Kopieren - die Heldin warm genug 
machen, eben weil sie selber nicht warm sein will; weil sie weder 
iiberfhissige Warme, noch iiberflussige Kalte, sondern allezeit die 
wechselnde Temperatur hat, die sich mit dem Gesprach-Stoff, « 
aber nicht mit dem Redner andert; weil sie einem zartlichen 
Nebenmenschen alle Lust nimmt, sie zu loben, da sie keinen Sack- 
zehent davon entrichtet, oder sie wenigstens zu beleidigen, da sie 
keine AblaBbriefe austeilt, und weil man wirklich in der Angst 
zuletzt annimmt, man konne keine andern Siinden gegen sie be- 
gehen als solche gegen den heiligen Geist. Jean Paul, der in sol- 
chen Lagen war und oft jahrelang auf einem Platz vor solchen 
Bergfestungen mit seinen Sturmleitern und Labarums und Trom- 
petern stand und statt der Besatzung selber ehrenvoll abzog, dieser 
Paul, sag* ich, kann sich eine Vorstellung machen, was hier in 2 < 
Sachen Sebastians contra Klotilden fiir Aktenpapier, Zeit und 
Druckschwarze (von ihm und mir) vertan werden kann, bis wirs 
nur zur Kriegsbefestigung treiben. Es wird einem Mann iiberhaupt 
bei einer ganz vernunftigen Frau nie recht wohl, sondern bei einer 
bloB feinen,phantasierenden,heiBen,launenhaften ist er erst zu 
Hause. Durch so eine wie Klotilde kann der beste Mensch vor 
blofier Angst und Achtung frostig, dumm und entziickt werden; 
und meistens schlagt obendrein noch das Ungliick dazu, daB der 
arme matte Schaker, von dem sich ein solcher irdischer Engel, wie 
der apokalyptische vom Jiinger Johannes, durchaus nicht will an- y 
beten lassen, selten noch die Krafte auftreibt, um zum Engel zu 
sagen - wie etwan zu einem entgegengesetzten Engel mit Welt- 
reichen, der das Anbeten haben will -: »Hebe dich weg von mir!« 
Paul hebt sich allemal selber weg. — 

Viktor tat dies nicht; er wollte jetzt gar nicht aus dem Hause, 
d. h. aus dem Dorfe. Die Sommertage schienen ihm in St. Lune 



1 6. HUNDPOSTTAG 7O9 

wie in einem Arkadien zu ruhen, wehend, duftend, selig; und er 
sollte aus dieser sanft irrenden Gondel hinausgeworfen werden 
ins SklavenschifF des Hofs - aus der pfarrherrlichen Milchhutte in 
die furstliche Arsenikhiitte, aus dem Philanthropistenwaldchen 
der hauslichen Liebe auf das Eisfeld der hofischen. Das war ihm 
in der Laube so hart! - und in Tostatos Bude so lieb! - Wenn die 
Wunsche und die Lagen des Menschen sich miteinander um- 
kehren : so klagt er doch wieder die Lagen, nicht die Wiinsche an. 
»Er wolle sich selber«, sagt* er, »auslachen, aber er habe doch hun- 

10 dert Griinde, in St.Liine zu zogern, von einem Tage zum andern 
- es ekle ihn so sehr seine Absicht an, einem Menschen (dem Fiir- 
sten) aus andern Beweggrunden zu gefallen als aus Liebe - es sei 
noch unwahrscheinlicher, dafi er selber gefalle, als dafi es ihm ge- 
falle - er wolle Iieber seinen eignen Launen als gekronten schmei- 
cheln, und er wisse gewiB, im ersten Monat sag* er dem Minister 
von Schleunes Satiren ins Gesicht, und im zweiten dem Fiirsten - 
und iiberhaupt werd' er jetzt mitten im Sommer einen vollstan- 
digen Hof-Schelm schlecht zu machen wissen, im Winter eher, 
u. s. w.« 

20 AuBer diesen hundert Griinden hatt' er noch schwachere, die 
er gar nicht erwahnte, wie etwan solche : er wollte gern um Klo- 
tilden sein, weil er ihr notwendig, gleichsam um sein Betragen zu 
rechtfertigen - aber welches denn, mein Trauter, das vergangne 
oder kunftige? -, seine Wissenschaft um ihre Blutverwandtschaft 
mit seinem Freund eroffnen mufite. Zu dieser ErofFnung fehlte, 
was in Paris das Teuerste ist, der Ptaq; das Exordium auch. 
Klotilde war nirgends allein zu treffen. Kenner sagen, jedes Ge- 
heimnis, das man einer Schonen sage, sei ein Heftpflaster, das mit 
ihr zusammenleime, und das oft ein zweites Geheimnis gebare: 

J° sollte Viktor etwan darum Klotilden seine Kenntnisse von ihrer 
Geschwisterschaft so begierig zu zeigen getrachtet haben? - 

Er blieb einen Tag um den andern, da ohnehin die Butterwoche 
der Vermahlung erst vorubergehen muBte. -r- Er hatte schon Ver- 
mahlmunzen in der Tasche. Aber er sah Klotilde immer nur in 
Sekunden ; und eine halbe Sekunde braucht man nach Bonnet zu 
einer klaren Idee, nach Hooke gar eine ganze : eh' er also eine ganze 



7IO HESPERUS 

Vorstellung von dieser stillen Gottin zusammengebracht hatte, 
war sie schon fortgelaufen. 

Endlich wurden ernsthaftere Anstalten gemacht — nicht zur 
Abreise, sondern zum Vorsatz derselben . . . Die schon sten Minu- 
ten in einem Besuche sind die, die sein Ende wieder verschieben ; 
die allerschonsten, wenn man schon den Stock oder den Facher 
in der Hand hat und doch nicht geht. Solche Minuten umgaben 
unsern Fabius der Liebe jetzt: sanftere Augen sagten ihm: »Eile 
nicht«, warmere Hande zogen ihn zuruck, und die mutterliche 
Trane fragte ihn: »Willst du mir meinen Flamin schon morgen n 
rauben?« 

»Ganz und gar nicht k antwortet* er und blieb sitzen. Ich frage: 
steckte nicht seinetwegen die Kaplanin ihr Zungen-Richtschwert 
in die Scheide, weil er nichts so haBte als laute und stille Verleum- 
dungen eines Geschlechts, das, ungliicklicher als das mannliche, 
sich von zwei Geschlechtern zugleich gemiBhandelt erblickt? — 
Denn er nahm oft Madchen bei der Hand und sagte : »Die weib- 
lichen Fehler, besonders bose Nachrede, Launen und Empfindelei, 
sind Astlocher^ die am grunen Holz bis in die Flitterwochen als 
schone marmorierte Kreise gefallen; die aber am durren, am ehe- ll 
lichen Hausrat, wenn der Zapfen ausgedorret ist, als fatale Locher 
aufklaffen.« - Agathe schraubte jetzt ihr Nahkussen an seinen 
Schreibtisch und kiiBte ihn, er mochte zu lustig oder zu murrisch 
aussehen. Selber der Kaplan suchte ihm, wenn nicht die letzten 
Tage y die er bei ihm vertraumte, sufi zu machen,doch die letzten 
Nackte, wozu nichts notig war als eine Trommel und ein FuB. 
Die feurigsten nachtlichen Hexentanze der Mause untersagte der 
Kaplan mit seinem FuB, damit sie den Gast nicht aufweckten; er 
tat namlich damit an das untere Bettbrett von Zeit zu Zeit einen 
maBigen Kanonen-StoB, der um so mehr ins Horrohr der^Fanzer y 
einknallte, da er schon die Ohren der Menschen erschreckte. Ge- 
gen den Eulerschen Rossehprung der Ratten zog er nur mit einem 
Schlegel zu Felde, womit er, wie ein Jungster Tag in ihre Lust- 
und Jagdpartien einbrechend, bloB ein- oder zweimal auf eine ans 
Bettuch gestellte Trommel puffte. 

Matthieu war unsichtbar und feierte, da Hoflinge den Fiirsten 



1 6. HUNDPOSTTAG 7 1 1 

alles nachaffen, die Hochzeittage des seinigen wenigstens in klei- 
nen Hochzeitstunden nach. Das Pulver, das aus Kanonen und aus 
Feuerwerker-Duten fuhr, das Vivat, das aus Kanzeln gebetet und 
aus Schenken geschrien wurde, und die Schulden, die man dabei 
machte, waren, denk' ich, so ansehnlich, daB der groBte Fiirst 
sich nicht schamen durfte, damit seine Vermahlung und - Lang- 
weile anzuzeigen. - Die Kalte hat ewig ein Sprachrohr und die 
Empfindung ein Horrohr. Die Ankunft einer ungeliebten furst- 
lichen Leiche oder dergleichen Braut hort man an den Polar- 

« zirkeln; hingegen wenn wir Niedere unsre Graber oder unsre 
Arme mit Geliebten fullen: so fallen bloB einige ungehorte Tra- 
nen, trcstlose oder selige. 

Flamin lechzete nach dem Sessiontisch, dessen Arbeiten jetzo 

bald angingen, und begriff das Zogern nicht Endlich wurd* 

einmal im ganzen Ernste der Abschiedtag festgesetzt, auf den 
ioten August; und ich bin gewiB, Viktor ware am I4ten nicht 
mehr in St.Liine gewesen, hatte nicht der Henker am 8ten einen 
Tiroler hingefiihrt. 

Es ist der namliche, der vorgestern bei uns Scheerauern mit 

*° einer wachsernen Dienerschaft, die er halb aus Reichsstanden, 
halb aus Gelehrten zusammengesetzt hatte, seinen Einzug hielt 
und mit den Wachshanden dieser Zwillingbrtider des Menschen 
uns- die Gelder aus dem Beutel zog. Es ist dumm, daB mir der 
Spitz den heutigen Hundtag nicht vorgestern gebracht : ich hatte 
den Kerl, der in St.Liine Viktor und den Kaplan in Wachs bos- 
sierte, selber ausgefragt, wie Viktor heiBe und Eymann und 
St. Liine selbst. Am Ende reis* ich aus erlaubter und biographi- 
scher Neugierde diesem Menschen-Zimmermeister, der uns mit 
schauerlichen Widerscheinen unsers kleinen Wesens umringt, 

s° noch nach. - 

Viktor muBte also wieder verharren; denn er lieB sich und den 
Kaplan in Wachs nachbacken, um erstlich diesem, 4 er a ^e Ab- 
giisse, Puppen und Marionetten kindisch liebte, und zweitens um 
der Familie, die gern in sein erledigtes Zimmer den wachsernen 
Nach- Viktor einquartieren wollte, einen groBern Gefallen zu tun 
als sich selbst. Denn ihn schauerte vor diesen fleischfarbnen 



712 HESPERUS 

Schatten seines Ich. Schon in der Kindheit streiften unter alien 
Gespenstergeschichten solche von Leuten, die sich selber gesehen, 
mit der kakesten Hand uber ,seine Brust. Oft besah er abends vor 
dem Bettegehen seinen bebenden Korper so lange, daB er ihn von 
sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allein neben 
seinem Ich stehen und gestikulieren sah : dann legte er sich zit- 
ternd mit dieser fremden Gestalt in die Gruft des Schlafes hinein, 
und die verdunkelte Seek fuhlte sich wie eine Hamadryade von 
der biegsamen Fleisch-Rinde uberwachsen. Daher empfand er 
die Verschiedenheit und den langen Zwischenraum zwischen sei- io 
nem Ich und dessen Rinde tief, wenn er lange einen fremden Kor- 
per, und noch defer, wenn er seinen eignen anblickte. 

Er saB dem Bossierstuhl und den Bossiergriffeln gegenuber, 
aber seine Augen heftete er nieder in ein Buch, um die Korper- 
gestalt, in der er sich selber herumtrug, nicht entfernt und ver- 
doppelt zu sehen. Die Ursache, warum er aber doch die weg- 
gestellte Verdoppelung seines Gesichts im Spiegel aushielt, kann 
nur die sein, weil er entweder den Figuranten im Spiegel bloB fur 
ein Portrat ohne Kubikinhalt oder fur das einzige Urbild ansah, 
mit dem wir andre Doubletten unsers Wesenszusammenhalten .... *° 
Ober diese Punkte kann ich selber nie ohne ein gewisses Beben 
reden . . . 

Dem Wachsabdruck Viktors wurde nach seiner Volljahrigkeit 
eine toga\arilis, ein Uberrock, den das Urbild abgelegt hatte, um- 
getan, desgleichen das Zimmer eingeraumt, woraus der lebendige 
zog. Der Kaplan wollte diese wohlfeile Ausgabe von Horion so 
ans Fenster lagern, wenn die bessere fort ware, daB die ganze 
Schul-Jugend, die vom Kantor Sitten und mores lernte, die Hute 
abrisse, wenn sie aus dem Schulhause heimtobte. - 

Endlich! - Denn Matz kam. Des letzten ausgekelterte Wangen 3° 
und sein ganzer Korper, der unter den Zitronendriickern der 
Nachtfeste gewesen war, bewiesen, daB er nicht log, da er sagte, 
der fiirstliche Brautigam sehe noch achtmal elender aus und liege 
darnieder am Podagra. Er setzte in seiner bittern Weise, die Vik- 
tor wenig liebte, hinzu: »Die bleichen GroBen haben uberhaupt 
kein Blut, das wenige ausgenommen, was sie den Untertanen ab- 



1 6. HUNDPOSfTAG 71 3 

schropfen oder was ihnen an den Handen klebt, wie die Insekten 
kein rotes Blut bei sich fiihren als das den andern Tieren abge- 
sogne.« Dieses erinnerte Viktor an seine medizinischen Pflichten 
gegen den Fiirsten. Entweder Matzens verwiistete Gestalt - derm 
unmoralisches Nachtleben macht Zuge und Farbe noch wider- 
licher als das langste Krankenlager -, oder die Erinnerung an des 
Lords Warnungen, oder beides machte ihn unserem Hofmedikus 
ebenso verhaBt, als dieser wieder jenem durch das Hofphysikat 
geworden war; dieses verhehlte Gift Matthai aber offenbarte sich 

io nicht durch kleinere, sondern durch grofiere, fast ironische Hof- 
lichkeit. Hingegen Matz und Flamin schienen vertraulicher als je 
zusammen zu sein. 

Vormittags nach dem Rasieren sprang, ohne sich noch einmal 
zu uberwaschen, Viktor auf und packte sogleich den Stiefclknecht 
ein und riB die Hangriemen der Kleider entzwei und bestellte 
MeBhelfer, damit sie seinen Lebens-Ballast - ausschifften (wegen 
seiner elenden Packerei) und dann einschifften. Denn er uberlieB 
die ganze Kuratel des Geriimpels unserer kleinlichen Lebens- 
geratschaften immer fremden Handen, und das mit einer solchen 

20 Verachtung dieses Geriimpels und mit einer solchen sorglosen 
Verschwendung - ich werde zwar meinen Helden nie verleum- 
den; aber es ist doch durch den Spitz erwiesen, dafi er nie das 
Kurrentgeld eines versilberten Goldstiicks kollationierte und nie 
elnem Juden, Romer und Herrnhuter etwas im Handel abbrach - 
so sehr, sag' ich, daB die ganze weibliche Hanse in St. Liine schrie: 
ei der Narr! und daB die Kaplanin sich immer an seine Stelle auf 
den Handelplatz einschob. Er war aber nicht zu bessern, weil er 
die Lebensreise und also den Reisebundel mit so philosophischen 
Augen verkleinerte, und weil er vor nichts so errotete als vor 

3° jedem Scheine des Eigennutzes: er lief vor alien Anstalten, Vor- 
reitern und Probekomodien davon, wenn sie seinetwegen auf- 
traten - er schamte sich jeder Freude, die nicht wenigstens in zwei 
Bissen, in einen fiir einen Mitesser, zu teilen war - er sagte, die 
Stirne eines Hospodars miiBte die Harte seiner Krone angenom- 
men haben, weils sonst ein solcher Mensch unmoglich ertriige, 
was oft bloB seinetwegen gemacht wiirde von einem ganzen 



714 HESPERUS 

Lande, die Musik - die Ehrenbogen - die Carmina - das Freuden- 
geschrei in Prose und die entsetzlichen Kanonaden. — 

Er hatte jetzt in St. Liine nichts mehr abzutun als eine bio fie 
platte— Hoflichkeit* denn so viel darf ich wohl ohne Eitelkeit be- 
haupten, daB ein Held, den ich zu meinem erkiese, schon hoffent- 
lich so viel Lebensart habe, daB er hingeht zum Kammerherrn 
Le Baut und sagt; a revoirl - An solche Staatsvisiten muB er sich 
ohnehin jetzt gewohnen. 

Matz saB auch drtiben, dieser mit struppichten abgezauseten 
hangenden Fliigeln hingeworfene Amor der Kammerherrin — *° 
letzte scherzta iiber die eitlen Blicke mit ihm, die den nachlassen- 
den Puis seiner Liebe bekannten - Le Baut spielte Schach mit 
Matzen - Klotilde saB an ihrem Arbektischchen voll seidner Blu- 
men, mitten unter diesen edlen Drillingen .... Ihr armen Tochter! 
was fiir Leute musset ihr nicht oft bewillkommen und aushoren ! - 
Doch fiir Klotilde war dieser Hausfreund nichts als eine ausge- 
polsterte Mumie, und sie wufite nicht, kam er oder ging er. 

Sebastian wurde als Adoptivsohn des Gliicks, als Erbe des 
vaterlichen Giinstling-Postens, heute von der Kammerherrschaft 
ungemein verbindlich empfangen. Wahrhaftig, wenn der Hof- *° 
mann Ungliickliche flieht, weil ihm das Mitleiden zu heftig zu- 
setzt, so drangt er sich gern um Gliickliche, weil er Mitfreude ge- 
nieBeh will. Der Kammerherr, der sich noch vor dem verbeugte, 
der in seinem Sturze vom Thron mitten in der Luft hing, biickte 
sich naturlicherweise vor dem noch tiefer nieder, der in der ent- 
gegengesetzten Fahrt begriffen war. 

Viktor stellte sich zu den Weibern, aber mit einem aufs Schach- 
brett irrenden Auge, um, wenn er verlegen ware, sogleich einen 
Vorwand der veranderten Aufmerksamkeit oder des Wegtretens 
bei der Hand zu haben. Es war gescheit; denn jedes Wort, das er 3° 
und die Weiber sprachen, war ein Schachzug; er muBte gegen die 
Le Baut - was wuBte diese, daB einer Mutter nichts schoner stehe 
als eine vollkommene Tochter? - d.h. gegen die Stiefmutter 
seine Kalte und gegen die Stieftochter seine Warme verdecken. 
Der Leser frage nicht: was konnte denn die alte Stiefmutter fur 
Warme begehren? Denn in den hohern Standen werden die An- 



1 6. HUNDPOSTTAG 715 

spruche durch Blutverwandtschaft und Alter nicht geandert - 
bloB in den niedern werden sie es -; daher befurcht* ich allemal, 
das, was ich der Tochter vortrage, langweile die Mutter, und ich 
fange mit Recht, wenn diese kommt, nach einem bessern Rede- 
faden. - Viktor verbarg seine Kdlte leicht ails jener Menschen- 
liebe, die bei ihm so oft in zu gutherzige Schmeichelei unmora- 
lischer Hoffnungen ausartete; und wenn eine haben wollte, er 
sollte sich in sie verlieben, so sagte er: »Ich kann doch wahrlich 
zum guten Lammchen nicht sagen: ich mag nicht.« - Die Warme 

i° gegen Klotilde verbarg er - schlecht, nicht weil sie zu stark, son- 
dern gerade weil sie es noch nicht genugwar. Esistnaturlich: 
ein Jiingling von Erziehungkann, wenn er will, seine erwiderte 
Liebe ohne Kanzelabkiindigung verhullen und verschweigen, 
aber eine unerwiderte, eine, die er selber blofi erst Achtung nennt, 
laBt er aus sich ohne Hiillen lodern. - Obrigens bin* ich die Welt, 
sich hinzusetzen und zu bedenken, daB mein Held nicht den Teu- 
fel im Leibe oder sechzehn Jahre habe, sondern daB er unmog- 
lich eine Liebe fur eine Person empfinden konne, die iiber ihre 
Gesinnungen wie iiber ihre Reize eine Mosis-Decke hangt. Liebe 

20 beginnt und steigt durchaus nur an der Gegenliebe und mit ihrem 
wechselseitigen Erraten. Achtung hat er bloB, aber recht viele, 
aber eine recht wachsende und bange, kurz seine Achtung ist jener 
kalte hiipfende Punkt im Dotter des Herzens, dem die kleinste 
fremde Warme oft nach Jahren - die Metapher ist aus einem Ei 
geschlagen - wachsendes Leben und Amors Flugel zuteilt. 

Er untersuchte jetzt am Arbeittisch Klotildens Warme mit dem 
Feuermesser; aber ich kann weiter nicht auBer mir vor Freude 
sein, daB er die Warme an der ins kleinste abgeteilten Skala wenig- 
stens um v m Linie gestiegen fand. Denn er schieBet wohl fehl; 

J° ich will lieber auf den Stirnmesser Lavaters bauen als auf den 
Heri~ und Warmemesser eines Liebe suchenden Menschen, der 
seine Auslegungen mit seinen Beobachtungen vermengt und Zu- 
falle mit Absichten. Sein Feuermesser kann aber auch recht haben ; 
denn gegen gute Menschen ist man im Beisein der schlimmen (man 
bedenke nur Matzen) warmer als sonst. 

Man verdenk* es Herrn Le Baut und Frau Le Baut nicht, daB 



71 6 HESPERUS 

sie meinem Helden zum Gliicke gratulierten, an einen solchen 
Hof, zu einem solchen Fursten - es ist der groBte in Deutschland, 
sagte er — , zu einer solchen Fiirstin - sie ist die beste in Deutsch- 
land, sagte sie — abzureisen. Matz lachelte zwischen Ja und Nein. 
Der Alte setzte das Schach fort, die Alte das Lob. Viktor sah mit 
Verachtung, wie wenig zwei solchen Seelen, die die Thronstufen 
fur eine Wesenleker und den Thron-Eisberg fiir einen Olymp 
und ein Empyreum hielten, und die nirgends als an dieser Hohe 
ihr Gliick zu machen wuBten, bessere Begriffe vom Gliick und 
schlechtere von der Hohe beizubringen waren. Gleichwohl muBt' *° 
er vor Klotilden, die auf ihrem Gesichte mehr als ein Nein gegen 
die Lobrede hatte, offenbaren, daB er ebenso edel verneine wie 
sie. Er knetete also Lob und Tadel nach einer horaiischen Mi- 
schung untereinander, um weder satirische noch schmeichlerische 
Anspielungen auf zwei abgedankte Hof leute zu machen : »Mir 
gefallts nicht,« sagt' er, »daB es da nur Vergniigungen und keine 
Arbeken gibt — lauter Konfektkorbchen und keinen einzigen 
Arbeitbeutel, geschweige einen Arbeittisch wie dieser da.« - 
»Glauben Sie,« fragte Klotilde mit auffallender Innigkeit, »daB alle 
Hoffeste einen einzigen Hofdienst lj>ezahlen?« - »Nein,« sagt' er, ™ 
»denn fur die Feste selber sollte man bezahlet werden - ich be- 
haupte, es gibt dort lauter Arbeit und kein Vergnugen - alle ihre 
Lustbarkeiten sind nur die Beleuchtung, die Zwischenmusik und 
die Dekorationen, die dem Schauspieler, der an seine Rolle denkt, 
weniger gefallen als dem Zuschauer.« - »Es ist allemal gut, da- 
gewesen zu sein«, sagte die Alte. - »GewiB;« (sagte er) »denn es 
ist gut, nicht immer dazubleiben.« - »Aber es gibt Personen,« 
(sagte Klotilde) »die dort ihr Gluck nicht machen konnen, bloB 
weil sie nicht gern dort sind.« Das war sehr fein und schonend; 
aber bloB fiir Viktors Herz verstandlich : »Einem schonen Schwar- 3 c 
mer« (sagt' er und fragte wie allemal nach dem scheinbaren Wider- 
spruch zwischen Viktors Leben und Viktors Meinungen nichts) 
»oder einem feurigen Dichter wiird* ich raten, zu Hause zu blei- 
ben — beider Flug statt der Pas ware im Hof leben, was ein Hexa- 
meter in der Prose ist, den die Kunstrichter nicht leiden konnen - 
und zur Seele mit dem weichsten gefiihlvollsten Herzen wurd* 



1 6. HUNDPOSTTAG 717 

ich sagen ; entfliehe damitj das Heri wird dort als Oberbein ge- 
nommen, wie in der sechsflngerigen Familie in Anjou der sechste 
Finger .« — Die Alte schuttelte den Kopf schnell links. »Und 
doch«, fuhr er fort, »wiird' ich sie alle drei auf einen Monat an den 
Hof ziehen und sie ungliicklich machen, um sie weise zu machen.« 
Die Kammerherrschaft konnte sich in Viktor nicht so gut wie ' 
mein Leser schicken, der zu meinem groBten Vergniigen Laune 
und das Talent, alle Seiten einer Sache zu beschauen, so geschickt 
von Schmeichelei und Skeptizismus unterscheidet. Klotilde hatte 

10 langsam den Kopf zum letzten Satze geschiittelt. Oberhaupt 
stritten heute alle/wr und wider ihn in jenem teilnehmenden Tone, 
den Weiber und Verwandte allemal gegen einen Fremden an- 
. nehmen, wenn sie eine Stunde vorher den namlichen ProzeB, aber 
zu praktischer Anwendung, mit den Ihrigen gefiihret hatten. 

Viktor, der schon lange besorgte, verlegen zu werden, ging 
endlich dahin, wohin er bisher so oft geschauet hatte -zum Schach, 
das man mit der groBten Begierde, zu - verlieren, spielte. Der 
Kammerherr - wir wissen alle, wie er war: er schrieb nichts als 
Belobschreiben fur die ganze Welt, und der Abendmahlkelch 

10 ware mehr fiir seinen Geschmack gewesen, hatt' er daraus auf 
eines wichtigen Mannes Gesundheit toasten konnen - dieser be- 
forderte, so gut er konnte, mit den diirren Schachstatuen bloB 
das fremde Wohl auf Kosten des eignen : gern verlor er, falls nur 
Matthieu gewann. Noch dazu glich er jenen verschamten Seelen, 
die ihre Wohltaten gern verborgen geben, und er konnt* es nicht 
iiber sich erhalten, es seinem Schach-Gegner zu sagen, daB er ihm 
den Sieg zuschanze; er hatte fast groBere Miihe, sich zu verbergen 
wie ein Hofmann, als sich selber zu besiegen wie ein Christ. Eine 
solche Liebe hatte, wie es scheint, warmer vergolten werden sollen 

30 als durch offenbare Bosheit; aber Matz hatte das namliche vor und 
wich dem Siege, den jener ihm nachtrug, wie ein wahrer Spitz- 
bube aus. Le Baut ersann sich vergeblich die besten Ziige, womit 
man sich selber matt macht - Matz setzte noch bessere entgegen 
und drohte jede Minute, auch zu ermatten. Uns alle dauert der auf 
dem Schachboden herumgehetzte Kammerherr, der wie eine Ko- 
kette besorgt, nicht besiegt zu werden. Es war fiir ein weiches 



71 8 HESPERUS 

Auge, das doch dem Schwachen lieber als dem Schelm vergibt, 
nicht mehr auszuhalten: Viktor trat unter tausend Entschuldi- 
gungen gegen den Schwachen und voll Bosheit gegen den Bos- 
haften in die Heckjagd ein und notigte den Hofjunker, seinen 
Rat und seine Karitativsubsidien anzunehmen und zu vorgeschla- 
genen Kriegsoperationen von solchem Wert zu greifen, dafi der 
Mann mit dem Amte der kammerherrlichen Schlussel endlich 
trotz seinen Befurchtungen und trotz den schlimmsten Aussichten 
- verlor. Alle Anwesende errieten alle Anwesende, wie Fiirsten 
einander in ihren offentlichen - Komodienzetteln. i° 

Er hatte endlich die Abschiedaudienz, aber geringen Trost. 
Die Gestalt, unter der alle seine Schonheitideale nur als Schild- 
halter und Karyatiden standen, war noch kalter als bei dem Emp- 
fange und immer bloB das Echo der elterlichen Hoflichkeit. Das 
einzige, was ihn noch aufrecht erhielt und beruhigte, war eine - 
Distel, namlich eine optische, auf den musivischen FuBboden ge- 
saete. Er nahm namlich wahr, daB Klotilde diesem Blumenstiick, 
das sie doch kennen muBte, unter dem Abschiede mit dem FuBe 
auswich, als war' es das Urbild. Abends macht' er seine SchluB- 
ketten, wie sie auf Universitaten gelehret werden - dieser Vexier- to 
distel impfte er alle Rosen seines Schicksals ein - »zerstreut war sie 
doch, und weswegen? frag* ich«, sagt' er ins Kopfkissen hinein - 
»denn erraten haben sie mich driiben ohnehin noch nicht«, be- 
hauptete er, indem er sich aufs zweite Kopfkissen legte - »o du 
holdes Auge, das auf die Distel sank, geh in meinem Schlafe wie- 
der auf und sei der Mond meiner Traume«, sagte er, da er schon 
halb in beiden war. - Er glaubte bloB aus Bescheidenheit, er werde 
nicht erraten, weil er sich nicht fur merkwiirdig genug ansah, um 
bemerkt zu werden. - 

Der 20. August 179* war der groBe Tag, wo er abmarschierte 30 
nach Flachsenflngen: Flamin war schon um vier Uhr abends fort- 
getrabt, um keinen Abschied zu nehmen, welches er haBte. Aber 
unser Viktor nahm gern Abschied und zitterte gern im letzten 
Verstummen der Trennung: »0 ihr diirftigen egoistischen Men- 
schen!« (sagt' er) »dieses Polarleben ist ohnehin so kahl und kalt, 
wir stehen ohnehin Wochen und Jahre nebeneinander, ohne mit 



1 6. HUNDPOSTTAG 7 1 9 

dem Herzen etwas Besseres zu bewegen als unser Blut - blofi ein 
paar gliihende Augenblicke zischen und erloschen auf dem Eis- 
feld des Lebens — warum meidet ihr doch alles, was euch aus der 

Alltaglichkeit zieht, und was euch erinnert, wie man liebt 

Nein! und wenn ich zugrunde ginge, und wenn ich mich nachher 
nicht mehr trosten konnte: so driickte ich mich mit dem unbe- 
deckten Herzen und mit dem Bluten aller Wunden und zerrinnend 
und erliegend an den geliebten Menschen, der mich verlassen 
muBte, und sagte doch: es tut mir wohl!« - Kalte selbsuchtige 

jo und bequeme Personen vermeiden das Abschiednehmen so wie 
unpoetische von zu heftigen Empfindungen; weibliche hingegen, 
die sich alle Schmerzen durch Sprechen, und poetische, die sich 
alle durch Phantasieren mildern, suchen es. 

Um sechs Uhr abends - denn es war nur ein Sprung nach 
Flachsenfingen -, als das Vieh wiederkam, ging er fort, begleitet 
von der ganzen Familie. An seinen glucklichern Arm - meiner 
muB sich bloB zum Besten der Wissenschaften bewegen - war die 
Britin und an den linken Agathe angeohrt; an die Schwester hatte 
sich derarme Hauspudel geschnallet (Apollonia), welcher gleich- 

20 wohl dachte, er beriihre und genieBe trotz dem schwesterlichen 
Einschiebsel und Zwischengeist den Doktor. So fahren die Fun- 
ken der Liebe, wie die elektrische und magnetische Materie, durch 
das Mittel von zwanzig dazwischengestellten Leibern hindurch. 
Ein Philosoph, der sich hinsetzt und erwagt, daB unsre Finger im 
Grunde der geliebten Seele nicht um einen Daumen naher kom- 
men, es mag zwischen ihnen und ihr bloB die Gehimkugel oder 
gar die Erdkugel liegen, wird allezeit sagen: »Ganz naturlich!« 
Daraus erklart dieser sitzende Philosoph, warum die Madchen 
die mannlichen Verwandten ihres Geliebten halb mitlieben - war- 

3° um der Rohrstuhl Shakespeares, die Kleiderkommode Fried- 
richs II. , die Stutzperiicke Rousseaus unser sehnendes Herz be- 
friedigen. — 

Aber niemand wollte, den Weisel dieses Vorschwarms aus- 
genommen, wieder zuriick. »Nur noch an die sechs Baume«, sagte 
Agathe. Als man an diese Grenzpfahle und Lochbaume der heu- 
tigen Lust gekommen war, waren deren sieben, und man be- 



720 HESPERUS 

hauptete allgemein, sie waren nicht gemeint und es ginge welter. 
Der Begleitete wird gewohnlich immer angstlicher und der Be- 
gleiter immer froher, je Ianger es wahrt. »Doch bis zu jenem Acker- 
mann!« sagte die scharfsehende Britin. Aber endlich merkte unser 
Held, daB diese Herkules-Saule ihrer Reise selber gehe, und daB 
der Ackermann nur ein Wandermann sei. »Das beste ist,« - sagt' 
er und kehrte sich um-»ich kehre mich um und reise erst mor- 
gen.« Der Kaplan sagte: »Bis ans alte SchloB« (d.h. es war noch 
eine Mauer davon da) »geh' ich ohnehin gewohnlich abends !« - 
Allein iiber diese Grenzfestung des schonsten Abends riickte die i< 
plaudernde Marschsaule betriigerisch hinaus, und die Augen wur- 
den iiber die Ohren vergessen. Da sonach bei diesen Grenzstreitig- 
keiten ein Hauptartikel nach dem andern durch Separatartikel ge- 
brochen wurde: so war wahrhaftig weiter nichts zu machen - als 
folgender Versuch. »Hieher wollt' ich Sie nur haben« (sagte Vik- 
tor) - »jetzt miissen Sie mit mir weitergehen und heute beim Apo- 
theker ubernachten.« - »In der Tat,« sagte die Kaplanin kalt, »bis zu 
Sonnenuntergang wird mitgegangen : wir sollen doch nicht dieser 
schonen Sonne den Riicken wenden?« Allerdings hatte der Abend 
lauter Freudenfeuer angezundet auf der Sonne - auf den Wolken « 
- auf der Erde — auf dem Wasser. 

Auf dem Hugel sah man schon die Turmspitzen der Stadt; die 
Sonne, dieses erwahlte Drehkreuz der Begleitung, goB aus ihrer 
Vertiefung iiber die Schatten-Beete der Taler ihre goldfiihrenden 
Purpurflusse. Oben, als sie verging, nahm Viktor die zwei Ehe- 
leute in den Arm und sagte : »0 macht euch so gliicklich wie mich 
und kommt froh nach Haus !« - und dann nahm er die Schwestern 
an sein trunknes Herz und sagte : »Gute, gute Nacht, ich bin euch 
gut« - und dann sah er alle mit ihren verborgnen Seufzern und 
Tropfen riickwarts gehen — und dann rief er: »Wahrlich, ich 3< 
komme bald wieder, es ist ja nur ein Sprung daher« - und dann 
schrie er nach : »Ich bin des Teufels, wenn wir getrennt sind« - 
und dann zog ihnen sein schweres Auge durch alle Zweige und 
Tiefen nach, und erst als der liebende Verein ins letzte Tal wie in 
ein Grab gesunken war, hullte er sich die Augen zu und dachte an 
die unaufhorlichen Trennungen des Menschen .... 



VIERTER SCHALTTAG 72 1 

Endlich offnete er seine Augen gegen die ausgebreitete uber- 
wolkte Stadt und dachte: »Zwischen dieser erhobnen Arbeit y m die 
sich die Menschen mit ihrem kleinen Leben nisten, sperren sich 
auch deine kleinen Tage ein - dieses ist die verhiillte Geburtstatte 
deiner kiinftigen Tranen, deiner kiinftigen Entziickungen - ach 
mit welchem Auge werd' ich nach Jahren wieder iiber diese Nebel- 
Gehause schauen - und . . ein Narr bin ich, sind denn 2300 Hauser 
nur meinetwegen?« 

Nachschrift. Diesen sechzehnten Posttag hat der Berghaupt- 
ro mann ordentlich am Ende des Junius abgeschlossen. 



VlERTER SCHALTTAG 

UND 

VORREDE ZUM ZWEITEN HeFTLEIN 



Ich will Schalttag und Vorrede zusammenschweiBen. Es muB 
daher - wenns nicht Spielerei mit der Vorrede sein soil - hier doch 
einigermaBen der zweite Teil beruhrt werden. Es verdient von 
Kunstrichtern bemerkt zu werden, daB ein Autor, der anfangs 
acht weiBe Papierseiten zu seinem Gebiete vor sich hat - so wie 
nach Strabo das Territorium Roms acht Stunden groB war — , 

20 nach und nach so weit fortruckt und das durchstreifte Papier mit 
so viel griechischen Kolonisten - denn das sind unsere deutschen 
Buchstaben - bevolkert, bis er oft ein ganzes Alphabet durch- 
zogen und angebauet hat. Dies setzt ihn instand, den zweiten Teil 
anzufangen. Mein zweiter ist, wie ich gewiB weiB, viel besser als 
der erste, wiewohl er doch zehnmal schlechter ist als der dritte. Ich 
werde hinlanglich belohnt sein, wenn mein Werk der AnlaB ist, 
daB eine Rezension mehr in der Welt gemacht wird; und ich 
wiiBte nichts - wenns nicht eben dieser Gedanke ware, daB 
Bucher geschrieben werden mussen, damit die gelehrten Anzei- 

30 gen derselben fortdauern konnen -, was einen Autor zur unsag- 
lichen Miihe antreiben konnte, den ganzen Tag am DintenfaB zu 
stehen und ganze Pfunde Konzepthadern in Bertinerblau zu far- 



722 HESPERUS 

ben... Und dieser kuhle ernste hocus pocus von Vorrede - ein 
Ausdruck, den Tillotson fur eine Verkiirzung von der katho- 
lischen Formel >hoc est corpus< halt - sei fiir gute Rezensenten 
auf Universitaten genug. 

Ich wende mich wieder zu dem, was ich eigentlich damit haben 
wollte. Ich bin namlich gesonnen, die Extrablattchen und Neben- 
schoBlinge, womit die Schalttage vollzumachen sind, in alpha- 
betischer Ordnung - weil Unordnung mein Tod ist - nicht nur 
anzukiindigen, sondern auch hier schon anzufangen und fort- 
zusetzen bis zum Buchstaben I. i 

Schalt- und NebenschoBlinge, alphabetisch geordnet 



Alter der Weiber. Lombardus (L. 4. Sent, dist.4.) und der heilige 
Augustin (I.22. de civit. c. 15.) erweisen, daB wir alle in dem 
Alter von den Toten auferstehen, worm Christus auferstand, 
namlich im 32sten Jahre und dritten Monat. Mithin wird, da im 
ganzen Himmel kein Vierziger zu haben ist, ein Kind so alt sein 
wie Nestor, namlich 32 Jahre und drei Monate. Wer das weiB, 
schatzet die schone Bescheidenheit der Weiber hoch, die sich nach 
dem 3osten Jahre wie Reliquien fiir alter ausgeben, als sie sind; 20 
denn es ware genug, wenn sich eine Vierzigerin, Achtundvierzi- 
gerin so alt machte wie guter Rheinwein oder hochstens wie Me- 
thusalem; aber sie glaubt bescheidener zu sein, wenn sie sich, so 
sehr ihr Gesicht auch widerspricht, schon das hohe Alter zu- 
schreibt, das sie erst, wenn ihr Gesicht einige tausend Jahre in der 
Erde gelegen ist, haben kann, namlich - 32 Jahre und drei Mo- 
nate. Schon ein Dummer sieht ein, daB sie nur das kiinftige Auf- 
ersteh- und kein Erdenalter meine, weil sie von diesem Stand- 
Jahre nicht wegriickt, welches eben in der Ewigkeit ; wo kein 
Mensch eine Stunde alter werden kann, etwas Alltagliches ist. 30 
Diese Einheit der Zeit bringen sie in das Intrigenstiick ihres Lebens 
darum schon im 30Sten Jahr hinein, weil nach diesem in Paris 
keine Frau mehr offentlich tan^en und (nach Helvetius) kein Ge- 
nie mehr meisterhaft schreiben kann. Auf das letzte rechnete man 



VIERTER SCHALTTAG 723 

vielleicht sonst in Jerusalem, wo jeder erst nach dem 30Sten Jahr 
ein Lehramt bekam. 

B 

Basedowische Schulen. Basedow schlagt in seiner Philalethie vor, 
30 unerzogene Kinder in einen Garten einzuzaunen, sie ihrer 
eignenEntwickelungzu uberlassen undihnennurstummeDiener, 
die nicht einmal Menschen-Kleidung hatten, zuzugeben und es 
dann zu Protokoll zu bringen, was dabei herauskame. Die Phi- 
losophen sehen vor lauter Moglichkeit die Wirklichkeit nicht: 
10 sonst hatte Basedow bemerken miissen, daB unsre Landschulen 
solche Garten sind, in denen die Philosophic den Versuch machen 
will, was aus Menschen, wenn sie durchaus alle Bildung ent- 
behren, am Ende werde. Ich gesteh* aber, dafi alle diese Versuche 
noch so lange unsicher und unvollkommen bleiben, als die Schul- 
meister sich nicht enthalten konnen, diesen Probekindern irgend- 
einen Unterricht - und war' es der kleinste - zu erteilen; und 
besser wiirde gefahren mit ganz stummen Schulleuten, wie es 
taubstumme Zoglinge gibt. 

C siehe K 

20 D 

Dichter. Der Dichter wird, ob er gleich Leidenschaften malt, 
doch diese am besten in dem Alter treffen, wo seine kleiner sind, 
so wie Brennspiegel gerade in den Sommern, wo die Sonne am 
wenigsten brannte, am starksten wirkten und in den heiBen am 
wenigsten. Die Blumen der Poesie gleichen andern Blumen, die 
(nach IngenhouB) im gedaYnpften benebelten Sonnenlicht am 
besten wachsen. 

E 

Empfindsamkeit. Sie gibt oft dem innern Menschen, wie der 
30 SchlagfluB dem auBern, groBere Empfindlichkeit und doch Lah- 
mung, 

F siehe Ph 



724 HESPERUS 

G 

Gottin* Wie die Romer ihre Monarchen lieber fiir Gotter als 
fur Herren erkannten, so wollen die Manner die Direktrice ihres 
Herzens lieber ihre Gottin als ihre Herrin nennen, weil es leichter 
ist anzubeten als zu gehorchen. 

H 

H— . Ich habe oft Leute, die zu leben hatten und zu leben 
wuBten — welches nicht zweierlei ist — , erstlich um die besten und 
vornehmsten Weiber gaukeln und aus dem Honigkelch ihrer 
Herzen saugen, und zweitens nab* ich sie an demselben Tage die 10 
Fliigel zusammenschlagen und auf eine jammerliche Tropfin 
niederschieBen sehen, damit die Tropfin ihre Erben - erbe. Nie 
aber nab* ich diese Schmetterlinge mit etwas anderem verglichen 
als mit Schmetterlingen, die den ganzen Tag B lumen besuchen 
und benaschen, und doch ihre Eier auf einen schmutzigen Kohl- 
strunk laichen. 

H 

Holbeins Bein. Ich will lieber das H noch einmal nehmen als 
das I, weil unter der Rubrik des I*s die Invaliden kamen, von 
denen ich behaupten wollen: daB ihnen, da Leute, denen man 20 
Glieder abgenommen, vollbliitig werden, desto weniger Brot ge- 
reichet werden diirfe, je mehr ihnen Glieder weggeschossen oder 
weggeschnitten worden, und daB man dieses die Physiologie und 
Diatetik der Kriegskasse nenne. - Aber mich haben die halben 
armen Teufel zu sehr gedauert. 

Die Beine Holbeins machen groBern SpaB als abgenommene. 
Der Maler strich namlich in Basel nichts an als Basel selber; und 
der namliche Umstand, der sein Genie in diese architektonische 
Farberei hineinzwang, notigte es auch, daB es oft darin Rast- 
stunden hielt - er soff namlich entsetzlich. Ein Bauherr, dessen 30 
Name in der Geschichte fehlt, trat oft in die Haustiire und zankte 
zum Geriiste hinauf, wenn die Beine des Hausfarbers, anstatt da- 
von herunterzuhangen - denn mehr war vom Maler nicht zu 



17. HUNDPOSTTAG 725 

sehen -, in der nachsten Weinkneipe standen und wankten. 
Schritt nachher Holbein damit iiber die Gasse daher: so kam ihm 
Hader entgegen und stieg mit ihm aufs Geruste hinauf. Dieses 
brachte den Maler, der seine Studien (auch im Trinken) liebte, 
auf, und er nahm sich vor, den Bauherrn zu andern. Da er nam- 
lich das ganze Ungliick seinen Beinen verdankte, deren Frucht- 
gehange der Mann unter dem Geruste sehen wollte: so entschloB 
er sich, eine zweite Auf lage von seinen Beinen zu machen und sie 
an das Haus hangend zu malen, damit jener, wenn er unter der 

«° Haustiire hinaufschauete, auf den Gedanken kame, die zwei Beine 
und ihre Stiefeln malten droben fleifiig fort. - Und auf diesen Ge- 
danken kam der Bauherr auch; aber da er endlich bemerkte, daB 
das VexierfuBwerk den ganzen Tag an einer Stelle hange und sich 
nicht fortschiebe : so wollt' er nachsehen, was denn der Meister so 
Iange an einer Partie bessere und retuschiere - und verfugte sich 
selber hinauf. Droben im Vakuum (Leerem) ersah er leicht, daB 
der Maler da aufhore, wo Kniestiicke anfangen, beim Knie, und 
daB der mangelnde Rumpf wieder saufe in einem Alibi. 

Ich verdenk' es dem Bauherrn nicht, daB er auf dem Geruste 

20 keine Moral aus dem FuBwerk zog: er war zu erbost. 

Ich wollte noch eine Geschichte von den Fiirsten-Portrats an- 
stoBen, die hinter den Prasidenten in den Sessionzimmern statt 
der Urbilder zum Stimmen dahangen. — aber ich store den Zu- 
sammenhang; auch war sonst hier das Ende des ersten Heftleins. 



17. HUNDPOSTTAG 

Die Kur - das SchloB des Fiirsten - Viktors Visiten - Joachime - Kupfer- 
stich des Hofs - Priigel 



Ich sagte in Breslau : »Ich wollt', ich ware der Fetspopel !« da ich 
gerade das Portrat dieser Person verzehrte. Der Fetspopel ist eine 
30 Narrin, deren Gesicht den breslauischen Pfefferkuchen aufgepres- 
set ist. Ich sage folgendes nicht bloB meinetwegen, um etwan 
bloB mich auf eine solche PfefFerkuchen-Paste zu bringen, son- 



726 HESPERUS 

dern auch anderer Gelehrten wegen, die Deutschland ebenso- 
wenig mit Denkmalern ehrt, z. B. Lessing, Leibniz. Da es einem 
in den deutschen Kreisen so sauer wird, bis man nur eine halbe 
Rute Steine zum Grabmal eines Lessings oder sonstigen GroBen 
zusammenbringt - das, was von^-Steinen gute Rezensenten auf 
einen Literatus schon bei Lebzeiten werfen, wie die Alten auf 
Graber, ist noch das meiste — : so erklart* ich mich frei auf dem 
breslauischen Markt, eh* ich noch den Fetspopel angebissen : »Ent- 
weder hier auf diesem Pfefferkuchen ist der Tempel des Ruhms 
und das Bette der Ehren fur deutsche Schriftsteller, oder es gibt *<■ 
gar keinen Ruhm. Wann ist es Zeit, sobald es nicht jetzt ist, es 
von den Deutschen zu erwarten, daB sie die Gesichter ihrer groB- 
ten Manner nehmen und bossieren in EBwaren, weil doch der 
Magen das groBte deutsche Glied ist? Wenn der Grieche unter 
lauter Statuen groBer Manner wohnte und dadurch auch einer 
wurde: so wiirde der Wiener, wenn er die groBten Kopfe immer 
vor Augen und auf dem Teller hatte, in Enthusiasmus geraten 
und wetteifern, urn sich und sein Gesicht auch auf PfefTer- und 
andern Kuchen, Pasteten und Krapfen zu schwingen. Meusels 
gelehrtes Deutschland ware in Backwerk nachzudrucken - man « 
konnte groBe Helden auf KommiBbrot nachbosseln, um die ge- 
meine Soldateska in Feuer zu setzen und in Hunger nach Ruhm — 
groBe Dichter wiird* ich auf Brautkuchen abreiBen in eingeleg- 
tem Bildwerk, und Heraldiker von Genie auf Haferbrot. - von 
Autoren fur Weiber waren siiBe Dosenstiicke in Zuckerwerk zu 
entwerfen. - Geschahe das, so wiirden Kopfe wie Hamann oder 
Liscow allgemeiner von den Deutschen geschmeckt in solcher 
Einkleidung; und mancher Gelehrte, der kein Brot zu essen hatte, 
wiirde eines doch verzieren; und man hatte auBer dem papiernen 
Adel noch einen gebacknen.« — Was mich anlangt, der ich mein 3° 
Gesicht bisher noch nirgends gewahr wurde als im Rasierspiegel : 
so soil man mich damit - denn in Westfalen bin ich am wenigsten 
bekannt - auf Pumpernickel pappen. — 

Jetzt Wieder zur Geschichte! Ein langer kraushaariger Mensch 
steht in der Nacht vor dem bunten Hause des Apothekers Zeusel, 
guckt zum dritten erleuchteten Stockwerk, in das er zieht, empor 



17- HUNDPOSTTAG 727 

und macht endlich statt der holzernen Tur die glaserne der Apo- 
theke auf. O mein guter Sebastian! Segen sei mit deinem Einzugl 
Ein guter Engel gebe dir seine Hand, urn dich uber sumpfige 
Wege und FuBangeln zu heben; und wenn du dir eine Wunde 
gefallen, so weh* er sie mit seinem Flugel an, und ein guter 
Mensch decke sie mit seinem Herzen zu! - 

In der wie ein Tanzsaal flammenden Apotheke bat sich einer 
der fettesten Hoflakaien von einem der magersten Provisoren 
noch einen Manipel und einen kleinen Pugitlum Moxa fur Seine 

10 Durchlaucht aus. Der magere Mann nahm aber hinter seiner 
Waage eine halboffne Hand voll Moxa und noch vier Finger- 
spitzen voll - da doch ein kleiner Pugillus nur drei Fingerspitzen 
betragt - und schickte alles den FuBen des Fiirsten zu: »Wenn 
wir das gar verbrannt haben,« - sagt' er und wies auf die Moxa - 
»so wird Seine Durchlaucht schon ein Podagra haben, so gut als 
eines im Lande ist.« 

Die Ursache, warum der Provisor mehr gab, als rezeptieret 
war, ist, weil er auch seinen Kirchenstuhl im Tempel des Nach- 
ruhms haben wollte; daher iiberdachte er erstlich ein fremdes 

20 Rezept so lange, bis ers genehmigte, und wog zweitens immer 
Vn, Vh Skrupel zu viel oder zu wenig zu, um dem Doktof die 
Burgerkrone der Heilung vom Kopf zu nehmen und auf seinen zu 
setzen: »BloB mit der Gabe muB ich meine Kuren tun«, sagte er. 
Viktor gonnte ihm den Irrsal : »Ein Provisory sagte er, »der den 
ganzen Flugel der Wiedergenesenden anfiihrt und dem Doktor 
bloB den Nachtrab der Leichen zuteilt, hat fur dieses Kurzleben 
schon Lorbeerkranze genug unter der Gehirnschale.« 

Der Apotheker Zeusel hat Welt genug, um den Mietmann 
nicht durch ein aufgenotigtes Empfangs-Essen zu beschweren, 

3° und sagte ihm bloB den Zeitungartikel aus dem mundlichen mor- 
ning chronicle der Stadt, daB der Fiirst das Podagra weniger habe 
als suche und flxiere. Auch gab er ihm den italienischen Bedienten, 
den der Lord fur ihn gemietet hatte, und das Zimmer. 

- Und darin sitzt Sebastian jetzt auf der Fensterbriistung allein 
und denkt - ohne Blick auf Schonheiten der Stube und der Aus- 
sicht - ernsthaft nach, was er denn eigentlich hier vorhabe mor- 



728 HESPERUS 

gen und iibermorgen und langer: »Morgen zimd' ich sonach los« 
(sagt' er und drehte die Quaste der Fensterschnur) - »ich und das 
Podagra sollen uns festsetzen beim Fiirsten - Arg ists, wenn ein 
Mensch die gichtische Materie eines Regenten als Wasser braucht, 
um seine Miihle zu treiben - ein //er^-PoIype, eine Kopf-Wasser- 
sucht sollte mich weniger argern als Hofmann, beides Waren an- 
standige Gnadenmittel und FloBfedem zum Steigen. — Nein, ich 
bleibe gerade und fest, ganz aufrecht, ich gebe gleich anfangs 
nicht nach, damit sie's nicht anders wissen. - Nicht einmal ans 
Kantonieren und Ankern im Vorzimmer ist zu denken.« (Auch v 
hatte der Lord dem Selbsprecher schon die Freilassung von der 
angstlichen Hofordnung einbedungen.) - »Ach ihr schonen Friih- 
lingjahre! ihr seid nun uber mich weggeflattert und mit euch die 
Ruhe und der Scherz und die Wissenschaften und die Aufnchtig- 
keit und lauter ahnliche gute Herzen.« - (Er wirbelte die Quasten- 
schnur plotzlich kurzer hinauf.) »Aber du guter Vater, du hast 
solche gute Jahre nicht einmal gehabt, du durchstreifest die Erde 
und gibst deine Tage preis fiir das Gluck der Menschen. - Nein, 
dein Sohn soil dir deine Aufopferungen nicht verderben und nicht 
verbittern - er soil sich hier gescheit genug auffuhren - und wenn * 
du dann wiederkommst und hier am Hofe einen gehorsamen, 

einen begiinstigten und doch unverdorbnen Sohn antriffst « 

Als der Sohn gar dachte, da 6 er, wenn er so in gerader Aufstei- 
gung am Hofe kulminierte, gewinnen konnte das Herz der Kap- 
lanei, das Herz von Le Baut, das seines Vaters, das seiner samt- 
lichen Verwandten und (dacht* er anders daran) auch das von 
KIo tilde : so hatt' er die abgedrehte Quaste wie eine Tuberose in 
seiner Hand .... und daher legt' er sich still zu Bette. 

— Steh auf, mein Held ! Die Morgensonne macht schon deinen 
Erker rot - springe unter dem Glockengelaute der Wochenpre- 3' 
digt und unter dem Getose des heutigen Markttages in deine helle 
Stube! — Dein Vater, von dem du die ganze Nacht getraumt, hat 
sie vbll musikalischen und malerischen Schiff und Geschirr ge- 
stellt, und du wirst den ganzen Morgen an ihn denken ; - und doch 
schenkt dir der Erker noch mehr: den Blick auf einen griinen 
Streif von Feldern und auf Maienthals Anhohen nach Abend - 



17* HUNDPOSTTAG 729 

den ganzen Marktplatz - das Privat-Haus des Stadtseniors gegen- 
iiber, dem du in alle Stuben, die er an deinen Flamin vermietet, 
schauen kannst! — 

Flamin ist jetzo aber nicht darin; denn er hatte meinen Helden 
schon angefaBt und mit meinen Worten angeredet: steh auf! - 
Eine neue Lage ist eine Friihlingkur fur unser Herz und nimmt 
das angstliche Gefuhl unserer Verganglichkeit aus ihm: - und 
unter einem solchen heitern Himmel des Lebens tanzet heute mein 
Viktor mit allem - mit den Vormittaghoren - mit dem Regierung- 

IO rate - mit dem Apotheker - durch die Apotheke hindurch neben 
dem Provisor vorbei, um oben auf dem Schlosse mit dem poda- 
gristischen Jenner einige Gange zu machen. 

- Er ist kaum eine halbe Stunde bei dem Fiirsten gewesen, so 
sieht ihn Zeusel wieder in sein medizinisches Warenlager rennen 
.... »Ei ei !« denkt der Apotheker. 

Aber es war ganz anders : Viktor gelangte durch ein Monturen- 
Verhau - denn die Gange zu den Fiirstenzimmern sind fast Zelt- 
gassen, und die Regenten lassen sich so angstlich umwachen, als 
besorgten sie, die ersten oder die le^ten zu sein - ins Kranken- 

*° zimmer. Vor einem Patienten, der in waagrechter Verfassung 
Iiegt, behalt man die lotrechte leichter. Die GroBen verwechseln 
oft die Wirkung ihrer Zimmer und Gerate mit ihrer eignen: - 
wenn sie der Gelehrte auf einem Rain, in einem Walde, an einem 
Krautfelde uberfallen konnte: er wuBte sich zu benehmen. Aber 
Viktor war selber in gestickten und mit goldnen Eckenbeschla- 
gen versehenen Zimmern erzogen. Da er den Freund seines Vaters 
in Schmerzen und mit eingepackten Beinen fand : so vertauschte 
er seine britische Unbefangenheit gegen die medizinische und 
fing, anstatt stolze furstliche Fragen zu erwarten, arztliche vor- 

3° zulegen an. Als des Doktors arztliches Beichtsitzen zu Ende war: 
so legte er die Hand, anstatt auf den Kopf des Beichtkindes, auf 
die Bibel daneben und wollte schworen und HeB es - bleiben, 
weil ihm etwas Bess^res einflel, und blatterte - das war ihm ein- 
gefallen - das Gichtbriichigen-Evangelium in der Bibel auf und 
wies auf den Spruch: Steh auf, hebe dein Bette auf; »denn ans Po- 
dagra ist hier gar nicht zu denken«,'sagte er. Er tat ihm dar, seine 



73° HESPERUS 

ganze Krankheit sei Wind, figiirlich und eigentlich gesprochen - 
in den erschlafFten GefaBen haus' er und schleiche sich wie die 
Jesuiten unter alien Gestalten in alle Glieder ein - selber sein 
Schmerz in der Wade sei solcher versetzter Menschen- oder Ge- 
darm-Ather. Der Leibarzt Kuhlpepper ist mit seinem Irrtum iiber 
den Fiirsten zu entschuldigen; denn jeder Arzt muB sich eine 
Universalkrankheit auslesen, wofur er alle andere ansieht, die er 
con amore behandelt, in der er, wie der Theolog in Adams Siinde 
oder der Philosoph in seinem Prinzip, den ganzen Rest ertappet - 
es stand also in dem freien Willen Kuhlpeppers, sich zur Stamm- I0 
Krankheit, die das Nest-Ei und die Mutterzwiebel der Pathologie 
sein konnte, das Podagra - bei Mannern, bei Weibern Flusse - 
auszuklauben oder nicht. Da ers ausgeklaubt, so hat er auch 
suchen miissen, es bei Sr. Durchlaucht zu fixieren wie Pastell oder 
Quecksilber. - Jenner hatte - selber von seiner Kapelle - nie 
etwas Angenehmers gehoret als Viktors Behauptung, die ihn vom 
bisherigen Liegen, Medizinieren und Hungern loshalf. Viktor eilte 
in der Freude iiber die leichte Krankheit zum Rezeptieren davon, 
nachdem er an Trostes Statt behauptet hatte : »ein atherischer Leib 
sei noch mitzunehmen und diene der Seele zwar zu keinem 2C 
himmlischen Grahams-, aber doch zu einem Luftbette, das sich 
selber mache. Nur die armen Weiberseelen lagen - wenn man ihre 
Korper recht betrachte - auf stechenden Strohsacken, glatten 
Husarensatteln und scharfen Wurstschlitten,indes tonsurierte oder 
tatowierte Geister (Monche und Wilde) sich mit so hiibschen, 
von geschabtem Fischbein gepolsterten Leibern 1 zudeckten.« 

- Fort liefer; und ich habe schon berichtet, daB der Apotheker 
nachher dachte: Ei, ei! - In der Apotheke sagte Viktor zum Pro- 
visor, an den er wie Salpeter anflog: »Herr Kollege, was denken 
Sie dazu, wenn wir bei Sr. Durchlaucht auf nichts kurierten als $ c 
Wind? Sie sollen mir raten. Ich meines Ortes wiirde verordnen: 

Pulv. Rhei orient. 
Sem. Anisi Stellati 
- Foeniculi 

1 Geschabtes Fischbein fanden die Briten als das weichste Lager aus . 



17- HUNDPOSTTAG 73 I 

Cort. Aurant- immat. 

Sal. Tart, aa dr. I. 

Fol. Senn. Alexandr. sine Stipit. dr. II. 

Sacchar. alb. Unc. Sem. - 

Fallen Sie mir bei: so nab' ich weiter nichts zu sagen als: C.C. 
M.f.p.Subt.D.ad Scatulam, S.Blahungpulver, einen Teeloffel 
voll ofters zu nehmen bei Gelegenheit.« 

Da ihn der Provisor ernsthaft ansah : so sah er denselbigen noch 
ernsthafter an; und die Arzenei wurde ohne geanderte Dosis be- 

io reitet. Als er fort war, sagte der Proyisor zu seinen zwei stutzen- 
den Pagen: »Ihr zwei dummen Epiglottes, er hat doch so viel 
Verstand und fragt.« 

Im Grunde braucht der Lebensbeschreiber den Umstand gar 
nicht zu motivieren — da ihn das Pulver und der Held motivie- 
ren -, daB Jenner auf die Beine kam noch denselben Tag. 

Da Fiirsten keinen Druck erfahren als den der Luft, die - in 
ihrem Leibe ist : so kannte Jenners Dank fur die Befreiung von die- 
sem Druck so wenig Grenzen, daB er den ganzen Tag den Dok- 
tor - nicht weglieB. Er muBte mit ihm dinieren - soupieren - 

20 reiten - spielen. Im Schlosse wars auszuhalten; es war nicht, 
wie Neros seines, eine Stadt in der Stadt, ein Flachsenfingen in 
Flachsenfingen,sondern bloB eine Kaserne und eine Kiiche, voll 
Krieger und Koche. Denn vor jedes Briefgewolbe voll Schimmel, 
vor jede Stube, wo acht Demanten lagen, vor jedes TiirschloB 
und vor jede Treppe war ein Bajonett mit dem darangehefteten 
Schirm- und Schutzherrn gepflanzt. Die uberzahlige Kuchen- 
mannschaft wohnte und heizte im SchloB, weil Seine Durchlaucht 
bestandig aB. Durch dieses bestandige Essen wollte er sich das 
Fasten erleichtern; denn er ruhrte - weils Kuhlpepper so haben 

50 wollte - von den drei Ritual-Mahlzeiten der Menschen blutwenig 
an und konnte den Hofleuten, die seine strenge Diat erhoben, 
nicht ganz widersprechen. Ein Uhrmacher aus London war ihm in 
dieser MaBigkeit am meisten dadurch beigesprungen, daB er ihm 
eine Bedientenglocke und ein Federwerk verfertigte, dessen Zei- 
ger auf einer groBen Scheibe im Bedientenzimmer stand; das 



732 HESPERUS 

Zifferblatt war statt der Stunden und Monattage mit EBsachen 
und Weinen gerandert. Jenner durfte nur klingeln und drucken: 
so wuBte die Dienerschaft sogleich, ob die Zunge und der Vik- 
tualienzeiger auf Pasteten oder auf Burgunder weise. Dadurch - 
daB er wie eine Miihle klingelte, wenn sein innerer Mensch nichts 
mehr zu mahlen hattte - setzte er sich am leichtesten instand, eine 
strengere Diat zu halten, als wohl Arzte und Sittenlehrer fodern 
konnten, und beschamte mehr als einen GroBen, den man nach 
der Ausweidung im Tode aufs Paradebette legen sollte mit dem 
hungrigen Magen unter dem einen Arm und mit der durstigen l< 
Leber unter dem andern, wie man auch Kapaunen beide Einge- 
weide als Armhute zwischen beide Flugel gibt. 

Im Schlosse war Viktor zu Hause wie in der Kaplanei; denn 
der eigentliche Hof, der eigentliche Hof-Wurmstock und Frosch- 
laich war bloB im Palast des wirklichen Ministers von Schleunes 
ansassig, weil der die Honneurs des Thrones machen mufite, die 
Gesandten, die Fremden einlud u.s.w. Die Furstin wohnte im 
groBen alten SchloB, das Paulmum genannt. So verlebte also 
Jenner seine Tage ohne Prunk, aber bequem, in der wahren 
Einsamkeit eines Weisen, und brachte sie mit Essen, Trinken, 2C 
Schlafen zu ; daher konnte ihn der flachsenfingische Prorektor ohne 
Schmeichelei mit den groBten alten Romern vergleichen, an denen 
wir einen ahnlichen HaB des Gepranges bewundern. Jenner hatte 
im Grunde keinen Hof, sondern ging selber an den Hof seines 
wirklichen Ministers; aber hochst ungern: er konnte da nichts 
lieben, weder die Furstin, die immer da war, noch Schleunes' 
ehelose Tochter, die noch wider sein Londoner Gelubde waren. 

Nachts um 1 2 Uhr hatte Zeusel gern noch darhinter kommen 
wollen, wie alles sei, und brachte dem Leibmedikus seine Nichte 
Marie als Lakaiin zugefuhret. Der Medikus, der keinen Narren '° 
in der Welt zum Narren haben konnte, zumal unter vier Augen, 
steckte dem diinnen Hecht die Raufe voll Wahrheit-Futter, das 
dieser begierig herausfraB wie Ananas. Marie war eine durch einen 
ProzeB verarmte, durch eine Liebe verungliickte Verwandte und 
Katholikin, die in der kalten hoflschen Apothekers-Familie nichts 
empfing und erwartete als Stichwunden der Worte und SchuB- 



17. HUNDPOSTTAG 733 

wunden der Blicke - ihre aufgeloste und erquetschte Seele glich 
der Bruchweide, der man alle Zweige riickwarts mit der bloBen 
Hand herunterstreichen kann - sie fuhlte bei keiner Demiitigung 
einen Schmerz mehr - sie schien vor andern zu kriechen, aber sie 
lag ja immerfort niedergebrettet auf dem Boden. Als der sanfte Vik- 
tor diese demutige, seitwartsgekehrte Gestalt, uber die so viele 
Tranen gegangen waren, und dieses sonst schone Gesicht er- 
blickte, auf welches nicht Leiden der Phantasie ihre reizenden 
Maler-Drucke aufgetragen, sondern physische Schmerzen ihre 
i° Giftblasen ausgeschiittet hatten : so tat seinem Herzen das Schick- 
sal der Menschen wehe, und mit der sanftesten Hof lichkeit gegen 
Mariens Stand, Geschlecht und Jammer lehnte er ihre Dienste ab. 
Der Apotheker wiirde sich selber verachtet haben, wenn er diese 
Hof lichkeit fiir etwas anders als feine Raillerie und Lebensart ge- 
nommen hatte. Aber Viktor schlug sie noch einmal aus; und die 
Arme entfernte sich stumm und, wie eine Magd, ohne Mut zur 
Hoflichkeit. 

Am Morgen brachte ihm die Ausgeschlagene doch sein Friih- 
stiick mit gesenkten Augen und schmerzlich lachelnden Lippen; 
io er hatt* es in seinem Bette gehort, daB der Apotheker und seine 
harten Holztriebe von Tochtern Marien das »lamentable greiner- 
liche Air« vorgehalten und daraus den »refus des raillierenden« 
Herrn oben gefolgert hatten. Ihm blutete die Seele; und er nahm 
Marien endlich an - er machte sein Auge und seine Stimme so 
sanft und mitleidend, daB er beide dem weichsten Madchen hatte 
leihen konnen; aber Marie bezog nichts auf sich. — 

Jenner konnte kaum abpassen, wenn er wiederkame — 

Den dritten Tag wars wieder so — 

So auch die andere Woche — 
3° - Ich wiinschte aber, meine Leser waren um diese Zeit durchs 
nachsenfingische Tor samtlich geritten und diese gelehrte Gesell- 
schaft hatte sich in die Stadt zerstreuet, um Erkundigungen von 
unserem Helden einzuziehen. Der Lesevortrab, den ich auf die 
Kaffeehauser geschickt hatte, wiirde erfahren, daB der neue eng- 
lische Doktor schon den alten gestiirzt - dem Pfarrsohn in 
St. Liine zum Regierratposten verholfen - und daB groBe Ande- 



734 HESPERUS 

run gen in alien Departements bevorstehen. Das unter die Hof- 
Kellerei, -Schlachterei, -Fischmeisterei, -Kastellanei und -Diene- 
rei verteilte TrerTen wurde mir mitbringen, daB der Fiirst dem 
Doktor nicht auf die Finger, sondern auf die Achsel geklopfet - 
daB er ihm vorgestern sein Bilderkabinett eigenhandig gezeigt 
und das beste Stuck daraus geschenkt - daB er in der Komodie 
mit ihm aus der Hauptloge herausgesehen - daB er ihm eine stein- 
reiche Dose geschenkt (die gewohnliche Regenten-Burgerkrone 
und deren Friedenpfeife, als wenn wir Gronlander waren, die sich 
nichts lieber schenken lassen als Schnupftabak) und daB sie mit- * 
einander auf Reisen gehen werden. - Zwei der allerfeinsten und 
stiftfahigsten Leser, die ich aus diesen Kolonnen ausgeschossen, 
und wovon ich den einen ins Paulinum an die Fiirstin, den andern 
zum wirklichen Minister abgefertigt hatte, wiirden mir wenig- 
stens die Neuigkeit rapportieren, daB Fiirst und Doktor mitein- 
ander bei beiden gewesen, und daB beide den Helden fiir einen 
sonderbaren scheuen schweigenden Briton, der alles dem Vater 

verdanke, angesehen hatten 

Aber die letzte Neuigkeit, die mir die Leser erzahlt haben, kon- 
nen sie ja unmoglich wissen, und ich will sie ihnen selber erzahlen. 2 < 
• - Eh* ich das vortrage, klar' ichs nur noch mit drei Worten auf, 
warum Viktor so hurtig stieg. Es kann Evange listen Matthieu 
unter meinen Lesern geben, die dieses schnelle Steigen wie das des 
Barometers fiir das Zeichen eines friihen Fallens nehmen - welche 
sagen, Lorbeere und Salat, den man in 24 Stunden durch Spiritus 
auf einem Tuche zum Reifen notigt, welken ebensobald wieder 
ab - ja die sogar spaBen und das fiirstliche Gedarm mit seinem 
Ather fur eine Fisch-Schwimmblase meines Helden ausgeben> der 

nur durch ihr Fiillen stieg. Berghauptmanner lachen solche 

Leser aus und halten ihnen vor; daB die Menschen, besonders die 3< 
Residenten auf Thronen, einen neuen Arzt fiir ein neues Spezifi- 
kum ansehen - daB sie einem neuen am meisten gehorchen - daB 
Sebastian das erstemal sich gegen jeden am feinsten betrug, hin- 
gegen bei alten Bekannten ohne Not nichts Witziges sagte - daB 
Jenner jeden liebte, den er zu durchschauen vermochte, und daB 
er glucklicherweise meinen Helden bloB fiir einen heitern Lebe- 



J7> HUNDPOSTTAG 735 

lustigen erkannte und urn seinen Kopf keine Bosische Beatifika- 
tion x bemerkte, die nach Phosphor stinkt und schmerzliche Fun- 
ken auswirft - daB Viktor nicht wie Le Baut ein Scherbengewachs 
in einer Krone war, sondern eine dariiber erhohte, im Freien han- 
gende Hyazinthe - daB er heiter war und heiter machte — und daB 
ein anderer Berghauptmann mit seinen Lesern gar nicht so viel 
Umstande gemacht haben wtirde als ich. Er hatte ihnen bloB den 
Hauptumstand gesagt, daB der Fiirst an Viktor eine bezaubernde 
Ahnlichkeit mit seinem funften (auf den sieben Inseln ver- 

io lornen) Sohn, dem Monsieur, im Scherzen und Betragen gefun- 
den und liebgewonnen hatte, und daB er diese Bemerkung schon 
in London, obgleich Viktor fiinf Jahre jiinger als jener war, ge- 
macht. 

Jenner wollte selber seinen Liebling jedem vorstellen, also auch 
der Fiirstin. Die Philosophen haben es zu erklaren, warum Se- 
bastian sich nicht eher, als bis er neben dem furstlichen Eheherrn 
auf dem Kutschkissen saB, auf das tolle verliebte Streifchen Papier 
besann, das er in Kussewitz tiber den Imperator der montre a re- 
gulateur aufgeklebt und der Fiirstin zum Kaufe dareingegeben 

2° hatte. Er fuhr zusammen und hielts fiir unmoglich, daB er ein 
solcher Narr sein konnen. Aber einem Menschen ist so etwas 
leicht. Seine Phantasie Warf auf jede Gegenwart, auf jeden Einfall 
so viel Brennpunkt-Lichter aus tausend Spiegeln zuriick und zog 
um die Zukunft, die dariiber hinauslag, so viel gefarbten Schatten 
und blauen Dunst herum, daB er ordentlich erschrak, wenn ihm 
eine narrische Handlung einfiel; denn er wuBte, wenn er sie noch 
zehnmal zuriickgewiesen und noch dreiBigmal iibersonnen hatte, 
daB er sie dann - begehen wiirde. - Da beide vor die Fiirstin 
traten: so war Viktor in jener angenehmen Verfassung, welche 

30 Informatoren und jungen Gelehrten nichts Neues ist, die ihnen 
die Glieder verknochert und das Herz zersetzt und die Zunge ver- 
steinert - nicht die GewiBheit, daB Agnola (so hieB die Fiirstin) 
jenes Uhr-Inserat gelesen habe, machte ihn so verlegen, sondern 
die UngewiBheit. In der Angst dachte er gar nicht daran, daB sie 
ja seine Handschrift und den Autor des Schnitzchens nicht einmal 
1 So heiBet der Schimmer um den Kopf, wenn man elektrisiert ist. 



73^ HESPERUS 

kenne; und denkt man auch in der Angst daran, sp geht sie doch 
nicht weg. 

- Aber alles war zugleich uber, unter, wider seine Erwartung. 
Die Fiirstin hatte das empfindsame Gesicht mit <\er Reisekleidung 
weggelegt und ein festes feines Galagesicht dafur aufgetragen. 
Der gekronte Ehevogt Jenner wurde von ihr mit so viel warmem 
Anstand empfangen, als war' er sein eigner - Ambassadeur vom 
ersten Range. Denn Jenner, dessen Herzscheibe sich am elektri- 
sierenden Kigsen einer schonen Wange oder eines Busentuchs voll 
Funken Iud, hatte eben deswegen gegen Agnola, mit der er bloB " 
der Politik wegen die Konkordaten der Ehe abgeschlossen, alle 
Warme seines— Monatnamens. Gegen Viktor, den Sohn ihres 
Erbfeindes, den Nachfahrer des Hausdiebes der furstlichen Gunst, 
hegte sie, wie leicht zu erachten, wahre - Zartlichkeit. Unser 
armer Held — betroffen uber Jenners Kalte, fiir die er sich von der 
Gemahlin eben keine sonderliche Warme gegen sich selber ver- 
sprach — betrug sich so ernsthaft wie der altere und jungere Kato 
zugleich. Er dankte Gott (und ich selber), daB er forikam. 

Aber unter dem ganzen Wege dachte er: »Hatt' ich nur mein 
Sendschreiben aus dem Uhr-Kuvert heraus! Ach ich tate dann ^ 
alles, arme Agnola, dich zu versohnen mit deinem Schicksal und 
mit deinem Gemahl !« - »Ach St. Liine,« - (setzte er unter dem Vor- 
beifahren vor dem Stadtsenior hinzu) — »du friedlicher Ort voll 
Blumen und Liebe! Die Hatzpachtung versendet deinen Bastian 
von einem Hatzhaus ins andre.« 

Denn er muBte hoflichkeithalber doch auch zum wirklichen 
Minister - und Jenner nahm ihn mit. Dorthin ging er mit Lust, 
gleichsam wie in ein Seegefecht oder in ein Kontumazhaus oder 
in den russischen Eispalast. 

Mobeln und Personen waren in Schleunes' Hause vom feinsten 3< 
Geschmack. Viktor fand darin von den Wackelfiguren und Hof- 
leuten an bis zu den Basaltbusten alter Gelehrten und zu den Pup- 
pen der Schleunesschen Tochter, vom geglatteten FuBboden bis 
zu den geglatteten Gesichtern, vom Puderkabinett bis zum Lese- 
kabinett - beide schminkten den Kopf schon im Durchmarsch -, 
kurz, iiberall fand er alles, was die Prachtgesetze je - verboten 



17- HUNDPOSTTAG 737 

haben. Seine erste Verlegenheit bei der Fiirstin gab ihm die 
Stimmung zu einer zweiten. Es war der alte Viktor gar nicht mehr. 
Ich weiB voraus, daB ihn die loblichen Schullehrer am Marianum 
in Scheerau dariiber hart anlassen werden - zumal der Rektor -, 
daB er so wenig Welt hatte, daB er dort witzig ohne Munterkeit, 
gezwungen-frei ohne Gefalligkeit, zu beweglich mit den Augen, 
zu unbeweglich mit andern Gliedern war. Aber man muB diesen 
Hok und Schulleuten vorstellen: er konnte nichts dafiir. Der 
Rektor selber wiirde so gut wie Viktor verlegen gewesen sein vor 

o der schongeisterischen Ministerin, die zwar Meusel noch nicht, 
aber doch der Hof in sein gelehrtes Deutschland gesetzt - vor 
ihren spottsiichtigen Toch tern, zumal vor der schonsten, die Jo- 
achime hieB - vor einigen Fremden - vor so viel Leuten, die ihn 
haBten vom Vater her, und die ihn beobachteten, um sein Ver- 
haltnis mit dem Fiirsten zu erklaren und zu rechtfertigen - vor 
der Fiirstin selber, die der Henker auch da hatte — vor Matthieu, 
der hier in seinem Element und in seiner Hauptrolle.und Bravour- 
arie war - und vor dem Minister. - Zumal vor dem letzten: Vik- 
tor fand an diesem einen Mann voll Wiirde, dem die Geschafte 

o die Artigkeit nicht nahmen, noch das Denken den Witz, und den 
eine kleine Ironie und Kalte nur noch mehr erhoben, der aber 
Gefiihl, Gelehrte und die Menschen zu verachten schien. Viktor 
dachte sich iiberhaupt einen Minister - z.B. Pitt - wie einen 
Schweizer-Eisberg, an welchen oben Wolken und Tau als Nah- 
rung anfrieren, der die Tiefe driickt und im Wechsel zwischen 
Schmelzen und Vereisen unten groBe Fliisse aussendet, und aus 
dessen Kluften Leichname steigen. 

Jenner selber wurde unter ihnen nicht recht froh ; was halfen 
ihm die feinsten Gerichte, wenn sie durch die feinsten Einfalle 

o verbittert wurden? Der Spieltisch war daher - zumal bei der 
friedlichen Landung seiner Gemahlin - sein ruhiger Ankerplatz; 
und sein Viktor war dasmal auch froh, neben ihm zu ankern. 
Mein Korrespondent meint, den Stimmhammer zu diesem iiber- 
feinen, dreimal gestrichenen Ton drehte bloB die Ministerin, die 
alle Wissenschaften im TCopfe und zwar auf der Zunge hatte und 
deswegen wochentlich ein bureau d'esprit hielt. In dieser lacher- 



738 HESPERUS 

lichen Verfassung verspielte Sebastian seinen Abend und ver- 
schluckte sein Souper : er konnte gut erzahlen, aber er hatte nichts 
zu erzahlen — in den wenigen Contes, die ihm beiwohnten, war 
alles namefilos, und dem Zirkel um ihn waren gerade die Namen 
das erste - seine Laune konnt' er auch nicht gebrauchen, well so 
eine wie die seinige den Inhaber selber in ein sanftes komisches 
Licht stellet, und weil sie also nur unter guten Freunden, deren 
Achtung man nicht verlieren kann, aber nicht unter bosen Freun- 
den, deren Achtung man ertrotzen muB, in ihren Sokkus 
und Narrenkragen fahren darf — er geno fi nicht einmal das * 
Gliick, innerlich alle auszulachen, weil er keine Zeit dazu hatte, 
und weil er die Leute nicht eher lacherlich fand als hinter ihrem 
Riicken. — 

Verdammt iibel war er dran — »Ich komm* euch sobald nicht 
wieder«, dachte er — und als der Mond durch die zwei langen Glas- 
turen des Balkons, der auf den Garten hinaussah, mit seinem 
tfaumerischen Lichte einging, das drauBen auf stillere Wohnun- 
gen, schonere Aussichten und ruhigere Herzen fiel: so schlich er 
(da seine Spiel-Maskopeigesellschaft durch den Fursten nach dem 
Essen zertrennt war) auf den Balkon hinaus, und die auf der Erde * 
und am Himmel blinkende Nacht erhob seine Brust durch groBere 
Szenen. Mit welcher Liebe dachte er da an seinen Vater, dessen 
philosophische Kalte dem Jennerschnee gleich war, der die Saat 
gegen Frost bedeckt, indes die hofische dem Marzschnee ahn- 
licht, der die Keime zerfrisset! Wie sehr warf er sich jeden unzu- 
friedenen Gedanken gegen seines rechtschaffenen Flamins kleinen 
Mangel an Feinhek vor! O wie richtete sich sein innerer Mensch 
wie ein gefallener und begnadigter Engel auf, da er sich Emanuel 
an der Hand Klotildens dachte, der ihn selig fragte: »Wo fandest 
du heute ein Ebenbild von meiner Freundin?« - Jetzo sehnte er 3 
sich unaussprechlich in sein St. Liine zurtick .... 

Seine steigenden Herzschlage hielt auf einmal Joachime an, die 
mit einem ins Zimmer gerichteten Gelachter herauskam. Da es 
ihr schwer fiel, nur eine Stunde zu sitzen (mich wundert, wie sie 
eine ganze Nacht im Bette blieb), so machte sie sich, sooft sie 
konnte, vom StangengebiB des Spieles los. Die Furstin band sie 



17- HUNDPOSTTAG 739 

dasmal ab, die wegen ihrer kranken Augen diese Nachtarbeit der 
GroBen aussetzte. Joachime war keine Klotilde, aber sie hatte 
doch zwei Augen wie zwei Rosensteine geschliffen - zwei Lippen 
wie gemalt - zwei Hande wie gegossen - und uberhaupt alle 
Glieder-Doubletten recht hubsch .... Und damit halt ein Hofarzt 
schon Haus; wenn auch die einfachen Exemplare (Herz, Kopf, 
Nase, Stirn) keiner Klotilde zugehoren. Da er nun unter dem 
groBen Himmel seinen Mut und auf dem Balkon, der fur ihn alle- 
mal ein Sprachzimmer war, seine Zunge wiederbekam - da Jo- 

IO achimens Ton ihn wieder in seinen zuruckstimmte - da sie das 
Schweigen der Briten antastete und er die Ausnahmen vertei- 
digte - da er jetzt am Faden der Rede sich wie eine Spinne hinauf- 
und hinablassen konnte und nicht mehr zu storen war durch die 
Fiirstin, die nachgekommen war, um die entziindeten Augen in 
der Nacht abzukiihlen - und da man nur dann klagt, Langweile 
zu empfinden, wenn man bloB selber eine macht — und da ich 
alles dieses hersetze, so tu* ich (glaub* ich) einem Rezensenten 
genug, der hinter dem Kutschkasten des Fiirsten steht und nach- 
sinnt und wissen will, woran er sich (auBer den Lakaienriemen) 

to zu halten habe, wenn unter ihm Viktor im Wagen wahrend des 
Heimfahrens des Ministers Haus nicht zum Teufel wiinscht, son- 
dern zufriedner denkt: meinetwegen! — 

Dem Fiirsten schlug der Umgang Viktors so gut zu, daB er 
sich vorstellte, er konne ihn so wenig wie ein Stiftfraulein das 
Ordenzeichen auBer Hause vom Leibe tun. Er stiirzte allezeit den 
Ordenkelch und Willkommen des warmen Sprudels einer neuen 
Freundschaft so unmafiig hinein wie ein Gast in Karlsbad den 
seinen. Wenn er Langweile hatte, wurde der Medikus ersucht, 
zu kommen, damit sie wiche; wenn er innern Jubel spiirte, wurde 

o jener wieder angefleht, zu erscheinen, damit er den Jubel mit- 
genosse. Nur die Zeit, wo Jenner weder Langeweile noch das 
Gegenteil empfand, blieb seinem Freunde ganz zu freier Ver- 
wendung. Viktor hatte vorher geschworen, leicht abzuschlagen, 
und auf die Leute losgezogen, die bewilligten; jetzt sagt' er aber: 
»Der Teufel sage Nein! Es komra' nur ein Mensch erst in die 
Lage!« — Und so muBte der arme Viktor lauter leere Kreise voll 



740 HESPERUS 

Schwindel im Hof-Zirkel des Thrones beschreiben, unter Men- 
schen, flir deren Ton er leichter ein Ohr als eine Zunge hatte, und 
die er erraten und doch nicht gewinnen konhte. 

Ein Jiingling, in dessen Brust die Nachtstiicke von Maiendial 
und St. Liine hangen - oder einer, der aus einem Baddorfchen an- 
langt - oder einer, der vorhat sich zu verlieben - oder einer, der 
in groBen Stadten oder in ihren groBen Zirkeln ein mufliger Zu- 
schauer sein muB, jeder von diesen ist schon fur sich auch ein mift- 
vergnugter darin und sto Bet in seine kritische Pfeife so lange gegen 
die spielende Gesellschaft, bis sie ihn selber — anwirbt. Kommen re 
aber alle diese Ursachen gar in einem einzigen Menschen zusam- 
men; so weiB er gegen seine Gallenblase keinen Rat und keinen 
Gallengang, als daB er feines Papier nimmt und an die Eyman- * 
nischen in St. Liine einen verdammt spottischen Brief iiber das Ge- 
sehene ablaBt. 

Mein Held HeB folgenden an den PfaTrer ab: 

»Mein lieber Herr Adoptiv-Vater! 

- Ich hatte bisher nicht so viel Zeit iibrig, um die Augen aufzu^ 
heben und zu sehen, was wir flir einen Mond haben. Wahrhaftig, 
einem Hofe fehlts zur Tugend schon — an Zeit. Der Furst fuhrt zc 
mich iiberall wie ein Riechflaschchen bei sich und zeigt seinen 
narrischen Doktor vor. Mich werden sie bald nicht ausstehen 
konnen, nicht weil ich etwan etwas tauge - ich bin vielmehr fest 
versichert, sie ertriigen den tugendhaftesten Mann von der Welt 
ebensogut wie den schlimmsten, und das bloB, weil er ein Angli- 
zismus, ein homme de Fantaisie, ein Naturspiel ware — , sondern 
weil ich nicht genug rede. Geschaftleute bekiimmern sich um 
keinen Gesprach- und keinen Briefstil; aber bei Hofleuten ist die 
Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwung- 
feder ihrer Seelen ; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts 3* 
als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht, 
sie haben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre MeB- 
geschafte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eihe Spiel- und ihre 
Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Phy- 



17- HUNDPOSTTAG 74I 

siognomie. Daher miissen sie fremde Fehler den ganzen Tag in 
Ohren haben gegen die schlaffe Weile, wie die Arzte die Kratze 
einimpfen gegen Dummheit: ein Hofstaat ist das ordentliche 
Pennypostamt der klsinsten Neuigkeiten, sogar von euch Biir- 
gerlichen, wenn ihr gerade etwas recht - Lacherliches getan habt. 
Zu wiinschen ware, wir hatten Festins, oder Spielpartien, oder 
Komodien, oder Assembleen, oder Soupers, oder etwas Gutes zu 
essen, oder irgendeine Lustbarkeit; aber daran ist nicht zu denken 
- wir haben zwar alle diese Dinge, aber nur die Namen davon; 

to der Kammerprasident wiirde die Achsel zucken, wenn wir nur des 
Jahrs viermal so glanzend frohlich sein wollten, als Sie es des 
Monats viermal sind. Da Unsere Woche aus sieben Sonntagen be- 
steht: so sind unsere Lustbarkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit- 
Abschnitte, auf die niemand achtet, und ein Festin ist nichts als 
ein Spielraum der Plane, die jeder hat, das Brettergerust seiner 
Hauptrolle und die Jahrzeit der fortgesetzten Intnge gegen Opfer 
der Liebe oder des Ehrgeizes. Hier ist jede Minute eine stechende 
Moskite, und der Distelsame des schongefarbten Kummers fliegt 
weit herum. 

to Viele Weiber sind da gut und Anhanger des Linnaus, und ihre 
Augen ordnen die Manner botanisch nach seinem schonen ein- 
fachen Sexualsystem; sie machen unter tugendhafter und laster- 
hafter Liebe einen groBen Unterschied, namlich den des Grades 
oder auch der Zeit; und die Beste spricht oft daruber wie die 
Schlimmste^ und die Schlimmste wie die Beste. Indessen gibts hier 
weibliche Tugend und mannliche Treue in ihrer Art- aber einem 
Pfarrer ist davon kein Begriffbeizubringen; denn diese zwei Ge- 
leen oder Gallerte sind so zart und weich, daB ich sie, wenn ich sie 
auch von alien Stufen des Throns hinuntertragen wollte in die 

jo Kaplanei, doch so verdorben und anbnichig hinabbrachte, daB 
man ihnen drunten die zwei entgegengesetzten Namen geben 
wiirde, fiir die wir doch schon unsre besondern Gegenstande 
oben haben. Die Biirgerlichen wiirden unsere bejahrten Manner 
in der Liebe lacherlich finden, und diese euere Tochter. - Was mir 
aber dieses gliickliche Hofleben oft versalzet, ist der allgemeine 
Mangel an Verstellung. Denn hier glaubt keiner, was er hort, und 



742 HESPERUS 

denkt keiner, wie er aussieht; alle miissen nach den ordentlichen 
Spielgesetzen, gleich den Karten, eineilei obere Seite haben und 
auBere Gesichtstille auf inneres Gliihen decken, wie der Blitz nur 
den Degen, aber nicht die Scheide zerstort. - Folglich kann, da 
eine allgemeine Verstellung keine ist und da jeder- dem andern 
Gift zutraut, keiner belilgen y sondern jeder nur uberlisten; nur der 
Verstand, nicht das Herz wird beruckt. Inzwischen ist, die Wahr- 
heit zu sagen, das keine Wahrheit; denn jeder hat zwei Masken, 
die allgemeine und die personliche. Obrigens werden die Farben, 
die auf den wissenschaftlichen, feinen und menschenliebenden k 
Anstrich des AuBern verbraucht werden, notwendig vom Innern 
abgekratzet, aber zum Vorteil, da am Innern nicht vkl ist, und das 
Studium des Scheins verringert das Sein; so sah ich oft im Walde 
Hasen liegen, an denen kein Lot Fleisch war und kein Tropfen 
Fett, well alles von dem ungeheuern Haarpclz weggesogen war, 
der nach dem Tode fortgewachsen. 

Wenn man den Inhalt des Throns und des platten Pobel-Lan- 
des vergleicht, so scfyeinet die physikalische und moralische Er- 
habenheit der Menschen im umgekehrten Verhaltnis mit der ihres 
Bodens zu stehen, so wie die Einwohner der Marschlander groBer 2< 
sind als der Berglander. Aber gleichwohl tragen jene erhabnen 
Leute den Staat leicht auf Schmetterlingflugeln, uberschauen sein 
Raderwerk mit dem hundertaugigen Papillon-Auge und beschir- 
men mit einem Spazierstockchen das Volk vor Lowen, oder jagen 
damit die Lowen in dem Volk, wie in Afrika Hirtenkinder mit 
einer Peitsche naturhistorische Lowen vom Weidevieh ab- 
schrecken . . . Lieber Herr Hof kaplan ! diese Satire schmerzte mich 
schon auf der vorigen Seite; aber man wird hier boshaft, so wie 
eitel, ohne zu wissen wann, jenes, weil man zu sehr auf andere, 
dieses, weil man zu sehr auf sich merken muB. Nein! Ihr Garten,' 3< 
Ihre Stube ist schoner; da gibt es keine steinerne Brust, an der 
man dieArme und Adern der Freundschaft kreuzigt wie einSpa- 
liergewachs; da muB man sich nicht taglich wie ich zweimal ra- 
sieren lassen und dreimal frisieren; da darf man doch seinen ge- 
wichsten Stiefel anzieheh. Schreiben Sie Ihrem Adoptivsohne 
bald — denn ich schlage mir das Fest Ihres Besuchs noch ab. - 



17- HUNDPOSTTAG 743 

Sind viel Kindtaufen und Leichen? - Was macht der Fuchs und 

der taube Balgtreter? - Eben wird jetzo der Morser statt Ihrer 

Ratten-Trommel unter mir geruhrt. — Leben Sie wohl. 

Und Sie griiB' ich jetzt erst, geliebte Mutter! Meine Hand ist 

warm, und in meinem Herzen klopfen ein paar Seelen, weil jetzt 

Ihr Angesicht voll mutterlicher Warme alle meine satirischen Eis- 

spitzen bescheint und in warmes Blut zerschmelzt, das fiir Sie 

schlagen und fiir Sie flieBen will. Wie tut es so wohl, wieder zu 

lieben! Ihr zweiter Sohn (Flamin) ist gesund, aber zu fleiBig, und 

io gegenwartig in St. Liine. GriiBen Sie meine Schwestern und alles, 

was Sie liebt. , 

Sebastian.« 

* 

Er hob den Brief auf, um den Regierrat, der seine Person mit 
haben wollte, doch mit einer Fracht abzufertigen. 

Indessen wurden seine und Jenners gemeinschaftliche Besuche 
mit ihren Theaterknoten zu ganz andern Nervenknoten der 
Freundschaft zwischen Jenner und ihm - und zugleich machten sie 
den Ruf dieser Freundschaft groBer. In St. Liine, in Le Bauts 
Hause, wurde dreimal mehr daraus gemacht, als daran war - im 

20 Pfarrhause neunmal. 

Dazu kam eine Kleinigkeit, namlich eine Schlagerei - eigent- 
Hch zwei. Ich habe den Vorfall vom Spitz, Viktor ihn von Flamin, 
dieser von Matthieu, in dessen edlem historischen Stil er hier der 
Nachwelt iibergeben werden kann. Der Evangelist schamte sich 
keines Burgerlichen, sobald er ihn zum Narren haben konnte. Da- 
her besuchte er den Hofapotheker ohne Bedenken. Diesem, der 
den Kasernenmedikus Kuhlpepper wegen seiner stolzen Grob- 
heit und wegen der untern Note 1 innig haBte, hatte Matthieu langst 
versprochen, den Doktor zu stiirzen. Da der letzte und das Poda- 

30 gra durch Viktor wirklich von Jenners FiiBen vertrieben waren: 
so lieB der Evangelist dem Apotheker merken, er selber wurde 

1 Kuhlpepper tat ihm nie den Gefallen, um den er ihn so oft bat, daC er 
dem Fursten ein Klistier verordnete, welches alsdann der Apotheker selber 
gesetzet hatte, um nur einmal dem Regenten Bei^ukommen und dessen 
schwache Seite in seine eigne Sonnenseite zu verwandeln. 



744 HESPERUS 

ohne dessen Wink und Wiinsche weit weniger zum Falle Kuhl- 
peppers beigetragen haben, als er getan. Zeusel - zumal da er den 
Nachfahrer des Kasernenmedikus im Hause hatte - kam nach 
einigen Tagen mit der gewissen Oberzeugung aufs Billard, dafi 
er aus seiner Apotheke heraus Kuhlpeppern das unsichtbare Bein 
untergestellet und ihn von den Thronstufen herabgeworfen. 
Dort war zum Ungluck der Kasernenmedikus selber und der edle 
Matz. Zeusel kam auf diesem Theater mit den Festons von drei 
Uhrketten an — mit einem Paar Hosen, auf deren Knien einige 
Arabesken gedruckt waren - mit einer doppelten Weste, doppel- k 
ten Halsbinde und im Gesicht mit doppelten Ausrufzeichen uber 
den Kasernenmedikus - seine Geldborse saB gerade unter dem 
heiligen Bein, weil er, wie einige Englander, die Hosentasche in 
die Gegend der Hosenschnalle hatte verstecken lassen. Er hatte 
als Kammermohren seinen hagern langen Provisor mit, der im 
Neben-Trinkzimmer auf den sehr kurzen Provisor der zweiten 
oder Kanaillen-Apotheke, stieB. Der kurze Provisor folgte aus 
HaB dem langen iiberall, bloB um ihn zu argern; aber diesesmal 
war er bloB vom Lande zuriick mit einigen von Wiedergenesen- 
den einkassierten Hiihnereiern. *< 

Matthieu nahm sich - nach einem exegetischen Wink an Zeusel 
- die Freiheit, uber das furstliche Podagra Kuhlpeppers Meinung 
zu sein. Kuhlpepper, der ein alter Deutscher sein wollte - solche 
alte Deutsche konnen sich nie im Zorn, aber recht gut aus Eigen- 
nutz verstellen -, feuerte ab und sagte, der englische Doktor sei 
ein ganzer Ignorant. Zeusel faBte mit einem weiten Lacheln wie 
mit einem Buchdruckerstock seine hofische Verachtung gegen den 
groben Mann ein. Der Medikus sah wie der Gleicher, der Apo- 
theker wie Spitzbergen aus. Jetzo wurde bloB uber das Podagra 
geturnt. Der Kampfwarter und Turniervogt Matthieu gab zu ver- n 
stehen, »Zeusel liebe zwar seinen Fiirsten und Herrn, aber er 
wiinsche doch, daB diese Liebe die besten Mittel und die heil- 
samsten Einflusse gehabt.« - »In den H-« (sagte Kuhlpepper) 
»kann der da EinfluB haben. « - Als sich der Apotheker.deswegen 
stolz und verachtlich in die Hohe richtete : driickte ihn der Dok- 
tor langsam auf den Stuhl und auf seinen Geldbeutel nieder, und 



17. HUNDPOSTTAG 745 

die auf die Achsel eingeschlagne Hand nagelte den kleinen Zier- 
ling samt der Borse an den Sessel an. 

Diese Befestigung verdroB den Schneidervogel am meisten, 
und er versetzte, in die Hohe wollend: »noch heute wiirde er, 
wenn er zu Rate gezogen wiirde, Sr.Durchlaucht die jetzige bes- 
sere Wahl anraten.« Der Kasernenmedikus mochte vielleicht die 
Hand zu hurtig von der Achsel abdecken ; denn er bestrich damit, 
wie mit einer Kanone, die Nase seines Gegners, worauf diese ein 
Blut wie der heilige Januar entlieB. Der Evangelist bedauerte es 

ro fur seine Person, »daB zwei so verstandige Manner sich nicht mit- 
einander entzweien und schlagen konnten ohne personlichen HaB 
und ohne Hitze, da sie gleich kriegenden Fiirsten sich ohne beides 
anfallen konnten - aber das Bluten bestatige Zeusels Wallung zu 
sehr«. - Zeusel rief zum Doktor: »Sie Grobian!« - Dieser nahm 
im Grimme wirklich die Matthaische Meinung an, jener blute nur 
aus Grimm, und verglich ihn mit den Kadavern, die in alten Zei- 
ten zwar bei Annaherung des Morders bluteten, aber bloB aus 
ganz natiirlichen Ursachen. Der Medikus suchte also seinen 
gleich einem Fiirsten oben vergoldeten Stecken auf und beur- 

io laubte sich mit der gekronten Stange, indem er sie einige Male 
gleichsam magnetisch-streichend iiber Zeusels Finger fiihrte; 
aber ich wiirde den Stab, wenn ich an der Stelle anderer Leute 
ware, weder ein Horrohr fur Zeuseln nennen, das der Arzt an ihn, 
wie man Schwerhorigen ofters tut, anstieB, damit dieser besser 
horte, noch auch einen Turklopfer, den er der Wahrheit vor- 
streckte, damit sie leichter in den Apotheker einkonnte: sondern 
er wollte bloB seine Finger notigen, das Schnupftuch fallen zu 
lassen, damit er lhm ins Gesicht beim Abschied schauen konnte, 
den er in die schonende Wendung kleidete: »Sag Ers Seinem 

jo Doktor, er und Er da, ihr seid die zwei groBten Stocknarren in 
der Stadt.« 

Vor den letzten Worten verhielten sich beide Provisores ruhig 
genug, nicht mit der Zunge - denn der lange Pro visor sang als 
zweites Chor mit demselben Kriegsliede den kurzen an und war 
echter Anti-Podagrist -, sondern sonst. Wer iiberlegt, daB der 
lange meinen Helden wegen seiner Hoflichkeit liebte und den 



746 HESPERUS 

kurzen nicht leiden konnte, weil Kuhlpepper alles bei diesem 
verschrieb, der wiirde von dem Paare nichts Geringers erwarten 
als den Widerschein des Billardzimmers; aber der lange Provisor 
war gesetzt und breitete erhebliche Wahrheiten nie wie Portugal 
mit Blute aus, sondern er nahm - sobald der Kasernenmedikus 
den Hofmedikus einen Stocknarren genannt hatte - still den Hut 
des kurzen Provisors, der in solchen des Zerknickens wegen seine 
Eier-Gefalle niedergelegt hatte, und setzte besagte Eier dem 
Professionverwandten ohne Ingrimm auf; und mit geringem 
Druck paBte er den Doktorhut, der eine halbe Elle zu hoch saB, ic 
seinem Freunde - um so mehr, da auch Kastor und Pollux Eier- 
schalen aufhatten - promovierend recht an und ging fort, ohne 
eben viel Dank fur das aufgesetzte Filz-Gefullsel und den flieBen- 
den Gesicht-Umschlag haben zu wollen. 

Schlagereien breiten kleine, wie Kriege groBe Wahrheiten aus. 
Der Hof kaplan Eymann sandte ein langes Gluckwunschschreiben 
an Viktor und hieB ihn »Jenners Nierenlenker« und bat um seinen 
Besuch. Eia»Ranzenadvokat« klopfte bei ihm wie bei einer hdhern 
Instanz an und bat ihn um eine furstliche Einschreitung gegen das 
Regierkollegium. Der Apotheker halt mit seinem Gesuch um ein *c 
Lavement noch zuriick. 

Viktor sparte sich noch den ersten Besuch in St. Liine auf wie 
eine reifende Frucht und argerte dadurch den Regierrat, der ihn 
hjnbereden wollte. Aber er sagte: »Die Hinterbliebenen eines 
Orts sehnen sich nach dem, der daraus fort ist, so lange unbe- 
schreiblich, bis er den ersten Besuch gemacht, so wie er auch. 
Nach dem ersten passen beide Parteien ganz gesetzt und kalt den 
zweiten ab.« - Was er nicht sagte und dachte, aber fuhlte und 
furchtete, war: daB seine Halbgottin Klotilde, die das Allerheilig- 
ste in seiner Brust bewohnte, und die seiner Seele durch ihre Un- 3< 
sichtbarkeit teurer, notiger und eben darum gewisser geworden 
war, ihm vielleicht bei ihrer Erscheinung alle Hoffnungen auf 
einmal aus seinem Herzen ziehe. - 

Es war am Abend des empfangenen Eymannischen Briefes, wo 
er so phantasierte : » Wenn doch Jenner nur so gesund bliebe ! - 
Er muB Bewegung haben, aber eine ungewohnte - der Reiter 



1 8. HUNDPOSTTAG 747 

muB gehen, der FuBganger fahren. - Wir sollten miteinander zu 
FuB durchs Land ziehen, verkleidet. - Ach ich konnte vielleicht 
manchem armen Teufel niitzen - wir schlichen heimwarts durch 
St. Liine — Nein, nein, nein«. . . 

Er erschrak selber vor einem gewissen Einfall - denn er be- 
sorgte, er wurde ihn, da er ihn einmal gehabt, auch ausfuhren, da- 
her sagte er dreimal Nein dazu. Der Einfall war der, den Fiirsten 
zu Klotildens Eltern hinzubereden. - Es half aber nichts: es fiel 
ihm bei, daB sein Vater ein zu strenges Rugegericht iiber den 
> Kammerherrn und den Minister gehalten - »Was will mir Le Baut 
schaden ! Wenn ich dem armen Narren nur drei Sonnenblfcke von 
Jenner zuwendete! - Das Gescheiteste ist, ich denke heute nicht 
mehr daruber nach.« 

Der Hund wird uns Antwort bringen; ich meines Ones wette- 
ein feiner Menschenkenner auf meiner Insel wettet hingegen, der 
Held macht diesen SpaB — , daB er ihn nicht macht. 



18. HUNDPOSTTAG 

Standeserhohung Klotildens - Inkognito-Reise - Bittschrift der Oberjager- 
meisterei - Konsistorialbote - Vexierbild der Flachsenfinger 

to Freilich macht* er ihn, den SpaB; aber ich verlier' im Grunde 
nicht. Denn es war so : vom Tage an, wo Doktor Kuhlpepper vor 
der vollbliitigen Nase Zeusels mit seiner groben Hand wie mit 
einem elektrischen Auslader vorbeigegangen war, drangte sich 
der Mann mit drei Uhren an meinen Helden, der nur eine und 
noch dazu des Zeidlers plumpe trug. Zeusel dankte uberhaupt 
Gott, wenn sich nur ein Hoffurier bei ihm betrank und der Hof- 
dentist uberfrafi. Er kam immer mit gewissen geheimen Nach- 
richten, die zu publizieren waren. Er behielt nichts bei sich, und 
hatte man ihn unter seine Apotheke zu hangen gedrohet. Er sagte 

o unserm Helden, daB der Minister urn die Stelle der zweiten Hof- 
dame fur seine Joachime bei der Fiirstin werbe, die sich bloB die 
weibliche Dienerschaft selber wahlen durfte - daB jener aber es 



748 HESPERUS 

nicht geradezu tun diirfe, weil er oder sein Soha MattKieu dem 
Kammerherrn Le Baut versprochen, die namliche Stelle Klotilden 
zu verschafFen — er bat also meinen Helden, der, wie er sehe, 
Matthieus Freund sei, ihm die Verlegenheit zu ersparen und den 
Fiirsten zu bewegen (welches nur ein Wort koste), daB dieser 
selber bei der Fiirstin die Bitte umjoachime einlege - die Fiirstin, 
die ohnehin den Minister protegiere, wurd' es aus mehr als einem 
Grunde mit Freuden tun, und der Minister konnte dann nichts 
dafur, wenn der Kammerherr, der Feind des Lords, leer ausginge. - 

Der Tropf, sieht man, hatte bio 6 aus den zwei eingefangnen i< 
Nachrichten der zwei Amt-Werberinnen den ganzen iibrigen 
Rechtgang erraten, und selber der Umstand, den ihm Matthieu 
entdeckte, daB der Minister einen Viertels-Flugel seines Palastes 
fur eine Freundin seiner verstorbnen Tochter Giulia raume, hatte 
ihn nur mehr befestigt. So sehr ersetzt Bosheit nicht nur Jahre, 
sondern auch Nachrichten und Scharfsinn. 

Mein Held konnte ihm nichts sagen als: er glaube nichts 
davon. Aber in drei einsamen Minuten glaubte er alles - denn 
deswegen, sah er, muBte die liebe Klotilde gerade bei der Er- 
scheinung der Fiirstin aus dem Stifte zuriick- deswegen wurde z* 
der Minister-Sohn von Le Baut mit soviel Rauch- und Dankopfer- 
Altaren umbauet — deswegen brachte die Alte (im sechzehnten 
Hundposttage) dem Hofkben solche Standchen und so laute - 
iiberhaupt sind, sah er noch, zwei solche geachtete gefangne Hof- 
juden in Babylon des Teufels lebendig, bis sie in der alten hei- 
ligen Stadt wieder sitzen, und wenn sie gerade eine schone 
Tochter haben, so wird diese zur Vorspann der Fahrt gebraucht 
und zur Montgolriere des Steigens... 

»0 komm nur, Klotilde« - rief er gluhend - »Der Hof-Pfuhl 
wi'rd mir dann ein italienischer Keller, ein Blumenparterre. - Bist v 
nur du beim Minister, so nab' ich Geist genug und spruhe ordent- 
lich. - Was wird mein Vater sagen, wenn er uns mit zwei Lauf- 
zaumen stehen sieht, an einem hast du die Fiirstin, am andern ich 
den Mann . . . .« Jetzo fielen ihm Klotildens neuliche Einwendun- 
gen gegen das Ho fie ben wie Eiszapfen in sein kochendes Blut; 
aber er dachte, »Weibern gefallen doch die Hof-Lager des Glan- 



1 8. HUNDPOSTTAG 749 

zes ein wenig mehr, als sie selber vermuten und sagen, und weit 
mehr als den Mannern. - Hake derm ers mit ahnlichem Seelen- 
Bau nicht auch aus? - Sie, als Stieftochter des Fiirsten, und als 
eine schone dazu, habe nur halbes Elend, gegen ihn gehalten - 
und wisse sie denn, ob sie nicht einmal aus ihrem Feld-Etat in die 
Hofgarnison zuriickgesetzt werde durch einen. Zufall?« Unter 
dem Zufalle verstand er eine Heirat mit - Sebastian. Endlich be- 
ruhigte er sich mit dem, was ich auch glaube, da 6 sie damals bloB 
aus Hoflichkeit einige Kalte gegen ihre neue Entfernung von 

10 ihren Eltern vorgespiegelt und also auch gegen den neuen Ort; 
auch hatte man Freude dariiber fur Warme gegen irgend jemand 
am Hofe nehmen konnen, z.B. gegen ihren - Bruder, dacht* 
er. 

Jetzo kam der gestrige Gedanke, iiber den ich die Wette ver- 
loren, wieder hervor, in einer Nacht erstaunlich in die Hohe ge- 
schossen; der namlich: wenn er den Fiirsten zur Reise und zum 
Besuche beim Kammerherrn uberredete und ihn noch unterwegs 
urn ein Vorwort fiir Klotilde bei der Fiirstin ansprach: so wars 
erstlich dem Stiefvater unmoglich, die Bitte fiir die schonste Stief- 

20 tochter abzuweisen, und zweitens der Fiirstin unmoglich, bei 
ihrem Gemahl, der das Recht der ersten Bitte ausiibte, nicht alien 
moglichen Vorteil aus der ersten Gelegenheit zu ziehen, sich ihn 

verbindlich zu machen. 

— Acht Tage darauf, da es schon dammerte - in den Herbst- 
tagen wirds eher Nacht -, stand der Hofkaplan Eymann auf der 
Wane und guckte nach der Sonne, nicht ihrer selber wegen, son- 
dern um des Abendrots und Wetters willen, m eil er morgen saen 
wollte: als er erschrocken von der Warte hiniibersprang in sein 
Haus und die Hiobspost auspackte, der Konsistorialbote werde 

30 gleich da sein samt einem franzosischen Emigranten, und fiir den 
einen sei noch kein Heller vorratig und fiir den andern kein 
Bette . . . 

Es kam kein Mensch. - 

Ich begreif es leicht; denn der Konsistorialbote lauerte am 
Pfarrhause und marschierte, sobald er oben den Hofmedikus Vik- 
tor aus Wachs am Fenster sitzen sah, spornstreichs zum Dorfe 



75° HESPERUS 

hinaus, gerade nach Flachsenfingen zu. Der Emigrant war zu 
seinem Professionverwandten Le Baur hineingegangen. - 

Beide Reisende nannten sich auch noch — Jenner und Viktor, 
und kamen heute voh ihrer scherzreichen Rennbahn zuruck. — 

Vor sieben Tagen war namlich der Fiirst, der Maskentanze und 
Inkognito-Reisen und gemeine Sitten liebte, und der nur des Mi- 
nisters geistige Masken und Inkognito verwiinschte, mit Viktor zu 
FuB hinter einem Kerl abgereiset, der zu Pferde mit der Redouten- 
kleidung und mit Redoutenerfrischungen vorausgebrochen 
war. Jenner trug einen Degen in der Hand, der in keiner Scheide 10 
steckte, sondern in einem Spazierstockchen; ein Sinnbild der 
Hof-WafTen! Er gab sich in den Marktflecken fur den neuen Re- 
gierrat Flamin aus. Mein Held, der sich anfangs zu einem reisen- 
den Augenarzt gepragt hatte, miinzte sich im dritten Dorfe zu 
einem Konsistorialboten um - bloB weil beiden der wahre Bote 
begegnete. Dieser Kammereinnehmer des Konsistoriums muBte 
dem Arzte - es kostete dem Fiirsten nur eine fiirstliche Resolu- 
tion und eine Gnade — sein Sportelbuch und seinen kirchlichen 
Amtrock samt dem aufgenahten Blech auf diese Woche iiber- 
lassen. Die Bleche sind an Boten und die Silbersterne an vornehme 20 
Rocke wie die Bleistiicke an Tuchballen befestigt, damit man 
wisse, was am Bettel ist. 

Fur Busching ware eine solche Rekahns-Fahrt ein Fund - fur 
mich ist sie eine wahre Pein, weil mein Manuskript ohnehin schon 
so grofi ist, da6 meine Schwester sich darauf setzet, wenn sie Kla- 
vier spielet, da der Sessel ohne die Unterlage der Hundposttage 
nicht hoch genug ist. 

Was sah Jenner? - was Viktor? - t 

Der Regierrat Jenner sah unter den Beamten lauter krumme 
Riicken — krumme Wege - krumme Finger - krumme Seelen. - 3° 
»Aber krumm ist ein Bogen, und der Bogen ist ein Sektor vom 
Zirkel, diesem Sinnbild aller Vollendung«, sagte der Konsistorial- 
bote Viktor. Allein Jenner argerte sich am meisten dariiber, daB 
ihn die Beamten so sehr verehrten, da er sich doch nur fur einen 
Regier-Rat ausgab und fur keinen Regenten. - Viktor versetzte: 
»Der Mensch kennt nur zwei Nachsten; der Nachste zu seinem 



1 8. HUNDPOSTTAG 75 1 

Kopf ist sein Herr, der zu seinem FuBe sein Sklave - was iiber 
beide hinausliegt, ist ihm Gott oder Vieh.« - 
Was sah Jenner noch mehr? - 

Steuerfreie Spitzbuben sah er, die sich an steuerfahigen Armen 
bereicherten - redliche Advokaten hort* er, die nicht, wie seine 
Hofleute oder die englischen Rauber, mit einer tugendhaften 
Maske stahlen, sondern ohne die Maske, und denen eine gewisse 
Entfernung von Aufklarung und Philosophic und Geschmack 
nach dem Tode gar nicht schadlich sein wird, weil sie dann in 

10 ihrer eignen Verteidigung Gott die Einrede ihrer Unwissenheit 
entgegensetzen und ihm vorhalten konnen : »daB andere Gesetze 
als landesherrliche und romische sie nicht verbinden konnen, und 
Gott sei weder Justinian, noch Kant Tribonian.« - Er sah am 
Kopfe seiner Landrichter Brotkorbe, und am Kopfe ihrer Unter- 
tanen Maulkorbe hangen; er sah, daB, wenn (nach Howard) zwei 
Menschen notig sind, um einen Gefangnen zu ernahren, hier 
zwanzig Eingekerkerte da sein miissen, damit ein Stadtvogt lebe. 
Er sah verdammtes Zeug. E)afiir sah er aber auch auf der andern 
Seite in arigenehmen Nachten das Vieh in schonen Gruppen in 

20 den Feldern weiden, ich meine das republikanische, namlich 
Hirsche und Sauen. Der Konsistorialbote Viktor sagte ihm, er 
habe diesen romantischen Anblick den Jagermeistern zu danken, 
deren weiches Herz den furstlichen Befehl des WildschieBens 
ebensowenig hatte vollziehen konnen, wie die agyptischen Weh- 
miitter den, die Judenknaben totzumachen. Ja der Sportelbote 
lieB sich in einer Kneipschenke gelbe Dinte und schwarzes Papier 
hingeben und setzte da, wahrend der Schieferdecker auf dem 
Dache trommelte, um Schiefer zugelangt zu bekommen, und die 
Gaste an die Kriige schlugen, um eingeschenkt zu kriegen, und 

30 der Wirtsbube auf einem Bierheber zum Fenster hineintrompe- 
tete, unter diesem babylonischen Larm setzte der Sportulnbote 
eine der besten Bittschriften auf, welche die edle Jagerschaft noch 
je an den Fiirsten abgelassen. 



752 HESPERUS 

Schlechte Relation aus der Bittschrift 
der Oberjagermeisterei 

»Da das Wild nicht lesen und schreiben konnte: so sei es die 
Pflicht der Jagermeisterei, die es konnte, fur dasselbe zu schreiben 
und nach Gewissen einzuberichten, daB alles flachsenfingische 
Wild unter dem Drucke des Bauers schmachte, sowohl Rot- als 
Schwarzwildpret. Einem Oberforster blute das Herz, wenn er 
nachts drauBen stehe und sehe, wie das Landvolk aus unglaub- 
licher MiBgunst gegen das Hirschvieh die ganze Nacht in der 
groBten Kalte neben den Feldern Larm und Feuer machte, pfiffe, k 
sange, schosse, damit das arme Wild nichts fraBe. Solchen harten 
Herzen sei es nicht gegeben, zu bedenken, daB, wenn man um 
ihre KartofFeltische (wie sie um ihre Kartoffelfelder) eben solche 
Schiitzen und Pfeifer lagerte, die ihnen jede Kartoffel vom Munde 
wegschossen, daB sie dann mager werden muBten. Daher sei eben 
das Wild so hager, weil es sich erst langsam daran gewohne, wie 
Regimentpferde den Hafer von einer geruhrten Trommel zu 
fressen. Die Hirsche muBten oft meilenweit gehen - wie einer, 
der in Paris sein Fruhstiick aus Aubergen zusammenhole -, um 
in ein Krautfeld, das keine solche Kiistenbewahrer und Wider- ic 
parte des Wilds umstellen, endlich einzulaufen und sich da recht 
satt zu fressen. Die Hundjungen sagten daher mit Recht, sie zer- 
traten in einer Parforcejagd mehr Getreide, als das Wild die ganze 
Woche abzufressen bekomme. - Dieses und nichts anders seien 
die Griinde, welche die Oberjagermeisterei bewogen hatten, bei 
Sr. Durchlaucht mit der untertanigen Bitte einzukommen, 

DaB Ew. den Landleuten auflegen mochten, nachts in 
ihren warmen Betten zu bleiben, wie tausend gute Christen 
tun und das Wild selber am Tage. 
Dadurch wiirde — getrauete sich die Obristjagermeisterei zu 3c 
versprechen - den Landleuten und Hirschen zugleich unter die 
Arme gegrifFen - Ietzte konnten alsdann ruhig, wie Tagvieh, die 
Felder abweiden und wiirden doch dem Landmann die Nachlese, 
indem sie mit der Vorlese zufrieden waren, lassen. - Das Land- 
volk ware von den Krankheiten, die aus den Nachtwachen kamen 



18. HUNDPOSTTAG 753 

von Erkaltungen und Ermiidungen gliicklicherweise befreiet. Der 
groBte Vorteil aber ware der, daB, da bisher Bauern iiber die 
Jagdfronen murrten (und nicht ganz mit Unrecht), weil sie dar- 
iiber die Zeit der Ernte versaumten, daB alsdann die Hirsche an 
ihrer Statt die Ernte in der Nacht iibernahmen, wie sich in der 
Schweiz die Jiinglinge fur die Madchen, die sie liebten, nachts 
dem Getreide-Schneiden unterzogen, damit diese, wenn sie am 
Morgen zur Arbeit kommen, keine finden - und so wtirden die 
Jagdfronen in den Ernten niemand mehr storen als hochstens 
10 das - Wild etc.« 

Was ist aber vom Konsistorialsportulboten Viktor zu erzahlen? 
- Dieser kirchliche Hebbediente setzte alle Pfarrherren durch 
seinen SpaB und alle Pfarrfrauen durch seine Gewandtheit in Er- 
staunen, und bloB sein Blech und seine Papiere konnten die Echt- 
heit eines solchen Botenexemplars hinlanglich verbiirgen. Er 
kassierte alles ein, was der Konsistorialsekretar liquidiert hatte, 
und entschuldigte sich damit, daB es weder ihm noch dem Sekre- 
tar in diesem Falle zukame, gewissenhaft zu sein. In seiner kurzen 
Amtfiihrung sackte er ohne Scham ein alle ruckstandige Ehe- 

a° pfander vom geringsten Wert - wir im Kollegio, sagte er, sind 
auf einen halben Batzen erpicht - Gelder, wenn die Ehen ge- 
schieden waren — Gelder, wenn- diese von den Raten geschlossen 
waren, es sei durch Indulgenzen fur Trauerzeit, fiir Blutverwandt- 
schaft oder fiir elterliche Einwilligung - Gelder, wenn die Gelder 
erst einmal (oder zweimal) bezahlt waren, aber noch nicht zum 
zweiten (oder dritten) Male, wiewohl das Konsistorium diesen 
Geld-Nachklang stets nur in dem Falle verlangte, wenn die Leute 
die Quittung verloren hatten - Gelder, welche die Pfarrherren 
bloB fiir Dekrete zu erlegen hatten, worin sie losgesprochen 

3° wurden. 

Darauf schiittete er den Sack vor dem Fiirsten aus und plattete 
die Goldwoge auseinander und fmg an: 



754 HESPERUS 

»Ihro Durchlauchtl 

Das Konsistorium ist des Teufels: es konnte uber alle Gebote 
eine lutherische Poenitentiaria sein und ist es nur uber das sechste. 
Was eine ehrliche Konsistorial-Regie - ich namlich - hat zu- 
sammenscharren konnen, liegt da auf dem Tisch. Der Haufe 
konnte noch einmal so breit sein, wenn das Konsistorium Ver- 
stand hatte und sagte: >Wer kauft? neue frische AblaBbriefe fiir 
alles!< - Es hat gezeigt, daB es uber einige Verwandtschaftgrade 
Dispensationbullen so gut wie der Papst verfertigen konne; war- 
um will es sich denn an keine naheren Grade machen? Es wiirde 10 
von groBen so gut als von kleinen dispensieren konnen, wenn es 
dariiber her wollte, und ebensogut von Bufitag- Fasten als von 
Trauerzeit und dreimaligem Kanzelausrufe, dieser erotischen 
Fastenzeit. Beim Himmel, wenn ein einziger Mensch, wie der 
Papst, die geistliche Waschmaschine ganzer Weltteile zu sein ver- 
mag und die Seelen am Jubeljahre biindelweise saubern kann: so 
werden doch wir alle im Kollegium zur Waschmaschine eines 
einzigen Landes zu gebrauchen sein? Geschieht das nicht: so 
nehmen wir - denn wir wollen leben - Siindengeld und Sportuln 
fiir das wenige, worin wir giitig nachzusehen haben; und wenn in 10 
Sparta die Richter die Gottin der Furcht anbeteten, so verehren 
bei uns die Parteien dieses schone ens. - Hatten wir nur wenigstens 
von fiinf oder sechs groBen Siinden loszusprechen, nur z. B. von 
einem Mord : so konnten wir Ehescheidung und Ehe-Beschleu- 
nigung - diese ganz entgegengesetzten Operationen gelingen uns, 
so wie das Kailsbader Wasser zugleich den Stein in der Blase zer- 
teilt und Eingetauchtes im Brunnen versteinert - fiir halbes 

Geld erlassen.« Nach einer langen Pause : »Ihro Durchlaucht, 

es ist doch nicht zu machen, weil der Henker die weltlichen Rate 
mitten unter den geistHchen hat: ein halb profaner Sessiontisch ist 30 
zu keinem keiligen Stuhle umzudrechseln; es ist also nichts zu 
wiinschen - auBer der gesegneten Mahlzeit - als Vertraglichkeit, 
damit geist- und weltHche Rate die Parteien, umwelche sie sitzen, 
ordentlich aufspeisen konnen, ein paar Knochen ausgenommen, 
die uns Schreibern und Boten zufallen; so sah ich oft auf einem 



18. HUNDPOSTTAG 755 

toten Pferde zugleichStare und Raben in bunter Reihe eintrachtig 

wohnen und hacken und zehren.« 

Mein Korrespondent versichert mich, durch diese Reden rich- 
tete der Hofmedikus mehr bei Jenner aus als der Hofprediger 
durch seine. Viele Parteien bekamen ihr Geld, und einige Richter 
ein allerungnadigstes Handschreiben. 

Eh' ich mit unserem verkleideten Gespann vor St. Lurie an- 
komme: ist noch eines und das andre zu schreiben. An Jenners 
Seele waren mehre Kniedrucker als an einem Fortepiano ange- 

10 bracht, die das Favoritenknie, indem es sich zu beugen schien, be- 
wegte, wie es wollte. Er war allemal der Sohn der Gegenwart und 
der Widerschein der Nachbarschaft. Las er im Sully, so ver- 
saumte er eine Woche lang das geheime Regierkollegium nicht 
und IieB den Kammerprasidenten kommen. Las er im Friedrich II., 
so wollt' er das Reichskontingent stellen und selber kommandieren 
und ging vormittags auf die Parade. Er sah mit Vergniigen das 
Ideal einer guten Regierung an, es sei im Druck oder in einer 
Rede, und oft versuchte er die Annaherung dazu, Umbesserun- 
gen, Untersuchungen und Belohnungen, ganze Wochen lang - 

10 Enthaltungen ausgenommen, die doch das einzige Verdienst sind, 
das der Fiirst ohne fremde Hiilfe erwerben kann. - Unter der gan- 
zen Kreuzfahrt war er ein wahrer Antoninus Philosophus und 
stand in Bereitschaft, iiberall zu belohnen und zu bestrafen und zu 
verfugen; - auch fiihlte er, er konnt* es tulich machen, wenn man 
nur nicht von ihm noch gar arbeiten und entbehren heischte; dar- 
iiber ging das andre auch zum Teufel. 

Anfangs gefiel ihm die empfmdsame Reise - als sie voriiber 
war, wieder - aber in der Mitte schmeckte ihm alles, was nach dem 
Vorlauf ausgekeltert wurde, immer herber, und er wiinschte sich 

;o statt der Dorfkiichenzettel sein Viktualienzifferblatt. Auch hatt' 
er sich so sehr an Tapferkeit gewohnt, daB er beim Mangel der- 
selben - d. h. seiner Leibwache - sozusagen furchtsam wurde ; da- 
her wollt' er einmal im Finstern einen j ungen Weber in der Schenke 
aus dem Bette heraus mit seinen Stockdegen erstechen, weil der 
Weber nachts das furstliche Bette verwechselt hatte mit einem 
von friedlicherem Inhalt. Obrigens sammelten sich jetzt alle 



7 5 <> HESPERUS 

Strahlen seiner Zuneigung im einzigen Menschen von Stande, im 
einzigen Beherzten und Vertrauten, den er hatte, in Viktor, zum 
Brennpunkte. Mein Held aber hatte uberall zu genieBen - wenig- 
stens den Gedanken an St. Liine -, uberall zu essen - wenigstens 
auf einem Obstbaum -, uberall zu lesen - und warens nur Feuer- 
segen an der Tiire, alte Kalender an der Wand, Ermahnungen zur 
Wohltatigkek iiber Almosenbiichsen -, uberall zu denken - iiber 
das Reise-Paar, iiber die vier Jahrzeiten-Akte der Natur, die jahr- 
Hch wieder gegeben werden, iiber die tausend Akte im Menschen, 
die niemals wiederkehren - und uberall zu lieben und zu traumen, i 
denn eben diese StraBe hatte Klotilde so oft auf ihren Reisen nach 
Maienthal und St. Liine zuriickgelegt, und der Freund ihres rei- 
chen Herzens fand auf diesem klassischen Wege nichts als groBe 
Erinnerungen, Zauber-Stellen und eine stille lange heimliche 
Seligkeit 

»St. Liine !« schrie Jenner, erfreuet, daB er nur wieder einen 
Weltmann, Le Baut, sehen solle. Auf die Emigranten-Maske war 
er selber verfallen, um den Kammerherrn, bei dem er sich zu- 
letzt fiir einen Fiirsten-Erbfeind ausgeben wollte, besser auszu- 
holen. Ware in Le Bauts Seele ein hoherer Adel als der heraldische 2 
•gewesen — oder hatte Viktor nicht gewuBt, daB der Kammerherr 
den Fiirsten auf den ersten Blick erkennen wiirde - und daB ers 
schon darum vermogen wiirde, weil der wahre suspendierte Kon- 
sistorialbote schon der Stadt Flachsenfingen wahrscheinlich die 
ganze Vermummung werde ins Ohr gesagt haben: so hatt' er ihm 
die noble Masque ausgeredet. 

Sebastian blieb gedachtermaBen weg und im Freien, wahr- 
scheinlich aus Scham seiner Rolle und offenbar aus Sehnsucht, 
Klotildens Sonnenangesicht, das fiir ihn so lange nicht aufge- 
gangen war, in einer seinem Herzen bequemern Lage anzuschauen. y 
DUnd die El tern werden mich gern wiedersehen,« dacht* er dazu, 
»wenn sie mir etwas zu verdanken haben« - Klotildens Hofamt 
namlich. Er fuhr, hinter dem Bettschirm der Dunkelheit lau- 
schend, ofters zusammen, als er aus dem Pfarrhause seinen Namen 
und zwar mit solcher Liebe, mit solchen Wiinschen seiner Ant- 
wort nennen hdrte, daB er beinahe eine gegeben hatte. Aber die 



1 8. HUNDPOSTTAG 757 

Pfarrleute hatten nur mit seinem Patchen gesprochen und zu soU 
chem gesagt: »Guter liebster Sebastian! Sieh doch her, was hat' 
ich da?« - Wie lag das verhiillete Paradies des heurigen Friih- 
lings in alten Resten urn ihn! Wie beneidete er die Schattenkopfe 
im Schlosse, die er urn die Lichter gehen sah, und den alten Pfarr- 
mops, der ihn zu den Pfarrleuten hineinweqleln wollte und drinnen 
auf dem Schauplatz einer so holden Vergangenheit weiter agierte ! 
Aber als ihn Disteln am Schlosse an die musivische auf dem 
innern FuBboden desselben erinnerten, so war der Neider zu be- 

10 neiden, und er ging mit den schonsten Traumen, die je iiber sein 
dunkles Leben gezeichnet wurden, zum Apotheker zuriick. 

Am andern Tage kam Jenner nach, erfreuet iiber die Eltern, 
entziickt iiber die Tochter, weil jene so fein waren und diese so 
schon. Es kostete meinem Helden nichts als ein Wort, um den 
Stiefvater zur Bitte fur die Anstellung der Stieftochter zu be- 
wegen,die der Held und der Vater so gern ofter sehen wollten- 
und dem Stiefvater kostete es auch nur ein Wort bei der Furstin, 
um seine und die fremde Bitte gewahrt zu finden... Klotilde 
wurde Hofdame. 

zo Sogleich darauf drang der Minister von Schleunes im Gliick- 
wunschschreiben den Viertels-Fliigel seines Hauses Klotildens 
Eltern auf und war in der Epistel froh, »daB eine hohere Bitte die 
seinige mit so vielem Erfolge wiederholet hatte«. - Ich stelle diesen 
Edeln alien Weltleuten zum Muster auf; wiewohl sich jetzt alles 
im moralischen Sinne, wie die Wiener im keraldischen, eafe/schreibt. 
Viktor, der mit seinen Seelenaugen den ganzen Tag dem Kam- 
merherrn ins Fenster guckte, konnte es kaumerwarten, Klotilde 
erstlich in St. Liine zu sehen, und zweitens am Hofe. Er verschob 
den Besuch von Tag zu Tag - und machte ihn von Nacht zu 

3° Nacht im Traume. Nicht einmal die Besuchkarte - snnen Brief 
an den Pfarrer — hatt* er fortgeschickt : er wollt' ihn nicht nur sel- 
ber bringen, sondern auch gar unterschlagen. Aber diesen letzten 
Gedanken - den Brief zu unterdnicken, weil etwan Klotilde diese 
boshafte Konduitenliste der Hofe in die Hande und daraus Wider- 
willen gegen das neue Amt bekommen konnte - schleuderte er, 
wie Paulus die Schlange, sogleich aus seiner Seele hinaus: wehe 



758 HESPERUS 

dem Herzen, das nicht aufrichtig ist gegen ein aufrichtiges, nicht 
groB gegen ein groBes und warm gegen ein warmes, da es schon 
alles dieses sein muBte gegen eines, das nichts von allem diesem 
ware! 

Obrigens bedurft* er eines solchen Besuchs und eines solchen 
Gegenbesuchs taglich starker; denn er war nicht gliicklich: daran 
war auBer ihm schuld i) der Furst, 2) Flamin, 3) neuntausend- 
undsiebenunddreiBig Personen. Der Fiirst konnte nicht viel dafiir ; 
er goB das ganze Fullhorn seiner Liebe iiber den Doktor aus und 
nahm diesem alle Freiheit weg, die er anfangs so heilig zu be- 10 
wahren willens gewesen. Viktor schuttelte den Kopf, sooft er 
sein Tagebuch oder Schiffjournal der Lebensfahrt (auf GeheiB 
seines Vaters) weiterschrieb und aus seiner Seekarte ersah, daB er 
ganz andere Meere und Grade der Lange und Breite passieret war, 
als er oder sein Vater haben wollte: »Inzwischen land' ich doch 
richtig«, sagt' er. - 

Aber sein Flamin tat seiner Seele weher, die iiberall zuviel Liebe 
suchte und gab. Er wollte dem Rate mit der Nachricht von Klo- 
tildens Hofamt eine Freude machen, die seiner eigenen glich; 
aber der empfing sie so kalt wie ihren Oberbringer. Der Akten- 20 
staub lag dick auf den Orgelpfeifen seines Gemiits. - Angekettet 
an den Session- und Schreibetisch, war er jetzt, wie angekettete 
Hunde, wilder als vorher ungefesselt. - Die Bemiihungen seiner 
Kollegen, den Staats-Korper zu einem Anagramma auszurenken, 
erhielten von ihm den verdienten Beifall nicht. - Auch setzte sich 
in seiner Seele der Sauerteig der freundschaftlichen Eifersucht an, 
der es nicht recht war, daB sein Viktor ihn seltener und andre 
ofter sah. - Am meisten erboste ihn Viktors Weigern, als er ihn 
um Begleitung nach St. Liine ersuchte... Kurz: er war arg. 

Die 9037 Mann, die fur meinenHelden 9037 Plagegotter waren, 3 o 
sind die Herren Flachsenfinger samt und sonders vermittelst 
ihres narrischen Charakters, der nicht hier skizzieret zu werden 
verdient, sondern in einem fluchtigen Extrablattchen. 



l8. HUNDPOSTTAC 759 

Fliichtiges Extrablattchen, worin der narrische Charakter 

der Flachsenfinger skizziert wird - oder perspektivischer 

AufriB der Stadt Klein- Wien. 

Klein-Wien heiBen viele mein Flachsenfingen, so wie es ein Klein- 
Leipzig, Klein-Paris u.s.w. gibt. Es konnen aber wohl zwei 
Stadte nicht weiter voneinander in Sitten abstehen als Flachsen- 
fingen, wo man sein Leben und seine Seele verfHBt und versauft, 
und Wien, wo man vielleicht den entgegengesetzten Fehler eines 
spartischen Ausmergelns nicht genug vermeidet. Die Klein- 

o Wiener oder Flachsenfinger ofTnen dem GenuB der Natur weni- 
ger ihr Herz als" ihren Magenmund - Auen sind die Kuchenstucke 
ihres Viehes, und Garten die ihrer Besitzer - die MilchstraBe 
fesselt und sattigt ihren Geist (ob sie gleich langer ist) nicht halb 
so sehr, als die Konigsberger Bratwurst von 1583 es tate, welche 
funfhundertundsechsundneunzig Ellen lang und viermal schwerer 
war als der Gelehrte selber, der sie der Nachwelt geschildert, 
Herr Wagenseil 1 . — Sind das Ziige, auf welche die Fuhrleute den 
Namen Klein-Wien begriinden? Ich war oft in GroB-Wien und 
kenne die GroBkreuze, Kleinkreuze und Kommandeurs des Tem- 

20 peranzordens, der dort so gemein ist, personlich: ich kann also 
allerdings einen giiltigen Zeugen abgeben, und mir ist zu glauben, 
wenn ich — da man in Klein-Wien auBerordentlich sauft - von 
GroB-Wien, und ausdriicklich von dessen Klosterleuten, ganz 
etwas anders verfechte; sie haben nicht nur immerfort den groB- 
ten Durst - der doch weg sein rmiBte, wenn man ihn loschte -, 
sondern sie bedienen sich auch gegen die Trunkenheit eines scho- 
nen Mittels vom Plato. Dieser Alte gibt uns den Rat, in der Be- 
trunkenheit in einen Spiegel zu schauen, um durch die zerrissene 
Gestalt, die uns darin an unsere Entehrung erinnert, auf immer 

30 davon abgemahnet zu sein. Daher stellen oft ganze Domkapitel, 
der Dechant, der Subsenior, die Domizellaren u. s. w., GefaBe mit 
Wein oder Bier vor sich hin und heben sie an die Augen und be- 
sehen in diesem (metamorphotischen oder) Zerrspiegel, der die 

1 Es ist der mit den langen Schuhen, in seiner oErziehung eines jungen 
Prinzen« 1705. 



760 HESPERUS 

entstellten Ziige noch mehr entstellt (weil er wackelt), sich schon 
lange nach des Philosophen Rat. Ich frage aber, ob Leute, die 
bestandig so tief ins Glas gucken, Trinken lieben konnen! - 

Daraus folgt aber nicht, daB ich den GroB-Wienern die Ahn- 
lichkeit mit den Flachsenfingern auch in solchen Ziigen nehme, 
die ehren. So lass' ich jene recht gern diesen z. B. darin ahnlich 
sein, daB sie an keiner Dichtkunst, keiner Schwarmerei und Emp- 
findsamkeit — denn das ist alles einerlei - krank liegen. Viktor 
wiirde dieses Lob in seiner Sprache so etwa klingen lassen : »Die 
Wiener Autoren (selber die besten, nur Denis und kaum drei aus- 10 
genommen) geben dem Leser keine uber die ganze Gegenwart 
tragende Fliigel durch jenen Seelen-Adel, durch jene Verschma-' 
hung der Erde, durch jene Achtung fur alte Tugend und Freiheit 
und hohere Liebe, worin andre deutsche Genien wie in heiligen 
Strahlen glanzen« x , und er wiirde sich deshalb auf die » Wiener 
Skizzen«, auf »Faustin«, auf Blumauer undauf den » Wiener Musen- 
almanach« berufen. Den Tadel wiirde selber ein Wiener niitz- 
lichst annehmen und uns fragen, ob wir einen Musenalmanach 
(wie er) mit einem Zoten-Bodensatz aufzuweisen haben, worauf 
man setzen konnte: »Mit Approbation des Bordells.« - Dieses 20 
Gefuhl des literarischen Unterschiedes notigte sogar einen Nico- 
lai — sonst kein besonderer Amoroso der Wiener Schriftsteller -, 
in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek eine eigne Seitenloge 
fur diese einzubauen, ob er gleich sonst Schreiber aller andern 
Deutschkreise in ein Parterre zusammenwirft. Auf ahnliche Art 
sah ich in Baiern, daB an dem Galgen auBer dem gewohn lichen 
Balken fur die drei christlichen Konfessionsverwandten noch ein 
besonderer schismatischer Querpfosten angebracht war, an wel- 
chen bloB die Judenschaft geheftet wurde. 

Der Flachsenfinger weiB, daB an Poeten nichts ist, und springt 30 
in Biichern, wo Versebache durch die Prose laufen, uber die 
Bache hinweg, wie gewisse Leute spat in die Kirche gehen, um 
dem Singen zu entweichen. Er ist ein treuer Diener des Staats, 

1 So sprach bloB die erste Auflage 1795 von Wienern; eine dritte ver- 
besserte erkennt auch 18 19 eine verbesserte von ihnen an, ob sie gleich die 
Schatten ihrer Vorzeit lebendig aufbewahrt. 



1 8. HUNDPOSTTAG 76 1 

dem bekannt ist, wozu die poetische goldne Ader beim Revision-, 
Kommision-, Relation-, Enrollierungwesen zu gebrauchen ist: 
zu gar nichts; inzwischen will er doch, wenn er auch einen KIop- 
stock und Goethe nicht schatzen kann, in miiBigen Stunden einen 
guten Knuttelvers und Leberreim nicht verachten. Eine solche 
gliicklich robuste Seelen-Natur, worin man weniger seinen Geist 
erhohen will als seinen Pacht, macht es freilich begreif Hch, wie es 
Schutzpocken geben kann, vermittelst deren der Flachsenfinger 
allein (wie Sokrates) in der Pest der Empfindsamkeit unange- 

io fochten herumwandelte. Der voile Mond machte bei ihnen voile 
Krebse, aber keine voile Herzen, und das, was sie darin pflanzten, 
damit er den Wachstum begiinstigte, war nicht Liebe, sondern - 
Kohlriiben. Derechte Klein-Wiener zielt nach viel nahern SchieB- 
scheiben als nach dieser weiBen droben. Geheiratet wird da mit 
wahrer Lust, ohne daB man sich vorher totgeschossen oder tot- 
geseufzet - man kennt keine Hindernisse der Liebe als kirchliche 
- die weibliche Tugend ist eine Giirtelschnalle, die so lange halten 
soil als der Geschlechtname der Tochter - die Herzen der Toch- 
ter sind da wie Briefumschlage, die sich, wenn sie einmal an einen 

20 Herrn uberschrieben waren, leicht umstulpen lassen, damit man 
,darauf die Aufschrift an einen andern Menschen mache - die 
Madchen lieben da nicht aus Koketterie, sondern aus Einfalt alien 
Teufel, ausgenommen arme Teufel. . . 

Kurz, mein Korrespondent, von dem ich alles habe, ist fast 
parteiisch fur Klem-Wien eingenommen und widerspricht daher 
heftig dem Verfasser des reisenden Fran^osen, der irgendwo ge- 
sagt haben soil - hatt' ich ihn im Hause, so wtiBt* ich, wie eigent- 
lich Klein- Wien heiBe -, daB der Flachsenfinger wenigstens zum 
Rauber nicht Kraft genug besitze. Knef aber sagt, er wolle hoffen, 

30 daB sie schon gestohlen haben, und stiitzt sich auf die, die man 
aufgehangen. 

Ende des fiiichtigen Extrablattchens, worin der narrische Charakter der 
Flachsenfinger skizzieret wurde - oder des perspektivischen Aufrisses der 
Stadt Klein- Wien 



762 HESPERUS 

Aber unter solchen Menschen konnte mem Held bei aller Dul- 
dung keine frohe Tage finden, er, der alien Eigennutz, zumal den 
schmausenden, so haBte, und der gern in Doktor Grahams Vor- 
lesungen hospitiert hatte, worin dieser lehrte, ohne Essen zu le- 
ben - er, der in sein Herz so gern den von der Poesie gefliigehen 
Samen der Wahrheit aufnahm; der einen Emanuel am Herzen 
trug und den Mangel an poetischem Gefuhle so gar fiir ein Zei- 
chen hie It, daB der moralise he Mensch noch nicht alle Raupen- 
haute weggelegt - er, der das ganze Leben und den ganzen 
Staatskorper fiir die Hulse ansah, worin der Kern des zweiten n 

Lebens reift o ! wer so denkt, ist zu einsam unter denen, die 

anders denken! 

- So lag die Welt um ihn, als er ein Blatt von der guten Pfar- 
rerin bekam :.»Man sagt hier allgemein, Sie waren gestorben. Aber 
ich lasse mich gegen die Leute vernehmen, Sie muBten, da Sie so 
wenig von sich horen lieBen und alle Welt vergaBen, eben des- 
wegen noch am Leben sein. Bestatigen Sie meinen Satz! Wir 
sehnen uns alle herzlich und narrisch nach Ihnen, und ich mochte 
Sie wohl bitten, den einundzwanzigsten zu kommen (wenn Sie 
nicht die Hochzeit beim Stadtsenior mehr hindert als meinen Fla- *< 
min). Wir haben Ihnen hier nichts anzubieten als den Geburttag 
unserer Klotilde. O guter Mylord, o geliebte Lordship, wie wars 
Denenselben bisher moglich, so lange stumm und unsichtbar zu 
bleiben? Eine treue Freundin, die gar nichts von den Damen 
Ihres Hofes an sich hat, nicht einmal die Veranderlichkeit, wun- 
schet Sie herzlich vor ihr Auge und vor ihr Ohr - und diese Dame 
bin ich - und wenn ich Sie kommen sehe, werde ich doch vor 
Freude weinen, ich mag dabei lachen oder schmollen, wie ich 
will. E.« 

■ Wann erhidt er dieses Blatt voll Seele? Und welche Antwort y 
gab seine darauf? - 

- Es war am schonsten Abend, der die Ankunft des schonsten 
Sonntagmorgens und des magischen Nachsommers ansagte - er 
sah nach der Abendrote, unter welcher Maienthals Berge lagen, 
und sein Herz schlug ihm schwer - er sah nach der Morgenrote 
des Vollmonds, die iiber St. Lune entglimmte, und seine Sehn- 



19. HUNDPOSTTAG 763 

sucht nach dorthin wurde unaussprechlich — er dachte an Klo- 
tilde, deren Geburttag morgen einfiel, und ganz naturlich ging er 
heute — bloB zu Bette. 



19. HUNDPOSTTAG 

Der Fnseur, der nicht lungen-, sonderri singsiichtig ist - Klotilde in Viktors 
Traum — Extrazeilen iiber die Kirchenmusik — Gartenkonzert von Stamit{ - 
Zank zwischen Viktor fond Flam in - das Herz ohne Trost - Brief an Emanuel 

Der Oktober-Sonntag, womit ich diesen Posttag voll mache, 
war schon urn 9V a morgens ein so freudiger glanzender Tag in 

10 St. Liine, daB das ganze Pfarrhaus an den Hofmedikus dachte. - 
»Ach er sollte abends ins Konzert kommen !« Der Virtuose Stamitz 
gab eines in Le Bauts Garten. - »0 lieber schon zum Mittag- 
essen!« - »Und in meine Friihpredigt, wenn er nicht in die Kinder- 
lehre will.<< Eymann hatte dabei seine heu aufgelegte Periicke am 
meisten im Kopfe, die ihm Herr Meuseler heute darauf gesetzt 
hatte. Dieser geschickte Peruckenmacher bereisete die Diozesa- 
nen (Pfarrer), die kein eignes Haar trugen, ofter und mit groBern 
Verdiensten um ihre Kopfe als der Superintendent selber, dieser 
Beherrscher der Gldubigen, zu welchem die meisten Kaplane sag- 

ao ten : Ihro Exzellenz. Hatt* -er si'chs abgewohnen konnen, daB er 
zuviel sang, log und soff, der Friseur : so hatten die meisten Geist- 
lichen ihre Toupets - diese artistischen Hahnenkamme - bei ihm 
machen lassen ; - so aber nicht. 

Da der Kaplan gern die Konfitiiren des Schicksals - worunter 
falsche Haare gehoren — mit etwas versauerte und hopfte: so 
suchte er naturlicherweise sich die heutige Periicke, fur deren 
falsche Touren er an Zahlungstatt echte abgeschnittene Haare 
seiner Leute gab, durch Skrupel zu versalzen, die er sich iiber das 
lange Wegbleiben Viktors machte. Er erinnerte: »Wir miissen 

30 ihn vor den Kopfgesto Ben haben - er schreibt nicht einmal - er 
ist vielleicht mit meinem Sohne zerfallen - etwas hats gesetzt - 
und dann sieht uns der alte Lord auch nicht mehr von der Seite 
an - unsere Ratten halfen ihn auch mit austreiben.« 



764 HESPERUS 

Durch solche Elegien setzte er anfangs nur sich, und zuletzt 
selber den Zuhorer in Angst. Er war durch nichts zu widerlegen 
als dadurch, daB man etwas Neues, was ihn angstigte, hervor- 
suchte. Die Wetterscheide seines Gewolkes oder sein Not- und 
Hulfbuchlein war diesesmal ein wahres Buch, des Zeitzer Tellers 
»Anekdoten fur Prediger«, die er heute durch den Peruckenmacher 
vom geistlichen Lesezirkel empflng. Geistliche, zumal die auf dem 
Lande, betreiben alles mit einer kleinlichen piinktlichen Angst- 
Hchkeit, worein sie zum Teil ihr regierender Wauwau und Lindr 
wurm von Konsistorium schreckt. In dieser Lesegesellschaft war 10 
nun ein Gesetz im Gange - Kommentatoren und Herausgeber 
halten es — , daB jedes Leseglied die Fett- und Dintenflecke und 
Risse, die es im Lesebuch antrafe, vorn immatrikulieren sollte in 
einem Flecken-Verzeichnis und Befundzettel samt der Seitenzahl 
»wo«. Ganz natiirlich leugnete jeder, der nur halbwege ein ehr- 
licher Lutheraner war, die unbefleckte Empfangnis des Buchs ; und 
die Sommerflecken wurden also alle ordentlich einregistriert, aber 
keiner bestraft. BloB der gewissenhafte Hof kaplan lud als Wusten- 
bock die Strafe fremder Fehler auf, indem er eine ganze Nacht 
jedesmal nicht schlafen konnte, sooft er im Buche mehre Kleckse 20 
als im Siindenregister fand, weil er ofTenbar sah, er werde zum 
Adoptivvater des namenlosen Schmutzes gemacht und zum Kau- 

fer des Buchs. Tellers Anekdoten fiir Schwarzrocke waren 

nun gar vollig schwarze Wasche: war nicht ein Eselohr am an- 
dern - Kleckse auf Klecksen - die Blatter ordentliche Korrektur- 
bogen . . . und zwar unmetaphorisch gesprochen? - Eymann hob 
an: »Und wenn mirs Geld zum Fenster hereinflog* . . . .« 

Da flog Viktors Brief zum Fenster herein und sein - Verfasser 
zur Tiir. 

Freilich aber wars so : Viktor hatte vor schonem Wetter schone 3° 
Traume, vor elendem erschien ihm der Satan mit seiner Sipp- 
schaft. Das schone Sonnabend-Wetter und der Gedanke an den 
Geburttag Klotildens und des Nachsommers gaben ihm einen 
Morgentraum, der ein Theater war, in welchem bloB ihr holdes 
Bild gespielt. Eine Person, die er hinter dem Schleier des Traums 
eresehen, stand fur ihn den ganzen nachsten Tag in einem zaube- 



19. HUNDPOSTTAG 765 

rischen Widerschein. Bei ihm irrten die Traume - diese Nacht- 
schmetterlinge des Geistes — wie andre iiber die Nacht und den 
Schlaf hinaus; wenigstens vormittags liebt' er jede Person im 
Wachen fort, die er im Traum zu lieben angefangen. Diesesmal 
floB gar umgekehrt die wachende Liebe in die traumende hinein, 
und die wirkliche Klotilde fiel mit der idealen in ein so leuchtendes 
Heiligenbild zusammen, daB einer, der semen Traum weiB, sich 
ins ubrige leicht findet. Deswegen muB der Traum den Lesern 
gegeben werden, den poetischen Lesern besonders - fur andere 

10 mochte ich eine Ausgabe der Hundposttage veranstalten, wo er 
heraus ware; denn unpoetische, die selber keine haben, sollten 
auch keine lesen. 

Euch aber, euch guten, selten belohnten weiblichen Seelen, die 
ihr ein eignes zweites Gewissen neben dem ersten fiir reine Sitten 
habt - deren einfache Tugend in der Nahe zu einem Kranze aus 
alien Tugenden aufbliiht, wie Nebel-Sterne durch Glaser in 
Millionen zerfallen - die ihr, so veranderlich in alien Entschliissen, 
so unveranderlich im edelsten, aus der Erde geht mit verkannten 
Wiinschen, mit vergessenem Werte, mit Augen voll Tranen und 

20 Liebe, mit Herzen voll Tugend und Gram - euch teuern erzahl* 
ich gern den kleinen Traum und mein groBes Buch!... 

»Eine Hand, die Horion nicht sah, faBte ihn an, eine Lippe, die 
er nicht sah, redete ihn an: Dein Herz sei jetzo heilig und rein, 
denn der Genius der weiblichen Tugend wohnt in diesem Ge- 
filde. - Siehe, da stand Horion auf einer mit VergiBmeinnicht 
iiberzogenen Flur, auf welche der Himmel wie ein blauer Schatten 
heriibersank; denn alle Sterne waren aus ihm genommen, nur der 
Abendstern stand einsam flimmernd oben an der Stelle der Sonne. 
WeiBe Eis-Pyramiden, gestreift mit herunterrinnenden Abend- 

33 roten, umrangen wie mit einem Wall aus Gold- und Silberstufen 
das ganze dunkleRund-- Darin ging Klotilde, erhaben wie eine 
Verstorbene, heiter wie ein Mensch in der andern Welt, gefiihrt 
bald von geflugelten Kindern, bald von einer verschleierten Nonne, 
bald von einem ernsten Engel, aber sie ging ewig vor Horion vor- 
uber - sis lachelte ihn selig-Iiebend an unter jedem Voriiber- 
ziehen, aber sie zog voriiber. - Blumige Erhohungen, Grabern 



766 HESPERUS 

fast gleich, stiegen auf und nieder, denn jede wurde von einem 
darunter schlummernden Busen durch Atmen geregt; eine weiBe 
Rose stand uber dem Herzen, das darunter verhiallet lag, zwei 
rote wuchsen uber den Wangen, deren zartes Erroten sich in die 
Erde verbarg, und oben am himmlischen Nachtblau wankte der 
weiBe und rote Widerschein der Hugel-Blumen gleitend inein- 
ander, sooft unten die Rosen des Herzens und der Wangen sich 
mit dem Huge! bewegten - Versiegende Echo, aber von ungehor- 
ten Stimmen erregt, gaben einander hinter den Bergen Antwort; 
jedes Echo hob die kleinen Schlummerhugel hoher auf, als wenn ic 
sie ein tiefer Seufzer oder ein Busen voll Wonne erhohte, und 
Klotilde lachelte seliger, von jedem Widerhalle tiefer in den Blu- 
menboden versenkt — In den Tonen war zu viel Wonne, und das 
aufgeloste Herz des Menschen wollte darin sterben. Klotilde sank 
jetzt in die Graber bis ans Herz; nur das stille Haupt lachelte noch 
uber der Aue - die VergiBmeinnicht ragten endlich an die unter- 
gesunkenen Augen voll seliger Tranen und uberbluhten sie - Da 
uberkroch die Holde plotzlich ein Schlummerhugel, und unter 
den Blumen stiegen ihre Worte auf: Ruhe du auch, Horion! - 
Aber die fernern Laute verwandelten sich unter dem Begraben in « 
dunkle Harmonikatone... Siehe, unter dem Verstummen ging 
ein groBer Schatten wie Emanuel heran und stand vor ihm v/ie 
eine kurze Nacht und verdeckte die unbekannte Minute aus einer 
hohern Welt. Aber als die Minute und der Schatten zerflossen 
waren : da waren alle Hiigel niedergefallen - Da uberguldete der 
Blumen-Widerschein zusammengeflossen den wallenden Himmel 
- Da klammerten sich an die Purpurgipfel der Eisberge weifie 
Schmetterlinge, weifie Tauben, weifie Schwanen mit ausgespann- 
ten Flugeln wie mit Armen an, und hinter den Bergen wurden 
gleichsam von einer ubermaBigen Entziickung Bliiten empor- 3° 
geworfen und Sterne und Kranze - Da stand auf dem hochsten, 
in lichtem Glanz und Purpurlohe ruhenden Eisberg Klotilde ver- 
herrlicht, geheiligt, uberirdisch entziickt, und an ihrem Herzen 
flatterte eine Nebelkugel, die aus aufgelosten kleinen Tranen be- 
stand, Und auf welche Horions blasses Bild gezeichnet war, und 
Klotilde breitete die Arme auseinander.« — 



19. HUNDPOSTTAG 767 

Aber um zu umarmen? oder um sich aufzuschwingen? oder um 
zu beten?... Ach, er erwachte zu bald und stromte in groBern 
Tranen, als die nebeligen waren, aus, und eine untersinkende 
Stimme rief unaufhorlich um ihn: Ruhe du auch! 

O du weibliche Seele, die du mude und unbelohnt, bekampft 
und blutend, aber groB und unbefleckt aus dem rauchenden 
Schlachtfelde des Lebens gehst, du Engel, den das mannliche, von 
Stiirmen erzogne, von Geschaften besudelte Herz achten und 
lieben, aber nicht belohnen und erreichen kann; wie beugt sich 
io jetzo meine Seele vor dir, wie wiinsch' ich dir jetzo des Himmels 
stillenden Balsam, des Ewigen belohnende Gute ! Und du, Phi- 
lippine, teure Seele, tritt weg in eine verborgne Zelle und lege 
unter den Tranen, die du schon so oft vergossen hast, deine Hand 
an dein reines weiches Herz und schwore : »Ewig bleibe du Gott 
und der Tugend geweiht, wenn auch nicht der Ruhe !« Dir schwor 
es; mir nicht, denn ich glaub' es ohne Schwur. — 

Welch' eine Paradenacht voll Sterne und Traume war das! und 
welch ein Galatag der Natur kam auf sie! In Viktors Kopf stand 
nichts als St. Lune, blau uberzogen, silbern iibertauet und mit 
20 dem schonsten Engel geschmuckt, der heute nasse frohe Augen 
in den freundlichen Himmel hob und dachte : »Wie bist du heute 
gerade an meinem Wiegenfeste so schon !«- Sogar der Stadtsenior 
und seine Tochter, welche beide Hochzeit machten - jener eine 
Wieder-Hochzeit mit seiner Seniorin, diese eine erste mit dem 
Waisenhausprediger -, schoben sich in den Zug seiner freudigen 
Gedanken als zwei neue Paare ein. 

Er wollte nicht nach St. Liine, sondern er sagte : »Ich ziehe mich 
nur an zu einem kleinen Spaziergange.« - 

»Es ist ganz egal, wo ich heute gehe«, sagt* er drauBen und ging 
30 also auf den St. Luner Weg. - 

»Umkehren kann ich allemak, sagt* er auf halbem Wege. 

»Noch narrischer aber war's, wenn ich zugleich Briefsteller und 
Brieftrager wiirde und mein eignes Schreiben einhandigte«, sagte 
er und zog solches heraus. — 

»Und meiner guten Mutter ihres beantwortete ich bei dieser Ge- 
legenheit mundlich«, fuhr er halb im Traume fort und voll groBe- 



768 HESPERUS 

rer Liebe gegen sie, die ihm den holden nachtlichen durch die 
Nachricht des Geburttages zugeschickt. - 

Da er aber das Liiner Vorgelaute zum Kirchengelaute 

vernahm: so sprang er empor und sagte: »Nunmehr versalz* ich 
mir den Weg nicht langer durch weitere Skrupel, sondern ich 
marschiere keck und entschlossen ins Dorf.« 

Und so zog er an der Hand Fortunens, hinter dem Nachlacheln 
der ganzen Natur, mit Traumen im Herzen, mit unschuldiger 
Hoffnung im neu auf bliihenden . Angesicht, in das Eden seiner 
Seele ein. IO 

Flamin hatt' er nicht mitgebeten, um dem Stadtsenior den 
Hochzeitgast nicht zu nehmen, und weil er selber nicht wuBte, 
daB er nach St. Lime gelangen wiirde - und vielleicht auch, weil 
er seine phantasierende Aufmerksamkeit auf den schimmernden 
Morgen durch keine juristischen Akten-Neuigkeiten wollte sto- 
ren lassen. Er ging uberhaupt lieber mit einer Frau als einem 
Mann spazieren. Manner schamen sich beinahe nebeneinander 
anderer als stummer Empfindungen; aber weiblichen Seelen off- 
nen sich gern die verschamten Gefuhle; denn sie decken das 
nackte Herz mit Mutterwarme zu, damit es nicht unter dem Ent- 20 
hiillen erkalte. 

Da Viktor unten urns Pfarrhaus ging, sah er oben selber zum 
Fenster auf sich herunter, in seiner zweiten Auflagefiireinigegute 
Freunde; aber der Wachs- Viktor muBte sogleich hinter eine spa- 
nische Wand getrieben werden, damit er den fleischernen nicht 
erschreckte. Der Empfang des letzten und das Jubelfest dabei 
braucht nicht lebhafter von mir beschrieben zu werden, als daB 
ich sage : der Mops wurde fast ertreten, der Gimpel sprang urn- 
sonst nach seinem Friihstiick herum, die Pfarrerin brachte in 
ihrer anblickenden Freude auch dem Gaste keines, und die Kirche 3<> 
ging erst nach dem Doppel-Uso von einer halben Stunde an; 
daher diesesmal mehre Eingepfarrte als sonst betrunken hinein- 
kamen. 

Berauscht, aber von Freude, kam Viktor auch hinein. Es ist 
nichts Angenehmeres, als eine Pfarrfrau zu sein und zum Mann, 
wenn sie ihm das geistliche Baffchen umlegt, zu sagen: »Mach es 



19. HUNDPOSTTAG 769 

heute langer, die Keule brat sonst nicht gar.« - Die hauslichen 
Kleinigkeiten ergotzten meinen Helden ebensosehr, als ihn die 
hofischen erziirnten. 

Er ging mit dem Pfarrer und der Pfarrerin, die alle Prozesse 
der Kuche und Toilette summarisch und mannlich abkiirzte. Seine 
Duldung gegen die Fehler des geistlichen Standes hatte mit jener 
vornehmen stift- und tafelfahigen nichts gemein, welche aus hoch- 
ster Verachtung entsteht, und die einen christlichen Priester so 
leicht wie einen agyptischen ertragt : sondern sie kam aus seiner 

10 Meinung, da8 die Kirchen noch die einzigen Sonntagschulen und 
spartischen Schulpforten des armen Volkes sind, das seinen cours 
de morale nicht beim Staate horen kann. Auch liebte er als Jung- 
ling die Lieblinge seiner Kindheit. 

Viele Prediger suchen den Quintilian, der schteckte Grunde in 
Reden vora/zgestellet haben will, und den Cicero, der sie erst 
hintennach verlangt, zu vereinigen und postieren solche an beiden 
Orten; aber Eymann hielt gute Empfindungen fur besser als 
schlechte Grunde und wand um den Bauern nicht Schlufi-, son- 
dern Blumenketten. 

20 Der obige Friseur wollte anfangs nicht in die Kirche, weils 
unter seinem Stand war, aber nachher konnt' er nicht anders; 
denn wegen des fremden Hofherrn darin wurde Kirchenmusik 
gemacht. 

Es ist der einzige Fehler des Peruckenmachers Meuseler, daB 
er zu gern singt und seine Kehle in alle Kirchenmusiken, die in 
seiner Peruckendiozes gemacht werden, einmengt, zumal am hei- 
ligen Pfingstfest. Der Liiner Kantor wollt' es nie leiden; aber wie 
beruckt er diesen und labt tausend Ohren?'So bloB: er frisierte 
heute hinaus, was noch zu frisieren war (nicht bloB heute, son- 

*° dern es ging allemal so), und glitt bloB an der Chortreppe hinan. 
Hier wachte und lehnt' er so lange, bis der Kantor, auf dem musi- 
kalischen Wurstschlitten seBhaft, mit dem Finger in den ersten 
Akkord der Kirchenmusik einhieb. Dann fuhr er wie ein Sonnen- 
strahl schnell ins Chor und mausete dem jungen Altisten sein 
Pensum weg und sangs dem Kirchensprengel in die Ohren, je- 
doch unter so viel Jammer und Puffen, als sang* er sein Manu- 



77° HESPERUS 

skript den Rezensenten vor. Denn man muB es nun einmal der 
Welt bekannt machen, daB der bissige Klavierist dem frisieren- 
den Altisten mit einem spitzwinkligen Triangel von Ellenbogen 
wiitig entgegenstochert, urn den fremden Singvogel aus dem 
Vogelhause des Chors zu stoBen. Da aber der Sanger seinen 
rechten Arm zum festen Notenpulte seines Textes und den an- 
dern zur Streitkolbe machte, wie die an Jerusalem bauenden Ju- 
den, welche die eine Hand voll Bauzeug, die andre voll Waffen 
hatten: so konnte der Pertickenmacher, unter fortwahrendem 
Fechten und Musizieren, schon sein moglichstes tun und einiges i< 
durchsetzen wahrend des Gottesfriedens der Musik. Aber sobald 
die Musik den letzten Atem gezogen hatte : so setzte der harmo- 
nische Strkhvogel und Sturmlaufer behend iiber das Chor hinaus 
und sann unterwegs tausend Ohren und einem einzigen Ellen- 
bogen nach. Der Kantor konnt* ihn nicht riechen und nicht krie- 
gen. 

Lief er hingegen glucklicherweise mit seinen Schachteln 
durch ein Dorf, wo gerade Pfarr- und Schulherr und padago- 
gischer Froschlaich eine taube Leiche umquakten und umkrach- 
zeten, welches viele noch kurzer eine Leichenmusik nennen : so z< 
konnte der Virtuose, ohne Gegenstemmung der Ellenbogen, mun- 
ter mit zwei FiiBen mitten in die Motette hineinspringen - das 
Trauer-Standchen, das die Erben dem Toten bringen, bearbeiten 
— dem Leichenzuge einige Finalkadenzen gratis zuwerfen und 
doch noch im Dorfe dem Amtmann eine ganz neue Beutelperucke 
anbieten. - 

Unserem Helden machte die Dorfkirchen-Musik das groBte 
satirische Vergniigen. Wir aber hatten wenig davon, wenn ich 
nicht so vorsichtig ware, daB ich um die Erlaubnis nur zu einer 
elenden Extrasilbe - man soil sie kaum sehen - iiber die Kirchen- 3 
musik bettelte. 



19. HUNDPOSTTAG 771 

Elende Extra-Silbe iiber die Kirchenmusik 

Ich sehe allemal mit Vergniigen, daB die Leute in einer Kirchen- 
musik sitzen bleiben, weil es ein Beweis ist, daB keiner von der 
Tarantel gestochen ist; denn liefen sie hinaus, so sahe man, sie 
konnten keine MiBtone aushalten und waren also gebissen. Ich 
als profaner Musikmeister setze nur fiir wenige Kirchen — namlich 
fiir geflickte oder fiir neue den Einweihlarm - und verstehe also 
im Grunde von der Sache nichts, woriiber ich mich im Vorbei- 
gehen auslassen will ; aber soviel sei mir doch erlaubt zu behaup- 

10 ten, daB die Iutherischen Kirchenmusiken etwas taugen — auf dem 
Lande, nicht in den Residenzstadten, wo vielleicht die wenigsten 
MiBtone richtig vorgetragen werden. Wahrlich, ein elender, ver- 
soffner, blauer Kantor, der in Bravour-Arien sich braun singt und 
andere braun schlagt - es gibt also zweierlei Bravour-Arien -, ist 
imstande, mit einigen Handwerkern, die Sonntags auf der Geige 
arbeiten, mit einem Trompeter, der die Mauern Jerichos nieder- 
pfeifen konnte ohne Instrument, mit einem Schmied, der sich mit 
den Pauken herumprugelt, mit wenigen krampfhaften Jungen, 
die das Singen noch nicht einmal konnen, und die doch einer 

20 Sangerin gleichen, welche nicht wie die schonen Kiinste 
allein fiir Ohr und Auge arbeitet, sondern auch (aber in einem 
schlimmern Sinn als die Jungen) fiir einen dritten Sinn, und mit 
dem wenigen Wind, den er aus den Orgel-Lungenfliigeln und 
aus seinen eignen holt, ein solcher stampfender Mann ist, sag' 
ich, imstande, mit so auBerordentlich wenigem musikalischen 
Gerumpel doch ein viel lauteres Donnern und Geigenharz-BHtzen 
um den Kanzel-Sinai, ich meine eine weit heftigere und miB- 
tonendere Kirchenmusik aus seinem Chor herauszumachen als 
manche viel besser unterstiitzte Theater- Orchester und Kapellen, 
mit deren Wohllauten man so oft Tempel entweiht. Daher tut es 
nachher einem solchen lauten Manne weh, wenn man sein Kir- 
chen-Gekratze und Geknarre verkennt und falsch beurteilt. Soil 
sich denn in alle unsre Provinzialkirchen das weiche leise herrn- 
hutische Tonen einschleichen? - Es gibt aber zum Gliick noch 
Stadtkantore, die dagegen arbeiten, und die wissen, worin reiner 



772 HESPERUS 

Chor- und Mi Eton sich vom Kammerton zu unterscheiden 
habe. 

Den Lesern nicht, aber Organisten kann ich zumuten^ daB sie 
wissen, warum bloBe Dissonanzen — denn Konsonanzen sind nur 
unter dem Stimmen der Instrumente zu ertragen - aufs Chor ge- 
horen. Dissonanzen sind nach Euler und Sulzer Ton-Verhalt- 
nisse, die in groBen Zahlen ausgedriickt werden; sie miBfallen uns 
also nicht wegen ihres MiBverhaltnisses, sondern wegen unsers 
Unvermogens, sie in der Eile in Gleichung zu bringen. Hohere 
Geister wiirden die nahen Verhaltnisse unserer Wohllaute zu 10 
leicht und eintonig, hingegen die groBern unserer MiBtone rei- 
zend und nicht iiber ihre Fassung finden. Da nun der Gottesdienst 
mehr zur Ehre hoherer Wesen als zum Nutzen der Menschen ge- 
halten wird: so muB der Kirchenstil darauf dringen, daB Musik 
gemacht werde, die fiir hohere Wesen passet, namlich eine aus 
MiBtonen, und daB man gerade die, die fiir unsre Ohren die ab- 
scheulichste ist, als die zweckmaBigste fiir Tempel wahle. 

Machen wir einmal der herrnhutischen Instrumentalmusik die 
Kirchentiire auf : so steckt uns zuletzt auch ihr Singen an, und es 
verliert sich nach und nach alles Sing-Geblok, welches unsre 20 
Kirchen so lustig macht, und welches fiir Kastratenohren ein so 
unangenehmer Hammer des Gesetzes, aber fiir uns ein so guter 
Beweis ist, daB wir den Schweinen ahneln, die der Abt de Baigne 
auf Befehl Ludwigs XL, nach der Tonleiter geordnet, mit Tan- 
genten stach und zum Schreien brachte. So denk* ich iiber Kir- 
chen- oder neudeutschen Schlachtgesang. 

Ende der Extrasilbe iiber die Kirchenmusik 

Ich hatte den Haarkrausler nicht so lange singen und agieren 
lassen, wenn mein Held diesen ganzen Sonntag zu etwas anderem 
zu gebrauchen ware als zu einem Figuranten; aber den ganzen s< 
Tag tat er nichts von Belang, als daB er etwan aus Menschenliebe 
die alte Appel zwang - indem er ihre Kommoden und Schachteln 
selber auspackte -, von ihrem Korper, der lieber Schinken als 
sich anputzte, die gewohnliche, mit typographischer Pracht ge- 
druckte Schabbes-Ausgabe schon um drei Uhr nachmittags zu 



19. HUNDPOSTTAG 773 

veranstalten: sonst lieferte sie solche erst nach dem Abendessen. 
Die Juden glauben, am Sabbat eine neue Schabbesseele zu be- 
kommen: in die Madchen fahrt wenigstens eine, in die Appeln 
ein paar. 

Aber warum mut' ich meinem Helden zu, heute mehr Hand- 
lung zu zeigen-ihm, der heute -versunken in die Traum-Nacht 
und in den kommenden Abend - bewegt durch jedes freundliche 
Auge und durch die Urnen des weggetraumten Lenzes - sanft 
aufgeloset durch den stillen lauen Sommer, der an den Rauch- 

10 altaren der Berge, auf den mit Milchflor belegten Fluren und unter 
dem verstummenden Trauergefolge von Vogeln lachelnd und 
sterbend lag und beim Aufsteigen der ersten Wolke auf dem 
Laube verschied - Viktor, sag' ich, der heute, von lauter weichen 
Erinnerungen wehmutig angelachelt, fuhlte, daB er bisher zu 
lustig gewesen. Er konnte die guten Seelen um ihn nur mit lieben- 
den schimmernden Augen anblicken, diese noch schimmernder 
wegwenden und nichts sagen und hinausgehen. Ober seinem Her- 
zen und iiber alien seinen Noten stand tremolando. Niemand wird 
tiefer traurig, als wer zu viel lachelt; denn hort einmal dieses 

io Lacheln auf, so hat alles iiber die zergangne Seele Gewalt, und ein 
sinnloser Wiegengesang, ein Flotenkonzert - dessen Dis- und 
Fis-klappen und Ansatze bloB zwei Lippen sind, womit ein Hir- 
tenjunge pfeift - reiBet die alten Tranen los, wie ein geringer Laut 
die wankende Lawine. Es war ihm, als wenn ihm der heutige 
Traum gar nicht erlaubte, Klotilden anzureden; sie schien ihm zu 
heilig und noch immer von geflugelten Kindern gefiihrt und auf 
Eisthronen gestellt. Da er iiberhaupt flir Le Bauts Gesprache im 
Reiche der Moralisch-Toten heute keine Zunge und keine Ohren 
hatte: so wollt* er im grofien laubenvollen Garten dem Stamitzi- 

jo schen Konzert ungesehen zuhoren und sich hochstens vom Zu- 
fall vorstellen lassen. Sein zweiter Grund war sein zum Resonanz- 
boden der Musik geschafFnes Herz, das gern die eilenden Tone 
ohne Storung aufsog, und das die Wirkungen derselben gern den 
gewohnlichen Weltmenschen verbarg, die Goethes, RafFaels und 
Sacchinis Sachen wahrhaftig ebensowenig (und aus keinen ge- 
ringern Grtinden) entbehren konnen als Loschenkohls seine. Die 



774 HESPERUS 

Empfindung erhebt zwar tiber die Scham, Empfindung zu zeigen; 
aber er haBte und floh wahrend seiner Empfindungen alle Auf- 
merksamkeit auf fremde Aufmerksamkeit, weil der Teufel in die 
besten Gefuhle Eitelkeit einschwarit, man weiB oft nicht wie. In 
der Nacht, im Schattenwinkel fallen Tranen schoner und ver- 
diinsten spater. 

Die Pfarrerin bestarkte ihn in allem; denn sie hatte heimlich - 
in die Stadt geschickt und den Sohn eingeladen und eine Ober- 
raschung im Garten kunstlerisch angelegt. - 

Die Pfarrleute hoben sich endlich in den belaubten Konzert- ic 
saal und dachten nicht daran, wie sehr sie von Le Bauts Hause 
verachtet wiirden, das nur edle Metalle und edle Geburt, nie edle 
Taten fur Eintrktkarten gelten lieB, und das die Pfarrleute als 
Freunde des Lords und Matthieus hoch, aber als Schofihunde 
beider noch hoher geschatzt hatte. 

Viktor blieb im Pfarrgarten ein wenig zurtick, weil es noch zu 
hell war, und auch weil ihn die arme Apollonia dauerte; diese 
guckte einsam und ungesehen im vollen Putze aus dem Fenster 
des Gartenhauschens in die Luft und wiegte das Patchen steil- 
recht, das sie bald uber ihren Kopf, bald unter ihren Mageh hing. « 
Er setzte, wie ein SpieBbtirger, im Gartenhaus den Hut nicht auf, 
um ihren Mut durch Hoflichkeit zu starken, Ein Wicktlkind ist 
gleichsam der Einblaser und Balgtreter der Kinderwarterin : der 
junge Sebastian schickte Appeln hinreichenden Entsatz gegen den 
altern, und sie unterfing sich zuletzt, zu reden und anzumerken, 
das Patchen sei ein guter, lieber, schoner »Bastel«. »Aber« (setzte 
sie dazu) »die gnadige Frolen (Klotilde) durfen das nicht hdren; 
Sie wollen haben, wir sollen ihn Viktor nennen, wenn Sie horen, 
daB der Vater Bastel sagt.« Sie strich es nun heraus, wie Klotilde 
sein Patchen lie be, wie oft sie ihr den kleinen Schelm abnehme 3 c 
und ihn anlachle und abkiisse; und die Lobrednerin wiederholte 
am Kleinen alles, was sie pries. Ja der erwachsene Sebastian tat es 
auch nach, aber er suchte auf den kleinen Lipperinichts As fremde 
Kusse; und vielleicht gehorten bei Appeln wieder seine unter die 
Sachen, die gesucht werden. Der Glucklichere verlieB die Gluck- 
lichere; denn Amor schickte nun eine geschmuckte Hoffnung 



19- HUNDPOSTTAG 775 

nach der andern an sein Herz als Boten ab, und alle sagten: »Wir 
beltigen dich wahrhaftig nicht; trau uns!<( 

Endlich fing Stamitz zu stimmen an, um welchen die zahe 
Obristkammerei sich gewifl nichts bekiimmert hatte, weil heute 
keine Fremde da waren, hatte sich nicht Klotilde dieses Garten- 
konzert als die einzige Feier ihrer Geburtnacht erbeten gehabt. 
Stamitz und sein Orchester fullten eine erleuchtete Laube - der 
adelige Horsaal saB in der nachsten hellsten Nische und wiinschte, 
es ware schon aus - der biirgerliche saB entfernter, und der 

io Kaplan flocht ausFurchtvor demkatarrhalischenTau-Fufiboden 
ein Bein urns andre uber die Schenkel - Klotilde und ihre Agathe 
ruhten in der dunkelsten Blatterloge. Viktor schlich sich nicht 
eher ein, als bis ihm die Ouverture den Sitz und das Sitzen der 
Gesellschaft ansagte ; in der fernsten Laube, in der wahren Sonnen- 
ferne nahm dieser Bartstern Platz. Die Ouverture bestand aus 
jenem musikalischen Gekritzel und Geschnorkel - aus jener har- 
monischen Phraseologie - aus jenem Feuerwerkgeprassel wider- 
einander tonender Stellen, welches ich so erhebe, wenn es nirgends 
ist als in der Ouverture. Dahin passet es; es ist der Staub- 

20 regen, der das Herz fiir die groBen Tropfen der einfachern Tone 
aufweicht. Alle Empfindungen in der Welt bedurfen Exordien; 
und die Musik bahnet der Musik den Weg- oder die Tranenwege. 
Stamitz stieg - nach einem dramatischen Plan, den sich nicht 
jeder Kapellmeister entwirft - allmahlich aus den Ohren in das 
Herz, wie aus Allegros in Adagios; dieser groBe Komponist geht 
in immer engern Kreisen um die Brust, in der ein Herz ist, bis er 
sie endlich erreicht und unter Entzuckungen umschlingt. 
■ Horion zitterte einsam, ohne seine Gelkbten zu sehen, in einer 
fmstern Laube, in welche ein einziger verdorrter Zweig das'Licht 

30 des Mondes und seiner jagenden Wolken einlieB. Nichts ruhrte 
ihn untef einer Musik allezeit mehr, als in die laufenden Wolken 
zu sehen. Wenn er diese Nebelstrome in ihrer ewigen Flucht um 
unser Schatten-Rund begleitete mit seinen Augen und mit den 
Tonen, und wenn er ihnen mitgab alle seine Freuden und seine 
Wiinsche: dann dacht' er, wie in alien seinen Freuden und Lei- 
den, an andre Wolken, an eine andre Flucht, an andre Schatten 



77*5 HESPERUS 

als an die iiber ihm, dann lechzete und schmachtete seine ganze 
Seele; aber die Saiten stillten das Lechzen, wie die kalte Bleikugel 
im Mund den Durst abloscht, und die Tone loseten die driicken- 
den Tranen von der vollen Seele los. 

Teurer Viktor! im Menschen ist ein groBer Wunsch, der nie 
erfullt wurde: er hat keinen Namen, er sucht seinen Gegenstand, 
aber alles, was du ihm nennest, und alle Freuden sind es nicht; 
allein er kommt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Nor- 
den siehst oder nach fernen Gebirgen, oder wenn Mondlicht auf 
der Erde ist, oder der Himmel gestirnt, oder wenn du sehr gluck- i 
lich bist. Dieser groBe ungeheure Wunsch hebt unsern Geist em- 
por, aber mit Schmerzen : ach! wir warden hienieden liegend in die 
Hoke geworfen gleich Fallsuchtigen. Aber diesen Wunsch, dem 
nichts einen Namen geben kann, nennen unsre Saiten und Tone 
dem Menschengeiste - der sehnsuchtige Geist weint dann starker 
und kann sich nicht mehr fassen und ruft in jammerndem Ent- 
ziicken zwischen die Tone hinein: ja alles, was ihr nennt, das 
fehlet mir 

Der ratselhafte Sterbliche hat auch eine namenlose ungeheure 
Furcht, die keinen Gegenstand hat, die bei gehorten Geister- * 
erscheinungen erwacht, und die man zuweilen fuhlt, wenn man 
nur von ihr spricht — 

Horion iibergab sein zerstoBenes Herz mit stillen Tranen, die 
niemand flieBen sah, den hohen Adagios, die sich mit warmen 
Eiderdunen-Flugeln iiber alle seine Wunden legten. Alles, was er 
liebte, trat jetzt in seine Schatten-Laube, sein altester Freund und 
sein jungster — er hort die Gewitterstiirmer des Lebens lauten, 
aber die Hande der Freundschaft strecken sich einander entgegen 
und fassen sich, und noch im zweiten Leben halten sie sich unver- 
weset. — 3' 

Alle Tone schienen die iiberirdischen Echo seines Traumes zu 
sein, welche Wesen antworteten, die man nicht sah und nicht 
horte 

Er konnte unmoglich mehr in dieser nnstern Einzaunung mit 
seinen brennenden Phantasien bleiben und in dieser zu grofien 
Entfernung vom Pianissimo. Er ging - fast zu mutig und zu nahe 



19. HUNDPOSTTAG 777 

- durch einen Laubengang den Tonen naher zu und driickte das 
Angesicht tief durch die Blatter, um endlich Klotilde im fernen 
griinen Schimmer zu erblicken 

Ach er erblickte sie auch ! - Aber zu hold, zu paradiesisch ! Er 
sah nicht das denkende Auge, den kalten Mund, die ruhige Ge- 
stalt, die so viel verbot, und so wenig begehrte: sondern er sah 
zum erstenmal ihren Mund von einem suBen harmonischen 
Schmerz mit einem unaussprechlich-ruhrenden Lacheln umzogen 

- zum erstenmal ihr Auge unter einer vollen Trane niederge- 
10 sunken, wie ein VergiBmeinnicht sich unter einer Regenzahre 

beugt. O diese Gute verbarg ja ihre schonsten Gefuhle am mei- 
sten! Aber die erste Trane in einem geliebten Auge ist zu stark fur 
ein zu weiches Herz . . . Viktor kniete, iiberwaltigt von Hochach- 
tung und Wonne, vor der edeln Seele nieder und verlor sich in 
die dammernde weinende Gestalt und in die weinenden Tone. - 
Und da er endlich ihre Zuge erblasset sah, weil das griine Laub 
mit einem totenfarbigen Widerschein der Lanipen ihre Lippen 
und Wangen iiberdeckte - und da sein Traum und die Klotilde 
wieder erschien, die darin unter den blumigen Hugel versunken 

20 war - und da seine Seele zerrann in Traume, in Schmerzen, in 
Freuden und in Wunsche fiir die Gestalt, die ihr Wiegenfest mit 
andachtigen Tranen heiligte : o war es da zu seinem Zergehen noch 
notig, dafi die Violine ausklang, und daB die zweite Harmonika, 
die Viole d'Amour, ihre Spharen-Akkorde an das nackte, ent- 
ziindete, zuckende Herz absandte? - O! der Schmerz der Wonne 
befriedigte ihn, und er dankte dem Schopfer dieses melodischen 
Edens, daB er mit den hochsten Tonen seiner Harmonika, die das 
Herz des Menschen mit unbekannten Kraften in Tranen zer- 
splittern, wie hohe Tone Glaser zersprengen, endlich seinen 

30 Busen, seine Seufzer und seine Tranen erschopfte: unter diesen 
Tonen, nach diesen Tonen gab es keine Worte mehr; die voile 
Seele wurde von Laub und Nacht und Tranen zugehiillt - das 
sprachlose Herz sog schwellend die Tone in sich und hielt die 
aufiern fiir innere - und zuletzt spielten die Tone nur leise wie 
Zephyre um den Wonneschlaftrunknen, und bloB im sterbenden 
Innern stammelte noch der iiberselige Wunsch: »Ach Klotilde, 



7/8 HESPERUS 

konnt' ich dir heute dieses stumme, gluhende Herz hingeben - 
ach konnt* ich an diesem unverganglichen Himmelsabend, mit 
dieser zitternden Seele sterbend vor deine FuBe sinken und die 
Worte sagen: ich Hebe dich!« — 

Und alser an ihren Festtag dachte und an ihren Brief nach 
Maienthal, der ihm das groBe Lob gegeben, ein Schiiler Emanuels 
zu sein, und an kleine Zeichen ihrer Achtung fur ihn und an die 
schone Verschwisterung seines Herzens niit ihrem - ja da trat die 
himmlische HofTnung, dieses geadelte Herz zu bekommen, zum 
erstenmal unter Musik nahe an ihn, und die HofFnung HeB die 10 
Harmonikatone wie verrinnende Echos weitiiber die ganze Zu- 
kunft seines Lebens flieBen 

»Viktor!« sagte jemand in langsam gedehntem Ton. Er sprang 
auf und kehrte seine veredelten Ziige gegen den - Bruder seiner 
Klotilde und umarmte ihn gern. Flamin, in welchen alle Musik 
Kriegsfeuer und freiere Aufrichtigkeit warf, sah ihn staunend, fra- 
gend und unmerklich schiittdnd und mit jener Freundlichkeit an, 
die wie Hohn aussah, dieaberallezeitbloBesSchmerzenempfange- 
ner Beleidigungen war. »Warum nahmst du mich heute nicht mit?« 
sagte freundlich Flamin. Viktor driickte seine Hand und schwieg. 20 

»Nein! rede!« sagte jener. - »LaB es heute, mein Flamin, ich 
sage dirs noch«, versetzte Viktor. 

»Ich will dirs selber sagen« (begann jener schneller und warmer) 
— »Du denkst vielleicht, ich werde eifersiichtig. Und siehe, kennt' 
ich dich nicht, so wiird' ichs auch; wahrlich, ein anderer wiird' es, 
wenn er dich hier so angetroffen hatte und alles zusammenrech- 
nete, deine neuliche Entfernung aus unserem Gartenhaus in die 
Laube — dein Schreiben ohne Licht und dein Singen von Liebe« - 

»An Emanuek, sagte Viktor sanft - 

»Dein Abgcben dieses Blattes an sie« — 30 

»Es war ein anderes aus ihrem Stammbuche«, sagt' er — 

»Noch schlimmer, das wuBt' ich nicht einmal - Dein Zogern in 
St. Liine und tausend andre Zuge, die mir nicht sogleich ein- 
fallen, dein heutigcs Alleingehen« - 

»0 mein Flamin, das geht weit, du siehst mit einem andern 
Auge als dem der Freundschaft« — 



19. HUNDPOSTTAG 779 

Hier wurde Flamin, der sich in nichts verstellen konnte, ohne 
es sogleich zu werden, und der keine Beleidigung erzahlen konnte, 
ohne in den alten Zorn zu geraten, warmer und sagte weniger 
freundlich: »Es sehens schon andre auch, sogar der Kammerherr 
und die Kammerherrin.« 

Dieses zerrifi Viktor das Herz. »Du Teurer, alter Jugendfreund, 
so sollen wir auseinander gezogen und gerissen werden, wir mo- 
gen noch so sehr bluten; es soil also diesem Matthieu gelingen 
(denn von dem kommt alles, nicht von dir, du Guter), daB du 

io mich marterstj und daB ich dich martere - Nein, es soil ihm nicht 
gelingen - Du sollst nicht von mir genommen werden - Siehe bei 
Gott,« (und hier stand in Viktor das Gefuhl seiner Unschuld er- 
haben auf) »und wenn du mich jahrelang verkennst, so kommt 
doch die Zeit, wo du erschrickst und zu mir sagst: ich habe dir 
unrecht getan! - Aber ich we. ie dir gern vergeben.« 

Dieses ruhrte den Eifersuch gen, der heute uberhaupt (wegen 
einer besondern Ursache) gela^sener war. »Sieh,« (sagt* er) »ich 
glaube dir allemal: sag es, tust du nie etwas gegen mich?« - »Nie, 
nie, mein Lieber!« antwortete Viktor. - »Jetzt verzeih meiner 

*o Hitze,« fuhr jener fort, »so nab* ich schon mit meiner verfluchten 
Eifersucht einmal Klotllden selber in Maienthal gequalt - aber 
dem Matthieu tue nicht unrecht; er ists vielmehr, der mich be- 
ruhigte. Er sagte mir es zwar, was Klotildens Eltern zu merken 
geglaubt, ja noch mehr - sieh, ich sage dir alles - sie hatten sogar 
wegen deiner vorgeblichen Neigung und wegen deines jetzigen 
Einflusses, den der Kammerherr gern zu seiner Wiedererhebung 
benutzen mochte, von einer moglichen Verbindung mit der Toch- 
ter gesprochen, auch gegen diese, und sie ausgeforscht; aber (dir 
ists doch gleichgultig) rneine Geliebte blieb mir treu und sagte 

3° Nein.« - 

Nun war unserm Freund das vorher so gluckliche Herz ge- 
brochen; dieses harte Nein war bisher noch nicht gegen ihn aus- 
gesprochen worden - mit einer unaussprechlichen, niederdriicken- 
den, aber stillen Wehmut sagt' er leise zu Flamin: »Bleib du mir 
auch treu - denn ich habe ja wenig; und quale mich nie mehr so 
wie heute.« Er konnte nicht mehr reden; die erstickten Tranen 



780 HESPERUS 

sturmten flutend auf sein Herz hinan und sammelten sich schmerz- 
lich unter dem Augapfel - er muBte jetzt einen stillen dunkeln 
Ort haben, wo er sich recht ausweinen konnte, und in seinem auf- 
gerissenen schmerzenden Innern war bloB der Gedanke noch 
sanft und balsamisch: »Jetzt in der Nacht kann ich weinen, so viel 
ich will, und niemand sieht mein zerrissenes Angesicht, meine 
zerrissene Seele, mein zerrissenes Gluck.« 

Und als er dachte: »Ach Emanuel, wenn du mich heute so 
sahest« — konnt* er sich kaum mehr halten. 

Er floh mit zuruckgestemrhten Tranen, gleichgiiltig wer es sehe lc 
oder nicht, aus dem Garten, iiber welchen ein diisterer Engel eine 
groBe Trauerfahne fliegen lieB und Leichenmusik. Er stieB sich 
wund an einer steinernen Gartenwalze, womit man die beregneten 
Grasspitzen und Blilmchen niederquetscht - er weinte noch nicht, 
aber auf der Warte^ da wollt* er sich sattigen und tranken mit 
reichlichem Schmerz — er wiederholte immer : »Aber sie blieb ge- 
treu und sagte Nein, nein, nein« — die Konzerttone wehten ihm 
nach wie Feuer dem, der es besprochen - er watete durch nasse 
entschlummerte Fluren,die ihre Blumen verhullten, und schneller 
als er strichen auf der Erde die Schattenrisse des oben vom Winde 2 ° 
verfolgten Gewolkes dahin — er stand an der Warte, hielt jede 
Zahre noch und rannte hinauf- er waif sich auf die Bank, wo er 
Klotilden zum ersten Male im weiBen Gewand von feme gesehen 
- »Ruhe du auch, Horion !« hatte sie aus seinem Traum ihm unter 
dem Blumenhugel zugerufen, und er horte es wieder. — 

Hier riB er freudig alle seine Wunden auf und HeB sie frei hin- 
bluten in Tranen - sie iiberzogen mit triiben Stromen das An- 
gesicht, das sanft oft gelachelt hatte, aber immer gutmutig, und 
das andern keine abgepresset, sondern abgetrocknet hatte - jede 
Flut war eine weggehobne Last, aber das Herz wurde darauf wie- 30 
der schwer und vergoB die neue. - Endlich konnt' er die Tone 
wieder horen, die meisten sanken unter, eh' sie an den Turm ge- 
flossen waren, kleine kamen sterbend an und zergingen in seinem 
dunkeln Herzen — jeder Ton war eine fallende Trane und machte 
ihn leichter und sprach seinen Kummer aus - der Garten schien 
aus sanft ertonenden, gebrochen-uberdammerten, dunkelgrunen 



19. HUNDPOSTTAG 78 1 

Schattenwogen zu bestehen - er riB, von Erinnerung gestochen, 
das Auge davon weg: »Was geht er mich mehr an«, dacht' er. 
Aber endlich stieg aus diesem Schatten-Eden und aus der Viole 
d' Amour das Lied »VergiB mein nicht« zu seinem rnuden Herzen 
auf und gab ihm wieder den sanftern Schmerz und die vergangne 
Liebe: »Nein,« sagt* er, »ich vergesse dein auch nicht, ob du mich 
gleich nicht geliebt — Deine Gestalt wird mich doch ewig ruhren 
und an meine Traume erinnern - ach du Himmlische, es ist ja 
jetzt das einzige, was mich nicht schmerzet, wenn ich denke: ich 

10 vergesse dein nicht.« 

Alles wurde stumm und ausgeloscht; er war allein neben der 
Nacht. Endlich ging er nach der Iangen Stille herab und nach 
Flachsenfingen zu, matt geweint und arm geworden. Und als er un- 
terweges schnell zum schwarzblauen Himmel, in welchem irrende 
Wolken um den Mond wie Schlacken umhergeworfen waren, 
hinaufblickte und schnell wieder iiber die halb vernichtete Schat- 
tengegend, iiber die Schattenberge und Schattendorfer: so kam 
ihm alles tot, leer und eitel vor, und es schien ihm, als war' in 
irgendeiner hellern Welt eine Zauberlaterne - und durch die La- 

2^ terne riickten Glaser, worauf Erden und Fruhlinge und Menschen- 
gruppen gefarbet waren - und die herabgeflossenen hupfenden 
Schattenbilder dieser Glaser nennten wir Uns und eine Erde und 
ein Leben - und allem Bunten liefe ein grofier Schatten hinten- 

nach. 

Ach, ich rege vielleicht in mancher Brust langst vergessene Be- 
klemmungen wieder auf, aber es tut uns wohl - da die Leiden so 
viel Platz in unserer Erinnerung einnehmen -, daB dieses herbe 
Lagerobst milde wird durch Liegen, und daB ein geringer Unter- 
schied ist zwischen einem vergangnen Schmerz und einer jetzigen 

3° Lust. 

Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit einem bleichen An- 
gesicht und mit brennenden Augen im Hause des Apothekors an. 
Er begehrte nichts, um seine gebrochne Stimme nicht zu ver- 
raten. Als er seinen Alltagsiiberrock im Mondschimmer hangen 
sah, und als er sich wie eine fremde Person vorstellte, der der 
Rock gehorte und die ihn am Morgen so freudig auszog und jetzo 



782 HESPERUS 

so trostlos anlegte: so ergriffein Mitleiden, das er mit sich selber 
hatte, wieder mit zu starkem Druck sein erschopftes Herz. Marie 
kam, und er wendete nicht einmal die Zeichen dieses Mitleids von 
ihr weg. Sie stand betroffen - er sagte ihr mit der sanftesten, aus 
Seufzern gewebten Stimme, er brauche nichts - und die gute Seele 
ging ohne Mut zum Trosten und zu Tranen Iangsam hinaus, aber 
die ganze Nacht vergoB sie unsichtbare iiber die fremden und iiber 
einen Kummer, der ihr nicht gesagt war. 

Warum orlnete gerade heute das Schicksal alle Adern seines 
Herzens? Warum lieB es gerade auf diesen Tag die Silberhochzeit 10 
des Stadtseniors und die erste Hochzeit seiner Tochter mit dem 
Waisenhausprediger treffen? Warum, wenn doch beide Hochzeit- 
feste auf diesen Tag zusammenfallen sollten, muBten sie bis nach 
Mitternacht fortwahren, wo sie den armen Viktor in alle Brand- 
statten seiner Hoffnungen schauen lieBen, wo er in einer lichter- 
vollen Stube aus seiner dunkeln die Liebe sah, welche Hande 
verkniipfte,Lippen zusammendriickte und Augen und Seelen ver- 
mischte? — Zu einer andern Zeit wiird' er iiber den Waisenhaus- 
prediger und iiber zwei Armenkatecheten gelachelt haben; aber 
heute konnt' er nur dariiber seufzen, und es ist eine sanfte Schon- 20 
heitlinie an seinem innern Menschen, daB er den armen Menschen 
das vergonnte, was er entbehrte : »Ach ihr seid glucklich«, sagte 
er - »o liebt euch recht, presset die klopfenden verganglichen Her- 
zen heiB aneinander, eh' sie der Fliigel der Zeit zerschlagt, und 
gliihet aneinander in der kurzen Minute des Lebens und wechselt 
eure Tranen und Kiisse, eh' die Augen und Lippen im Grabe er- 
frieren - ihr seid gliicklicher als ich, der ich das Herz voll Liebe 
niemand geben kann als den Wurmern des Grabes, »nd auf dessen 
Sarg ein Tischler die Oberschrift, die wie ich mit Erde bedeckt 
wird, farben soil : ihr guten Menschen, ihr habt mich nicht geliebt, 5 o 
und ich war euch doch so gut!« - 

Jedes gliickliche Lacheln, jeder flotende Violinenzug, jeder Ge- 
danke wurde jetzt seinem von Tranen umgebenen weichen Her- 
zen zur harten spitzen Ecke, so wie einer Hand, die sich in Wasser 
untertaucht, alles hart anzufiihlen wird. 

Seine grenzenloseAufrichtigkeit, seine grenzenloseErweichung 



19. HUNDPOSTTAG 783 

konnt' er mit nichts befriedigen, als mit einem Briefe an seinen 
Emanuel, in welchen er seine ganze Seele uberstromen lie 6. 



»0 teurer Geliebterl 

Sollt* ich denn dirs verbergeri, wenn mich Schmerzen uberman- 
nen oder Torheiten? Sollt' ich dir nur meine bereueten Fehler 
zeigen und nie meine gegenwartigen? - Nein, tritt her, Teurer, 
an meine wunde Brust, ich offne dir das Herz darin, es blute und 
poche unter der Entblofiung, wie es will - du deckest es doch 
vielleicht mit deiner vaterlichen Liebe wieder zu und sagst: ich 

10 lieb' es noch. - 

Du, mein Emanuel, ruhest in deiner hohen Einsamkeit, auf 
dem Ararat der erretteten Seele, auf dem Tabor der glanzenden : 
da blickestdu sanft geblendet indie Sonne der Gottheitundsiehest 
ruhig die Wolke des Todes auf die Sonne zuschwimmen — sie ver- 
hiillt sie, du erblindest unter der Wolke, sie verrinnt, und du 
stehst wieder vor Gott. - Du liebst Menschen als Kinder, die nicht 
beleidigen konnen - du liebst Erdengenusse wie Fruchte, die man 
zur Kuhlung pfliickt, aber ohne nach ihnen zu hungern - die Ge- 
witter und Erdbeben des Lebens gehen vor dir ungehort voruber, 

20 weil du in einem Lebens-Traum voll Tone, voll Gesange, voll 
Auen liegst, und wenn dich der Tod aufweckt, lachelst du noch 
uber den heitern Traum. 

Aber ach, mehr als ein Gewitter donnert hinein in den Lebens- 
traum von uns andern und macht ihn angstlich. Wenn ein hoheres 
Wesen in den Wirrwarr von Ideen treten konnte, der unsern 
Geist umgibt, und aus dem er seinen Atem holen muB, wie wir in 
einer aus alien Luftarten zusammengegossenen Luftart atmen - 
wenn es sahe, welche Nahrmittel durch unsern innern Menschen 
gehen, denen er seinen Milchsaft abgewinnen mufi, dieses Ge- 

3 o menge von komischen Opern - Bayles Worterbiichern - Kon- 
zerten von Mozart - Messiaden - Kriegsoperationen - Goethes 
Gedichten - Kants Schriften - Tischreden - Mond-Anschauun- 
gen - Lastern und Tugenden - Menschen und Krankheiten und 
Wissenschaften aller Art — wenn das Wesen diese Lebens-Olla- 



784 HESPERUS 

Potrida untersuchte: wtird* es nicht begierig sein, zu wissen, 
welche widersinnige Safte dadurch in der armen Seele zusammen 
gerinnen, und wiird' es sich nicht wundern, daB noch etwas Festes 
undGleichformigesimMenschenbleibt?— Achwenn dein Freund, 
Emanuel! bald in einem feinen Speisesaal, bald in'einem Garten, 
bald in einer Loge, bald vor dem groBen Nachthimmel, bald vor 
einer Kokette, bald vor dir ist: so macht ihm dieser zweideutige 
Wechsel der Auftritte Schmerzen und vielleicht Flecken . . . 

Nein, ich will meinen Emanuel nicht beliigen — O sind denn 
die Kleinigkeiten und die Steinchen dieses Lebens wert, daB wir ™ 
darum krumme Gange wahlen, wie die Minierraupe durch die 
Astchen ihres Blattes sich zu Krummungen zwingen laBt? - Nein, 
alles, was ich gesagt habe, ist wahr; aber ich hatt* es nicht gesagt, 
wenn nicht andre Schmerzen mich auch auf jene fuhrten; und 
doch hattest du es mir, du unschuldig-kindlich-erhaben-trauen- 
der Lehrer, geglaubt. Ach, du halst mich fur zu gut. . . o es 1st ein 
weiter ermiidender Schritt von der Bewunderung zur Nachah- 
mung! — Jetzt aber blick in mein geoffnetes Herz! 

Seitdem ich hier im Totenhaus meiner kindlichen Freuden, in 
den Beeten, wo meine Kindheitjahre gebliihet und abgebliihet *° 
haben, vielleicht mit zu vielen Traumen der Vergangenheit um- 
hergehe; - und noch mehr: von dem Tage an, wo du meinem 
Herzen den Reiz zum Fieber-Schlage auf mein ganzes Leben ge- 
geben, seitdem du mir das Leben aufgedeckt, worin sich der 
Mensch zerblattert, und den dunnen spitzigen Augenblick, auf 
dem er so schmerzhaft steht, seit jener Abschied-Nacht, wo meine 
Seele groB und meine Tranen unerschopflich waren, rinnt eine 
ewige Wunde in mir, und der Seufzer einer Sehnsucht, die nichts 
zu nennen weiB als Traume und Tranen und Liebe, Iiegt wie eine 
stockende Ader beklemmend und verzehrend in meiner Brust — 3^ 
Ach, ich lache noch wie sonst, ich philosophiere noch wie sonst, 
aber mein Inneres sieht nur der Geliebte, dem ichs jetzt entbloBe. 

O Schicksal, warum schlugst du in den Menschen den Funken 
einer Liebe, die in seinem eignen Herzblut crsticken muB? Ruht 
nicht in uns alien das holde Bild einer Geliebten, eines Geliebten, 
wovor wir weinen, wornach wir suchen, worauf wir hoffen, ach 



19- HUNDPOSTTAG 785 

und so vergeblich, so vergebHch? - Steht nicht der Mensch vor 
der Brust eines Menschen wie die Turteltaube vor dem Spiegel 
und girret wie diese sich heiser vor einem toten flachen Bilde darin, 
das er fiir die Schwester seiner klagenden Seele halt? - Warum 
fragt uns denn jeder schone Friihlingabend, jedes schmelzende 
Lied, jede iiberstromende Freude: wo hast du die geliebte Seele, 
der du deine Wonne sagst und gibst? Warum gibt die Musik dem 
besturmten Herzen statt der Ruhe nur grofiere Wellen, wie das 
Gelaute der Gloeken die Ungewkter, anstatt zu entfernen, her- 

io unterzieht? Und warum ruft es drauBen an einem schonen stillen 
hellen Tage, wenn du iiber das ganze aufgeschlagne Gemalde 
einer Landschaft siehest, iiber die BIumen-Meere, die auf ihr zit- 
tern, iiber die herabgeworfnen Wolkenschatten, die von einem 
Hiigel zum andern fliehen, und iiber die Berge, die sich wie Ufer 
und Mauern um unsern Blumenzirkel ziehen, warum ruft es da 
denn unaufhorlich in dir: >Ach, hinter den rauchenden Bergen, 
hinter den aufliegenden Wolken, da wohnt ein schoneres Land, 
da wohnt die Seele, die du suchst, da liegt der Himmel naher an 
der Erde<? - Aber hinter dem Gebirge und hinter dem Gewolke 

10 stohnt auch ein verkanntes Herz und schauet an deinen Horizont 
heriiber und denkt: >Ach, in jener Feme war' ich wohl gliick- 
Iicher!< 

Sind wir denn alle nicht glucklich — Bejah* es nicht und sage 
nicht zu mir, Emanuel, daB im Winter dieses Lebens gerade die 
wenigen warmen Sonnenblicke, die ihn unterbrechen, den bessern 
Menschen wie Gewachse zersprengen und zugrunde richten - 
sage nicht, daB jedes Jahr etwas von unserm Herzen wegstoBe, 
und daB es wie das Eis immer kleiner werde, je weiter es schwimme 
im Strome der Zeit - sage nur nicht, daB die irrende Psyche, wenn 

jo sie auch ihr zweites Selbst in ihrem Gefangnis hore, doch nie in 

seine Arme kommen konne Aber du hasts schon einmal ge- 

sagt: 

>In zwei Korpern stehen wie auf zwei Hiigeln getrennt alle lie- 
bende Seelen der Erde, eine Wiiste liegt zwischen ihnen wie 
zwischen Sonnensystemen, sie sehen einander herubersprechen 
durch feme Zeichen, sie horen endlichdie Stimmen iiber die Hiigel 



786 HESPERUS 

heriiber - aber sie beriihren sich nie, und jecle umschlingt nur 
ihren Gedanken. — Und doch zerstaubt diese arme Liebe wie ein 
alter Leichnam, wenn sie gezeigt wird ; und ihre Flamme zerflattert 
wie eine Begrabnislampe, wenn sie aufgeschlossen wird.< 

Sind wir denn alle nicht gliicklich? - 

Bejah' es nicht! - Ach der Mensch, der schon von der Kindheit 
aji nach einer unbekannten Seele rief, die mit seiner eignen in 
einem Herzen aufwuchs - die in alle Traume seiner Jahre kam und 
darin von weitem schimmerte und nach dem Erwachen seine Tra- 
nen erregte - die im Friihling ihm Nachtigallen schickte, damit er ic 
an sie denke und sich nach ihr sehne - die in jeder weichen Stunde 
seine Seele besuchte mit so viel Tugend, mit so viel Liebe, daB er 
so gern all* sein Blut in seinem Herzen wie in einer Opferschale 
der Geliebten hingegeben hatte - die aber ach nirgends erschien, 
nur ihr Bild in jeder schonen Gestalt zusandte, aber ihr Herz ewig 

entriickte o endlich^ o plotzlich, o selig schlagt ihr Herz an 

seinem Herzen, und die zwei Seelen umfassen sich auf immer — 
er kann es nicht mehr sagen, aber wir konnens: dieser ist doch 
gliicklich und geliebt.... 

Guter Emanuel, du vergibst mir den Schmerz der Furcht, daB 2C 
ich es wohl nie sein werde - Nein, nie! - O ich ware auch fiir 
diese von Grabern zerstuckte Erde vielleicht gar zu gliicklich, ich 
durfte fiir ein so junges, mit so kleinen Verdiensten gerechtfertig- 
tes Leben vielleicht ein zu groBes Eden bewohnen, wenn meine zu 
weiche Seele, die schon unter drei frohen Minuten einsinkt, die 
jeden Menschen liebt und sich mit Kinderarmen ans Herz der gan- 
zen Schopfung hangt, o die schon durch diesen bio Ben Traum 
der Liebe zu selig wird und iiberwaltigt durch diese Beschreibung 
— nein, sie ware zu selig, eine solche von Wehmut und Menschen- 
liebe langst zerschmolzene Seele, wenn sie einmal nach einem so 3c 
langen todlichen Sehnen endlich, endlich - o Emanuel, ich bebe 
wieder vor Freude, und es ist doch niemals, niemals moglich! - 
alle ihre Wiinsche, ihren ganzen Himmel, so viele Liebe in einer 
teuern, teuern Seele gesammelt fande, wenn ich vor der groBen 
Natur und vor dem Angesicht der Tugend und vor Gott selber, 
der mir und ihr die Liebe gab, zur Einzigen, zur Frommen, zur 



20. HUNDPOSTTAG 78? 

Geliebten - o Gott, wie heiBt ihr Name - zur Vorausgeliebten, 
die ich jetzt im Wahnsinn nennen wollte, weinend sagen diirfte: 
endlich hat dich mein Herz, du Gute, Gott gibt uns heute ein- 
ander, und wir bleiben beisammen auf die ganze Ewigkeit. Nein, 
ich wiird* es nicht sagen, sondern vor Wonne verstummen und 
sterben. 

- Siehe! mir war jetzt, als ging* erne Gestalt liber meine Stube 
und riefe: Viktor! Ich sah mich um und erblickte meine leere 
Stube und die abgelegten Sonntagkleider, und jetzt erinnerte ich 
, mich erst, daB ich ungliicklich bin und nicht geliebt. 

Du aber, unersetzlicher Freund, miBkenne mich nicht; ich 
schwore dir, daB ich dir diese Blatter ungeandert gebe, wenn ich 
auch morgen, wo die Wirbel der heutigen Nacht stiller flieBen, 
alle Anderungen notig fande. Dein torichter Freund bleibt doch 
dein ewiger Freund. 

S.V.H.« 

20. HUNDPOSTTAG 

Blatt von Emanuel - Flamins Fruchtstiicke auf den Schultern - 
Gang nach St. Liine 

■ »Armer Sebastian,« - sagt' ich, da ich das heutige Felleisen auf- 
machte - »eh' ichs auf habe, weiB ich schon voraus, daB du den 
ganzen Tag nach einer solchen Nacht dich eingeschlossen, um 
dein verblutetes Angesicht gegen den Trauergarten zuzuwenden 
- daB du heute diese brennenden Gifttropfen lieber hast als den 
Wundbalsam, und daB du in den Spiegel schauest, um die stille 
schuldlose Gestalt, die er dir mit ihren Schnitten zeigt, wie eine 
fremde zu beweinen. - O wenn der Mensch nichts mehr zu lieben 
hat, so umfasset er das Grabmal seiner Liebe, und der Schmerz 
wird seine Geliebte. Vergebet einander den harden Wahnsinn der 

, Klage : denn unter alien Schwachen des Menschen ist das die un- 
schuldigste, wenn er, anstatt gleich dem Zugvogel sich uber den 
Winter zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich andern 
Vogeln vor diesem Winter niedersinkt und dumpf in seinem kal- 
ten Grame erstarrt.« 



788 HESPERUS 

Viktor sargte sich sozusagen an jenem Tage in sein Zimmer 
ein, das er niemand als einer Tiir- und Wandnachbarin der 
Schmerzen, Marien, offnete, deren Gestalt ihm so sanft wie eine 
Abendsonne tat. Jedes andere weibliche Gesicht auf der StraBe 
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klotilde, den er am 
Fenster sah und heute gern umarmt hatte, lieh der verweinten 
Erinnerung neue Farben.... Leser! — die Leserin ist von selber 
billiger — Iache nicht iiber meinen guten Helden, der da keiner ist, 
wo gerade die Starke der Seele die Starke des Schmerzens wird; 
laB mich es wenigstens nicht horen. Wem der sympathetische » 
Nerve des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchschnitten 
ist, der darf schon einmal seufzen und sagen: alles kann der 
Mensch auf der Erde geduldiger verlieren als Menschen. 

Und doch fuhrte abends ein Zufall - namlich ein Brief - alle 
seine Schmerzen noch einmal durch sein mudes Herz. Ein kleiner 
Brief von Emanuel - aber keine Antwort auf den erst abgesandten 
— kam an. 

»Mein immer Geliebter! 

Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues Lebens-Gewiihl 
erfahren, und ich habe gesagt: mein Geliebter bleibe glucklich - i 
die Ruhe der Tugend baue wie mit einer Brust sein Herz gegen 
den Frost und Sturm seines neuen Lebens ein — seine Schmerzen 
und seine Entziickungen seien nicht laut - er trauere sanft und 
still wie eine Fiirstin im sanften WeiB, er genieBe sanft und still, 
und im Tempel seines Herzens spiele die Lust nur wie ein un- 
gehort-irrender Schmetterling in einer Kirche - und die Tugend 
schwebe vor ihm am nohern Himmel iiber unserer Sonne und 
warme und erhelle und ziehe allmahlich sein Herz! 

Du willst, aus Hebender Bangigkeit fiir mein entsinkendes 
Leben, nicht haben, daB ich oft schreibe: so wenig glaubst du, 3 
Lieber, meiner HofTnung. O die ablaufenden Gewic^te meiner Ma- 
schine fallen langsam und sanft auf das Grab hinauf - dieses 
Erdenleben kleidet sich in meiner Seele immer schoner an und 
schmiickt sich zum Abschiede - dieser Nachsommer um mich, 
der wie eine Nebensonne neben dem Augustsommer steht, und 



20. HUNDPOSTTAG 7 8 9 

der kunftige Fruhling nehmen mich der Natur schmeichelnd aus 
den Armen. 

So uberlaubt, so uberbliimt der Allgiitige die Kirchhofmauer 
des Lebens, wie wir die Mauer eines englischen Gartens, mit be- 
deckendem Efeu und Immergriin und gibt dem Ende des Gartens 
den Schein eines neuen Gestrauchs. - 

So steigt schon hier am dunkdn Leben der Geist, wie der Baro- 
meter schon unter dem triiben Wetter steigt, und wird den Ein- 
fluB des lichtern schon unter den Wolken innen. 
to - Ich folge aber deiner Liebe und schreibe dir nicht mehr als 
einmal im Winter, wo ich dir die grofie Nacht erzahle, in der ich 
meinem blinden Julius zum erstenmal sagte, daB ein Ewiger ist. - 
In jener Nacht, mein Geliebter, zogen mich die Entzuckung und 
Andacht zu hoch, und das dunne Leben wollte reiBen. Ich blutete 
lange. Im Winter, wo an die Stelle der Erden-Reize die des Him- 
mels treten 1 , verbiete mir das Gemalde des Sommers nicht. 

mein Sohn! -ich muBte dir ja schreiben, weil meine Freun- 
din Klotilde klaget, daB sie zum neuen Jahre aus der grunen 
Laube der Einsamkeit auf den drangenden Marktplatz des Hofes 

to gezogen werde - ihre Seele ist dunkel von Trauer und streckt die 
Arme nach dem stillen Leben aus, das von ihr genommen wird. 
Ich weiB nicht, was ein Hof ist - du wirst es wissen, und ich be- 
schwore dich, erlose meine Freundin und lenke die Hand ab, die 
sie aus St. Liine ziehen will. Wenn du es nicht kannst: so verlasse 
am Hofe die geliebte Seele nicht - sei ihr heiBester Freund - ziehe 
die Bienenstacheln der Erdenstunden aus ihrem milden Herzen. - 
Wenn kalte Worte wie Schneef locken auf diese Blume fallen : so 
schmelze sie der Hauch der Liebe zu Tranen, die du rinnen siehest 
— Wenn iiber ihr Leben ein Gewitter aufsteigt: so zeig ihr den 

'° Engel, der auf der Sonne steht und iiber unsere Gewitter den 
Regenbogen der Hoffnung zieht - O dich, den ich so liebe, wird 
meine Freundin auch so lieben, und wenn mein Freund ihr sein 
sanftes Herz, sein weiches Auge, seine Tugend, seine von der 
Natur und von dem Ewigen bewohnte Seele aufdeckt : so wird er 

1 Der Dezember begunstigt die Beobachtungen der Astronomen am 
meisten. 



79° HESPERUS 

meine Freundin vor sich gliicklich werden sehen, und das erhabne 
Angesicht, das vor ihm in Tranen und Lacheln und Liebe zer- 
flieBt, wird immer in seinem Herzen bleiben. 

Emanuel.« 

Siehe, da trat in dieser gliihenden Minute die erhabne Gestalt, 
die er gestern gesehen, wieder vor sein Herz mit den wehmiitig 
lachelnden Lippen und mit den Augen voll Tranen; und als die 
Gestalt vor ihm schweben blieb und schimmerte und lachelte, so 
stand seine Seele vor ihr wie vor einer Verstorbenen auf, und alle 
Wunden fingen wieder unter dem Erheben an zu bluten, und er i< 
rief : »So weiche denn nie aus meinem Herzen, du erhabne Gestalt, 
und run' ewig auf seinen Wunden !« - Die Trostlosigkeit, die Er- 
mattung und der Schlaf uberhiillten seinen Geist, so wie seinen 
letzten Gedanken, nachstens nach St. Liine wieder zu gehen und 
ikre Eltern zu bereden, sie nicht an den Hof zu zwingen... 

Der Iange Schlaf des Todes schlieBt unsere Narben zu, und der 
kurze des Lebens unsere Wunden. Der Schlaf ist die Halfte der 
Zeit, die uns heilt. Der erwachte Viktor, dessen Fieber der Liebe 
gestern durch die Schlaf losigkeit so sehr zugenommen, sah heute, 
daB sein Schmerz ungemaBigt war, weil seine Hoffnung unmaBig u 
gewesen; - anfangs hatt* er gewiinscht - dann beobachtet - dann 
vermutet - dann gesehen - dann ausgelegt - dann gehofft - dann 
darauf geschworen. Jeder kleine Umstand, sogar sein Anteil an 
Klotildens Ernennung zur Hofdame, hatte mildes Ol der Liebe 
in seine Glut gegossen. »0 ich Tor !« sagt' er, mit den drei Schwur- 
Fingern an der Stirne, und wie alle kraftige Menschen war er um 
desto mutiger, je mutloser er gewesen. Ja, er fuhlte sich auf ein- 
mal zu leicht; - denn eine zu schnelle Kur kiindigt auch bei Seelen 
den Riickfall an. Ein neuer Trost war der gestrige EntschluB, daB 
er Klotilden einen Dienst erweisen - namlich den Hofdienst er- y 
sparen wollte. Er besann sich noch tiber seinen EntschluB, sie 
wiederzusehen - Fiihltest du etwa, Viktor, daB alles, was die Liebe 
tut, um zu sterben, nur ein Mittel ist, um wieder zu auferstehen, 
und daB alle ihre Epilogen nur Prologen zum zweiten Akte sind? 
— Aber ein Korb Apfel auf dem Markte machte ihn in seinem Ent- 



20. HUNDPOSTTAG 79 1 

schlusse wieder fest. Flamin trat namlich herein. Er fing sogleich 
mit Fragen iiber das Verschwinden am Sonntag und mit Nach- 
richten der allgemeinen Unruhe iiber den teuern Fliichtling an. 
Viktor, durch die ganze Erinnerung wieder erhitzt und gegen den 
Bildersturmer und Fiskal einer vergeblichen Liebe fast ein wenig 
erziirnt, gab ihm die wahre Antwort: »Du nahmest mir meine 
Freude zum Teil, und warum sollt* ich so spat erst aufs Theater 
treten?« Je starker Flamin die liebende Bekiimmernis der Pfarrerin 
und Klotildens iiber seine Unsichtbarkeit malte, desto peinlicher 

o wurd' in ihm der Wirrwarr streitender Gefiihle; ohne sein zu- 
riickrufendes Gewissen war' es ihm jetzo leichter geworden, nun 
dem Freunde die hoffnunglose Liebe zu bekennen, als sonst die 
hoffende. - Zufallig wunderte sich Flamin iiber die Reife der 
Apfel unten auf dem Markte und verlangte einige: ein Blitzstrahl 
fuhr nun vor Viktors Auge iiber die angebornen Fruchtstiicke 
auf Flamins Schultern, die allezeit im Nachsommer wahrend der 
Apfelreife erschienen, die er aber im bisherigen Taumel vergessen 
hatte. Der Himmel weiB, ob nicht dem Leser selber entfallen ist, 
daB Flamin dieses Lagerobst (sein Muttermal) auf dem Riicken 

20 tragt, das ein Sodoms- und Evas- Apfel fur ihn werden kann. 
Konnte nicht Matthieu, der bisher an Flamin dieses Insiegel seiner 
fiirstlichen Verwandtschaft nicht untersuchen konnte, sich auf 
einmal von allem iiberzeugen, was er aus dem Briefe an den Lord 
nur mit diebischen Blicken erraten konnte? Und konnt* er nach- 
her nicht zum Fiirsten gehen und da fur alle unsere Freunde die 
giftigsten Suppen einbrocken? - Da aber das Vexierbild gewohn- 
lich in einer Woche verblich : so brauchte Viktor ihm nur ebenso 
lange den Trager desselben aus den Augen zu entriicken; er trug 
also seinem von der Natur tatowierten Freunde die Bitte vor, 

3° einmal gemeinschaftlich nach St. Liine zu gehen, da sie vorgestern 

einander verfehlet hatten 

»Daraus wird nichts«, sagte Flamin, der die kleinere Delikatesse 

hatte, die Bitte um die Begleitung wegen seiner Vorwurfe in Le 

Bauts Garten nicht zu beniitzen, und dariiber die grofiere vergaB, 

eine solche Riicksicht seinem Viktor gar nicht zuzutrauen. 

Dieser, in einer leidenschaftlichen Eilfertigkeit, zwei solche 



79 2 HESPERUS 

Obel (Klotildens Hofamt und Matthieus Besichtigung) abzu- 
wenden, griff zum sonderbaren Mittel, dem Hof junker die Reise- 
Genossenschaft anzutragen. Denn sie sahen und sprachen ein- 
ander taglich in Vorzimmern und Salen — und wahrhaft freund- 
lich, nur konnte keiner den andern ausstehen. - »Mit Freuden!« 
(sagte der Evangelist) »in dieser Woche hab* ich den Kabinett- 
dienst - aber die nachste kann ich.« 

Und gerade in der jetzigen wollt* es Viktor. - So viel schnelle 
Fehlschlagungen bestiirzten diesen so, daB er, dessen sorg- und 
argloses Herz immer ein offener Brief mit fliegendem Siegel war, i< 
sich jetzt gegen seinen guten, teuren Freund Flamin verstellte — 
Er wollte wenigstens das Muttermal und dessen Deutlichkeit sel- 
ber uhtersuchen. Er ging daher zu ihm und fand ihn gebiickt- 
schreibend und mit einem gliihenden Arbeit- Gesicht. Er be- 
schwurs ihm, Erholung und Ferien waren ihm unerlaBlich, und er 
sollte wie ein Setzer stehend arbeiten. Dann kam er allmahlich auf 
Flamins vollbliitige Brust und auf die Frage: ob sie ohne Stechen 
und Drucken seine Anspannungen vertrage? Dann langte er an 
dem Ziele an, und er schlug vor, Flamin solle sich in jedem Falle 
als Lungen-Ableiter ein burgundisches Pechpflaster auf die Schul- *« 
terblatter legen lassen, ja er wollt' es ihm jetzt selber tun und ihm 
zeigen, wie alles zu machen sei. Dadurch hoffte er noch dazu um 
das Apfelstuck zugleich einen Vorhang zu ziehen. Aber er ver- 
stellte sich so erbarmlich - denn ihm gliickten unschuldige Intri- 
gen gegen Madchen und scherzhafte Verstellungen aus Satire, und 
mifilangen ernsthafte -, daB sogar Flamin auf horchte und trocken 
versetzte : »er habe schon ein solches Pflaster seit zwei Tagen auf: 
und — Matthieu hab' es ihm geraten und selber aufgelegt.« 

Da saB er. - Sebastian hatte weiter nichts zu tun, als in einer 
sonderbaren Kalte, die auf dem St. Liiner Wege nur durch einige 3< 
Stiche von den alten dornigen Spatlingen seines verbluhten 
Paradieses untermischt wurde, unbegleitet zum Kammerherrn 
Le Baut zu gehen, zu sagen, was zu sagen war, ins Pfarrhaus 
zu gucken und still wieder fortzuwandern ohne eine einzige - 
Ho riming. 

Liebe Fortuna ! lieber gekopft als skalpiert, lieber ein Ungluck 



20. HUNDPOSTTAG 793 

als zehn Fehlschlagungen; ich meine: radere mit deinem Rade 
den Menschen lieber von oben als unten hinaufl - 

Viktor wuBte zwar noch kein Wort von der Wendung, womit 
er zwei solchen Hof-Emigranten wie den Le Bauts, die nichts 
Heiligers kannten als die Latrie gegen einen Fiirsten, die Dulie 
gegen dessen Minister und die Hyperdulie gegen dessen H-, Klo- 
tildens Standerhebung verleiden sollte; aber er dachte: »Ich tue, 
was ich kann.« 

Klotildens Eltern nahmen ihn mit so viel Verbindlichkeit auf- 

io d.h. mit so viel Hof lichkeit des Korpers, mit so viel Puderzucker 
auf jeder Miene, mit so viel Violensirup auf jedem Wort - kurz, 
er fand den Bericht, den Matthieu von ihrer gefalligen Denkart 
fur ihn an Flamin erstattet hatte, so gegriindet, daB er keine bes- 
sere Gelegenheit hatte ausuchen konnen als diese, urn sie von der 
Verpflanzung ihrer Tochter abzumahnen - hatten sie ihm nicht 
zu danken angefangen, daB er selber dieser Verpflanzer gewesen 
war. Sie hatten alles erfahren oder erraten und dankten ihm fiir 
seine Verwendung, der sie wahrscheinlich eigenniitzigere Ab- 
sichten liehen, als die Tochter tat. Es ware lacherlich gewesen, in 

2° Klotildens Gegenwart ihr selber Flachsenfingen zu widerraten 
und das auszureden, wofiir man ihm dankte; indes versucht' er 
doch etwas. Er sagte zum Kammerherrn : »seine Tochter verdiene 
mehr, einen Hof zu haben, als einen zu zieren; ja er verdiene bei 
der ganzen Sache hochstens - Entschuldigung, da Klotilde gewiB 
den Umgang ihrer Eltern dem Hofzwang vorziehe: in diesem 
Falle versprech 1 er, den Zeiger bei dem Fiirsten wieder zuriick- 
zustellen und alles ohne Nachteil zu berichtigen.« Der Vater hielt 
diese AuBerung fiir ein sonderbares Ablehnen des Dankes, die 
Stiefmutter fiir irgendeine Spitzbuberei, die Tochter fiir - Worte. 

3° Sie sagte ein wenig kurz : »Ich glaube, es war leicht, zwischen Un- 
gehorsam und Abwesenheit zu wahlen.« Denn so unbiegsam sie 
fiir ihre Stiefmutter war, so willig kam sie den Winken ihres 
Vaters nach, den sie mit alien seinen Schwachen und als die einzige 
ihm auf der Erde gewogne Seele zartlich liebte. Viktor lieB es end- 
lich, obwohl gezwungen, gut sein; aber warum ergibt sich der 
Mensch schwerer in die Zukunft als in die Vergangenheit? - Die 



794 HESPERUS 

Kalte der Tochter war natiirlicherweise nicht kleiner (aber auf- 

richtiger) als die Warme der Eltern und gerade die Kalte er- 

frischte sein gliihendes Gehirn. Diese kalte gleichgiiltige Gestalt 
war wie ein Schleier iiber die erhabne liebende gedeckt, die immer 
mit ihrem schwermutigen Blicke vor iho schwebte, und die er 
nicht aushielt. Ohne BewuBtsein einer Schuld, zufrieden mit sei- 
nem Gehorsam gegen Emanuels Bitte, zog er mit seinen vom 
Wohlstand erdrtickten Gefuhlen ab, kalter gegen die Kalte. - Er 
ware ein schlechter Liebhaber gewesen, wenn er gewuBt hatte, 
was er haben wollen; denn sonst hatt' er von Klotilden, sogar im i 
Falle ihrer Liebe gegen ihn, keine auBerordentliche Warme gegen 
eineri Medikus begehren konnen, den ihr die Eltern aufzwangen 
(welches einem Manne noch mehr schadet als HaBlichkeit), der 
so unhoflich ohne ein Geburttag- Carmen aus dem Garten fort- 
jagte, und der sie in die sieben vergoldeten Turme des Hofdienstes 
trotz ihrem Widerwillen, trotz allem Anschein ihres kiinftigen 
Gefdngnisfiebers hineinschob. — Aber fur das offne Lehn seines 
Herzens war eben dieser Arger gesund 

Wenn mein guter Leser einmal von einer zu teuren Freundin 
einen ewigen Abschied zu nehmen hat: so nehnV er ihn %weimaL - 2 
Der erste versteht sich ohnehin, wo er in der Trunkenheit des 
Schmerzes, im Blutsturz des Herzens und der Augen erliegt, und 
wo das geliebte Bild sich mit Flammen in die weiche Seele brennt; 
aber dann wird er die Abgeschiedne nie vergessen konnen. Daher 
muB er einen ^weiten nehmen, der schon darum kalter ist, weil 
heftige Empfindungen kein dal segno der Wiederholung leiden, 
ja er muB (wenn er am allerklugsten sein will) sie nach dem ersten 
tragischen Abschied an einem dffentlichen Platze (z.B. bei einer 
Kronung), wo sie kalt scheinen muB, zu sehensuchen; ihrfrostiges 
Gesicht uberschneiet dann ihr heiBes in seinem Kopfe, und mein 3 
guter Leser hat doch wieder so viel Verstand beisammen, daB er 
weiB, was er in den Hundposttagen lieset... 

— Wahrlich, wenn Jean Paul nicht fleiBig schreibt, so tuts 
keiner - es schlug schon ein Uhr, und er hielts fur ein Viertel auf 
Zwolfe - meine Schwester will schon vor dem aufgeschwanzten 
rauchenden Hecht, der wie die Schlange der Ewigkeit an seinem 



20. HUNDPOSTTAG 795 

Schwanze frisset, die Hande fallen und sagt immerfort : »Es wird 
ja alles kalt« - »Das soil es audi, nach so gliihenden Kapiteln,« 
(sag* ich) »wenn du den Leser und den Autor meinst« - Der.Post- 
hund springt schon, indem ich noch iiber dem zwanzigsten Ka- 
pitel sitze, mit dem einundzwanzigsten in der Stube herum - und 
doch will ich verhungern, wenn ich nicht vor dem Essen noch, 
wie die sieben Weisen, sieben goldne Spriiche sage: 

i. Wenn man beim Stiche der Biene oder des Schicksals nicht 
stille halt, so reiBet der Stachel ab und bleibt zuriick. 
xo 2. Jammerliche Erde, die drei, vier groBe oder kuhne Menschen 
verbessern und erschuttern konnen! Du bist ein wahres Theater : 
aufdem Vorgrund sind einige fechtende Spieler und einige Zelte 
aus Leinwand, im Hintergrund wimmelts von gemalten Soldaten 
und Zelten! - 

3. Staaten undDiamantenwerden jetzt, wenn sie Flecken haben, 
in kleine zerschnitten - und da 

4. die Menschen in groBen Staaten und die Bienen in groBen 
Stocken Mut und Warme einbuBen: so heftet man jetzt an kleine 
Lander andre kleine Lander, wie an Bienenstocke Koloniestocke. 

20 5. Der Mensch halt sein Leben fur das der Menschheit, wie die 
Bienen das Tropfen ihres Bienenstandes, wenn schon die Sonne 
wieder scheint, fur Regen nehmen und nicht ausfliegen; 

6. aber er begeht taglich einen kteinern Irrtum : anfangs halt er 
fur eine Ewigkeit (fiir diese aristotelische Zeit-Einheit des Schau- 
spiels des Seins) seine gegenwartige Stunde - dann seine Jugend- 
dann sein Leben - dann sein Jahrhundert — dann die Dauer des 
Erdballs - dann der Sonne ihre - dann der Himmel ihre - dann 
(das ist der kleinste Irrtum) die Zeit 

7. An den Menschen sind vorn und hinten, wie an den Buchern, 
3° zwei leere weiBe Buchbinderblatter - Kindheit und Greisenalter; 

und an den Hundposttagen auch : siehe das Ende dieses Tages und 
den Anfang des nachsten. 



79<> HESPERUS 

FtJNFTER SCHALTTAG 

Fortsetzung des Registers der Exira-SchoGlinge 

K 

Kalte. In unserm Zeitalter stehen Abnahme des Stoqismus und 
Wachstum des Egoismus hart nebeneinander; jener bedeckt seine 
Schatze und Keime mit Eis, dieser ist selber Eis. So nehmen im 
Physischen die Berge ab und die Gletscher zu. 



Leikbibliothek fur Re^ensenten und Mddchen. Ich bin noch immer 
willens, es ins Intelligenzblatt der Literaturzeitung setzen zu las- i 
sen, daB ich den Kaufschilling, den ich fur meinen Abends tern 
erhebe, nicht zerschlagen, noch wie Musaus zum Ankauf von Gar- 
tenhausern zersplittern, sondern das ganze Kapital zu einer voll- 
standigen Sammlung aller deutschen Vorreden und Titel, die von 
Messe zu Messe erscheinen, verwenden will. Ich kann dabei be- 
stehen, wenn ich eine Vorrede wochentlich fur einen Pfennig 
Lesegeld an Rezensenten ausgebe, welche nicht gern das Buch 
selber lesen wollen, wenn sie es rezensieren. - 

Damit mir nicht einmal der OberschuB des besagten Schlag- 
schatzes als totes Kapital im Hause Iiegt: so sollen dafur - wenn 2. 
ich mich nicht andere - die schwerern deutschen Meisterwerke - 
z.B. Friedrich Jakobis, Klingers seine, Goethes Tasso -, des- 
gleichen die bessern satirischen und philosophischen vom Buch- 
binder in einer teichtern Damenausgabe geliefert werden, die ganz 
aus sogenannten Vexierbanden, worinnen kein Unterziehbuch 
steckt, bestehen soli. Ich spiele damit, denk' ich, den Leserinnen 
etwas Kernhaftes in die Hande, das so gut gebunden und ebenso 
betitelt ist wie die Buchhandler-Ausgabe, und in das sie - weil das 
harte Steinobst schon ausgekernt und innen nichts ist - nicht nur 
ebensoviel, sondern sechs Lot mehr Seidenfaden und Seiden- 3< 
abschnitzel legen konnen als in die gedruckte Ausgabe. Altwills 
Briefwechsel - ein schweres zweidotteriges StrauBenei des Autors, 



FUNFTER SCHALTTAG 797 

das ich vom Buchbinder auf diese Weise habe ausblasen lassen, 
weil die meisten Leserinnen zu kalt sind, es auszubriiten - ist jetzo 
ganz leicht. Aber von den deutschen Roraanen werd' ich niemals 
eine solche Futteral-Ausgabe von leeren Zeremonienwagen des 
Musen- und Sonnengottes veranstalten, weil ich befahre, der 
Buchhandel schreie uber Nachdruck. — Ich ware ein gliicklicher 
Mann, wenn sich die Mitleserinnen meiner Leih-Kapselbibliothek 
nur zweimal in einigen italienischen und portugiesischen Buche- 
reien hatten herumfiihren lassen; sie wiirden in diesen, wo oft nur 

10 die Titel der Werke - und noch dazu der dummsten - an die Wand 
geschmieret sind, erstaunet sein, welche schlechte Figur solche 
unbrauchbare Bibliotheken neben meiner Bucherei von ordent- 
lichen Vexierbuchern, die ich aus so vielen Fachern und mit eini- 
gem Eigensinn wahle, nicht anders als machen konnen. - So wer- 
den freilich deutsche Kapselleserinnen von euch Portugieserinnen 
nimmermehr eingeholet! Vielmehr kommen jene sogar den Man- 
nern, den Advokaten und Geschaftleuten nach, die ahnliche 
Kapsel-Journalistika mithalten und die Futterale der besten deut- 
schen Journale - letztere werden oft als curiosa sogar den Kapseln 

^ angebogen und futtern diese aus - mitlcsen und weitergeben — 
Das ist mein Plan und Entwurf; Schafe aber wiirden mutmaBen, 
ich spaBte mich hier bloB herum, wenn ichs nicht wirklich durch- 
setzte. 

M 

Mddchen. Junge Madchen sind wie junge Truthtihner, die schlecht 
gedeihen, wenn man sie oft anruhrt; und die Mutter halten diese 
weichen, aus Blumenstaub zusammengeflossenen Geschopfe wie 
Pastetlgemalde so lange unter Fensterglas - weil sich alles vor uns 
Prinzessinnenraubern und Obstdieben scheuet -, bis sie fixieret 
jo sind. Indessen 1st weder Einsamkeit - welche nur zu einer unge- 
priiften Unschuld ftihrt, die zwar nicht vor dem Wiistling, aber 
doch vor dem Heuchler fallt - die rechte Kronwache um ein weib- 
liches Herz, noch Gesellschaft, noch Arbeitsamkeit - sonst sanke 
kein Landmadchen -, noch gute Lehren - denn diese sind in jedem 
Mund und in jeder Lesebibliothek zu haben -; sondern diese vier 



798 HESPERUS 

ersten und letzten Dinge auf einmal tuns, die sich samtlich ent- 
behren, vereinigen und ersetzen lassen durch eine tugendhafte 
weise Mutter. 

N 

Namen der GrofienK Wenn ich so sehe, da8 sie ihre aufierehelichen 
MeB-Produkte, Gelegenheitschriften und pieces fugitives so 
namenlos, als warens Rezensionen, verteilen: so sag* ich: »Hieran 
erkenn* ich echte Bescheidenheit.« Denn natiirliche Kinder sind 
gerade ihre besten und ihre eignen und konnen noch dazu vom 
Fiirsten fur echt erklart werden - indes ihre ubernatiirlichen in i 
der Ehe das Echtmachen entbehren miissen -: und doch wollen 
sie der Welt den Namen des Wohltaters nicht wissen lassen, son- 
dern schafFen ebensooft (ja ofter) heimlich Leute in sie fiinein, als 
aus ihr hinaus. Was das Kind sonst zuerst aussprechen lernt, sagen 
ihm solche Eltern zuletzt - ihren Namen. Mich diinkt, sie folgen 
hierin Goethes feinem Ohre; denn sie verstecken sich selber eben- 
so - wenn sie das Orchester der Welt mit Kinderstimmen und mit 
vingt-quatre und mit Week- und Repetierwerken (welche un- 
arm liche Zusammenstellungen !) fullen -, wie Goethe vom spielen- 
den Tonkiinstler begehrt, daB er fiir die Ohren arbeite, aber zur ^ 
Schonung der Augen sich selber verberge. Ebenso schon handeln 
sie, wenn sie ihre Kinder der 30sten Ehe am Ende (oft nach der 
5- oder 20jahrigen Verjahrung) doch an Kindes Statt annehmen 
und der Welt zeigen und so den Zeisigen nachahmen, die, wie 
man sagt, ihrem Neste und dessen Insassen durch den sogenann- 
ten Zeisigstein so lange Unsichtbarkeit erteilen, bis sie fliigge sind. 



O 

O strabismus. Er war bekanntlich bei den Griechen keine Strafe : 

nur Leute von groBen Verdiensten errangen ihn, und sobald man 

diese Landesverweisung an schlechte Menschen verschwendete, 3 < 

1 Ich habe den Buchstaben N ganz umgegossen, weil ich in der ersten Auf- 
lage leider einen guten Einfall gehabt, den ich ohne mein Erinnern seines 
ersten Herausgebens als mein eigner gelehrter Dieb im Kommentar der Holz- 
schnitte wieder bekannt gemacht. 



FUNFTER SCHALTTAG 799 

ging sie vollig ein. Beklagen mu6 es ein Reichsburger, daB wir, 
da wir eine ahnliche offend iche Erziehanstalt, namlich die Landes- 
verweisung, haben, diese oft an die allerelendesten Schelme ver- 
schleudern und daher - in der Absicht, einen Kreis oder ein Land 
zum Spucknapf und zum AbsondergefaB des andern zu machen -* 
Halunken aus dem Lande jagen, die kaum wert sind, daB sie darin 
bleiben. Dadurch wird der Gebietraumung. das Ehrenhafte und 
Auszeichnende, was sie fiir den Mann von Verdiensten haben 
konnte, meist benommen, und ein ehrlicher Mann - z. B. Bahrdt 

io - schamt sich beinahe, daB man ihn mit einer solchen Ehre nur 
belegt. Es sollte daher reichspolizeimaBig werden, daB nur Mini- 
ster, Professoren und Offlziere von entschiedenem Werte, gleich 
wichtigen Akten, verschickt und verwiesen wiirden. Auf ahn- 
liche Manner wurd* ich auch das Henken einschranken : bei den 
Romern wurden wahrhaftig nur groBe Kopfe und Lichter auf 
Kosten eines ganzen Staats an den Weg beerdigt; was soil ich aber 
von den Deutschen denken, bei denen selten nutzliche Staats- 
biirger - sondern meistens ausgemachte Spitzbuben - auf offent- 
liche Kosten, die man die Henkergelder nennt, begraben werden 

20 und vorher am Wege ausgehangen unter dem Galgen? - Nicht 
einmal bei Lebzeiten kann ein Mann, wenn er nicht auBerordent- 
liche und oft ex^entrische Verdienste hat - wiewohl exzentrische 
Menschen in die Wahrheit, wie die Kometen in die Sonne, als 
Nahrstoff zuriickfallen -, sich darauf allemal Rechnung machen, 
daB er auf eine Art, wie die Alten ihre Edeln in Statuen und Bildern 
verdoppelten,in effigie zwischen dicken steinernenRahmen werde 

aufgehangen werden Man antworte mir, ich lasse mit mir 

reden. 



30 Philosophic Einigekritische Philosophen haben jetzt aus der Al- 
gebra eine mathematische Methode entlehnt, ohne die man keine 
Minute philosophisch - nicht sowohl denken als - schreiben kann. 
Der Algebraist erhaschet durch das Versetzen blofier Buchstaben 
Wahrheiten, die keine SchluBketteausgraben konnte. Das tut der 
kritische Philosoph nach, aber mit groBerem Vorteil. Da er nicht 



800 HESPERUS 

Buchstaben, sondern ganze Kunstworter geschickt untereinander- 
mengt, so schaumen aus der Alliteration derselben Wahrheiten 
hervor, die er sich kaum hatte traumen lassen. Solchen Philo- 
sophen wird mit Recht wie den gothaischen Predigern (Goth. 
Landesordnung P. III. p. 1 6.) verboten, Allegorien zu brauchen 
oder irgendeine Redeblume, die ihnen, wie den Leithunden andere 
Blumen, die Fahrte verderben. - Eigentlich aber ist der Bilderstil 
bestimmter als der Kunstworterstil, der zuletzt, da alle abstrakte 
Worte Bilder sind, ja auch ein Bilderstil ist, aber einer voll \er- 
flossener entfarbter Bilder. Jakobi ist nicht dunkel durch seine Bil- J 
der y sondern durch die neuen Anschauungen, die er durch jene mit 
uns teilen will. 

Ich habe neulich in den Geburttabellen der gelehrten und leh- 
renden Republik nachgesehen und die jungen Kantcken aufge- 
zahlt, die der alte Kant, sonst unverheiratet wie sein Vetter New- 
ton, seit zehn Messen gezeugt hat. Demetrius Magnus, der ein 
Buch von den gleichnamigen Autoren machen wollte, miifite sehr 
dumm gewesen sein, wenn er zu unsern Zeiten hatte schreiben 
und doch zugleich, indem er gleichwohl beigebracht, daB es 
16 Plato, 20 Sokrates, 28 Pythagoras, 32 Aris^oteles gegeben, es * 
ganz siindlich hatte auslassen wollen, daB es jetzt so viele Philo- 
sophen und Philosophisten, als jene zusammengerechnet machen, 
gebe, namlich 96, die den Namen Kant fiihren konnten, wollten 
sie sonst. Solche Handwerker — so kann ich dieMagister nennen, 
weil man umgekehrt sonst die Handwerker Magister hieB und den 
Obermeister Erzmagister - sollte man als die beste Propaganda 
in Rechnung bringen, welche dicke Biicher haben konnen: sie 
sind am besten imstande, das System auszubreiten, weil sie das 
UnfaBliche, das Geistige davon abzuschneiden, und das Volk- 
maBige und Korperliche, d.h. die Worter, fur Leser, die sonst 3< 
einfaltig, aber doch nicht ohne kritische Philosophic sterben wol- 
len, auszuziehen wissen. Das elendeste theologische und asthe- 
tische Gestein erhalt jetzt eine kantische Fassung aus Wortern. 
Obgleich durch jedes neue groBe System eine gewisse Einseitig- 
keit des Blicks in alle Kopfe kommt - zumal da jeder kalte Philo- 
soph gerade desto einsettiger ist, je einsichtiger er ist -, so ver- 



FUNFTER SCHALTTAG 801 

schlagts doch nichts; denn groBe Wahrheit-Barren gehen nur 
durch das gemeinschaftliche Wiihlen des ganzen Denker-Ge- 
werks hervor 1 . Wer Kant auf seinem Berge unter seinen gelehrten 
Mitarbeitern hat stehen sehen, erinnert sich mit Vergnugen einer 
ahnlichen Geschichte in Peru, die Buffon mitteilt: als daselbst 
Condamine und Bouguer die Aquatorgrade der Erde (wie Kant 
die der intellektuellen Welt) ausmaBen, fanden sich ganze Affen- 
Rudel als Mitarbeiter dazu ein, setzten Brillen auf, blickten nach 
den Sternen und herunter nach den Uhren und brachten eines und 

io das andre zu Papier, wiewohl ohne Ehrensold, welches ihr ein- 
ziger Unterschied von den Vikariat-Kanten ist. 

Jeder Mann von Genie ist ein Philosoph, aber nicht umgekehrt 
- ein Philosoph ohne Phantasie, ohne Geschichte und ohne das 
Vielwissen des Wichtigsten ist einseitiger als ein Politiker - wer 
irgendein System mehr annahm als erfand, wer nicht vorher 
dunkle Ahnungen desselben hatte, wer nicht vorher wenigstens 
darnach lechzte, kurz, wer nicht seine Seele als einen vollen war- 
men, mit Keimen ausgefullten Boden, der nur auf seinen Sommer 
wartet, mitbringt, der kann wohl ein Lehrer, aber nicht ein Schuler 

to der zum Brotstudium erniedrigten Philosophic sein - und kurz, 
es ist einerlei, welchen Ort man zur philosophischen Sternwarte 
besteige, einen Thron, oder einen Pegasus, oder eine Alpe, oder 
ein Casars-Lager, oder eine Leichenbahre, und sie sind fast alle 
hoher als der Katheder im Hor- und Streitsaale. 



Q siehe K 

R 

Reiensenten. Ein Redakteur sollte sechs Tische haben: am ersten 
safien und afien die Anzeiger des Daseins eines Buchs - am zweiten 
die Bausch- und Bogen-Anzeiger seines Wens - am dritten die 
io Auszieher desselben - am vierten die Sprachmeister und Sprach- 
forscher, welche unter das Publikum rasonnierende Verzeich- 

x Ein Beispiel ist jetzo das erste Prinzip der Moral und das der Regier- 
formen. 



802 HESPERUS 

nisse fremder Donatschnitzer austeilen - am funften die Be- 
kampfer, die ein neues Buch nicht durch ein neues Buch, sondern 
durch ein Blattchen widerlegen - am sechsten stande die kritische 
Fiirstenbank, auf die sich Herder, Goethe, Wieland oder noch 
einer setzen konnten, die ein Buch so iiberschauen wie ein 
Menschenleben, welche die Individualitat desselben auffassen, den 
Geist des literarischen Geschopfes und des Schopfers zugleich 
zeichnen, und die jene Menschwerdung und Verkorperung der gott- 
lichen Schonheit, welche die Gestalt eines Einzelwesens annimmt, 
trennen von der Schonheit und dann aufdecken und verzeihen. k 

Diese sechs kritischen Banke, die sechs verschiedene Literatur- 
zeitungen liefern konnten, werden jetzt iibereinander geworfen 
und gestalten eine. — So freimiitig ich aber gegen diese Zusammen- 
werfung von gelehrten i) Anzeigen, 2) Rezensionen, 3) Aus- 
ziigen, 4) Sprach- und 5) Sachkritiken und 6) Kunsturteilen auf- 
stehe: so gern bin ich bereit, zuzugestehen, daB die rezensierende 
Fauna und Flora der filnf Tische vielleicht ebensoviel Unkraut- 
Fechser ausrotte, als sie selber heraustreibt aus eignen Keimen, 
und ich berufe mich deshalb auf einen Privatbrief von mir, der 
auBer dem Verdacht der Schmeichelei ist, und worin ich sie mit *< 
einem Fliegenschwamm zusammengeselle, der, ob er gleich selber 
bei einem AufguB (hier von Dime) ganze Insekten-Heere gebiert, 
doch die Fliegen ausreutet. - Aber da unter den Rezensenten auch 
Autoren sind wie ich, wie unter den portugiesischen Inquisitoren 
Juden - und uberhaupt da ich Schaltjahre lang dariiber sprecheh 
wollte : warum einen Schalttag lang? - 



Strekhe. »Wer seines Herrn Willen weiB und tut ihn nicht, soil 
doppelte Streiche leiden.« - Wer leidet denn die einfachen? Der 
doch nicht, der den Willen nicht weiB und nicht tut? - Also 
folgt, daB groBere Kenntnisse die moralische Schuld nicht er- 
schwereti) sondern erst er{eugenl Denn insofern ich eine moralische 
Verbindlichkeit gar nicht einsehe, ist mein VerstoB dagegen ja 
nicht kleiner, sondern keiner. 



21. HUNDPOSTTAG 803 

Ich will meine eigne Akademie der Wissenschaften sein und 
mir die folgende Preisfrage aufgeben, die ich selber in einer Preis- 
schrift beantworten -will: »Da nur eine Handlung tugendhaft ist, 
die aus Liebe zum Guten geschieht: so kann nur eine siindig sein, 
die aus bloBer Liebe zum Bosen geschieht, und die Riicksicht des 
Eigennutzes muB den Grad einer Siinde so gut wie den Grad einer 
Tugend kleiner machen. Was ware aber auf der andern Seite noch 
auBer dem Eigennutz in unserer Natur, was uns zum Schlimmen 
triebe? Und wenn Boses aus reinem Hang zum Bosen geschahe! 
o so gabe es ja eine zweite, obwohl entgegengesetzte Autonomic des 
Willens.« 



Trubsaly Trauer. Jetzo, da ich diese beklemmenden Tone schreibe, 
die mir vorsagen, daB die Natur nur Dornenhecken> die Menschen 
aber Dornenkronen machen : so vergeht mir die Lust, mit satirischen 
Dornen um mich zu schlagen, und ich mochte lieber einige aus 
euern FiiBen oder Handen ziehn. 



21. HUNDPOSTTAG 

Viktors Krankenbesuche - tiber tochtervolle Hauser - die zwei Narren - 
10 das KarusseU 

Folgende Anmerkung kommt nicht aus dem Tornister des Hun- 
des, sondern aus meinem eignen Kopf: man braucht kein Lob- 
redner unserer Zeiten zu sein, um mit Vergniigen zu sehen, daB 
jetzt Autoren, Fiirsten, Weiber und andere die unahnlichen^/a/ycte 
Larven der Tugend (z. B. Bigotterie, Pietismus, zeremonielles Be- 
tragen) meistens abgelegt, und dafur den ech'ten geschmackvollen 
Schein der Tugend ganzlich angenommen haben. Diese Verede- 
lung unserer Charaktermasken, wodurch wir das Aufiere der 
Tugend schoner treffen, ist mit einer ahnlichen des Theaters gleich- 
zeitig, auf dem man nicht mehr wie sonst mit papiernen Kleidern 
und unechten Tressen, sondern mit echten agiert und tragiert. - 



804 HESPERUS 

»Sie wurden schon gestern von der Furstin verlangt«, sagte der 
Fiirst zum Hofmedikus, da er mit seinem ausgeleerten Gesicht 
kaumeingetretenwar.Die Augenentziindung Agnolas hatte durch 
das Herbstwetter, durch die Nachtfeste, durch Kuhlpeppers tap- 
fere Hand und durch ihre eigne - denn die roten Titelbuchstaben 
der Schonheit, namlich geschminkte Wangen, wurden immer neu 
aufgekgt - sehr zugenommen. Eigentlich war Viktor zu stolz, um 
sich als einen bio Ben Arzt begehren zu lassen; ja er war zu stolz, 
um an sich etwas anders (und war's Philosophic oder Schonheit) 
suchen zu lassen als seinen Charakter ; denn sein Vater, der ebenso ic 
zartstolz war, hatte ihn gelehrt: man muB keinem dienen, der uns 
nicht achtet, oder den man selber nicht achtet, ja man muB von 
keinem eine Gefalligkeit annehmen, dem man nur einen auBer- 
lichen, aber keinen innerlkhen Dankzu sagen vermag. Aber dieses 
zarteEhrgefiihl, das nie mit seinem Eigennutze, wohl aber mit 
seiner Menschenliebe in ungleiche TrefFen kam, konnte ihm seine 
Hande nicht binden, womit er einer ungliicklichen Fiirstin - un- 
gliicklich, wie er , durch Darben an Liebe - wenigstens die Schmer- 
zen der Augen nehmen konnte; vielleicht auchjiingere Schmer- 
zen : denn seine Gutmutigkeit gab ihm lauter Versohnungen ein, 2c 
des Fursten mit Le Baut, mit der Fiirstin, mit dem Minister. 
Nichts ist gefahrlicher, als zwei Menschen auszusohnen - man 
miiBte denn der eine selber sein; sie zu entzweien, ist viel sicherer 
und leichter. 

Er fand Agnola nachmittags noch im Schlafzimmer, weil dessen 
grtine Tapeten (zwar nicht dem Gesichte, aber) dem heiBen Auge 
schmeichelten. Ein dichter Schleier liber dem Gesichte war ihr 
Taglichtschirm. Als sie, wie eine Sonne, ihren Schleier aufschlug; 
so begriffer nicht, wie er in Tostatos Bude aus diesem italienischen 
Feuer und aus diesen schnellen Hofaugen ein verweintes Blon- *< 
dinengesicht machen konnen. Ein Teil dieses Feuers gehorte frei- 
lich der Krankheit an. Ihr erstes Wort war ein entschlossener Un- 
gehorsam auf sein erstes; indessen stieB sie damit die Herren 
Pringte und Sckmucker so gut vor den Kopf wie ihn; denn das 
ganze dreieinige collegium medicum riet ihr - Blutigel um die 
Augen; aber diese ekelten sie. Der Medikus riickte mit Schropf- 



21. HUNDPOSTTAG 80f 

kopfen am Hinterhaupte heraus; aber ihre Haare waren ihr lieber 
als ihre Augen. »MuB man denn alles mit Blut erkaufen?« sagte sie 
mit italienischer Lebhaftigkeit. - »Die Reiche und Religionen 
solltens nkht werden, aber doch die Gesundheit«, sagt' er eng- 
lisch frei. Er foderte noch einmal ihr Blut - aber sie gab es ihm 
erst, da er das Opfermesser anderte und ihr am Auge eine Ader- 
laB vorschlug. Personen von Stande wissen, wie Gelehrte, oft die 
gemeinsten Dinge nicht : sie dachte, der Doktor werde die Ader 
offnen. Und weil sie es dachte: tat ers auch, mit seiner durchs 

io Starstechen geubten Hand. 

Inzwischen ist - wenn (nach dem Plinius) ein KuB aufs Auge 
einer auf die Seele ist - eine Aderlafi darauf kein SpaB: sondern 
man kann, indem man eine Wunde macht, selber eine holen. Der 
arme Hofmedikus muB mit seinem schwimmenden freundlichen 
Auge, von dem vor wenigen Tagen die Trane der Liebe abge- 
trocknet wurde, ktihn in die in eine Augenhohle gesperrte Sonne 
schauen und noch obendrein sanft mit dem Finger am warmen 
Gesicht anliegen und aus der Quelle der Tranen helles Blut vor- 
ritzen .... Schon eh' man eine solche Operation unternahme, sollte 

to man eine ahnliche an sich vollziehen lassen - der Kiihlung wegen. 
Im Grunde hatte auch ihm das Schicksal diese Woche nichts ge- 
geben als Lanzetten-Schnitte in seine Herzschlagader. Stellet man 
sich noch vor, daB ihm das ganze weibliche Geschlecht wie eine 
magische, weit zuriickgewichne Gestalt vorkam, die einmal in 
einem Traume nahe an ihm geschimmert, als ein erblassender 
Mond am Tage, den er in einer lichten Nacht angebetet hatte : so 
hat man sich sein gutes schuldloses Herz geoffnet, urn darin auBer 
einem groBen fortarbeitenden Schmerzen tausend mitleidige 
Wiinsche fur die bedauerte Fiirstin zu erblicken. Ungeachtet ihrer 

10 sonderbaren Mischung von Stolz, Lebhaftigkeit und Feinheit 
glaubte er doch in ihr eine Anderung zu entdecken, die er halb 
aus seiner heutigen Beflissenheit, halb aus seinem ihr bisher so 
gunstigen EinfluB auf den Fiirsten erklaren konnte, und die ihm 
einen groBern Mut gegeben hatte, wenn er sich nicht von dem 
Zettel uber dem Imperator der KompaB-Uhr mit besondern Aus- 
legungen seines Mutes hatte drohen lassen. Bei dem vorigen 



806 HESPERUS 

ersten Besuche war sein Mut gelahmt, weil er sich als der Sohn 
eines Vaters, der seinen EinfluB durch die Sorge urn natiirliche 
Kinder zu befestigen schien, geflohen glaubte; denn ein Mensch 
voll Liebe ist neben einem voll HaB stumm und dumm. 

Am mutigsten machte ihn heute auBer seinen Zankereien, die 
unterlagen (als iiber die Blutigel etc.), noch die Ietzte, die siegte; 
man wird mutiger und gliicklicher, wenn man einer Stolzen wider- 
spricht, als wenn man ihr schmeichelt. Er sah eine Maske liegen; 
da er nun wuBte, daB in Italien die Damen im Bette diese, wie die. 
unsrigen die Handschuhe, als Gesichtschuhe anlegen: so verbot « 
er ihr die Maske geradezu als Zunder der Augenentzundung. Es 
war keine Schmeichelei, da er ihr sagte, daB ihr die Maske mehr 
nehmen als geben konnte. Kurz, er bestand darauf. - 

Er war vielleicht zu duldend gegen den Zweifel, den nur eine 
Frau ertraglich und dauerhaft machen konnte, gegen den Zweifel, 
wen sie miteinander verwechsele, den Hofmedikus oder den 
Giinstling; denn er sagte ihr - obwohl in der Sorge, zuviel zu 
sagen, welches bei Leuten von seinem Feuer ein Zeichen ist, 
daB es schon geschehen ist - am Ende das, was er am Anfange 
zuruckbehalten hatte, daB ihn das Teilnehmen (empressement) *< 
des Fiirsten hergeschickt; und hob diesen auf eigne Kosten em- 
por, um so mehr, da er nichts AuBerordentliches weiter von ihm 
anzubringen hatte als eben, daB er ihn - hergeschickt. 

Dann ging er. Bei dem Fiirsten lieB er ihr so viel Selig- und so 
viel Heiligsprechungen (auf dieser Erde zwei Kontrarietaten !) zu- 
kommen, als der Anstand und sein Humor (zwei noch groBere 
Kontrarietaten) verstatteten. Sonderbar! sie hatte trotz lhrem 
Feuer keine Launen. Er wuBte, Jenner erlag nicht bloB dem Ver- 
leumder, sondern auch dem Lobredner. Man legt den gekronten 
Schauspieldirektoren der Erde Entschliisse ins Herz und Be- *< 
schlusse in den Mund; sie wissen, was sie wollen und was sie 
reden, ein paar Tage spater als ihr Throneinblaser. Ein Giinstling 
ist ein Shakespeare und Dichter, der hinter den Personen, die er 
handeln und reden lasset, nicht selber vorguckt und vprhustet, 
sondern der ein Bauchredner ist, welcher seiner Stimme den Klang 
einer Jremden gibt. 



21. HUNDPOSTTAG 807 

Da er den andern Tag die Patientin wieder besuchte, waren die 
Augenhohlen abgekiihlt, obwohl die Augen nicht; Agnola saB 
heil in einem Kabinett voll Heiligenbilder. Mit der UnpaBHchkeit 
der Augen war eine Quelle des Gesprachs weggenommen* und 
ihr Stolz vertrat zugleich seiner Empfindung und Laune den Zu- 
gang. Ob er es wohl hundertmal zu ihr in seinem Innern sagte: 
»QuaIe dich nicht, stolze Seele, ich bin kein Giinstling, ich will 
dir nichts nehmen, am wenigsten deinen Stolz oder fremde Liebe 
- o ich weifi, was es 1st, keine zu erlangen«: so blieb er doch (nach 

10 seiner Meinung) kalt vor ihr und zog mit der argerlichen Aussicht 
ab, daB ihm seine gute Kur die Wiederkehr abschneide; denn die 
andern Hof besuche waren doch keine freimutige Krankenbesuche. 
Vor der fatalen KompaB-Uhr erschrak er taglich weniger, auBer 
wenn er eben froher war. 

- Manche Leute wiirden eher ohne Hauser als ohne Bauern 
leben; Viktor lieber ohne Lebens-Luft als ohne Luftschlosser; er 
muBte immer das Lotterielos und die Aktie irgendeines Plans in 
der Zukunft stehen haben, und eine Frau war meistens die Mas- 
kopeischwester in diesem GroBavanturhandel. Diesmal war er 

10 auf die Versohnung Jenners und Agnolas erpicht. Er schloB so: 
sie ist auf beiden Seiten leicht - Jenner wird jetzt immer Agnolas 
Gesellschaft suchen, obwohl bloB aus List, um in die kunftige 
ihrer Hofdame KIo tilde mit mehr Anstand zu kommen, die er im 
Stande ihrer Ehelosigkeit noch ohne Schaden nach seinem Ge- 
liibde lieben kann - das wird ihn, da er weder einem langen Lobe, 
noch einem langen Umgang widerstehen kann, unvermerkt an 
Agnola gewohnen - diese, die jetzt verlassen auf der Seite des 
Ministers Schleunes steht, wird die vereinigte Achtung Viktors 
und Jenners nicht ausschlagen u. s . w Ob ihn aber nur die 

jo Schonheit der Handlung, nicht auch die Schonheit der Fiirstin zu 
diesem Mittleramt anmahnet, das kann das 2iste Kapitel noch 
nicht wissen; meinetwegen sei es indessen: sein verblutet-kaltes 
Innere, aus welchem noch das Klavier und Klotildens Name und 
das Morgen-Erwachen blutlose Dolche ziehen, hat ja das Getose 
der Welt so notig und jedes Ubertauben der Wunden! 

Mit der Absicht solcher Friedenspralimiriarien entschuldigte er 



808 HESPERUS 

seinen kunftigen Ungehorsam gegen seinen Vater, der ihm das 
Schleunessche Haus zu suchen abgeraten; denn da die Furstin 
immer hinkam, so wars der schicklichste neutrale Ort zum Frie- 
denkongresse. ! nur ein halbes — 

Extrablatt iiber tochtervolle Hauserl 

Das Haus von Schleunes war ein offner Buchladen, dessen Werke 
(die Tochter) man da lesen , aber nicht nach Hause nehmen konnte. 
Obgleich die funf andern Tochter in fiinf Privatbibliotheken als 
Weiber standen, und eine in der Erde zu Maienthal die Kindereien 
des Lebens verschlief: so waren doch in diesem Tochter-Handel- k 
haus noch drei Freiexemplare fur gute Freunde feil. Der Minister 
gab bei den Ziehungen aus der Amter-Lotterie gern seine Tochter 
zu Pramien fur groBe Gewinste und Treffer her. Wem Gott ein 
Amt gibt, dem gibt er, wenn nicht Verstand, doch eine Frau. 
In einem tochterreichen Haus miissen, wie in der Peterskirche, 
Beichtstilhle fur alle Volker, fur alle Charaktere, fur alle Fehler 
stehen, damit die Tochter als Beichtmiitter darin sitzen und von 
alien absolvieren, bloB die Ehelosigkeit ausgenommen. Ich habe 
oft als Naturforscher die weisen Anstalten der Natur zur Ver- 
breitung sowohl der Tochter als Krauter bewundert. »Ists nicht 2< 
eine weise Einrichtung^ sagt' ich zum naturhistorischen Goeze, 
»da fi die Natur gerade denen Madchen, die zu ihrem Leben einen 
reichen mineralischen Brunnen brauchen, etwas Anhakelndes 
gibt, womit sie sich an elende Ehe-Finken setzen, die sie an fette 
Orter tragen? So bemerkt Linne^, wie Sie wissen, daB Samen- 
arten, die nur in fetter Erde fortkommen, Hakchen anhaben, um 
sich leichter ans Vieh zu hangen, das sie in den Stall und Diinger 
tragt. Wunderbar streuet die Natur durch den Wind - Vater und 
Mutter miissen ihn machen - Tochter und Fichtensamen in die 
urbaren Forstplatze hin. Wer bemerkt nicht die Endabsicht, daB y 
manche Tochter darum von der Natur ge^wisse Reize in benannten 
Zahlen hat, damit irgendein Domherr, ein Deutscher Herr, ein 
Kardinaldiakonus, ein apanagierter Prinz oder ein bloBer Land^ 
1 S. dessen amoen. acad., die Abhandlung von der bewohnten Erde. 



21. HUNDPOSTTAG 809 

junker herkomme und besagte Reizende nehme und als Braut- 
fiihrer oder englischer Brautvater sie schon ganz fertig irgend- 
einem sonstigen Tropfen ubergebe als eine auf den Kauf gemachte 
Frau? Und finden wir bei den Heidelbeeren eine geringere Vor- 
sorge der Natur? Merket nicht derselbe Linne in derselben Ab- 
handlung an, daB sie in einen nahrenden Saft gehiillet sind, damit 
sie den Fuchs anreizen, sie zu fressen, worauf der Schelm — ver- 
dauen kann er die Beeren nicht — , so gut er weiB, ihr Saemann 
wird?« - 

10 O mein Inneres ist ernsthafter, als ihr meint; die Eltern argern 
mich, die Seelenverkaufer sind; die Tochter dauern mich, die 
Negersklavinnen werden - ach ists dann ein Wunder, wenn die 
Tochter, die auf dem westindischen Markte tanzen, lachen, reden, 
singen mufiten, um vom Herrn einer Pflanzung heimgefuhrt zu 
werden, wenn diese, sag* ich, ebenso sklavisch behandelt werden, 
als sie verkauft und eingekauft wurden? Ihr armen Lammer! - 
Und doch, ihr seid ebenso arg wie eure Schaf-Mutter und Vater - 
was soil man mit seinem Enthusiasmus fur euer Geschlecht 
machen, wenn man durch deutsche Stadte reiset, wo jeder Reichste 

20 oder Vornehmste, und wenn er ein weitlauf tiger Anverwandter 
vom Teufel selbst ware, auf dreiBig Hauser mit dem Finger zeigen 
und sagen kann: »Ich weiB nicht, soil ich mir aus dem perlfar- 
benen, oder aus dem nuBfarbenen, oder etwan aus dem stahl- 
grunen Hause eine holen und heiraten: offen stehen die Kauf laden 
alle«? - Wie, ihr Madchen, ist denn euer Herz so wenig wert, daB 
ihr dasselbe wie alte Kleider nach jeder Mode, nach jeder Brust 
zuschneidet, und wird es denn wie eine sinesische Kugel bald groB, 
bald winzig, um in eines mannlichen Herzens Kugelform und 
Ehering-Futteral einzupassen? - »Es muB wohl, wenn man nicht 

50 sitzen bleiben will, wie die heilige Jungfer da driiben«, antworten 
mir die, denen ich nicht antworte,*weil ich mich mit Verachtung 
wegwende von ihnen, um der sogenannten heiligen Jungfer zu 
sagen: »Verlassene, aber Geduldige! Verkannte und Verbliihte! 
Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du ncch auf bessere hofftest 
als die jetzigen, und bereue den edeln Stolz deines Herzens nie! 
Es ist nicht allemal Pflicht, zu heiraten, aber es ist allemal Pflicht, 



8lO HESPERUS 

sich nichts zu vergeben, auf Kosten der Ehre nie glucklich zu 
werden und Ehelosigkeit nicht durch Ehrlosigkeit zu meiden. Un- 
bewunderte, einsame Heldin! in deiner letzten Stunde, wo das 
ganze Leben und die vorigen Guter und Geriiste des Lebens, in 
Triimmer zerschlagen, voraus hinunterfallen, in jener Stunde 
wirst du iiber dein ausgeleertes Leben hinschauen, es werden zwar 
keine Kinder, kein Gatte, keine nasse Augen darin stehen, aber in 
der leeren Dammerung wird einsam eine groBe, holde, englisch- 
Iachelnde,strahlende,gottlicheundzuden Gottlichen aufsteigende 
Gestalt schweben und dir winken, mit ihr aufzusteigen - o steige k 
mit ihr auf, die Gestalt ist deine Tugend.% - 

Ende des Extrablattes 



Einige Tage darauf gab die Fiirstin dem Fiirsten ein Auge en 
medallion mit der schonen Wendung: sie gebe diese Votivtafel 
dem Heiligen (das pafite um so mehr, da der Furst Januar hieB), 
der ihr seinen Wundertater zugeschickt, und der das bekommt, 
was er heilen lassen. Jenner sagte zu Viktor, dem er das Auge 
zeigte: »Der heilige Januar wird mit Ihnen, mit der heiligen Otti- 
lia, verwechselw - die bekanntlich die Patronin der Augen ist. 

Viktor war froh, daB Matthieu zu ihm kam, um mit ihm nach « 
St. Liine zu gehen; denn dieser bat ihn, weil dieses ohne ihn ge- 
schehen, mit zu seiner Mutter zu gehen, »weil heute bei der Fiirstin 
groBes Souper sei, bei seiner Mutter aber kein Mensch«, d. h. kaum 
uber neun Personen. Viktor zog also - es tat heute nichts, daB die 
furstliche Augendulderin fehlte - gern in die Schleunessche Ntirn- 
bergische Konvertitenbibliothek von Tochtern hinein hinter dem 
zartlichen Jonathan- Orest-Matz, den er iiberhaupt jetzt aus Scho- 
nung fur ihren allgemeinen Freund Flamin toleranter behandelte. 
Die Menschen vergesellschaften sich wie die Ideen ebensooft nach 
der Gteichieitigkeit als nach der Ahnlichkeit\ und aus der Wahl der ?c 
Bekannten ist ebensowenig etwas auf den Charakter des Jiinglings 
zu schlieBen, als auf einer Frau ihren aus der Wahl des Gatten. 
Matthieu stellte ihn seiner Mutter im Lesekabinette, da ihr gerade 



2 1 . HUNDPOSTTAG 8 1 I 

aus einem englischen Autor vorgelesen wurde, mit den Worten 
vor: »Hier bring* ich Ihnen einen ganz lebendigen Englander.« 
Joachime las in einem Verzeichnisse - es war kein Biicher-, son- 
dern ein Nelkenblatterverzeichnis -, urn sich einige Nelken aus- ' 
zusuchen, nicht um sie zu pflanzen, sondern sie nachzumachen - 
in Seide. Sie hafke Blumen, die wuchsen. Ihr Bruder sagte aus 
Ironie: »sie haBte die Veranderlichkeit sogar an einer Blume.d 
Denn sie liebte sie sogar an Liebhabern; und unterschied sich 
ganz vom April, der wie die Weiber in unserem Klima weit be- 

10 standiger ist, als man vorgibt. Im Kabinett waren noch zwei 
Narren da, die mir mein Korrespondent nicht einmal nennr, weil 
sie, glaubt er, hinlanglich bezeichnet und geschieden waren, wenn 
ich den einen den wohlriechenden Narren nennte, und den andern 
den feinen. 

Beide Narren umsummten die Schone. Oberhaupt, sooft ich 
Narren in groBen Partien studieren wollte, sah ich mich ordent- 
licherweise nach einer groBen Schonheit um; — diese umsaBen 
sie wie Wespen eine Obstfrau. Und wenn ich sonst keine Ursache 
hatte - ich habe sie aber -, um die schonste Frau zu ehelichen : so 

20 tat' ichs schon darum, damit ich immer die Bienenkonigin in der 
hohlen Hand sitzend hielte, der der ganze narrische Immen- 
schwarm nachbrauste. Ich und meine Frau wiirden dann den Ker- 
len in Lissabon gleichen, die, in den Handen mit einem Stanglein 
angeketteter Papageien, an den FiiBen mit einer Kuppel nach- 
hiipfender Affen y durch die Gassen ziehen und ihr tolles Personale 
feilbieten . 

Der wohlriechende Narr, der heute in der Sonnenseite Joachi- 
mens war, las der Mutter vor - der feine, der in der Wetterseite 
war, stand neben Joachime und schien sich nichts um ihr Wetter- 

30 kiihlen zu scheren. Viktor stand als Obergang von der heiBen 
Zone in die kalte da und stellte die gemaBigte vor; Joachime 
spielte drei Rollen mit einem Gesicht. Der wohlriechende Narr 
schoB mit der linken Hand die Drehbasse eines silbernen Joujou: 
dieses hangende Siegel eines Toren bewegte er entweder wie der 
Gronlander einen Block mit seinen FiiBen, der Erwarmung 
wegen - oder er tats, wie der GroBsultan aus gleichem Grund 



8l2 HESPERUS 

immer ein Schnitzmesser handhaben muB, um nicht immer je- 
mand sterben zu lassen vor Liebe - oder um, wie der Storch immer 
einen Stein in den Krallen halt, allezeit ein Ixions-Rad in den 
Handen, wie ein Spornrad an den Fersen, zu haben - oder der 
Gesundheit wegen, um den globulus hystericus 1 durch die Be- 
wegung eines auBern zu bestreiten - oder als Paternosterkugel- 
chen - oder weil er nicht wuBte, warum. 

Jeder war mit sich zufrieden. Als die Mutter unsern Eng- 
lander gebeten, mit seinem Akzent ihr vorzulesen, so sagte der 
feine Narr: »Das Englische ist wie gewisse Gesinnungen leichter 10 
zu verstehen als auszusprechen.« Dieses feine Schaf hatte namlich 
iiberall die Gewohnheit, metaphorisch zu sein - wenn ihm ein 
Madchen sagte : »Ich kann mich heute der Kalte nicht erwehren«, 
so macht' er die des Herzens daraus - man konnte nicht sagen : 
»Es ist triibe, warm, die Nadel hat mich gestochen etc.«, ohne daB 
er dies fiir einen Kugelzieher nahm, der sein Herz aus dem Ge- 
wehre der Brust vorzog und vorwies - es war vor seinen Ohren 
unmoglich, daB man nicht fein war, und aus eurem Gutenmorgen 
drehte er ein Bonmot - hatt* er das Alte Testament gelesen, er 
hatte sich uber die feinen Wendungen darin nicht satt wundern 20 
konnen. Dafiir schrankte der woklriechende Narr seinen ganzen 
Witz auf ein lebhaftes Gesicht ein - er schlug diesen Fracht- und 
Assekuranzbrief von tausend Einfallen vor euch auf und hielt ihn 
vor, aber es kam nichts - ihr hattet auf den Ansagezettel von Witz 
in seinem feurigen Auge geschworen, jetzo brenn' er los - aber 
nicht im geringsten! Er handhabte die satirische Waffe wie die 
Grenadiere die Handgranaten, die sie nicht mehr werfen, sondern 
nur abgebildet auf den Mutzen fiihren. 

Als der Feine sein erotisches Bonmot gesagt hatte: sah Jo- 
achime unsern Helden an und sagte mit einer ironischen Miene 30 
wider den Feinen: »J'aime les Sages a fofolie.<< 

Der Stolz des wohlriechenden auf seinen heutigen Vorzug und 
die scheinbare Gleichgultigkeit des feinen Narren gegen seine 
Hintansetzung bewiesen, daB alle beide selten im heutigen Falle 

1 Hysterische Kugel, d.h. die' hysterische Krankenempfindung, als rolle 
sich eine Kugel die Kehle herauf. 



2 1 . HUNDPOSTTAG 8 1 3 

waren; - und daB Joachime auf eine eigne Weise kokettierte. Sie 
lachte uns erhabne Mannspersonen allemal aus, wenn zwei auf 
einmal bei ihr waren - eine allein weniger - ihre Augen iiber- 
lieBen es unserer Eigenliebe, das Feuer darin der Liebe mehr als 
dem Witze zuzuschreiben - sie schien alles herauszuplaudern, was 
ihr einfiel, aber manches schien ihr nicht einzufallen - sie war voll 
Widerspriiche und Torheiten, aber ihre Ahskhten und ihre Zu- 
neigung bleiben doch jedem zweifelhaft - sie antwortete schnell, 
aber sie fragte noch schneller. Heute trat sie in Beisein der drei 

10 Herren - zu andern Zeiten im Beisein des ganzen bureau d'esprit 
- vor den Spiegel, zog ihre Schminkdose heraus und retuschierte 
das bunte Dosenstiick ihrer Wangen. Man konnte sich gar nicht 
denken, wie sie aussahe, wenn sie verlegen ware oder beschamt. 
Die Tugend mancher Damen ist ein Donnerhaus, das der elek- 
trische Funken der Liebe zerschlagt, und das man wieder zu- 
sammenstellt fiir neue Versuche; unserm an die hochste weibliche 
Vollkommenheit verwohnten Helden kam es vor, als gehore 
Joachime unter jene Donnerhauser. Koketterie wird immer mit 
Koketterie beantwortet. Entweder letzte war es, oder zu schwache 

20 Achtung fiir Joachime, daB Viktor die beiden Anbeter in den 
Augen der Gottin lacherlich machte. Sein Sieg war ebenso leicht 
als groB - er lagerte sich auf der Stelle des Feindes: mit andern 
Worten, Joachime gewann ihn Heber. Denn die Weiber konnen 
den nicht leiden, der vor ihren Augen einem andern Geschlechte 
unterliegt als, dem ihrigen. Sie lieben alles, was sie bewundern; und 
man wiirde von ihrer Vor liebe fiir korperliche Tapferkeit weniger 
satirische Auslegungen gemacht haben, wenn man bedacht hatte, 
daB sie diese Vorliebe fiir alles Ausgezeichnete, fiir ausgezeich- 
nete Reiche, Beruhmte, Gelehrte, empfinden. Der diirre und runz- 

30 lige Voltaire hatte so viel Ruhm und Witz, daB wenige Pariser 
Herzen sein satirisches ausgeschlagen hatten. Noch dazu druckte 
mein Held seine Achtung fiir das ganze Geschlecht mit einer 
Warme aus, die sich das Einzelwesen zueignete; - auch brachte 
seine beliebte Gesamtliebe, ferner sein in der Trauer iiber ein ver- 
lornes Herz schwimmendes Auge und endlich seine warmende 
Menschenfreundlichkeit ihm eine Aufmerksamkeit von Joachi- 



8 14 HESPERUS 

men zuwege, welche die seinige in dem Grade erregte, daB er sich 
das nachstemal zu untersuchen vornahm, was dran ware. — 

Das nachste Mai war bald da. Sobald ihm die Ankunft der 
Fiirstin vom Apotheker geweissagt war - denn der war fiir die 
kleine Zukunft des Hofs ihm seine Hexe zu Endor und Kuma und 
seine Delphische Hohle — , so ging er hin; denn er fuhr nicht hin. 
»Solang' es noch einen Schuhabputzer und ein Stein-Pflaster gibt,« 
sagt* er, »fahr' ich nicht. Aber von vornehmern Leuten wunderts 
mich, daB sie noch zu FuB reisen von einem Fliigel des Palasts in 
den andern. Konnte man nicht, so wie die Pennypost fiir eine 10 
Stadt, ein Fuhrwerk fiir seinen Palast einfiihren? Konnte nicht 
jeder Sessel ein Tragsessel sein, wenn eine Dame die Alpenreise 
von einem Zimmer ins andere weniger scheuete? Und verschie- 
dene Weltumseglerinnen wiirden es wagen, eine Lustreise durch 
einen groBen Garten zu machen in einer zugesperrten Sanfte.« - 
Viktor reisete gerade durch einen, namlich den Schleunesschen : 
es war noch zu hell und zu schon, um sich wie Nahkissen an die 
Spieltische zu schrauben. Er sah darin eine kleine bunte Reihe 
gehen und Joachimen darunter. Er schlug sich zu ihnen. Joachime 
bezeugte eine malerische Freude iiber die Wolken-Gruppierung, 20 
und es stand ihren schonen Augen gut, wenn sie sie dahin hob. 
Da man nichts Gescheites zu reden hatte : suchte man etwas Ge- 
scheites zu tun, sobald man ans Karussell ankam. Man setzte sich 
darauf und IieB es drehen. Viele Damen hatten gar den Mut nicht, 
diese Drehscheibe zu besteigen - einige wagten sich in die Sessel 
- bloB Joachime, die ebenwo verwegen als furchtsam war, be- 
schritt das holzerne TurnierroB und nahm die Lanze in die Hand, 
um die Ringe mit einer Grazie wegzuspieBen, die schonerer 
Ringe wiirdig war. Aber um sich nicht dem Abwerfen des Dreh- 
Rosinante bloBzugeben, hatte Joachime meinen Helden wie ein 30 
Treppengelander an sich gestellt, um sich an ihn in der Zeit der 
Not anzuhalten. Die Achsebewegung wurde schneller und ihre 
Furcht groBer; sie hielt sich immer fester an, und er faBte sie 
fester an, um ihrer Anstrengung zuvorzukommen. Viktor, der 
sich auf die Taschenspielerkiinste und den Hokuspokus der Wei- 
ber recht gut verstand, fand sich leicht in Joachimens Wiegle- 



21. HUNDPOSTTAG 815 

bische natiirliche Magie und »Trunkus Plempsum Schallalei«; 
noch dazu war das wechselseitige Andrucken so schnell hin- und 
hergegangen, daB man nicht wuBte, hatt' es einen Erfinder oder 
eine Erfinderin — , 

Da sie jetzt alle im Zimmer sind und ich allein im Garten stehe 
neben der RoBmiihle: so will ich dariiber geschickt refiektieren 
und anmerken, daB die GroBen, gleich den Weibern, den Fran- 
zosen und den Griechen, grofie - Kinder sind. Alle groBe Philo- 
sophen sind das namliche und leben, wenn sie sich durch Denken 
10 fast umgebracht haben, durch Kindereien wieder auf, wie z.B. 
Malebranche tat; ebenso holen GroBe zu ihren ernstern edeln 
Lustbarkeiten durch wahre kindische aus; daher die Steckenpferd- 
Ritterschaft, die Schaukel, die Kartenhauser (in Hamiltons me- 
moires), das Bilderausschneiden, das Joujou. Mit dieser Sucht, 
sich zu amiisieren, steckt sie zum Teil die Gewohnheit an, ihre 
Obern zu amiisieren, weil diese den alten Gottern gleichen, die 
man (nach Moritz) nicht durch BuBen, sondern durch frohliche 
Feste besanftigte. 

Da er mit der ganzen Theatergesellschaft des Ministers be- 
20 kannt war, und zwekens, da er kein Liebhaber mehr war - denn 
dieser hat tausend Augen fiir eine Person und tausend Augenlider 
fur die andern -: so war er beim Minister nicht verlegen, sondern 
gar vergniigt. Denn er hatte da doch seinen Plan durchzusetzen - 
und ein Plan macht ein Leben unterhaltend, man mag es tesen 
oder fiihren, 

Es miBlang ihm heute nicht, ziemlich lange mit der Fiirstin zu 
sprechen, und zwar nicht vom Fursten - sie mied es -, sondern 
von ihrem Augeniibel. Das war alles. Er fiihlte, es sei leichter, 
eine ubertriebene Achtung vorzuspiegeln, als eine wahre auszu- 
30 driicken. Die Besorgnis, falsch zu scheinen, macht, daB man es 
scheint. Daher sieht bei einem Argwohnischen ein Aufrichtiger 
halb wie ein Falscher aus. Indessen war bei Agnola, die ihres 
Temperaments ungeachtet sprode war - ein eigner zuruckge- 
stimmterTon herrschte daher in ihrer Gegenwart bei Schleunes -, 
jeder Schritt genug, den er nicht zuriick tat. 

Aber gegen die lebhafte Joachime tat er einen halben vor- 



8l6 HESPERUS 

warts. Nicht sowohl sieals dasHaus schien ihmkokett zu sein; 
und die Tochter darin fand er - dies macht das Haus - den alten 
Litonen oder Leuten der Sachsen ahnlich, die 1 / 3 freiwaren und 
*/ 3 leibeigen, und die also ein Drittel ihres Guts verschulden konn- 
ten. Jede hatte noch ein Drittel, ein Neuntel, ein Kugelsegment 
von ihrem Herzen iibrig zur freien Verfugung. Oberhaupt wer 
noch kein Kabeljau- oder Stockfischangeln gesehen: der kann es 
hier lernen aus Metaphern - die drei Tochter halten lange Angel- 
ruten iibers Wasser (Vater und Mutter platschern die Stockfische 
her) und haben an die Angelhaken gespieBet Staatsuniformen oder 10 
ihre eigne Gesichter - Herzen - ganze Manner (als ankodernde 
Nebenbuhler) - Herzen, die schon einmal aus dem Magen eines 
andern gefangnen Kabeljaus herausgenommen worden -: ich 
sage, daraus kann man ungefahr ersehen, womit man die andern 
Kabeljaus in der See fangt, vdllig wie die Stockfische zu Lande, 
namlich auch (jetzt lese man wieder zuriick) mit roten Tuch- 
lappen — mit Glasperlen - mit Vogelherzen - mit eingesalzenen 
Heringen und blutenden Fischen - mit kleinen Kabeljaus selber - 
mit Fischen, die man halb verdauet aus gefangnen Stockfischen 

gezogen. zo 

Viktor dachte: »Meinetwegen sei Joachime nur Iebhaft oder 
kokett, ich laufe leicht tiber Mardereisen hinuber, die ich ja mir 
vor der Nase stellen sehe.« Laufe nur, Viktor! das sichtbare Eisen 
soil dich eben in das bedeckte treiben. Man kann an derselben Per- 
son die Koketterie gegen jeden bemerken, und doclrihre gegen 
sich ubersehen, wie die Schone dem Schmeichler glaubt, den sie 
fur den ausgemachten Schmeichler aller andern halt. - Er be- 
rnerkte, daB Joachime das neue Deckenstiick diesen Abend ofters 
angeschauet hatte; und wuBte nicht recht, warum es ihr gefalle: 
endlich sah er, daB sie nur sich gefalle, und daB diese Erhebung sp 
ihren Augen schoner lasse als das Niederblicken. Er wollt* es 
iibermutig untersuchen und sagte zu ihr: »Es ist schade, daB es 
nicht der Maler des Vatikans gemacht hat, damit Sie es ofter an- 
sahen.« - »0,« sagte sie leichtsinnig, »ich wiirde niemals mit andern 
hinaufsehen — ich liebe das Bewundern nicht.« Spater sagte sie: 
»Die Manner ver stellen sich, wenn sie wollen, besser als wir ; aber 



22. HUNDPOSTTAG 817 

ich sage ihnen ebensowenig Wahrheiten, als ich von ihnen hore.« 
Sie gestand geradezu, Koketterie sei das beste Mitiel gegen Liebe; 
und mit der Bemerkung, »seine Freimiitigkeit gefall* ihr, aber die 
ihrige muss* ihm auch gefallen«, endigte sie den Besuch und den 
Posttag, 



22. HUNDPOSTTAG 

StiickgieBerei der Liebe, 2. B. gedruckte Handschuhe, Zank, Zwergflaschen 

und Schnittwunden - ein Titel aus den Digesten der Liebe - Marie - Cour- 

tag - Giulias Sterbebrief 

10 Der Leser wird sich argern iiber diesen Hundposttag; ich meines 
Orts habe mich schon geargert. Der Held verstrickt sich zusehends 
in das Zuggarn zwei weiblicher Schleppen und sogar in die Bande 
der furstlichen Freundschaft . . . . es braucht nur noch, daB gar 
Klotilde zurn Wirrwarr stoBet — Und so etwas muB ein Berg- 
hauptmann, ein Eilander den Leuten auf dem festen Lande hinter- 
bringen! 

Chronologisch soils noch dazu gemacht werden : ich will diesen 
Hundposttag, der vom November bis zum Dezember Iangt, in 
Wochen zerlegen. Dadurch wird die Ordnung groBer. Denn ich 

20 kenne die Deutschen: sie wollen wie die Metaphysiker alles von 
vorn an wissen, recht genau, in GroBoktav, ohne iibertriebene 
Kiirze und mit einigen citatis. Sie versehen ein Epigramm mit 
einer Vorrede und ein Liebemadrigal mit einem Sachregister - 
sie bestimmen den Zephyr nach einer Windrose - und das Herz 
eines Madchens nach dem Kegelschnitt - sie bezeichnen alles mit 
Fraktur wie Kauf leute und beweisen alles wie Juristen — ihre Ge- 
hirnhaute sind lebendige Rechenhaute, ihre Beine geheime MeB- 
stangen und Schrittzahler - sie zerschneiden den Schleier der neun 
Musen und setzen auf die Herzen dieser Madchen Tasterzirkel 

30 und in ihre Kopfe Visierstabe - die arme Klio (die Muse der Ge- 
schichte) sieht gar aus wie der Konsistorialrat Busching, der lang- 
sam und krumm unter einer Landfracht von Mefiketten, von 
Terzienuhren und von Harrisonschen Langenuhren und durch- 



8 1 8 HESPERUS 

schossenen Schreibkalendern daherwandelt - so daB ich besonders 
den armen Biisching beweme, sooft ich ihn nur schreiten sehe, 
da den guten topographischen Last- und Kreuztrager ganz 
Deutschland (von dem ich etwas anders erwartet hatte), jeder 
Amtmann, jeder dumme SchultheiB (bloB wir Scheerauer sattel- 
ten ihn nicht) gleich einer Pfanderstatue von der Kniekehle bis 
ans Nasenloch (der gute Mann ist kaunvzu sehen, und mich wun- 
derts nur, wie er auf den FuBen verbleibt) umhangen, besteckt 
und eingebauet hat mit alien verdammten Teufels-Wischen - mit 
Dorfinventarien — mit Intelligenzblattern - mit Wappenwerken 10 
- mit FJurbuchern und perspektivischen Aufrissen von Schwein- 
stallen. 

Sie haben sogar den Jean Paul - damit ich nur von mir selber 
ein Beispiel des deutschen Foliierphlegma er^ahle^ wiewohl ich 
eben dadurch eines gebe — angesteckt: ists nicht eine alte Sache, 
daB er das BlaU der schonsten Augen, in die je ein amoroso ge- 
blickt, vermittelst eines Saussureschen Cyanometers 1 genauer 
nach Graden angegeben und die schonsten Tropfen, die aus ihnen 
wahrend der Messung fielen, richtig genug mit einem Taumesser 
ausvisiert hat? - Und hat nicht sein Versuch, die weiblichen 20 
Seufzer mit dem Stegmannischen Luftreinigkeitmesser einzufan- 
gen und zu priifen, unter uns mehr als zuviel Nachahmer ge- 
funden? 

Woche des 22. Post-Trinitatis oder vom 3. Nov. bis 11. 
(exclusive) 

Diese Woche versaB er fast ganz beim Minister: manche Men- 
schen kommen, wenn sie nur viermal in einem Hause waren, dann 
wie das tagliche Fieber taglich wieder, anfangs wie die Lenzsonne 
jeden Tag fruher, dann wie die Herbstsonne jedeh Tag spater. Er 
sah wohl, daB er bei dieser Hof- und Ministerialpartie nichts 30 
niederlegen konne, weder ein Geheimnis, noch Vermogen, noch 
ein Herz, weil sie ehrlichen Gerichtstellen gleichen wiirde, die - 
so wie die Monche ihr Eigentum ein Deposkum nennen und 
1 Instrument, das Blau des Himmels zu bestimmen. 



22. HUNDPOSTTAG 8 1 9 

sagen, nichts gehore ihnen - umgekehrt jedes Depositum zu einem 
Eigentum erheben und sagen, alles gehore ihnen. Aber er machte 
sich nichts daraus : »Ich komme j a nur zum SpaBe,« (dacht* er) »und 
mir ist nichts anzuhaben.« — Der Minister, dem er bloB iiber der 
Tafel begegnete, hatte gegen ihn alle die Hoflichkeit, die mit 
einem persiflierenden Gesicht und mit einem die Welt in Spionen 
und in Diebe einteilenden Stande zu verbinden ist; aber Sebastian 
merkte doch, daB er ihn fur einen Halbkenner in der Medizin und 
in den ernsthaften Wissenschaften - als waren nicht alle ernsthaft 

*° - ansehe und fur einen Eingeweihten bloB im Witz und schonen 
Wissen. Jedoch war er zu stolz, ihm eine andere als die leere Neu- 
mondseite zuzukehren, und verbarg alles, was ihn bekehren 
konnte. Daher muBte sich Viktor bei dem diimmsten Kanzleiver- 
wandten, ders gesehen hatte, dadurch urn alle Achtung bringen, 
daB er, wenn der Minister mit seinem Bruder, dem Regier- 
prasidenten, ein interessantes Gesprach iiber Auflagen, Biind- 
nisse, iiber die Kammer anspann, entweder nicht aufmerkte, oder 
fortlief, oder die Weiber aufsuchte. - Auch liebte er am Fiirsten 
nur den Menschen; der Minister nur den Fiirsten. Viktor konnte 

20 bei Jenner selber iiber die Vorziige der Republiken Reden halten, 
und dieser hatte oft im Enthusiasmus (wenn die Reichgerichte 
und sein Magen es verstattet hatten) gern Flachsenfingen zum 
Freistaat erhoben und sich zum Prasidenten des Kongresses darin. 
Aber der Minister haBte dies todlich und klebte alien politischen 
Freidenkern - einem Rousseau - alien Girondisten - alien Feuil- 
ants - alien Republikanern - und alien Philosophen den Namen 
Jakobiner auf, wie die Tiirken alle Fremde, Briten, Deutsche, 
Franzosen etc., Franken nennen. Indes war dieses eine Ursache, 
warum Viktor Matzen, der besser hieriiber dachte, jetzo lieber ge- 

3 o wann; und warum er von dem Vater zu der Tochter floh. 

Bei Joachimen gelangen in dieser Woche seine Gnadenmittel : 
sie gab dem feinen und wohlriechenden Narren-Dualis, wie wir 
der Tugend y nur das Akzessit, und meinem Helden, wie wir der 
Neigung, die Preismedaille. Da er aber bloB eine gewisse Emp- 
findsamkeit am meisten in der Freundschaft und Liebe achtete : 
so hatt* er, dacht' er, mit dieser Schakerin durch den Mond reisen 



820 HESPERUS 

konnen, ohne/tfr sie (aber wohl uber sie) zu seufzen - aber diese 
Lustigen, mein Bastian, haben den Henker gesehen; denn wenn 
sie etwas anders werden, dann wird mans auch mit. Sie sagte ihm, 
sie wolle gefallen wie ein lutherisches Heiligengemalde, aber sie 
wolle nicht angebetet sein wie ein katholisches. Sie nahm ihn am 
meisten durch die ihrem Geschlecht eigne Gabe ein, zarte Wen- 
dungen zu verstehen - die Weiber erraten so leicht, weil sie sich 
immer nur erraten Iassen, und erganien und verbergen jede Halfte 
mit gleichem Gliick -; aber zu ihren Reizen rechn' ich auch den 
Zwang vor der Fiirstin und den vor den Zuhorern mit den - i 
Augen. Obrigens war jetzo sein von Klotilden weggeworfenes 
Herz in der Lage der Kinder, die gewettet haben, Schlage in ihre 
Hand ohne Tranen aufzunehmen, und welche noch fortlacheln, 
wenn diese schon flieBen. 

Woche des 23. Post-Tnnitatis oder 46ste des Jahrs 179*. 

Jetzt ist er auch vormittags dort. Es ist bemerkenswert, daB er ihr 
am Martinitag die gepuderte Stirn mit dem Pudermesser rasierte, 
und da(3 er um einige Toiletten-Hofamter bei ihr anhielt: »Ich 
kann Ihr Schminkdosentrager werden, wie der groBe Mogul 
Tabakpfeifen- und Beteltrager hat - oder auch Ihr Cravatier ordi- 2c 
naire - oder Ihr Sommier (d . h. Gebetpolstertrager) - ich wiirde, 
wenn Sie nicht auf den Polster knieten, es selber tun vor Ihnen. 
— Ich kannte in Hannover einen schonen Englander, der sich das 
linke Knie futtern und polstern HeB, weil er nicht wuBte, wen er 
heute anzubeten bekomme und wie lange.« 

Es ist ebenso wichtig, daB er sie am Jonastag ein Paar feine 
Handschuhe, worauf ein sehr einfaltiges Gesicht getuschet war, 
anzunehmen zwang - »es ware sein eignes,« (sagt' er) »sie sollte 
das Gesicht nur nachts im Bette auf oder an der Hand haben, da- 
mit es aussahe, als kuBt' ,er ihr durch die ganze Novembernacht 3° 
die Hand.« - 

Ich fahre in meinem pragmatischen Auszuge aus diesem Be- 
lagertagebuch fort und finde am Leopoldstag aufgezeichnet, daB 
Joachime schon vormittags sagte, sie wiirde ihrem Papagei, wenn 



22. HUNDPOSTTAC 821 

sie ihm einen Sprachmeister hielte, nichts aus dem ganzen Diktio- 
nar beibringen lassen als das Wort: perfide! »Jeder Liebhaber«, 
sagte sie, »sollte sich ein Papchen halten, das ihm unauf horlich zu- 
riefe: perfide !« - »Die Damen«, sagte mein Held, »sind allein 
schuld : sie wollen zu lange, oft ganze Wochen, ganze Monden 
geliebt werden. Dergleichen ist iiber unsre Krafte. Haben nicht 
die Jesuiten sogar die Liebe zu Gott periodisch gemacht 1 ? Skotus 
schrankt sie auf den Sonntag ein - andre auf die Festtage - Co- 
ninchsagt: es ist genug, wenn man ihn alle vier Jahre einmal liebt- 

[o Henriquez setzt noch ein Jahr dazu - Suarez sagt gar : wenns nur 
vor dem Tode ist — Manchen Damen fielen bisher die Zwischen- 
zeiten anheim; aber die Tag-, die Jahr-, die Festzeiten, die Ver- 
lobung-, die Begrabnistage bilden ebensoviel verschiedene Sekten 
unter den Jesuiten der Liebe.« - Joachime machte den Anfang zu 
einer ziirnenden Miene. Der Hofmedikus hatte nichts lieber mit 
Schonen als Zank und setzte dazu: »C'est a force de se faire hair 
qu'elles se font aimer - c'est aimer que de bouder - ah que je Vous 
prie de Vous facher! a « - Seine Laune hatte ihn iiber das Ziel ge- 
trieben - Joachime hatte recht genug, seine Bitte um ihren Zorn 

10 zu erfullen - er wollte den Zank fortsetzen, um ihn beizulegen - 
da es aber doch Falle gibt, wo die Vergrofierung einer Beleidigung 
ebensowenig Vergebung verschafTt als die stufenweise Zurikk- 
nahme derselben: so tat er klug, dafi er ging. 

Er wunderte sich, daB er den ganzen Tag an sie dachte: das 
Gefuhl, ihr unrecht getan zu haben, stellte ihr Gesicht in einer 
leidenden Miene vor seine erweichte Seele, und alle ihre Ziige 
waren auf einmal veredelt. Tacitus sagt: man hasset den andern, 
wenn man ihn beleidigt hat; aber gute Menschen Heben den andern 
oft bio 6 deswegen. 

jo Am Tage darauf, am Ottomars-Tage - Ottomar ! groBer Name, 
der auf einmal den langen Leichenzug einer groBen Vergangen- 
heit im Finstern vor mir voriiberfahrt - sah er sie ernsthaft, ihn 
weder suchend noch fliehend. Die zwei Narren blieben in ihren 

1 Dieser freche Unsinn steht wirklich in Pascals Briefen. S. den ioten. 
* d.h. Dadurch, daB sie einen argern, machen sie nur, daB man sie mehr 
liebt - Schmollen ist Lieben - O ich bitte Sie instandig, bose zu werden. 



822 HESPERUS 

Augen die zwei Narren und gewannen durch nichts etwas. Da er 
also gewiB bemerkte, da 6 aus einem fliichtigen Grollen wahre 
Reue iiber ihre bisherige Offenheit geworden war, von der er einen 
zu freimiitigen Gebrauch und eine zu eigenniitzige Auslegung 
gemacht zu haben schien : so war es jetzo seine Pfiicht, das, was er 
bisher aus Scherz getan hatte, im Ernste zu tun, namlich sie auf- 
zusuchen und auszusohnen. 

Aber sie stand immer an der Furstin, und es war nichts. 

Ich hab' es nicht selber gesagt, weil ich wuBte, der Leser sen* 
es ohne mich, daB der Held glaubt, Joachime hake ihn fur den *< 
Bilderdiener ihrer Reize und fiir den von ihr angezognen Mond- 
mann : der Held nahm sich daher langst vor, ihr diesen Irrtum - 
zu lassen. Einen solchen Irrtum zu benehmen, dazu hat selten ein 
Mann oder ein Weib Starke genug - Viktor hatt' aber noch mehr 
Griinde, ihr den Glauben an seine Liebe (d. h. auch sich den sei- 
nigen an ihre) zu gonnen: erstlich, er wollte verstecken, warum 
er komme - zweitens, er wuBte, in der groBen Welt und unter 
den Joachimen wird ein Liebhaber nur wie der dritte Mann zum 
Spiel gesucht, man stirbt da nicht von der Liebe, man lebt da 
nicht einmal davon - drittens, er hob sich immer den Notanker « 
auf, aus SpaB Ernst zu machen: »Wenn mir das Messer an der 
Kehle sitzt,« dacht* er, »so setz' ich mich hin und gewinne sie von 
Herzen lieb, und damit gut« - viertens, eine Kokette macht einen 
Koketten . . . Hier fing ich bekanntlich schon an, mich iiber den 
22sten Posttag zu argern, wiewohl ich so gut wie einer weiB, war- 
um alle Menschen, sogar die aufrichtigsten, sogar die Manner, 
sich zu kleinen Intrigen gegen Geliebte neigen; nicht bloB nam- 
lich, weils kleine und erwiderte sind, sondern weil man mit seinen 
Intrigen mehr zu schenken, als zu stehlen meint. BloB die edelste 
hochste Liebe ist ohne wahre SpitzbiibereL 3° 

Wochen des 24. und 25. Post-Trinitatis 

Am Sonntage war Ball: »Ganz natiirlich« (sagte er) »sieht sie mich 
nicht an ; im Ballkleide sind die Schonen unversohnlicher als in der 
Morgenkleidung.« - Sie sah ihn kaum, so kam sie ihm wie ein be- 



22. HUNDPOSTTAG 823 

wegter Himmel mit ihren Brillanten-Fixsternen und ihren Perlen- 
Planeten entgegen und bat ihn in diesem Glanze um Vergebung 
ihrer Laune;anfangs habe sie sich zornig gestellt, sagte sie, dann 
sei sie es geworden, und am andern Tage habe sie erst gesehen, 
dafi sie unrecht gehabt, es zu scheinen, und recht, es zu sein. Diese 
Bitte um Vergebung machte unsern Medikus demiitiger, als es 
notig war. Sie bat ihn scherzhaft, sie um Vergebung zu bitten, 
und machte ihn mit ihrem Platzgolde von Jahzorn bekannt. 
Zwei Tage lang wurde der Westfalische Friede gehalten. 

10 Aber eine Zankerei mit einem Madchen macht, wie ein Narr, 
zehen; und zum Ungluck hat man die Zornige nur lieber (wenig- 
stens mehr als die Gleichgiiltige), so wie das Volk den methodisti- 
schen Predigern am meisten zulauft, die es am starksten verdam- 
men. Joachime wurde taglich zornfahiger - welches er groBerer 
Liebe zuschrieb — , aber er auch. Sie konnten den ganzen Besuch 
im schonsten Reichs- und Hausfrieden verbracht haben: beim 
Abschiede wurde alles auf den Kriegsetat gesetzt, die Gesandten 
zuriickberufen und die Beurlaubten, wenn mir diese poetischen 
Ausdrucke erlaubt sind. Mit dem zornigen Bodensatz im Herzen 

io zog er dann ab und konnte kaum den Augenblick des Wieder- 
sehens - d.h. seiner oder ihrer Rechtfertigung - erwarten. So 
brachten sie ihre Stunden mit dem Schreiben der Friedeinstru- 
mente und der Manifeste zu. Die streitige Sache war so sonderbar 
wie der Streit: es betraf ihre Foderungen der Freundschaft; jedes 
bewies, das andre ware der Schuldner und fodere zu viel. Was 
unsern Medikus am meisten erboste, war, daB sie dem feinen und 
dem wohlriechenden Narren, ihr die Hand zu kiissen, erlaubte, 
ihm aber verbot, und zwar ohne alle Entscheidgriinde. »Wenn sie 
nur loge und mir sagte: darum, oder darum! so war's doch was«, 

30 sagt* er; aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Fur mein Geschlecht 
ist Abschlagen ohne Griinde, sogar ohne erratene, ein Schwefel- 
pfuhl, ein dreifacher Tod; auf Joachime wirkten Griinde und 
Kabinettpredigten gleichviel. 



824 HESPERUS 

Extrablatt dariiber 

Ich habe hundertmal, mit meinem juristischen onus probandi 
(Last zu beweisen) auf dem Buckel, an die Weiber gedacht, die im- 
stande sind, durch einige Anstrengung sowohl ohne alle Griinde 
zu handeln als zu glauben. Denn am Ende muB doch jeder (nach 
alien Philosophen) sich zu Handlungen und Meinungen beque- 
men, denen Griinde fehlen; denn da jeder Grund sich auf einen 
neuen beruft, und dieser sich wieder auf einen stiitzt, der uns zu 
einem schickt, welcher wieder seinen haben muB: so mussen wir 
(wenn wir nicht ewig gehen und suchen wollen) endlich zu einem i 
gelangen, den wir ohne alien Grund annehmen. Nur fehlet der 
Gelehrte darin, daB er gerade die wichtigsten Wahrheiten - die 
obersten Prinzipien der Moral, der Metaphysik etc. - ohne Griinde 
glaubt und sie in der Angst - er will sich dadurch helfen - not- 
wendige Wahrheiten benennt. Die Frau hingegen macht kleinere 
Wahrheiten - z.B. es muB morgen weggefahren, eingeladen, ge- 
waschen werden etc. - zu notwendigen Wahrheiten, die ohne die 
Assekuranz und Reassekuranz der Griinde angenommen werden 
miissen - und dies ists eben, was ihr einen solchen Schein von 

Griindlichkeit anstreicht. Ihnen wird es leicht, sich vom Phi- a . 

losophen zu unterscheiden, der denkt, und dem die Wahrheit- 
sonne so waagrecht in die Augen flammt, daB er dariiber weder 
Weg noch Gegend sieht. Der Philosoph muB in den wichtigsten 
Handlungen, in den moralischen, sein eigner Gesetzgeber und 
Gesetzhalter sein, ohne daB ihm sein Gewissen die Griinde dazu 
sagt. Bei einer Frau ist jede Neigung ein kleines Gewissen und 
hasset Heteronomien und sagt weiter keine Griinde, so gut wie das 
groBe Gewissen. Und durch diese Gabe, mehr aus eigner Macht- 
vollkommenheit als aus Griinden zu handeln, passen eben die 
Weiber recht fur die Manner, weil diese lieber ihnen zehn Befehle 3C 
als drei Griinde geben. 

Ende des Extrablattes dariiber 

Was ebenso schlimm war, ist, daB Joachime ihm endlich, um nur 
sei'ne AktenstoBe von Beschwerden und Reichs-gravaminibus 



22. HUNDPOSTTAG 825 

wegzubringen, die Finger lieB, ohne nur den geringsten Grund 
dazu zu sagen. Er konnte also keinen Titel seines Besitzstandes 
aufweisen und hatte im Notfall niemand gehabt, der ihn darin 
schiitzen konnen. 

Es ist aber eine gegriindete Rechtsregel oder ein mannliches 
Brokardikon : daB alles bei den Weibern fester werde, wenn man 
darauf bauet, und daB uns eine kleine gestohlne Gunst rechtmaBig 
gehore, sobald wir urn eine groBere anhalten. Die Rechtsregel 
griindet sich darauf, daB die Madchen uns, wie den Juden im Han- 

[o del, allemal die Halfte abbrechen und nur ein paar Finger geben, 
wenn wir die Hand haben wollen. Hat man aber die Finger: so 
tritt ein neuer Titel aus den Institutionen ein, der uns die Hand 
zuerkennt; die Hand gibt ein Recht auf den Arm, und der Arm 
auf alles, was daran hangt, als accessorium. So mussen diese Dinge 
betrieben werden, wenn Recht Recht bleiben soil. Es mufi iiber- 
haupt von mir oder von einem andern ehrlichen Mann ein kleines 
Lesebuch geschrieben werden, worin man dem weiblichen Ge- 
schlecht die Modos (Arten), solches zu akquirieren (zu erwerben), 
mit der junstischen Fackel vortragt und aufhellt.Viele Modi kom- 

20 men sonst ab. So bin ich z. B. nach dem burgerlichen Rechte recht- 
maBiger Besitzer einer beweglichen Sache, wenn sie vor dreiBig 
Jahren gestohlen worden (im Grunde sollt* es eher sein, und es 
sollte mir nichts schaden, daB man spater zu stehlen angefangen) 
- ebenso fallt mir durch eine Verjahrung von dreiBig Minuten 
(die Zeit ist relativ) alles von einer Schonen rechtmaBig anheim, 
was ich ihr Bewegliches (und an ihr ist alles beweglich) entwendet, 
und man kann daher nicht fruh genug zu stehlen anfangen, weil 
sonst vor dem Diebstahl die Verjahrung nicht anheben kann. 
Speziflkation ist ein guter Modus. Nur muB man wie ich ein 

30 Prokulejaner sein und glauben, daB eine fremde Sache dem, der 
ihr eine andre Form erteilt, zugehore, z . B. mir die Hand, die ich 
durch den Druck in eine andre Form gebracht. 

Der sel. Siegwart sagte : confusio (Vermischung der Tranen) ist 

mein Modus. Aber commixtio (Vermischung trocknerSachen,z. B. 

der Finger, der Haare) ist jetzt fast unser aller modus acquirendi. 

Ich wollt' einmal die ganze Sache nach der Lehre von den Ser- 



826 HESPERUS 

vituten, wo eine Frau tausend Dinge zu leiden hat, behandeln 
(wiewohl alle diese Servituten durch die Konsolidation der Ehe 
ganzlich erloschen); aber ich weiB die Lehre von den Servituten 
selber nicht mehr recht und wollte lieber darin examinieren als 
examiniert werden. 

Ich kehre zum Medikus zuruck. Da er also wuBte, daB eine ge- 
kiiBte Hand ein Schenkbrief der Wangen ist - die Wangen aber 
die Opfertafeln der Lippen sind - diese der Augen - die Augen 
desHalses— :sowollt' er genaunach seinem Lehrbuch verfahren. 
Aber bei Joachimen, wie bei alien GegenfuBlerinnen der Ko- i 
ketten, bahnte keine Gunsthe^eugung der andern den Weg y nicht ein- 
mal die grofie der kleinen — aus einem Vorzimmer kam man ins 
andre -und was sagte mein Held dazu? Nichts als: »Gottlob! daB 
eihe besser ist, als sie schien, daB sie unter dem Schein, unser 
Spielzeug zu sein, unsere Spielerin ist, und daB sie die Koketterie 
zum Schleler der Tugend macht.« 

Er fuhlte jetzt, sooft ihr Name erwahnt wurde, eine sanfte 
Warme durch seinen Busen wehen. 

Vom Ende des Kirchenjahrs (iten Dezember) bis zum 

Ende des burgerlichen listen Dezember) u 

Flamin, dessen patriotische Flammen in der Sessionstube keine 
Luft antrafen und ihn selber zuerst erstickten, wurde taglich 
scheuer und wilder. Es war ihm etwas Neues, daB ganze Kolle- 
gien und Kommissionen das tun muBten, was einer hatte machen 
konnen - daB die Glieder des Staats (wie es doch die Glieder des 
Korpers auch sind) am kitten Arme des Hebels bewegt werden, 
um mit groBerer Kraft weniger zu tun, und daB besonders ein 
Kollegium dem Leibe gleiche, der nach Borellus 2900 mal mehr 
Kraft bei einem Sprunge anwendet, als die Last erfodert, die er zu 
heben hat. Er haBte alle GroBe und kam zu keinem; der Hof junker 3 < 
Matz nicht einmal bekam seine Visiten. Mein Sebastian machte 
seine bei ihm seltener, weil seine MuBe und seine Lustbarkeiten- 
Windstille gerade in Flamins Arbeitstunden fielen. Diese Ent- 
fernung und das ewige Sitzen bei Schleunes - welches Flamin 



22. HUNDPOSTTAG 827 

aus Unbekanntschaft mit Joachimens EinfluB, auf alle Falle Klo- 
tildens ihrem zurechnen muBte, zu deren kiinftigen Besuchen sich 
Viktor durch seine jetzigen den Vorwand verschafFe - und selber 
die furstliche Gunst gegen diesen, die in Flamins Augen keine 
Folge seines Freiheitgeistes und seiner Aufrichtigkeit sein konnte 
- alles dieses zqg die verschlungenen Freundschafthande beider, 
deren Leben sonst ein vierhandiges Tonstuck gewesen, immer 
weiter auseinander; die Fehler und den moral ischen Staub, den 
sonst Viktor von seinem Liebling wegwischen konnte, durfte er 

to kaum wegzublasen wagen; sie betrugen sich zarter und aufmerk- 
samer gegeneinander. Aber mein Viktor^ an dessen Herz das 
Schicksal so viele saugende Vampyre legte, und der in eine Brust 
den Schmerz der entbehrten Liebe und den Kummer der fallenden 
Freundschaft einzuschlieBen hatte, wurde durch alles - recht 
lusdg. O es gibt eine gewisse Lustigkek der Verstockung und des 
Grams, die die erschopfte Seele bezeichnet, ein Lacheln, wie das 
an Menschen, die an Wunden des Zwerchfells sterben, oder das 
an eingedorrten zuriickgespannten Mumien-Lippen! Viktor warf 
sich in den Strom der Lustbarkeiten, um unter demselben seine 

ao eigne Seufzer nicht zu horen. Aber freilich oft, wenn er den gan- 
zen Tag uber niedergerissene Narrheiten komisches Salz ausgesaet 
hatte, das ebensooft die Hand des Saemanns wund beiBet, und er 
den ganzen Tag sich an keinem Auge erquicken konnen, dem er 
in seinem eine Trane hatte zeigen diirfen - wenn er so miide der 
Gegenwart, so gleichgiiltig gegen die Zukunft, so wund von der 
Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker, 
vorbei war, und wenn er in seinem Erker in die voll Welten han- 
gende Nacht und in den stillenden Mond und an die Morgenwol- 
ken uber St. Liine blickte : dann ging allezeit das geschwollne 

30 Herz und der geschwollne Augapfel entzwei, und die von der 
Nacht verdeckten Tranen stromten von seinem Erker auf die har- 
ten Steine hernieder: »0 nur eine Seele,« rief sein Innerstes mit 
alien Tonen der Wehmut, »nur eine gib, du ewige liebende schaf- 
fende Natur, diesem armen verschmachtenden Herzen, das so 
hart scheint und so weich ist, so frohlich scheint und so trube ist, 
so kalt scheint und so warm ist.« 



828 HESPERUS 

Dann war es gut, daB an einem ahnlichen solchen Abend kein 
Kammerherr, kein Weltmensch im Erker stand, wenn gerade die 
arme Marie — auf welche das vorige Leben wie eine erdruckende 
Lawine heriibergesturzt ist - seine Fruhstuck-Befehle begehrte; 
denn er stand, ohne einen Tropfen abzuwischen, freundlich auf 
und ging ihr entgegen und faBte ihre weiche, aber rotgearbeitete 
Hand, die sie aus Furcht nicht wegzog - wiewohl sie aus Furcht 
ihr gegen die HofTnung versteinertes Gesicht abdrehte -, und 
sagte dann, indem er sanft ihre Augenbraunen waagrecht strich, 
mit seiner aus dem geruhrtesten Herzen steigenden Stimme: »Du i< 
arme Marie, sag mir was - du hast wohl wenig Freude - in deine 
guten Augen kommt wohl wenig mehr, was sie gerne sehen, 
wenns nicht deine Tranen sind - du Liebe, warum hast du keinen 
Mut zu mir, warum sagst du deinen Gram nicht mir? Du gutes 
gemartertes Herz — ich will fur dich sprechen, fur dich handeln - 
sag mir, was dich driickt, und wenn es dir einmal an einem Abend 
zu schwer wird und du drunten nicht weinen darfst, so komm 
herauf zu mir.. schau mich jetzo frei an . . wahrlich ich vergieBe 
Tranen mit dir, und ich will mich den Henker um alles scheren.« 
- Ob sie es gleich fur unhof lich hielt, vor einem so vornehmen 2c 
Herrn zu weinen : so war ihrs doch unmoglich, durch die gewalt- 
same Abbeugung des Gesichts alle Tranen, die seine Zunge 
voll Liebe in Bachen aus ihr preBte, zu entfernen .... Vertibelt es 
seiner iiberwallenden Seele nicht, daB er dann seinen heiBen Mund 
an ihre kalten verachteten und ohne Widerstand bebenden Lippen 
driickte und zu ihr sagte : »0 ! warum sind wir Menschen so un- 
gliicklich, wenn wir zu weich sind?« - In seinem Zimmer schien 
sie alles fur Spott zu nehmen - aber die ganze Nacht hindurch 
horte sie das Echo des menschenfreundlichen Menschen - sogar 
als Spott hatt' ihr so viel Liebe wohlgetan - dann kristallisierten $c 
sich ihre vergangnen Blumen noch einmal im Fenster-Eis ihres 
jetzigen Winters -dann war ihr, als wiirde sie heute erst ungliick- 
lich. - Am Morgen schwieg sie gegen alle und war bloB dienst- 
eifriger gegen Sebastian, aber nicht mutiger; nur zuweilen Mel sie 
drunten dem Provisor, wenn er ihn lobte, mit den Worten, aber 
ohne weitere Erklarung, bei : »Man sollte sein eignes Herz in kleine 



22. HUNDPOSTTAG 829 

Stiickchen zerschneiden und hingeben fur den englandischen 
Herrn.« 

Arme Marie, sagt mein eignes Inneres dem Doktor nach; und 
setzet noch dazu: vielleicht liest mich jetzt gerade eine ebenso 
Ungluckliche, ein ebenso Unghicklicher. Und mir ist, als miiBt' 
ich ihnen, da ich die Trauerglocken ihrer vergangnen truben 
Stunden angezogen, auch ein Wort des Trostes schreiben. Ich 
weiB aber fur den, der immer iiber neue gaffende Eisspalten des 
Lebens schreiten muB, kein Mittel als meines: wirf sogleich, 

to wenns arg wird, alle mogliche Hojfnungen zum Henker und ziehe 
dich verzichtend in dein Ich zuriick und frage: wie nun, wenns 
Schlimmste auch gar kame, was war's denn? Sonne deine Phan- 
tasie nie mit dem ndchsten Ungliick aus, sondern mit dem grofiten* 
Nichts loset mehr den Mut auf als die warmen, mit kalter Angst 
abwechselnden Hoffnungen. Ist dieses Mittel dir zu heroisch: so 
suche fiir deine Tranen ein Auge, das sie nachahmt, und eine 
Stimme, die dich fraget, warum du so bist. Und denke nach: der 
Widerhall des zweiten Lebens, die Stimme unserer bescheidnen, 
schonern, frommern Seele wird nur in einem vom Kummer ver- 

10 dunkelten Busen laut, wie die Nachtigallen schlagen, wenn man 
ihren Kafig uberhullt. 

Oft betriibte sich Sebastian dariiber, daB er hier so wenig seine 
edlern Krafte fiir die Menschheit anspannen konnen, daB seine 
Traume, durch den Fursten Obel zu verhutert, Gutes auszurich- 
ten, Fiebertraume blieben, weilz.B. sogar die besten Manner am 
Ruder des Staats Amter durchaus nur nach Verhaltnissen und 
Empfehlungen besetzten und fremde und eigne Amter nie fiir 
Pflichten, sondern fiir Bergwerkkuxen hielten. Er betriibte sich 
iiber seine Unniitzlichkeit; aber er trostete sich mit ihrer Not- 

jo wendigkeit: »In einem Jahr, wenn mein Vater kommt, sag' ich 
mich los und richte mich zu etwas Besserem auf«, und sein Ge- 
wissen setzte dazu, daB seine personliche Unniitzlichkeit der Tu- 
gend seines Vaters diene, und daB es besser sei, in einem Rade, 
bei der Tiichtigkeit zu einem Perpendikel, ein Zahn zu sein, ohne 
welchen das Gehwerk stocken wiirde, als der Perpendikel eines 
ungezahnten Rades zu werden. 



830 HESPERUS 

In solchen Lagen fragte er sich immer von neuem : »Ist viel- 
leicht Joachime, wie du, besser, weicher, weniger kokett, als 'sie 
scheint? und warum willst du sie nach einem auBern Schein ver- 
dammen, der ja auch der deinige ist?« Ihr Betragen bestatigte sel- 
ten diese guten Vermutungen, ja es widerlegte sie oft gar; gleich- 
wohl fuhr er fort, sich neuen Widerlegungen auszusetzen und 
Bestatigungen zu begehren. Das Bediirfnis zu lieben zwingt zu 
groBern Torheiten als die Liebe selber; Viktor IieB sich jede 
Woche eine Vollkommenheit mehr vom weiblichen Ideal ab- 
dingen, fur das er wie fiir den unbekannten Gott schon seit Jahren 1C 
die Altare in seinem Kopfe fertig hatte. Unter diesem Abdingen 
ware der ganze Dezember verflossen, ware nicht der erste Weih- 
nachttag gewesen. 

An diesem, wo er hinter jedem Fenster lachende Gesichter und 
Hesperiden-Garten sah, wollt* er auch frohlich sein und flog unter 
den Kirchenmusiken in Joachimens Toilettenzimmer, um da sich 
selber eine.Weihnachtfreude zu machen. Er beschere ihr, sagte er, 
einen Flaschenkeller aus Likoren, ein ganzes Lager von Rataffia, 
weil er wisse, wie Damen tranken. Als er endlich seinen Lager- 
baum voll Flaschen aus der - Tasche zog: wars eine elende kleine « 
Schachtel voll Baumwolle, in der nette Flaschchen wohlriechen- 
der Wasser, fast von der Lange der Zaunkonig-Eier, eingebettet 
standen. Das Niedliche freuet, wie das Prachtige, Madchen alle- 
zeit. Joachimen hielt er eine lange Rede uber die MaBigkeit ihres 
Geschlechts, das so wenig esse wie Kolibri, und so wenig trinke 
wie Adler - mit einigen Schaugerichten und mit einem Flakon 
woir er 5000 Mann weiblichen Geschlechts speisen, und es sollte 
noch iibrig bleiben - die Arzte bemerkten, daB die, die den Hun- 
ger am langsten ertragen hatten, Weiber gewesen waren - sogar 
in mittlern Standen bestande die ganze Bienenflora, wovon diese 3° 
Holden lebten, in einem Farbenbande, das sie als Scharpe oder 
Schleife umlegten, statt eines nahrenden Umschlags und Suppen- 
tafelchens, und woran sie noch hochstens einen Liebhaber an- 
machten. Joachime zog unter der Lobrede eine Flasche heraus, 
weil sie sie fur wachsern hielt. Viktor, um sie zu widerlegen - oder 
auch sonst weswegen -, driickte ihr sie stark in die Hand und zer- 



22. HUNDPOSTTAG 83 1 

druckte sie gliicklich. Ein Berghauptmann von meiner Denkart 
nahme das Zerbrechen einer Flasche, die man auf keine Eymann- 
schen Gurken decken kann, schwerlich in seine Hundposttage auf 
- weil er gern Dinge von Gewicht auftragt -, wenn nicht die 
Flasche selber dadurch eines bekame, da 8 sie die weichste Hand, 
auf der noch der harteste Juwel Schimmer auswarf, blutig schnitt. 
Der Doktor erschrak - dieBIutende lachelte -er kiifite dieWunde, 
und diese drei Tropfen fielen, gleich Jasons Blut, oder gleich 
einem von einem Alchimisten rektifizierten Blute, als drei Funken 

to in sein entziindbares, und die Blutkohle der Liebe bekam drei an- 
glimmende Punkte - ja es hatte wenig gefehlt, so hatt* er ihr ge- 
horcht, da sie ihm scherzend befahl (urn ihm eine groBere Ver- 
legenheit zu ersparen, als er hatte), die Pariser veraltete Mode, an 
Damen mit rosenfarbner Dinte zu schreiben, wieder aufzuwecken 
und hier auf der Stelle drei Zeilen mit ihrem Blut an sie abzufer- 
tigen. Soviel ist wenigstens gewiB, daB er zu ihr sagte: er wollte, 
er ware der Teufel. Bekanntlich wird dem letzten das guarentigia- 
tische Instrument oder vielmehr der Partagetraktat iiber die Seele 
mit dem Blute des Eigners als Faust- und Fraispfand zugefertigt. 

20 - Blut ist der Same der Kirche, sagt die katholische; und hier ist 
gar vom Tempel fiir eine Schone die Rede. 

Dabei wars - und bliebs -, als Cour bei der Fiirstin auf heute 
angesagt wurde. Das war ihm erstlich fatal, weil der heutige Abend 
versalzen war - und zweitens Heb, weil Joachime heute den Hut 
wegtun muBte, den er und sie so Iiebten. Da, wie gewohnlich, 
den Damen von der Fiirstin die Roben und Frisuren vorgeschrie- 
ben wurden, worin sie den Courtag, d. h. den Brandsonntag ihrer 
Freiheit, bei ihr begehen muBten : so konnte sie heute ihren Flor- 
hut nicht aufbehalten, den sie so liebte und Viktor auch, aber an 

30 ihr nicht; denn es war gerade der, welchen Klotilde getragen, als 
sie unter dem Konzerte ihre nasse Augen mit dem schwarzen 
Spitzenflor verhullte, der nachher immer iiber seine beraubte 
Augen heriiberhing. 

Ich will den Courtag beschreiben. 

Die hauptsachliche Absicht, warum der Hof um sechs Uhr 
abends vorgefahren kam, war die, um zehn Uhr recht argerlich 



832 HESPERUS 

wieder heimzufahren. Ich kanns aber zehnmal weitlauftiger vor- 
tragen : 

Um sechs Uhr fuhr Viktor mit der ubrigen befehligten Briider- 
und Schwestergemeine ins Paulinum. Er beneidete oder segnete 
vielmehr den Zeugmacher, den Stiefelwichser, den Holzhacker, 
der abends seinen Krug Bier, seine Andacht, seine Stollen und 
seine trompetenden Kinder hatte; desgleichen ihre Weiber, die 
heute schon den Morgen anbissen, namlich die marmorierte ge- 
sprenkelte Kleiderrinde fur den zweiten Feiertag. Im bunten 
Dunst- und Tierkreis stand die Furstin als Sonne, ebenso un- i< 
gliicklich wie ihre Ungliicklichen; riur der Traum (dacht' er) kann 
einen Konig gliicklich macfien, oder einen Armen ungliicklich* Als er 
sah, wie sie alle nach einem sparsamen Froschregen von Worten 
und nach Erfrischungen, d.h. Erhitzungen und Ermattungen, ein 
Postzug um den andern nach dem Hof- und AdreBkalender an 
die Spieltische eingeschirret wurden - an jedes Brett kam das nam- 
liche Bunterie-Gespann alter Gesichter -, so wunderte er sich zu 
allererst iiber die allgemeine Geduld; an einem Schwarzen der 
//o/^-Goldkiiste sind sicher, schwur er, wenn man nur bedenkt, 
was er an^ukoren und ausiustehen hat, die Ohren und die Haut, wie 2c 
an gebratnen Milchferkeln, die besten Stiicke. Hier mufi der Lowe 
dem Tiere die Haut zum Domino abbetteln, das ihm sonst seine 
abgeborgt. Hier unter diesen von kleinen Seelen gebiickten Ge- 
stalten (wie auch Blatter sich kriimmen, wenn Blattlause daran 
wohnen) kann kein groBer, kein kiihner Gedanke getragen wer- 
den, sie konnen wie Getreide, das sich lagert, nur taube Korner 
geben. 

Vor der Tafel fuhr der Teil oder Bogen des um die italienische 
Sonne laufenden Hofs > der nicht dazu eingeladen war, nach Hause, 
miBvergniigt iiber die Langeweile des Spieles, und noch miBver- 3 c 
gniigter, daB gerade gewisse Personen der Langeweile der Tafel 
gewiirdigt waren. 

Joachime, an welcher die zuruckhaltende Agnola wenig Ver- 
gniigen fand, ging mit ab, aber der Doktor nicht und ihr Bruder 
Matz gleichfalls nicht, der die Ehre hatte, hinter der Furstin Stuhl 
in der Marschsaule, die sie, ihr Kammerherr, ein Page und ein Hof- 



22. HUNDPOSTTAG 833 

lakai machten, gerade den Mittelpunkt zu bilden; er stand be- 
kanntlich sogleich hinter dem Kammerherrn und war der einzige, 
der aussah wie ein leserliches Pasquill auf alles zusammen. Ober 
die Tafel, woruber wenig gesprochen wurde, hochstens sehr leise 
von zwei Nachbarn, soil auch hier nichts gesprochen werden. 

Nach dem Essen kam der Furst und storte das steife Zeremo- 
niell, das er aus Bequemlichkeit haBte, so wie es Viktor aus Philo- 
sophic verachtete: »Wahrlich, ein Erzengel,« - sagte Viktor oft — 
»der die menschliche, in alien Kleinigkeiten beobachtete Tugend 

10 und Weisheit bemerkte an Sessiontischen, an Altaren, in Besuch- 
zimmern, miiBte seinen Himmel und seine Fliigel verwetten, daB 
wir einen Heller oder doch etwas taugten - in groBern Dingen; 
wir wissen aber samtlich, wo es hinkt; und eben dieser Ekel an 
der steifen altklugen dezenten Mikrologie und Maschinerie der 
Menschen ist die Laune des Satirikers. Die moralische Verschlim- 
merung entspinnt sich zwar aus Geringfugigkeiten, aber nicht die 
Besserung; Satanas kriecht durch Jalousieladen und Sphinkter in 
uns, der gute Engel zieht durch das Haupttor ein.« - Agnola be- 
lohnte heute unsern Helden fur seine bisherige, es so treumeinende 

20 Beflissenheit mit einer warmern Aufmerksamkeit, die in seinen 
Augen durch ihren Schmuck - sie trug den der vorigen Fxirstin, 
ihren eignen und den vorigen mutterlichen - und durch ihren 
ganzen Prachtanzug noch schoner wurde; denn er liebte Putz an 
Weibern und haBte ihn an Mannern. Seine Achtung nahm durch 
den Schmerz, daB sie Jenners eigennutzige Absichten bei seinen 
Besuchen (wegen der kiinftigen Klotilde) mit schonern vermenge, 
und daB man es ihr doch nicht sagen konne, eine geruhrte Warme 
an. Wie kams, daB ihn dann Agnola an Joachime erinnerte; daB 
diese der Ableiter der Achtung fur jene wurde; und daB alle lie- 

jo bende Gefiihle, die ihm die Fiirstin gab, zu Wiinschen gerieten, 
Joachime mochte sie verdienen und empfangen? 

Mit dieser Seele voll Sehnsucht fuhr er heute ohne Umstande 
zu dieser Joachime zuriick, in deren Hand er bekanntlich eine 
kleine Wunde gelassen. Er sagte bei ihr: »er miisse als Morder und 
Medikus noch heute nach der Wunde sehen«; aber wie Sonnen- 
schein fiel ein schoner neuer Kummer auf Joachimens Angesicht 



-834 HESPERUS 

war mend in seine Seele. Er konnt* es kaum erwarten, mit ihr auf 
den Balkon hinauszukommen, um daruber zu reden. DrauBen 
machte er in wenig Minuten die Schnittwunde und die Dezember- 
kalte zum Vorwand, die Hand und den Schnitt in seine zu nehmen, 
um sie zu warmen: »Wunden schadet Kalte«, sagte er; aber der 
feine Narr hatte hier das Seinige dabei gedacht. Der leere Abend, 
die Erinnerungen an die Weihnacht-Kinderfreuden, der herunter- 
blickende Sternenhimmel, der alle dunkeln Wunsche des Men- 
schen wie Blumen in der Nacht magisch beleuchtet, und die Stille 
iiberfullten und beklemmten seine verlassene Seele, und er driickte i 
die einzige Hand, die ihm jetzt das Menschengeschlecht reichte. 
Er fragte sie geradezu iiber ihren Kummer. Joachime antwortete 
sanfter als sonst: »Ich wollte Sie dasselbe fragen; aber bei mir ists 
naturlich.« Denn sie habe, erzahlte sie, bei ihrer Zuriickkehr das 
Gepacke Klotildens und die Nachricht der Ankunft und - was 
eben der Punkt ist — die Kleider ihrer Schwester Giulia, denen 
. Klotilde bisher eine Stelle unter ihren gegeben, angetroffen. Diese 
Giulia war bekanntlich an Klotildens Herzen verschieden, einen 
Tag vorher, eh' diese aus Maienthal nach St. Liine zog. 

Ein Chaos durchschoB sein Herz; aber aus dem Chaos setzte 2 
sich bloB die umgesunkne Giulia zusammen - denn Klotilde wich 
taglich in ein dunkleres Heiligtum seiner Seele zuruck -; ihr 
blasses Luna-Bild liebkosete mit Strahlen einer andern Welt sei- 
nen wunden Nerven, und er lieB sich willig glauben, Joachime 
habe ihre Gestalt. In seiner dichterischen, den Weibern so selten 
verstandlichen Erhebung warf die ErblaBte den Heiligenschein, 
den ihr Klotilde zustrahlte, wieder auf ihre Schwester zuruck. 
Joachime hatte heute wieder den Brief gelesen, den Giulia an sie 
in der Todesstunde durch Klotilde schreiben lassen, und trug ihn 
noch bei sich. Wahrscheinlich hatte ein Herz voll vergeblicher 3 
Liebe die schone Schwarmerin unter die Erde gezogen. Viktor 
bat sie mit schimmernden Augen um den Brief; er schlug ihn auf 
im Mondlicht, und als er die geliebten Zuge seiner verlornen 
Klotilde erblickte, weinte sein ganzes Herz. 



22. HUNDPOSTTAG 835 

»Gute Schwester! 

Leb auf immer worrit LaB mich das zuerst sagen, weil ich 
nicht weiB, welche Minute mir den Mund verschlieBt. Die Gewitter 
meines Lebens ziehen heim. Es wird schon kiihl um meine Seele. 
Ich sage diesen Abschied und meinen herzlichsten Wunsch fur 
dein Wohlergehen meiner Freundin Klotilde in die Feder. Gib 
den EinschluB meinen lieben Eltern und fuge deine Bitte an meine, 
mich in meinem schonen Maienthal zu lassen, wenn ich voriiber 
bin. Ich sehe jetzt durch das Fenster die Rosenstaude, die neben 

to dem Gartchen des Kusters auf dem Kirchhofe stehet - dort wird 
mir eine Stelle gegeben, die wie eine Narbe bezeuget, daB ich da- 
gewesen, und ein schwarzes Kreuz mit den sechs weiBen Buch- 
staben Giulia - mehr nicht. Liebe Schwester, lafi es ja nicht zu, 
daB sie meinen Staub in ein Erbbegrabnis sperren - O nein , er soil 
aus Maienthals Rosen flattern, die ich bisher so gern begossen - 
dieses Herz, wenn es sich zerlegt hat in den Bliitenstaub eines 
neuen ewigen Herzens, spiele und schwebe im Strahle des Mondes, 
der mir es in meinem Leben so oft schwer und weich gemacht. 
Fahrest du einmal, liebe Schwester, bei Maienthal voriiber: so 

to blickt bis zur StraBe das Kreuz durch die Rosen hindurch, und 
wenn es dich nicht zu traurig macht, so schaue hinuber zu mir. 
Mir war jetzt einige Minuten, als holte ich in Ather Atem - 
in kleinen diinnen Ziigen - Es wird bald aus sein. Sag aber meinen 
Gespielinnen, wenn sie nach mir fragen, ich bin gern gegangen, 
ob ich wohl jung war. Recht gern. Unser Lehrer sagt, die Ster- 
benden sind fliegendes Gewolk, die Lebenden sind stehendes, 
unter welchem jenes hinzieht, aber abends ist ja beides dahin. Ach 
ich dachte, ich wurde mich noch recht lange, von einem Trauer- 
jahr zum andern, nach dem Sterben sehnen mussen, ach ich be- 

o sorgte, diese erblaBten Wangen, diese hineingeweinten Augen 
wiirden den Tod nicht erbitten, er wiirde mich veralten lassen und 
mir das verbliihte Herz erst abnehmen, wenn es sich miide ge- 
schlagen - aber siehe, er kommt eher - In wenig Tagen, vielleicht 
in wenig Stunden wird ein Engel vor mich treten und lacheln. 
und ich werd' es sehen, daB es der Tod ist, und auch lacheln unc 



836 HESPERUS 

recht freudig sagen: Nimm immer mein schlagendes Herz in 
deine Hand, du Abgesandter der Ewigkeit, und sorge fur meine 
Seele. 

>Bist du aber nicht jung,< (wird der Engel sagen) >hast du nicht 
erst diese Erde betreten? Soil ich dich schon zuruckfuhren, eh' sie 
ihren Fnihling hat?< 

Aber ich werde antworten; Schau diese untergegangnen Wan- 
gen an und diese ermudeten Augen und driicke sie nur zu — o lege 
den Leichenstein 1 an meine Brust, damit er alle Wunden aussauge 
und nicht eher abfalle, als bis sie ausgeheilet sind - Ach ich habe ic 
wohl nichts Gutes in der Welt getan, aber auch nichts Boses. 

Dann sagt der Engel: >Wenn ich dich beruhre, so erstarrest du 
- der Friihling und die Menschen und die ganze Erde verschwin- 
den, und ich allein stehe neben dir - 1st denn deine junge Seele 
schon so miide und so wund? Welche Leiden sind denn schon in 
deiner Brust?< 

Beruhre mich nur, guter Engel! Jetzt sagt er: >Wenn ich dich 
beruhre, so zerstaubst du, und alle deine Geliebten sehen nichts 
rnehr von dir - < 

beruhre mich ! . . .« « 

Der Tod beriihrte das blutige Herz, und ein Mensch war vor- 
uber . . . 

Wahrend Viktor das Trauerblatt las, hatte die Schwester der 
Toten einige Male, weil sie sich das dachte, was er las, die Augen 
abgetrocknet, und als er sie ansah, schimmerten darin die Samen- 
perlen einer weichen Seele. Aber er wunschte sich jetzo die Un- 
sichtbarkeit seines Gesichts oder den Erker seines Zimmers, um 
alien Seufzern und Gefuhlen ungesehen nachzuhangen. War* er 
in einem biirgerlichen Hause gewesen: so hatte er unverspottet 
jetzt zu den ausgepackten Kleidern und in die kiinftigen Zimmer 3 < 
Klotildens gehen konnen - und er hatte gleichsam die griinen 
Fluren von Maienthal wieder erblickt, wenn er die romantischen 
Gewander, worin Giulia sie durchstreifet hatte, unter den letzten 

1 Der Schlangenstein saugt sich so lange an die Wunde an, bis er ihren 
Gift weggesogen. 



22. HUNDPOSTTAG 837 

Kiissen der Schwester hatte verschlieBen sehen — Aber in einem 
solchen Hause wars eine Unmoglichkeit. 

Er verzieh jetzt, da er seltener den GenuB der fremden Emp- 
findsamkeit hatte, sogar das Obertreiben derselben leicht. DaB 
sie den Korper zerrtitte, war ihm der elendeste Einwand, weil ihn 
ja alles Edlere, jede Anstrengung, alles Denken aufreibe; der 
Korper und das Leben waren ja nur Mittel, aber kein Zweck. 
»Giulias Herz in Giulias Korper«, sagte er, »Ist ein reiner Tau- 
tropfe in einem weichen Blumenkelch, den alles zerdriickt, ver- 

10 schuttet, aussaugt, und der noch vor der Mittagsonne entflohen 
ist; solche fur eine Welt voll Sturm zu biegsame Seelen, die zu 
viel Nerven und zu wenig Muskeln haben, verdienen ihrer Emp- 
findsamkeit wegen das einfressende Salz der Satire nicht, das sie 
wie Schnecken zernagt - die Erde und wir konnen ihnen wenig 
Freuden geben, warum wollen wir ihnen die andern nehmen?« 

Aber die Trauerziige, die jetzt das Mitleid durch Joachimens 
Lacheln zog, driickten sieh deutlich in Viktors Herzen ab, und 
das, was sie hier verbergen wollte, machte sie reizender als alles, 
was sie je zu zeigen gesucht. 

10 Nichts ist gefahrlicher - wie er vor einigen Wochen getan - 
als sich verliebt zu stellen : man wirds sogleich darauf. So war der 
Weichling Baron einige Tage, wenn er einen Helden von Cor- 
neille gespielet hatte, selber einer. So starb Moliere am eingebil- 
deten Kranken und Karl V. am Probe-Begrabnis. So machte die 
papierne Krone, die Cromwell in einem Schuldrama aufbekommen 
hatte, ihn auf eine hartere begierig. - Die zweite Lehre, die daraus 
zu lernen ist (diese setzt aber freilich voraus, Joachime war eine 
Kokette), ist die: daB ein Held die Koketterie wahrnehmen und 
doch hineintappen konne; ein Poet sitzt wie die Nachtigall (der 

10 er an Gefieder, Kehle und Einfalt ahnelt) oben auf dem Baume 
und sieht die Falle stellen und hiipft hinunter und - hinein. 

Nach einigen Tagen-als in Viktor die Frage iiber joachimens 
Wert und iiber seine Liebe wie eine Woge auf- und ablief ; als er 
schlecht mit Flamin, gut mit der Fiirstin und besser mit dem 
Fursten stand, der jeden Tag nachfragte, wenn Klotilde kame - 
kam sie. 



838 HESPERUS 

23. HUNDPOSTTAG 
Erster Besuch bei Klotilde' - die Blasse - die Rote - die Renn-Wochen 

»Ja, das gesteh' ich,« - sagte Viktor, der am andern Tage nach 
Klotildens Ankunft in seiner Stube umherlief- »in ein Gewitter 
oder in ein stiirmendes Meer sah' ich herzhafter als in das kleine 
Gesicht, in einen heitern Himmel von drei Nasenlangen.« Aber er 
half sich dadurch, daB er einen abgerissenene Fortissimo-Akkord 
auf dem Klavler anschlug: dann konnte er zu Klotilden. BloB 
unterwegs sagte er: »Nirgends wird soviel gezankt als ineinem 
Menschen - Welcher Teufelslarm in diesem funfschuhigen Dis- i C 
putatorium iiber den geringsten Bettel, bis nur aus einer Bill eine 
Akte wird! — Ein tragbarer Nationalkonvent in mice ist man, ich 
kann keinen Schritt tun, ohne daB erst die rechte und linke Seite 
dariiber haranguieren, und die enrages und die noirs, und der Her- 
zog von Orleans und Marat. Das Abscheulichste ist im innerlichen 
Regensburger Reichstage des Menschen, daB die Tugend darin 
mit zehn Sitzen und einer Stimme sitzt, der Teufel aber mit einem 
SteiBe und sieben Stimmen.« - 

Durch diese lustigen Selbergesprache wo lit' er sich vom An- 
blick seiner verworrenen, verstockten, kalt-wuncfen, immer Jo- 2( 
achimen zu Klotilden hinaufhebenden Seele entfernen. Er wurde 
endlich bloB durch den tugendhaften EntschluB wieder rein aus- 
gestimmt, jetzt die Liebe zu Joachimen nicht zu verstecken - »sich 
ihrer nicht zu schamem, hatt' er bald gedacht. »Wenn ich mich 
gegen Joachime warmer, und gegen die andre kalter s telle, als ich 
etwa bin: so miiBte der Teufel sein Spiel haben, wenn ichs nicht 
endlich wilrcteA 

Der hatt' es aber eben, und zwar ein wahres L'hombrespiel zu 
vier Personen 1 mit dem mort: dieser Croupier hatte die einzige 
Volte geschlagen, daB er das Gesicht Klotildens mit einer ganz 3- 
andern Farbe ausspielte, als er in Le Bauts Schlosse getan. Viktor 
fand sie in Schleunes seinem unendlich schoner wieder, als er sie 
vcrlassen hatte - blasser namlich. Da sie keine Nervenpatientin 

1 Joachime , Klotilde, Viktor und der Teufel. 



, 23. HUNDPOSTTAG 839 

war, keine Kalte mied, sogar in Dezemberabenden allein auf dem 
Dorfe spazieren ging: so waren sonst ihre Wangen mehr dunkle 
Rosenknospen als aufgegangene abgebleichte Rosenblatter. Aber 
jetzo war die Sonne ein Mond geworden - sie hatte in irgend- 
einem Kummer, wie der-Saphir im Feuer, nichts verloren als die 
Farbe, statt des Blutes schien die stillere, zartere Seele selber naher 
durch den weiBen Florvorhang zu blicken. Alles Blut, das aus 
ihren Wangen zuriickgewichen war, floB in seine iiber und stieg 
ihm wie ein Zaubertrank in den Kopf; indes suchte er sich in 

10 diesen den Gedanken zu setzen : »Wahrscheinlich machte sie mehr 
der Zank mit ihren Eltern, weniger der Kummer, hieher getrieben 
zu werden, krank!« - 

Wenn man sich einmal vorgesetzt hat, sich kalt zu stellen: so 
wird man es noch mehr, wenn man Ursachen finder, es nicht zu 
werden. Viktor wurde noch kalter durch Klotildens Eltern, die 
mitgekommen, und von deren Fehlern ihm auf einmal der Deck- 
mantel weggezogen zu sein schien; an Personen, die man einer 
dritten wegen zu hoch geachtet, nimmt man, wenn uns die dritte 
nicht mehr zwingt, durch eine groBere Heruntersetzung derselben 

20 Rache. Auch sagte er zu sich: »Da sie ihren Bruder Flamin jetzo 
selten sieht: so war's einfaltig, sie einer verlegnen Minute durch 
die Erzahlung bloBzustellen, dafi ich die Verwandtschaft weiB.« - 
Armer Viktor! - Gleichwohl wars ihm unmoglich, sein Herz nur 
mit so viel elektrischer Warme vollzuladen - er rieb es mit Katzen- 
fellen, er schlug es mit Fuchsschwanzen -, als dasein muBte, daB 
sein Puis wenigstens voll fur Joachimen gegangen ware, ge- 
schweige fieberhaft; aber eben dieses bestimmte ihn, sich gerade so 
zu betragen, als waren Herz und Pulse voller: »Es ware unedel,« 
(dacht* er) »wenn es die gute Joachime entgelten muBte, daB ich 

30 einmal andere Hoffnungen und Wiinsche gehabt als die neuesten.« 
Diese Aufopferung erwarmte ihn mit eigner Achtung; diese Ach- 
tung gab ihm den mannlichen Stolz, der mit seiner Liebe und 
seiner Wahl alien vier Weltteilen trotzt; dieser Stolz gab ihm 
wieder Freiheit und Freude - und jetzo war er imstande, mit 
Klotilden zu reden wie ein vernunftiger Mensch. 

Diese ganze innere Geschichte nahm freilich einen zwolfmal 



84O HESPERUS 

groBern Zeitraum ein als Muhameds Reise durch alle Himmel - 
fast eine gute Stunde. Ein Zufall aber waff sich zwischen alle 
seine Ideen. Da namlich die Ministerin eine wahre Gelehrte war- 
sie wuBte, daB ein paar Quarzdrusen und einige Praparate und 
ein ertrankter Fotus noch keinen Gelehrten machen, sondern erst 
ein Lehrsaal voll Naturalien und ein Lesekabinett -, und da der 
Kammerherr Le Baut ein Gelehrter war - denn sein Kabinett war 
ebenso groB -: so wurde dem Kammerherrn die Sammlung ge- 
zeigt, die er selber bereichern helfen. Man sollte denken, sie hatten 
einander ausgelacht und fur Narren gehalten : aber sie hielten sich xo 
wirklich fiir Gelehrte; denn den GroBen wachsen die Fruchte 
vom Baume des Erkenntnisses so ins Fenster und ins Maul - sie 
haben so viele Leichtigkeit, Kenntnisse zu erlangen (daher die 
zweite, sie zu zeigen) - sie suchen im Brunnen der Wahrheit so 
selten etwas anders als ihr eignes, mit Wasserfarben gemachtes 
Kniestiick, und in die Tiefe dieses Brunnens zu waten, ware fiir 
sie eine solche Erkaltung — und doch gehen sie auf der andern 
Seite mit so vielerlei Personen von Kenntnissen aus alien Fachern 
um — daB sie von allem etwas iiber der Tafel erfahren und durch 
die Ohren, durch Mundiiberlieferung, wie die Schuler der Alten, *c 
Vielwisser werden. Wenn sie nachher gar das, was ihnen unge- 
hort geblieben, vollends zu entbehren wissen, was ist dann 
zwischen ihnen und den armsten Gelehrten fiir ein Unterschied als 
der in dem BewuBtsein? 

Im Naturalien- und Biicherkabinett lag noch die ganze Neu- 
jahr-Ladung von summenden Kafern mit goldnen Fliigeldecken 
ohne Fliigel - ich meine die vergoldeten Musenalmanache. Mat- 
thieu, dieser Nachahmer der tierisChen Nachtigallen, warder Erb- 
feind der menschlichen, namlich der Dichter. Er sagte - was in 
eine Rezension besser gepasset hatte -: »er sei ein groBer Freund 3* 
von Versen, aber im Winter - denn wenn er so durch die Blumen- 
Beete eines Almanachs streiche, so werd' er, wie einer, der durch 
ein Bohnenfeld geht, schlafrig genug und konne einschlafen. - 
Und da gerade die Nachte langer wurden, und man also einen 
langern Schlaf bediirfe, so sei es schon, daB die Almanache gerade 
mit Winteranfang erschienen, und daB diese Blumen mit den 



23- HUNDPOSTTAG 84 1 

Moosen zu einerlei Jahrzeit bliihten - so konne man doch am 
murmelnden Bache in den Versen einschlafen, wenn das Murmeln 
und Schlafen auf der gefrornen Wiese nicht mehr gehe.« — 

Unser Viktor war so satirisch wie der Evangelist; er hatte im 
Hannoverischen so gut wie dieser hier gelacht - z. B. er hatte be- 
klagt, daB die meisten Almanachsanger leider mehr fiir den Ken- 
ner arbeiteten als fiir dumme Leser und schon zufrieden waren, 
wenn sie nur jenen in den Schlaf versetzten - daB ein Mensch, der 
keine Prose schireiben konnte, versuchen sollte, ob er zu keinem 

10 Volksanger tauge, wie nur die Vogel, die nicht reden lernen, singen 
konnen - daB er einen guten Almanach am ersten und angenehm- 
sten durchbringe, wenn er bloB die Reime durchlaufe - und daB 
flache Kopfe wie fteche Diamanten, denen keine Facetten zu geben 
sind, zu Herien wiirden und uns statt der Gedanken Tranen 
gaben, in denen nicht einmal das AufguBtierchen eines Gedankens 
schwimme .... 

Aber er sah noch eine Seite mehr als Matthieu, namlich die 
edle. - Es war seine Gewohnheit, gerade diese vorzudrehen, wenn 
ein anderer nur die schlechte gewiesen, und umgekehrt. Seine 

20 Meinung war: »die Dichter waren nichts als betrunkene Philo- 
sophen - wer aber aus ihnen nicht philosophieren lerne, Iern' es 
aus Systematikern ebensowenig - die Philosophic mache nur die 
Silberhochieit zwischen Begnffen, die Dichtkunst aber die erste - 
leere Worte geb* es, aber keine leere Empfindungen - der Dichter 
miisse, urn uns zu bewegen, bloB alles Edle zum Hebel nehmen, 
was auf der Erde ist, die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott; 
und eben die Zauberstabe, die magischen Ringe, die Zauberlampen, 
womit er uns beherrsche, wirken endlich auf ihn selber zuruck.« - 
Er legte diese Meinung - als Matthieu die seinige und Joachime 

30 ihre eigne vorgetragen, daB namlich ihr an den Musenalmanachen 
wenigstens zwei oder drei Blatter gefielen, namlich die glatten 
Pergamentblatter - viel ktirzer vor; — die Ministerin war der sei- 
nigen (denn sie war selber eine Versifexin); - der Kammerherr 
sagte, »jede Stadt und jeder Fiirst bete ja die Dichter in eignen 
Tempeln an - namlich in den Schauspielhausern«; - Klotilde 
durfte sich nun zu den Siegern schlagen : »Wenn man im Januar 



842 HESPERUS 

einen Dichter lieset, so ists so lieblich, als wenn man im Junius 
spazieren geht. - Ich kann weder Philosophen noch Gelehrte 
lesen; es bliebe mir« (sie wollte sagen: ihrem Geschlechte) »daher 
gar zu wenig, wenn man mir die Heben Dichter nahme.« - »Sie 
wiirden hochstens« (sagte endlich der Minister) »Ihre Schiiler an 
ihnen finden; Dichter bekiimmern sich, wie die Heiligen, wenig 
um die Welt und ihr Wissen; sie konnen den Staat besingen, aber 
nicht belehren.« - O du grinsende Mumie, dachte Viktor, ein 
Edelstein, den du nicht als einen Staatsbaustein vermauern kannst, 
ist dir weniger als ein Sandblock. Wenn du nur jede flammende, 10 
als eine Erganzung der republikanischen Antiken dastehende 
Seele zu einem Unterschreiber, zu einem Zollkommisar oder 
Kammerriskal einsetzen konntest (wie die GroBkaiser die Ruinen 
zu Stallen und Pferdetranken verbauen)! — Der edle Matz fugte 
bloB hinzu: »In Rom war ein Maler, der mit jedem nur singend 
sprach; und ich kannte einen groBen Dichter, der nicht einmal im 
gemeinen Leben Prose konnte; er konnte aber mehres nicht und 
hatte wenig Welt, aber viel Welten im Kopfe - er wird, wenn er 
sich drucken lasset, seinen Lesern kaum mehre Tauschungen 

geben, als ihm jeder schon gemacht hat, der wollte.« Viktor 20 

sah aus Klotildens gesenktem Auge, daB sie so gut wie er merke, 
daB der Teiifel ihren Dahore meine; aber er schwieg; seine Seele 
war traurig und erbittert; aber er war langst durch den Hof die 
zu ertragen abgehartet, die er hassen muBte. 

Unter dieser Disputation hatte der edle Matz die ganze Gruppe 
unvermerkt in schwarzem Papier nachgeschnitten. »Ach!« sagte 
Joachime, »das ist nicht das erstemal, daB er Gesellschaften schwari 
abbildet.« - Da aber Viktor Silhouettengruppen niemals sehen 
konnte, ohne an uns zerrinnende Schatten-Menschen, an dieses 
versiegende Zwerg-Leben, an die auf das Leben gezeichneten 30 
Nachtstiicke und an die Schattenpartien, die man Volker nennt, 
zu denken - und da ihn daran auBer seiner Traurigkeit und auBer 
einem Wachs-Skelett von Mad. Biheron, das im Naturaliensaale 
mit dastand, noch mehr die blasse Gestalt Klotildens erinnerte - 
und da diese, mit den vergleichenden Augen auf dem Gerippe 
und dem Schattenbilde, leise zu Viktor sagte: »Mich konnten zu 



23. HUNDPOSTTAG 843 

einer andern Zeit so viele Ahnlichkeiten traurig machen« - so 
durchschnitt sein voiles Herz der scharfe Schmerz iiber seine ewige 
Armut und iiber die GewiBheit: »Dieses schone Herz bewegtsich 
nie fiir deines, und wenn ihr Freund Emanuel gestorben ist, 
bleibst du immer allein« - und er trat ans Fenster, drehte es hart 
auf, schlang den Nordwind ein, zerdriickte mit der Faust die zwei 
Augapfel und ging mit den - vorigen Ziigen wieder zu den andern. 
Aber fiir heute hatten solche Erschiitterungen zu tief in sein 
Herz hineingerissen. Und da ihm Klotilde in einer einsamen Se- 

:o kunde sagte, da 6 die Pfarrenn und Agathe iiber sein AuBen- 
bleiben ziirnten: so war er, dem sich bei diesen Namen die ganze 
bewolkte Vergangenheit wie ein Himmel auftat, nicht imstande 
eine Antwort zu geben. 

Als er nach Hause kam, redete Klotildens Stimme, die er unter 
alien ihren Reizen am wenigsten vergessen konnte, unaufhorlich 
und wie das Echo eines Trauergesangs in seiner Seele . . . Leser, 
wenn das, was du liebtest, lange verschwunden ist aus der Erde 
oder aus deiner Phantasie, so wird doch in Trauerstunden die ge- 
liebte Stimme wiederkommen und alle deine alten Tranen mit- 

20 bringen und das trostlose Herz, das sie vergossen hat!... Aber 
nicht bloB ihre Stimme, sondern alles drangte sich im Finstern urn 
seine Phantasie, ihr bescheidenes Auge, das nicht hofmafiig blitzte 
und ertrotzte und suchte, wie der andern ihre, diese behutsame 
Feinheit, die ihm seit seinem Hof leben weder an ihr noch an sei- 
nem Vater mehr zu groB vorkam - dazu setze man noch das Bild 
Joachimens und sein Chaos von Widerspriichen und die Bemer- 
kung, daB ein Mensch, den die gewissesten Beweise, ungeliebt 
zu sein, beruhigt haben, doch bei einem neuen wieder leidet: so 
kennt man die Bewegungen, die der Schlaf, diese Meerstille des 

30 Lebens, bei ihm stillen muBte. - 

»Das war das letzte Fieberschauer«, sagt* er am andern Morgen 
und bauete auf sein jetziges Herz, dessen Entziindungen wie die 
der Vulkane taglich ihren Kessel mehr ausbrannten. Er gebot sich 
daher eine wochentliche Flucht vor der zu teuern Seele, in der 
Absicht, daB der neue Nachklang seiner Liebe in seinem Herzen 
auszittere und alles wieder still werde darin. 



844 HESPERUS 

Aber nach einer Woche sah er sie wieder : wahrlich, der Teufel 
saB wieder am Spieltisch und spielte gegen ihn eine andere Farbe 
aus — Rot, Klo tilde sah nicht blaB, sondern, obwohl nur wenig, 
rot aus. Dieses Rot machte an seinem innern Menschen einen 
groBen Klecks und verfalschte sein inneres Kolorit,*wie Schwarz 
jede Malerfarbe. Denn als er sie genesen wiederfand : so wars ihm 
nicht sowohl angenekm - denn er sah, wie wenige Verdienste er 
mehr um ihre Ruhe habe, wie sie ihn nicht einmal in diesem 
Warenlager von Menschen-Makulatur aushebe, und wie dumm er 
gewesen, daB er sich heimlich, ganz heimlich traumen lassen, »ihre 10 
vorige Bleichheit komme gar von ihrer vergeblichen Sehnsucht 
nach ihm seines Orts her«-, desgleichen wars ihm auch' nicht un- 
angenehm — denn er hatte all sein Herzblut dahingegossen, um 
damit eine einzige Pulsader in ihr wieder in den Gang zu bringen-, 
ich sage, es war ihm nicht sowohl angenehm oder unangenehm 
als beides, als unerwartet, als ein Wink, des - Teufels zu werden. 
Sein Herz und das Bild, das zu lange darin war, wurden gar ent- 
zweigednickt: »Es sei!« sagt* er und zerbiB die krampfhafte Lippe, 
womit ers sagte. - Einige Tage lang mocht' er nicht einmal Jo- 
achime sehen. »Hat diese denn ein Auge fur die Natur und ein *o 
Herz fur die Ewigkeit?« fragt* er, und er wuBte wohl die Antwort. 

Jetzo ging eine Zeit fur ihn an, die gerade das Gegenteil der 
Sabbatwochen war — man kann sie die Renn-Wochen oder die 
Tarantel-Tatv(stunden der Besuche nennen. Es ist eine verdammte 
Zeit, der Mensch weiB nicht, wo er steht. Sie fiel bei Viktor ge- 
rade in die Wintermonate, wo ohnehin die sausenden Butter- 
wochen der Stadte und Hofe sind. Ich will sie jetzt ordentlich 
schildern. 

Viktor suchte namlich sein uneiniges ungluckliches Herz zu 
iiberschreien und zu betauben — nicht mit den Trommelwirbeln 30 
der Lustbarkeiten; unter diesen verblutete es vielmehr, so wie 
unter dem Trommeln die Wunden starker flieBen : sondern - mit 
Menschen; diese waren die blutstillenden Schrauben, die er um 
seine Seele legte. Sein Leib war jetzt wie der katholische Reliquien- 
leib eines Apostels an alien Orten; er verlief den ganzen Tag, bald 
mit, bald ohne den Fiirsten. 



23. HUNDPOSTTAG 845 

In Flachsenfingen war zuletzt keine Dame mehr, der er nicht 
die Hand gekiisset hatte - und kein Nachttisch mehr, wo ers dabei 
hatte bewenden lassen. 

Er machte in den Rennwochen doppelte Schleifen - franzosische 
Pas - Tupfdesseins - kleine Komodien - Scharaden - Rezepte 
fur Kanarienvogel - Verse fiir Facher - tausend Besuche - und 
noch mehr Morgen-Briefchen .... 

Letzte, die er bekam und schickte, waren franzosisch ge- 
schrieben und franzosisch gebrochen — namlich zu Haarwickeln 

10 gequetscht : »Es sind«, sagt' er, »die Haarwickel weiblicher Gehirn- 
fibern - die Patronen voll Amors-Pulver - die Kokons der lieben- 
den Schmetterlinge« - er sprach vom Steigen und Fallen dieser 
weiblichen Papiere und nennte sie noch die Aushangebogen des 
weiblichen Herzens und die Schmutztitelblatter der koketten 
Edikte von Nantes. »Ich behaupte dies,«^ setzt'erhinzu-»ummich 
vom Hof junker Matthieu zu unterscheiden, ders leugnet, weil er 
gar verficht, anfangs dringe man den Schonen Briefe auf, dann 
Dinge von mehr Kubikinhalt, z. B. Facher, Juwelen, Hande, dann 
endlich sich selber, so wie die Posten anfangs nur Briefe aufnah- 

zo men, dann Pakete, endlich Passagiere.« - 

Er fand diejenigen Weiber taglich amusanter, die uns Leuten 
von Verstand das Herz aus der Brust und das Gehirn aus dem 
Kopf entwenden, und zwar (wie jener Edelmann anderes Zeug) 
nicht aus Liebe zum gestohlnen Gute, sondern aus Liebe zum 
Rauben- sie schicken wie der Edelmann den andern Morgen das 
Gut dem Eigner redlich wieder zu. Ihre Feinheiten - die seinigen 
- seine Wendungen, um ihren auszuweichen - die Aufmerksam- 
keit, die man auf sich wenden muB - die Gelegenheit, alle Emp- 
findungen unter die feinsten Trennmesser zu bringen, oder unter 

3° Sonnen- und Mondmikroskope - die Leichtigkeit, den aufrichtig- 
sten Wahrheiten den sauern Geschmack und den angenehmsten 
den siiBlichten zu benehmen — dieses machte ihm die Nacht- 
tische der Weiber, besonders der koketten, zu Lektisternien und 
Gottertischen : »Beim Himmel,« sagte der Nacht-Tischganger 
oder Toiletten-Panist, »ein Mann ist bloB ein Hollander, hochstens 
ein Deutscher, aber eine Frau ist eine geborne Franzosin oder gar 



846 HESPEHUS 

eine Pariserin - der Mann verbirgt seine moralische wie seine 
physische Brust - Gedanken und Blumen, die nicht durch die 
Raufen der vier Fakultaten durchfallen, Empfindungen, die nicht 
in den Akten oder in einem arztlichen Befundzettel konnen be- 
schrieben werden, muB man wahrlich nur einer Frau und keinem 
Manne sagen, zumal einem flachsenfingischen«... oder einem 
scheerauischen. — 

Um sich zu entschuldigen, daB er mit den Koketten auf dem 
FuB eines Sammliebhabers umging, berief er sich auf seine Ab- 
sicht - sie bloB kennen lernen zu wollen - und auf den vortreff- 10 
lichen Forster, der in Antwerpen vor Rubens' Maria, die auf dem 
Altarblatt gen Himmel fahrt, so gut wie ein geborner Katholik 
hinkniete, bloB um sie naher zu beschauen. 

Er hat te noch eine gefahrlichere Entschuldigung : »Der Mensch«, 
sagte er, »sollte alles sein, alles lernen, alles versuchen - er sollte 
an der Vereinigung der beiden Kircken in seiner Seele arbeiten — 
er sollte, wenn nur auf ein paar Monate, ein Stadtmusikus, Toten- 
graber, Galgenpater, ein Ingenieur, Tragodiensteller, Oberhof- 
marschall, ein Reichsvikarius, Vizelandrichter, ein Rezensent, 
eine Frau, kurz alles sollte der Mensch auf einige Tage gewesen 20 
sein, damit aus dem Farbenprisma zuletzt die weiBe vollkommne 
Farbe zusammenfl6sse.« — 

Die Grundsatze werden desto gefahrlicher bei einem wie er, 
der, mit den hochgespannten Saiten der unahnlichsten Krafte be- 
zogen, leicht den Ton eines jeden angab, nicht aus Verstellung, 
sondern weil sich seine Umgangs-Dichtkraft tief in die Seele des 
andern versetzen konnte — daher gewann, ertrug und kopierte er 
die unahnlichsten Menschen, ungeachtet seiner Aufrichtigkeit. 
Ich bedaure ihn aber, daB er uberall so viel zu verschweigen hatte, 
sein Erraten des Fursten, sein Herz gegen Klotilde, seine Versohn- 30 
Intrigen gegen Agnola, seine Wissenschaft von Flamins Ver- 
haltnissen u.s.w. Ach Verschweigen und Verstellen flieBen leicht 
zusammen, und miissen nicht Tropfen in den festesten Charakter, 
sobald er immer unter der Traufe steht, endlich Narben graben? 

Nichts erkaltet mehr die edelsten Teile des innern Menschen als 
Umgang mit Personen, an denen man keinen Anteil nehmen kann. 



23. HUNDPOSTTAG 847 

Dieses Gastwirtleben am Hofe, taglich Leute zu sehen, die nicht 
einmal Ich sagen, deren Verhaltnisse man so gleichgiiltig unkennt 
wie deren Talente, wenn sie nicht ein Bediirfnis sucht — dieses 
Haschen nur nach dem nachsten Augenblick - dieses Vbruber- 
rennen der feinsten und geistreichsten Fremden und Besuch- 
ameisen, die in drei Tagen vergessen sind - alles dieses, was die 
Palaste zu russischen Eispalasten macht, wo sogar der Ofen voll 
Naphthaflammen eine Eisscholle ist, wozu ich das komische Salz 
gar nicht zu setzen brauche, das ohnehin alles warme Blut, wie 

10 glauberisches das heiBe Wasser, erkaltet, alles dieses machte sein 
Herz ode, seine Tage kahl und lastig, seine Nachte beklommen, 
sein Betragen zu kalt gegen Gute, zu duldend gegen Schlimme. 
Noch dazu schwieg sein Emanuel und schloB, wie die Natur, 
seine Blumen in sich ein. - Wen die Natur ernahrt und erhebt, der 
ist im Winter nicht so gut als im Sommer. Die Erde hatte ihren 
Pudermantel von Schnee um und den ganzen Tag die Nacht- 
kleidung an, die Baume hatten ihre Knospen in die Flocken- 
Papilloten gewickelt, und die Aste sahen wie Haarnadeln aus - 
Viktors Seele war wie die Natur; o! der Himmel warme bald in 

20 beiden die Blumen des Fruhlings an! 

Da die Kr^nkheitgeschichte meines Viktor mich zu schmerzhaft 
an die versteckten Gifte im menschlichen Korper erinnert: so soil 
sie bald zu Ende sein. Es gefiel ihm, daB er durch das Herum- 
flattern immer galanter und kalter gegen alle weibliche Personen 
wurde - das Seil der Liebe schneidet weniger tief in den Busen ein, 
wenn es, in Faden und Flocken ausgezupft, um alle flattert. Er, der, 
wie sein Namenvetter, der heilige Sebastian, ganz mit (Amors) 
Pfeilen vollgeschossen aussah, IieB Pfeile anderer Art gegen das 
ganze Geschlecht, wiewohl nie gegen Einzelwesen, fliegen. In 

30 diesem letzten Umstand war seine Bitterkeit von Matthieus seiner 
unterschieden, der z. B. von seiner eignen Base, die ihre Schonheit 
durch spate Blattern verloren, sagen konnte : »Ihre Schonheit hielt 
sich recht tapfer gegen die Blattern und trug aus diesem Siege die 
herrlichsten Narben davon, und zwar alle, wie Pompejus* Ritter, 
von vornen im Gesicht.« 

Wie Teufelsdreck zum haut-gout gebracht wird, so wiirzet man 



848 HESPERUS 

das feinste savoir vivre durch einige kuhne Unhoflichkeiten. 
Bastian war in der Tarantelzeit durch nichts verlegen zu rnachen - 
er ging und kam wie ein Pariser ohne Umstande - er suchte oft 
kiihne, aber vorteilhafte Stellungen seines Korpers — unter dem 
Schauspiel tat er Reisen durch die Logen, wie der Fiirst durch die 
Kulissen - er brachte es (obwohl mit Muhe, und nur indem er 
sich'immer das Muster der Hofleute vorhielt) funfmal dahin, daB 
er gleichgiiltig zuhorte oder gar wegschauete, wenn ihm der an- 
dere erzahlte; welches alles, wenn nicht wesentliche, doch Neben- 
stucke der wahren Hoflichkeit sind. i 

Auch will ich zu seinem Ruhm nicht unbemerkt Iassen, daB er 
sich die ordentlichen erotischen und satirischen Freiheiten der galli- 
kanischen Kirche gegen mehre Weiber auf einmal nahm; denn vor 
einer einsamen hatt' er noch die alte Ehrerbietung eines edlen 
Herzens. Ich will von jenem doch ein Beispiel geben. Einmal war 
er unter funf Verleumderinnen (die Gesellschaft bestand aus sechs 
Frauenzimmern und einer Mannsperson) ; die haBlichste schwarzte 
alle, sogar gedruckte Madchen an, z.B. die verstorbene Klarisse, 
der sie vorriickte, sie habe gegen Lovelace nicht genug gewuBt 
sauver les dehors de la vertu. Man muB es gewartig sein, wie die *< 
Konigsberger Schule es in ihren Rezensionen aufnimmt, daB er 
sich vor der Verleumderin auf ein Knie hinlieB und mit einigem 
Ernst sagte: »0 Clarisse! Voici Votre Lovelace, retranchons 
quatre tomes et commen^ns comme les faiseurs d'Epopees par 
le reste.Ki 

Freilich warf er sich die Tarantelzeit haufig unter der Tarantel- 
zeit vor; und da der Heidenvorhof seines Herzens so voll Weiber 
wurde, indes im Allerheiligsten desselben nichts war als ein stum- 
mes Dunkel, und da sein Kopf ein Insektenkabinett von Hof- 
kleinigkeiten wurde: so seufzete er freilich oft in seinem Erker: y 
»0! komme bald, guter Vater, damit dein sinkender Sohn aus 
diesem schmutzigen Marznebel in ein helleres Leben steige, eh' er 
sich ganz befleckt hat, daB er nicht einmal diesen Wunsch mehr 
tut« - und sooft er in Joachimens Zimmer die Prospekte von 

1 d . h. O Klarisse ! Da haben Sie Ihren Lovelace, wollen wir die vier ersten 
Bande uberspringen und wieEpopoendichter gleich beim Oberrest anfangen. 



23. HUNDPOSTTAG 849 

Maienthal - welche Giulia vom Portratmaler. Klotildens machen 
lassen - zu Gesichte bekam: so zog er mitten im Scherzen das 
Auge von ihnen mit einem Seufzer weg — Aber geheilt wurd' er 
nicht, als bis das Schicksal sagte: jetzt! Da klopfte der Theater- 
schlussel auf einmal, der die Menschen in der Schauspielerprobe 
des Lebens - das Schauspiel selber wird erst im zweiten gegeben - 
kommen und handeln heiBet;und es trug sich etwas zu,was ich 
sogleich im folgenden Kapitel berichten werde, wenn ich in diesem 
auserzahlet habe, wie Viktor mit alien Leuten urn sich her stand. 

10 Mit manchen eigentlich schlecht - erstlich mit Klotilden. Sie 
wohnte zwar bei dem Minister - als Hofdame hatte sie ins Pauli- 
num gehort, allein der Furst hatte es wegen der Leichtigkeit, sie 
zu sehen, so karten lassen -, aber sie war immer um die Fiirstin, 
mit der sie bald ein ahnlicher Ernst und eine ahnliche Zuriick- 
haltung verkniipfte. Ihre Gleichgiiltigkeit gegen einen, der mit 
ihr einen gemeinschaftlichen Freund und Lehrer hatte, gab diesem 
Viktor eine noch groBere, zumal da er wuBte, sie miiBte fiihlen, 
daB in dieser kalten Berg- und Hof luft nur ein einziger, obwohl 
falber Nelken-Absenker ihrer schonen Seele bliihe, er selber nam- 

20 Iich. Auch muBte ihm der Zwang des Wohlstandes, sie kalt anzu- 
schauen, zur Gewohnheit werden. Am schlimmsten wars fur ihn, 
daB sie gleichgultig war ohne Empfindlichkeit und kalt mit Ach- 
tung fur ihn. Andere waren ganz toll uber das »tugendhafte Phleg- 
ma dieser Pygmalions-BiIdsaule.« Der edle Matz nannte sie oft die 
heilige Jungfrau oder die Demoiselle Mutter Gottes. Es konstiert 
und erhellet ganz deutlich aus den vor mir aufgeschlagenen Hunds- 
Manualakten, daB einige Herren vom Hofe nach verschiedenen 
verdorbnen Versuchen, sich die mit so vieler Schonheit unver- 
tragliche Tugend zu erklaren, bald aus Temperament, bald aus 

30 verhehlter Liebe, bald aus einer koketten Sprodigkeit, die sich 
wie das Wasser bei St. Clermont endlich zur eignen Brucke uber 
sich selber versteinert, daB diese listigen Herren recht gliicklich 
auf die Vermutung verfielen, Klotilde nehme diese Maske als eine 
Kopie des Gesichts der Fiirstin vor ihres, um in der Gunst zu 
bleiben. Daher wurde Klotildens zuchtige Tugend von den mei- 
sten mit groBerer Schonung beurteilt, indem man sie als eine ab- 



850 HESPERUS 

sichtliche Nachahmung des ahnlichen Fehlers der Furstin schon 
entschuldigen konnte durch das Beispiel ahnlicher Nachahmun- 
gen, da Hofleute oft die groBten auBern Naturfehler, ja die Tu- 
genden eines Regenten nachafFten. - So dachte wenigstens der 
billigere Teil des Hofes. 

Agnola war unserem Helden einen immer groBern Dank fur 
die Besuche Jenners zu zeigen beflissen, ob sie gleich, denk' ich, 
die untreue Absicht des Fiirsten in der Gegenwart Klotildens 
ebensogut entdecken konnte, als sie zuweilen in Viktors Seele bei 
der Gegenwart Joachimens blicken mochte... Oberhaupt hatt' 10 
ich den Leser langst bitten sollen aufzupassen : ich trage die Sachen 
mit erlaubter Dummheit vor, obwohl mit historischer Treue; 
sind nun feine, spitzbubische, wichtige, intrigante Ztige und 
Winke darin, so ists ohne mein Wissen, und ich kann sie also 
dem Leser nicht anweisen mit einer Zeigerstange, oder ansagen 
mit einer Feuertrommel, sondern er selber - weil er Hofgeschich- 
ten versteht - muB wissen, was ich mit meinen Winken haben 
will, nicht ich, 

Mit Joachimen ware Viktor recht gut gefahren - da er alle 
Fehler, die er bei andern Weibern und nicht bei ihr antraf, ihr als 20 
Tugenden in Rechnung brachte, und da er sich mit ihrem Ich 
mehr verflocht; denn die Fehler der Madchen kommen wie Scho- 
kolade und Tabak dem Gaumen anfangs desto toller vor, je besser 
sie ihm nachher schmecken - er ware gut gefahren, ohne zwei 
Ecksteine; aber die waren da. Der erste war - denn ich will seine 
kleine Argernis iiber die kurze Dauer ihrer schonen Weihnacht- 
Empfindsamkeit nicht rechnen -, daB sie immer Klotilden tadelte, 
besonders ihre »affektierte« Tugend. Der zweite war, daB Klotilde 
sie ebensowenig suchte: Viktor konnte niemand lieben, den Klo- 
tilde nicht liebte. - Und jetzt sind die Rennwochen und Visiten- 30 
Taranteltanzstunden eines Menschen zu Ende; aber ach die ganze 
Nachwelt muB noch dieselbe heiBe Linie der Narrheit und Jugend 
passieren. 



24. HUNDPOSTTAG 85! 

24. HUNDPOSTTAG 

Schminke - Krankheit Klotildens - Schauspiel Iphigenie - Unterschied der 
biirgerlichen und der stiftfahigen Liebe 

Am 26sten Februar fand Viktor morgens bei Joachimen - die 
stolze Klo tilde. Ich weiB nicht, war diese aus Zufall oder Hoflich- 
keit oder deswegen da, um einer Person, die von Viktor mit eini- 
gem Interesse behandelt wurde, naher zti begegnen. Aber, o Him- 
mel! die Wangen dieser Klotilde waren blaB, die Augen wie von 
einer ewigen Trane iiberhaucht, die Stimme geriihrt, gleichsam 

10 gebrochen, und der bleiche Marmorkorper schien nur das Bild zu 
sein, das am Grabmal der entflognen Seele steht. Viktor vergaB 
die ganze Vergangenheit, und sein Innerstes weinte vor Sehn- 
sucht, ihr beizustehen und aus ihrem Leben alle triibe Winter- 
landschaften wegzuloschen. »Ich befinde mich heute wie gewohn- 
Hch«, sagte sie auf seine hofarztliche Frage, und er wuBte nichts 
aus dieser unerwarteten Erbleichung zu machen - er konnte heute 
iiberhaupt nichts machen, nicht einmal einen Scherz oder eine 
Schmeichelei- seine in Mitleid zergangne Seele wollte keine Form 
annehmen - verwirrt war er auch. Klotilde ging bald; - und ihm 

io war's heute fiir ganz GroBpolen (diese in der Eisfahrt der Volker- 
und Kronenwanderung schon sich abschleifende Eisscholle) nicht 
moglich gewesen, nach ihr noch eine halbe Stunde zu verbleiben. 
Er hatte ohnehin gehen miissen; denn der Hof junker Matthieu 
rief ihn zur Fiirstin. Die Zeit war ungewohnlich : er konnte es 
nicht erwarten und nicht erraten, was es gebe. Der Evangelist 
lachelte (das tat er iiberhaupt jetzt ofter iiber die Fiirstin) und 
sagte: »den Fiirsten und Fiirstinnen sei bloB das Wichtige klein, 
und das Kleine wichtig, wie Leibniz von sich selber sagte 1 . Wenn 
ihnen die Krone und eine Haarnadel miteinander vom Kopfe 

*o fallen : so suchen sie vor alien Dingen die Nadel.« 

Beilaufig! Es ware Bosheit von mir gegen den edlen Matthieu, 
wenn ichs langer unterdruckte, daB er seit einiger Zeit gegen mei- 

1 Er irret, Leibniz sagte bloB : alles Schwere werd* ihm leicht, alles Leichte 
schwer. 



8$2 HESPERUS 

nen Helden viel sanfter und inbrunstiger geworden — welches 
bio 6 an einem andern Menschen als er, ich meine an einem nach- 
stellenden Schelm, ein Kains-Zeichen ware und etwan so viel be- 
deutete wie das Wedeln eines Katzenschwanzes. - 

Viktor erstaunte liber die Bitte der Fiirstin, - Klotilden zu hei- 
len : das heiBt, nicht iiber das Bitten - denn sie beehrte ihn ofters 
damit — , sondern iiber die Nachricht, dafi Klotilde, auf deren 
Wangen er bisher die Apfelbliiten der Gesundheit auf Kosten 
seiner Seele in den Rennwochen gesehen, bloB taube Bluten ge- 
tragen, namlich bloB Schminke, die ihr die Fiirstin wegen der 10 
Gleichbliite mit den iibrigen roten Kupferblumen des Hofes hatte 
befehlen miissen. Agnola, die, wie ihr Stand, rasch war, ersuchte 
ihn noch, als er zur medizinischen Oberexaminationskommission 
ernennet war, sein Amt nur ja recht bald, schon heute sogleich im 
Schauspiele zu verwalten, wo er die Examinandin treffen werde. 

Und er fand sie. Das Schauspiel war ein aus Eldorado geliefer- 
ter funkelnder Solitar, Goethes Iphigenie, Da er die Kranke wie- 
der mit dem Abendrot der Schminke sah, worin sie auf fremdes 
GeheiB sogar unter dem Untergehen schimmern sollte - da er 
dieses stille, zum Altar gleichsam rot bezeichnete Opfer, das er 20 
und andere von seinen Fluren, von seinen einsamen Blumen weg- 
getrieben unter die Opfermesser des Hofs, den Untergang seiner 
Wiinsche stumm erdulden sah, und da er mit dem weiblichen Ver- 
stummen das mannliche Toben verglich - und da Klotilde ihren 
Schmerz der Iphigenie geliehen zu haben schien mit der Bitte: 
»Nimm mein Herz, nimm meine Stimme und klage damit, klage 
damit iiber die Entfernung von den Jugendgefilden, iiber die Ent- 
fernung vom geliebten Bruder« - und da er sah, wie sie die Augen 
fester an die Iphigenie, wenn sie nach dem verlornen Bruder 
schmachtete", anzuschlieBen suchte, um die ErgieBung und die 30 
Richtung derselben (nach ihrem eignen auf dem Parterre, nach 
Flamin) zu beherrschen: o dann hatten so groBeSchmerzen und 
ihre Zeichen in seinen Augen und Mienen einen solchen Vor- 
wand notig, wie die Allmacht des Genius ist, um mit Schmerzen 
der dichterischen Tauschung verwechselt zu werden. 

Nie hat ein Arzt seine Kranke mit groBerer Teilnahme und 



24. HUNDPOSTTAG 853 

Schonung ausgefragt, als er Klotilden im nachsten Zwischenakte : 
er entschuldigte seine Zudringlichkeit mit dem Befehle der Fur- 
stin. Ich muB vorher berichten, daB die Kranke - ob er gleich bis- 
her ein fallender Petrus war, den manches Hahngeschrei mehr 
zum Weinen als zum Bessern gebracht - doch die zweite Person 
blieb, die er nie verleugnete, d. h. die er nie mit seinen jetzigen 
frivolen, launichten, kuhnen, fangenden Wendungen anredete. 
Die erste Person, welche er zu hoch achtete, urn mit seinem jet- 
zigen Herzen an sie zu schreiben, - war sein Emaunel. 

10 Klotilde antwortete ihm: »sie sei so wohl wie immer: das ein- 
zige, was an ihr krank sei,« (sagte sie lachelnd) »namlich die Farbe, 
sei schon unter den Handen einer Wundarztin, die sie wider ihre 
Neigung bloB von auBen heile.« Diese scherzhafte Erwahnung 
des von der Fiirstin dekretierten Schminkens hatte die doppelte 
Absicht, ihr Schminken zu entschuldigen und den Doktor aus 
seinem weichherzigen Ernst zu bringen. Aber das erste war un- 
notig - da im Theater sogar Damen, die nie Rot auf legen, es beim 
Eintritt in die Loge auftrugen und beim Ausgang ausstrichen, um 
nicht an einem Baum voll gliihender Stettinerapfel als die einzigen 

20 Quitten dazuhangen, und da uberhaupt von dem ganzen weib- 
lichen Hofstaat die mineralischen Wan gen als Hof-Gesichtlivree 
gefodert wurden. Das zweite war vergeblich; vielmehr schwollen 
die Wunden seines Herzens durch zweierlei hoher: durch jenes 
kalte, fast schwarmende Ergeben ins Verbliihen - und durch et- 
was unaiissprechlich Mildes und Welches, was oft im weiblichen 
Gesicht das brechende Herz, das fallende Leben bezeichnet, wie 
das Obst durch weiches Nachgeben beim Druck seine Reife an- 
sagt. 

O ihr guten weiblichen Geschopfe, macht euch der Kummer, 

90 da euch die Freude schon verschonert, vielleicht darum noch 
schoner und %u riihrend, weil er euch ofter trifft, oder weil sich 
jener in diese kleidet? Warum muB ich hier die Freude iiber euer 
Erdulden und Verschleiern der Schmerzen so fiuchtig bekennen, 
da jetzt vor meiner Phantasie so viele Herzen voll Tranen mit 
offnen Angesichtern voll Lacheln voruberziehen und eurem Ge- 
schlechte das Lob erwerben, daB es sich dem Kummer so gern 



854 HESPERUS 

wie der Freude ofFne, wie die Blumen, ob sie sich gleich nur vor 
der Sonne auftun, doch auch auseinandergehen, wenn diese der 
Wolkenhimmel iiberzieht? - 

Viktor, ohne durch ihre Antwort irre zu werden, fuhr fort: 
»Vielleicht konnen Sie sich nicht von der schonen Natur. ent- 
wohnen und von der Bewegung - das Nachtsitzen, das ich selber 

empfinde« Sie lieB ihn nicht ausreden, um ihn daran zu er- 

innern, daB sie ja die jetzige Farbe von Hause an den Hof mit- 
gebracht. Man sieht aber in dieser Erinnerung mehr Schonung 
als Wahrheit; denn sie wollte ihr Hofamt nicht gerade vor dem i 
verklagen, der es ihr erlangen half. --Viktor, der ihre Kranklich- 
keit so sicher sah, und doch keine Frage mehr vorzulegen wuBte, 
stand stumm, verlegen da. Das eigne Schweigen loset den Zuruck- 
haltenden die Zunge: Klotilde fing selber an: »Weil ich nichts 
weiB, was mir hier schadet, als die Schminke: so bitt' ich meinen 
Arzt, mir diesen Diatfehler zu untersagen« - d. h. die Fiirstin zum 
Widerruf ihres Schminkedikts zu vermogen — »Ich mag gern«,. 
fuhr sie fort, »doch einige Ahnlichkeit mit zwei so guten Freun- 
den, Giulia und Emanuel, bekommen« — d.h. die blasse Farbe, 
oder auch die Meinung des baldigen Todes. - Viktor stieB ein * 
hastiges Ja heraus und wandte das schmerzende Auge gegen den 
auffliegenden Vorhang. 

Nie waren wohl die Szenen der Spieler und der Zuhorer sich 
ahnlicher. Iphigenie war Klotilde - der wilde Orest, ihr Bruder, 
war ihr Bruder Flamin - der sanfte helle Pylades seiri Freund 
Viktor. Und da Flamin unten im Parterre mit seinem wolkigen 
Angesicht stand - (er kam nur, um seine Schwester bequemer zu 
sehen) — , so war es unserm und seinem Freunde so, als wiird' er 
von ihm angeredet, als Orest zu Pylades sagte: 

— Erinnere mich nicht jener schonen Tage, y 

Da mir dein Haus die freie Statte gab, 

Dein edler Vater klug und liebevoll 

Die halb erstarrte junge Blute pflegte; 

Da du, ein immer munterer Geselle, 

Gleich einem leichten bunten Schmetterlinge 



24. HUNDPOSTTAG 855 

Um eine dunkle Blume, jeden Tag 
Um mich mit neuem Leben gaukeltest, 
Mir deine Lust in meine Seele spieltest. 

Klotilde funk 1 es ebenso schmerzhaft, daB man auf der Szene 
ihr Leben spiele, und kampfte gegen ihre Auge n . . . Aber da Iphi- 
genie zu ihrem Bruder Orest sagte: 

O hore mich! O sieh mich an, wie mir 
Nach einer langen Zeit das Herz sich ofFnet 
Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt 
o Noch fiir mich tragen kann, das Haupt zu kussen - 

O laB mich, IaB mich, denn es quillet heller 
Nicht vom ParnaB die ewige Quelle sprudelnd 
Von Fels zu Fels ins goldne Tal hinab, 
Wie Freude mir vom Herzen wallend flieBt 
Und wie ein selig Meer mich rings umfangt - 

- und da Klotilde traurig den groBern Zwischenraum der Schmer- 
zen und der Tage zwischen sich und ihrem Bruder tibermaB: so 
quollen ihre groBen, so oft am Himmel hangenden Augen voll, 
und ein schnelles Niederbiicken verdeckte die schwesterliche 

to Trane alien ungeriihrten Augen. Aber den geriihrten, womit ihr 
naher Freund sie nachahmte, wurde sie nicht entzogen... Und 
hier sagte eine tugendhafte Stimme in Viktor: »Entdeck ihr, daB 
du das Geheimnis ihrer Verwandtschaft weiBt - hebe von diesem 
wundgepreBten Herzen die Last des Schweigens ab - vielleicht 
welkt sie an einem Gram, den ein Vertrauter kuhlt und nimmt !« - 
Ach,dieser Stimme zu gehorchen, war ja das wenigste, womit er 
sein unendliches Mitleiden befriedigen konnte! - Er sagte auBerst 
leise und aus Riihrung fast unverstandlich zu ihr: »Mein Vater 
hat es mir langst entdeckt, daB Iphigenie die Gegenwart ihres 

30 Bruders und meines Freundes weiB.«-Klotilde wandte sich schnell 
und errotend gegen ihn - er lieB, zur nahern Erklarung, seinen 
Blick zu Flamin hinabgleiten - erblassend sah sie weg und sagte 
nichts - aber unter dem ganzen Schauspiel schien ihr Herz weit 
mehr zusammengedruckt zu sein, und sie muBte jetzo noch mehr 



856 HESPERUS 

Tranen und Seiifzer zerquetschen als zuvor. Zuletzt gab sie mitten 
in ihrer Betrubnis der Dankbarkeit ihre Rechte und sagte ihm fiir 
seine Teilnahme und sein Vertrauen, gleichsam im Sterben 
lachelnd, Dank. Er legte an den Spinnrocken des Gesprachs ganz 
neuen fremden Stoff, weil er unter dem Fortspinnen gern uber 
den traurigen Eindruck, den sein Bekenntnis zu machen geschie- 
nen, heller und gewisser werden wollte. Er fragte nach Emanuels 
neuesten Briefen; sie versetzte: »Ich habe erst gestern wahrend 
der ganzen Mondfinsternis an ihn geschrieben; er kann mir nicht 
oft antworten, weil seine Brust durch das Schreiben leidet.« - Da ic 
nun die Finsternis des 25sten Februars schon abends um 10 Uhr 
20 Minuten anfing, um 11 Uhr 41 Minuten am starksten und um 
1 Uhr 2 Minuten erst aus war: so konnte Viktor als Arzt mit Ge- 
setzpredigten und Gesetzhammern uber die medizinische Sun- 
derin herfallen und es erharten, nun sei es kein Wunder. LaB es 
bleiben % Doktor! Diese Heben Wesen gehorchen Ieichter dem 
Manne - den zehn, Geboten - den Biichern - der Tugend - dem 
Teufel selber Ieichter als dem Diatetiker. Klotilde sagte: »Die 
Mitternachtstunden sind bloB meine einzigen Freistunden. - Und 
Maienthal kann ich ja nie vergessen.« - »Ach, wie konnte man 2c 
das?« sagt* er. Die Musik vor dem letzten Akte und die tragische 
Stimmung und die Schmerzen begeisterten sie, und sie fuhr fort: 
»Trank man nicht Lethe, wenn man das Elysium bet rat, und wenn 
man es verlieB?«. .. (Sie hielt inne.) »Ich tranke keine Lethe, nicht 
im ersten Falle> noch weniger im letzten - nein !« Und nie wurde 
das Nein leiser, sanfter, gezogener gesagt. In Viktors Herzen zog 
ein dreischneidiges Mitleiden schmerzlich hin und her, da er sich 
die schreibende und weinende und vom Schicksal verspottete 
Klotilde in der Mitternacht unter dem vom Erdschatten zerstuck- 
ten und bewolkten Mond vorstellte; er sagte nichts, er blickte 3 c 
starr in die triiben Szenen der Buhne und weinte noch fort, als 
sich auf ihr schon die frohen entwickelten . 

Zu Hause machte er seine Gehirnfibern zu Ariadnes Faden, um 
aus dem Labyrinth der Ursachen ihres Kummers und besonders 
des neuen zu kommen, der sie bei seiner Eroffnung zu befallen 
geschienen. Aber er blieb im Labyrinth; freilich erzeugte Gram 



24. HUNDPOSTTAG 857 

die Krankheit, aber wer erzeugte den Gram? - Es ware schlimm 
fur diese armen zarten Schmetterlinge, wenn es mehr als einen 
todlichen Kummer gabe; in jeder Gasse, in jedem Hause findest 
du eine Frau oder eine Tochter, die in die Kirche oder ins Trauer- 
spiel gehen muB, um zu seufzen, und die ins obere Stockwerk 
steigen muB, um zu weinen; aber dieser aufgehaufte Kummer 
wird lachelnd verschmerzt, und die Jahre nehmen lange neben 
den Tranen zu. Hingegen einen gibts, der sie abbricht - denke 
daran, lieber Viktor, in den freudigen Stunden deiner Viel-Liebe, 

10 und denket ihr alle daran, die ihr einem solchen weichen Ge- 
schopf das schlagende Herz aus der Brust mit warmen liebenden 
Handen ziehet, um es in eure neben eurem eignen Herzen aufzu- 
nehmen und ewig zu erwarmen ! - Wenn ihr dann dieses heiBe 
Herz, wie einen Schmetterlinghonigrussel, ausgerissen hinwerfet: 
so zuckt es noch wie dieser fort, aber es erkaltet dann und schlagt 
nicht lange mehr. — 

Ungliickliche Liebe war also der nagende Honigtau auf dieser 
Blume, schloB Sebastian. Naturlich dacht' er an sich zuerst; aber 
schon langst hatten ihn alle seine feinsten Beobachtungen, seine 

20 ihm jetzt gelauflgern Rikoschet-Blicke aus dem Augenwinke I uber- 
wiesen, daB er die Auszeichnung, die sie ihm nicht versagte, mehr 
ihrer Unparteilichkeit als ihrer Neigung zuzuschreiben habe. Wer 
es sonst am Hofe sei - das herauszubringen, stellt* er vergeblich 
einen Elektrizitatzeiger nach dem andern auf. Auch wuBt 1 er 
voraus, daB er vergeblich aufstellen werde, da Klotilde alles Aus- 
horchen ihres Innern vereiteln wiirde, wenn sie eine unerwiderte 
Neigung hatte; die Vernunft war bei ihr das Wachs, das man auf 
das eine Ende der magnetischen Nadel klebt, um das Niedersinken 
(die Inklination) des andern aufzuheben oder zu verbergen. Gleich- 

30 wohl nahm er sich vor, das nachstemal einige Wiinschelruten an 
ihre Seele zu halten. — 

Ich muB hier einen Gedanken auBern, der einigen Verstand 
verrat und mein Berechnen uberhaupt. Mein Hund-Postmeister 
Knef sah wahrscheinlich nicht voraus, daB ich das Jahr und die 
Lange dieser ganzen Geschichte bloB aus der Mondfinsternis des 
25. Febr.herausrechnen wiirde, deren er Meldung tat, so wie uber- 



haupt groBe Astronomen durch die Mondphasen sehr hinter die 
geographische Lange der Erde kamen. 1793 fiel das in diesem Ka- 
pitel Erzahlte vor: ich bin Mann dafur; denn da sich iiberhaupt 
die ganze Geschichte, wie bekannt, im 9ten Jahrzehend des i8ten 
Jahrhunderts begibt, und da darin keine Mondfinsternis von einem 
25sten Febr. iiberall zu finden ist als im Jahre 1793, d.h. im jetzi- 
gen: so ist mein Satz gewiB. Zur Sicherheit hielt ich alle in diesem 
Buche einfallende Mond- und Wetterveranderungen mit denen 
von 1792 und 1793 zusammen; und alles passete schon ineinander 
- der Leser sollt' es auch nachrechnen. Ungemein ergotzend ist ic 
es fiir mich, daB sonach, da ich im Julius schreibe, die Geschichte 
in einem halben Jahre meiner Beschreibung nachkommt. - 

Viktor zauderte mit seinem Gange zur Fiirstin nicht, um bei 
ihr die schweigende Klotilde fiir eine vollstandige Nervenpatien- 
tin zu erklaren. Er lachte selber innerlich iiber den Ausdruck — 
und iiber die Arzte — und iiber ihre Nervenkuren - und sagte : wie 
sonst die franzosischen Konige bei ihren Heilanstalten gegen die 
Kropfe sagen muBten: »Der Konig beriihrt dich, aber Gott heilt 
dich«, so sollten die Arzte sagen: der Stadt- und Landphysikus 
greiftdiran den Puis, aber Gott macbt die Kur.-Hierindessen gab 2c 
er sie aus drei guten Absichten fiir eine Nervenleidende aus : erst- 
lich um fiir sie die Aufhebung der Hof-Leibeigenschaft, wenig- 
stens die Befreiung vom genauen Hofdamen-Amt zu erlangen, weil 
in seinem Herzen immer der hineingestochene Splitter des Vor- 
wurfs eiterte : »Du bist schuld, daB sie hier sein muB« - ferner um 
ihr die Erlaubnis der Land- und Fruhlingsluft, falls sie einmal dar- 
um nachsuchte, im voraus auszuwirken - endlich um sie von der 
befohlnen Ahnlichkeit mit denen Damen zuerlosen,an derenblei- 
farbigen Gesichtern, wie an den Bleisoldaten der Kinder, sich das 
Rote taglich abfarbt, so wie taglich ansetzt. Da sich aber Agnola y 
selber schminkte, so muBt' er aus Hof lichkeit es beiden auf einmal 
verbieten, als Arzt.DieFiirstinuntersiegelte alle seine Bittschriften 
recht giitig; nur iiber den Schmink-Artikel gab sie in Riicksicht 
ihrer selbst gar keine Resolution, und in Riicksicht Klotildens 
diese: sie habe nichts dagegen, wenn sie bei ihr, ausgenommen an 
Courtagen und im Schauspiel, ohne Rot erscheine; und von der 



24. HUNDPOSTTAG 859 

Anwesenheit bei beiden sei sie gerne dispensiert, bis sie wieder ge- 
nesen sei. 

Er konnte kaum den Abschied erwarten, um diesen Reichs- 
abschied oder -schluB der geliebten Kranken zu bringen. Ihn sel- 
ber nahm diese Willfahrigkeit der Fiirstin wunder, bei der sonst 
Bitten Sunden waren, und die nichts versagte, als was man erbat. 
Seine Verlegenheit war jetzo nur die, Klotilden die Bewilligungen 
der Fiirstin ohne das beleidigende Gestandnis ihrer vorgeschutz- 
ten Kranklichkeit beizubringen. Aber aus diesem kleinen Obel 

!0 zog ihn ein groBesrals er bei ihr vorkam, sah sie noch zehnmal 
siecher aus als vorgestern bei der Entdeckung ihrer Verwandt- 
schaft; ihre Bliiten hingen zugedriickt und kalt betauet zur Erde 
nieder. 

Gang und Stellung waren unverandert, die auBere Frohlichkek 
dieselbe; aber derBlickwaroft zuflatternd, oftzustehend;durch 
die Lilienwangen flog ein Fieberrot, durch die untere Lippe ein- 
mal ein zerdriickter Krampf . . . Hier Jiob das Mitleid den er schrock- 
nen Freund iiber die Hof lichkeit hinaus, und er sagte ihr geradezu 
die Einwilligungen der Fiirstin. Er rief seinem beschwerten Her- 

zo zen seine bisherige Hof-Kiihnheit zu Hiilfe und befahl ihr, den 
nahen.Friihling zu ihrer Apotheke zu machen und die Blumen zu 
ihren offizihellen Krautern und ihre - Phantasie zu ihrer Arzenei. 
»Sie scheinen mich« (sagte sie lachelnd) »zu den Lerchen zu rech- 
nen, die in ihrem Bauer immer grilnen Rasen haben miissen. Damit 
aber meine Fiirstin und Sie nicht umsonst giitig waren : so werd' 
ichs am Ende tun. - Ich gesteh* es Ihnen, ich bin wenigstens eine 

eingebildete - Gesunde : ich fiihle mich wohl . « Sie brach es ab, 

um ihn mit der Freimutigkeit der Tugend und mit einem in 
schwesterlicher Liebe schwimmenden Auge iiber ihren Bruder 

30 auszufragen : ob er gliicklich und zufneden sei, wie er arbeite, wie 
er sich in seinen Posten schicke? Sie sagte ihm, wie weh ihr bisher 
diese tief in ihre Seele eingesperrten Fragen getan; und sie dankte 
ihm fur das Geschenk seines Vertrauens mit einer Warme, die er 
fiir einen feinen Tadel seines bisherigen Schweigens hielt. - Sie 
stand von jeher gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber in 
Flachsenfingen hatte sie dieser Nebelsternchen noch mehre und 



860 HESPERUS 

zwar aus einem besondern Grunde urn ihren Glanz versammelt, 
namlich urn es zu verbergen, daB sie Julia, eine kleine fiinfjahrige 
Enkelin des Stadtseniors, bei welchem ihr Bruder wohnte, als die 
unwillkiirliche Lebensbeschreiberin und Zeitungtragerin des- 
selben an sich ziehe. Mehr als dreimal war ihm, als miiBt' er die- 
sem lilienweiBen Engel, den seine Wolke immer hoher trug, zu 
FiiBen fallen und mit ausgebreiteten Armen sagen: »Klotilde, 
werde meine Freundin, eh* du stirbst - meine alte Lie be gegen 
dich ist langst zerquetscht, denn du bist zu gut fiir mich und fur 
uns alle — aber dein Freund will ich sein, mein Herz will ich iiber- ic 
winden fiir dich, meinen Himmel will ich hingeben fiir dich - ach 
du wirst ohnehin den Abendtau des Alters nicht erleben und die 
Augen bald zumachen, und der Morgentau hangt noch darin!« 
Denn er hielt ihre Seele fiir eine Perle, deren Korper-Muschel ge- 
ofFnet in der auf losenden Sonne liegt, damit sich die Perle friiher 
scheide. — Beim Abschiede konnt' er ihr mit der Freimiitigkeit 
des Freundes, die an die Stelle der Zuriickhaltung des Liebhabers 
gekommen war, die Wiederholung seiner Besuche anbieten. Ober- 
haupt behandelte er sie jetzo warmer und unbefangner; erstlich, 
weil er auf ihr erhabnes Herz so ganz Verzicht getan, daB er sich ac 
iiber seine friihern kiihnen Anspriiche darauf wunderte; zweitens, 
weil ihm das Gefiihl seiner uneigenniitzigen aufopfernden Recht- 
schaffenheit gegen sie Wundbalsam auf seine bisherigen Gewis- 
sensbisse goB. 

An diese Kranklichkeit schloB sich ein Abend oder ein Ereignis 
an, worein der Leser, glaub' ich, sich nicht finden wird. - Viktor 
sollte abends Joachimen ins Schauspiel abholen, und ihr Bruder 
muBte vorher ihn abholen. Ich nab* es schon zweirrial niederge- 
schneben, daB ihm seit einigen Wochen Matthieu nicht mehr so 
zuwider war wie einem Elefanten eine Maus; er hatte doch eine 30 
einzige gute Seite, doch einigen moralischen Goldglimmer an ihm 
ausgegraben, namlich die groBte Anhanglichkeit an seine Schwe- 
ster Joachime, die allein sein ganzes, seinen Eltern zugeschlossenes 
Herz, seine Mysterien und seine Dienste innehatte - zweitens 
liebte er an Matthieu, was der Minister verdammte, den Salzgeist 
der Freiheit - drittens sind wir alle so, daB, wenn wir unser Herz 



24. HUNDPOSTTAG 86 1 

fiir irgendein weibliches aus einer Familie eingeheizet haben, dafi 
wir Einheizer nachher die Ofen-Warme auf die ganze Sipp- und 
Magenschaft ausdehnen, auf Briider, NefFen, Vater - viertens 
wurde Matthieu immer von seiner Schwester gelobt und ent- 
schuldigt. - Als Viktor kam zu Joachime : hatte sie Kopfschmerzen 
und Putzjungfern bei sich - der Putz und der Schmerz nahm zu - 
endlich schickte sie die lebendigen Appreturmaschinen fort und 
setzte sich, sobald sie aus dem Schaum der Puder- und Schmuck- 
kasten, der Schminklappen und mouchoirs de Venus, der poudres 

10 d'odeur und der Lippenpomaden zu einer Venus erhartet war, da 
setzte sie sich nieder und sagte, sie bleibe zu Hause we gen Kopf- 
schmerzen. Viktor blieb mit da und recht gern. Wer nicht das 
Sparrwerk und Zellenwerk des Menschenherzens kennt, den 
nimmt es wunder, daB Viktors Freundschaft gegen Klotilde ein 
ganzes Honiggewirke von Liebe fiir Joachime in seine Zellen ein- 
trug;es war ihm Heb, wenn sie einander besuchten oderumarmten, 
er suchte in den Segenfingern des Papstes nicht so vide Heilkraft 
a Is in Klotildens ihren ; die Freundschaft derselben schien ihm eine 
Entschuldigung der seinigen zu sein und Joachimen auf das Posta- 

ao ment des Werts zu heben, auf welches er sie mit alien Wagen- 
winden noch nicht stellen konnen. Sogar das Gefiihl seines stei- 
genden Wertes gab ihm neue Rechte zu lieben; und heute wurde 
sogar Klotildens Flor- und Furstenhut seine Helmkleinodien auf 
Joachimens kranklichem, geduldigern Kopfe behauptet haben. In 
ihre fortgesetzte Koketterie gegen das Narrenpaar hatt* er sich 
langst gefugt, weil er recht gut wufite, wen sie unter drei Weisen 
aus Morgenland nicht zum Narren habe, sondern zum Anbeter. 
Aberzuriick! 
Matthieu, der der Schwester zu Gefallen auch zu Hause blieb, und 

30 Viktor und sie machten die ganze Bande dieses concert spirituel. 
Joachime Iehnte auf dem Kanapee ihren sanftern siechen Kopf an 
die Wand zuriick und blickte auf das FuB-Getafel und sah mit 
den heriibergezognen Augenlidern schoner aus - der Evangelist 
ging ab und zu - Viktor setzte, wie allemal, im Zimmer herum - 
Es war ein recht hiibscher Abend, und ich wollt', meiner wurde 
heute so. Das Gesprach wendete sich auf die Liebe; und Viktor 



862 HESPERUS 

behauptete das Dasein einer doppelten, der biirgerlichen und der 
stiftfahigen oder franzosischen. Er Hebte die franzosische in 
Biichern und als Gesamtliebe, aber er haBte sie, sobald sie die 
einzige sein sollte; er beschrieb sie heute so: »Nimm ein wenig 
Eis - ein wenig Herz - ein wenig Witz - ein wenig Papier - ein 
wenig Zeit - ein wenig Weihrauch - und giefi es zusammen und tu 
es in zwei Personen von Stande: so hast du eine rechte gute 
franiosische fontenellische Liebe.« - »Sie vergaBen«, setzte Matz 
dazu, »noch ein wenig Sinne, wenigstens ein Fiinftel oder Seeks tel, 
das als adjuvans oder constituens 1 zur Arznei kommen muB. — In- i< 
dessen hat sie doch das Verdienst der Kiirze; die Liebe so lite, wie 
die Tragodie, auf Einheit der Zeit, namlich auf den Zeitraum eines 
Tages, eingeschranket sein, damit sie nicht noch mehre Ahnlich- 
keit mk ihr bekame. Schildern Sie aber die burgerliche !« - Viktor : 
»Die zieh' ich vor.« - Matthieu : »Ich.nicht. Sie ist bloB ein langerer 
Wahnsinn als der Zorn. On y pleure, on y crie, on y soupire, on y 
ment, on y enrage, on y tue, on y meurt — enfin on se donne a 
tous les diables, pour avoir son ange. - Unsere Gesprache sind 
heute einmal voll Arabesken und a la grecque: ich will ein Koch- 
buchrezept zu einer guten biirgerlichen Liebe machen: Nimm z< 
zwei junge groBe Herzen - wasche sie sauber ab in Taufwasser 
oder Druckerschwarze von deutschen Romanen - giefie heiBes 
Blut und Tranen dariiber - setze sie ans Feuer und an den Voll- 
mond und lasse sie aufwallen — riihre sie fleiBig um mit einem 
Dolche - nimm sie heraus und garniere sie wie Krebse mit Ver- 
giBmeinnicht oder andern Feldblumen und trage sie warm auf: 
so hast du einen schmackhaften biirgerlichen Herzenskoch'« 

Matthieu setzte noch hinzu: »in der heiBen biirgerlichen Liebe 
sei mehr Qual als SpaB; in ihr sei, wie in Dantes Gedicht von der 
Holle, letzte am besten ausgearbeitet und der Himmel cm schlech- 3< 
testen — Je alter ein Madchen oder ein eingepokelter Hering sei, 
desto dunkler sei an beiden das Auge, das durch die Liebe so 

1 Adjuvans ist das Ingredienz, das die Krafte der Hauptingredienzien 
starkt; constituens ist, was der Arzenei die Form einer Pille oder Latwerge 
oder Mixtur erteilt. 

3 Wie man sagt: Erbsenkoch, Nudelkoch. 



24. HUNDPOSTTAG 863 

werde - Jede Frau aus einem hohern Zirkel miisse froh sein, daB 
sie vom Manne, an den sie gekettet sei, nichts zu behalten brauche 
als sein Bild im Ring, wie Prometheus, da Jupiter einmal ge- 
schworen, ihn 30000 Jahre am Kaukasus gelotet zu lassen, wah- 
rend derselben bloB ein wenig von dieser Bastille an der Hand 
getragen in einem Fingerring.« - Dann ging Matthieu eilend hin- 
aus, •welches er allemal nach witzigen Entziindungen tat. Viktor 
liebte die bitterste ungerechteste Satire im fremden Munde, als 
Kunstwerk; er verzieh alles und blieb heiter. 

10 Joachime sagte dann scherzhaft: »Wenn also keine Manier der 
Liebe etwas taugt, wie Sie beide bewiesen haben, so bleibt uns 
nichts iibrig, als zu hassen.« - »Doch nicht, « (sagt' er:) »Ihr Herr 
Bruder hat nur kein wahres Wort gesagt. Stellen Sie sich vor, ich 
ware der Armenkatechet und verliebt — in die zweite Tochter des 
Pastor primarius bin ichs - ihre Rolle ist die einer Horschwester; 
denn die biirgerlichen Madchen wissen nicht zu reden, wenigstens 
mehr in HaB als in der Liebe - Der Armenkatechet hat wenig bel 
esprit, aber viel saint esprit, viel Ehrlichkeit, viel Treue, zu viel 
Weichherzigkeit und unendliche Liebe - der Katechet kann keine 

20 galante Intrige anspinnen auf einige Wochen oder Monate, noch 
weniger kann er die zweite Pastorstochter in die Liebe hinein- 
disputieren, wie ein roue - er schweigt, um zu hoffen; aber mit 
einem Herzen voll ewiger Liebe, voll opfernder Wunsche be- 
gleitet er zagend und still alle Schritte der Geliebten und - Lie- 
benden - aber sie errat ihn nicht, und er sie nicht. Und dann stirbt 
sie . . . Aber vorher, eh' sie stirbt, tritt der bleiche Katechet trostlos 
vor ihr Abschiedlager und driickt die zitternde Hand, eh' sie er- 
schlafFt, und gibt dem kalten Auge noch eine Freudentrane, eh' 
es erstarret, und dringet noch unter die Schmerzen der kampfen- 

3° den Seele mit dem sanften Friihlinglaute hinein: ich liebe dich - 
Wenn ers* gesagt hat, stirbt sie an der letzten Freude, und er liebt 
dann auf der Erde weiter niemand mehr.«... 

Die Vergangenheit hatte seine Seele iiberfallen - Tranen hin- 
gen in seinen Augen und mischten Klotildens Krankenbild in 
einer sonderbaren Verdunklung mit Joachimens ihrem zusammen 
- er sah und dachte eine Gestalt, die nicht da war - er driickte die 



864 HESPERUS 

Hand derjenigen, die ihn ansah, und dachte nicht daran, daB sie 
alles auf sich beziehen konnte. 

PIdtzlich trat lachelnd Matthieu herein, jind die Schwester 
lachelte nach, um alles zu erklaren, und sagte: »Der Herr Hof- 
medikus gab sich bisher die Mtihe, dich zu widerlegen.« Viktor, 
schnell erkaltet, versetzte zweideutig und bitter: »Sie begreifen, 
Herr v. Schleunes, daB es mir am leichtesten wird, Sie in die Flucht 
zu schlagen, wenn Sie nicht im Felde sind.« - Matz fixierte ihn; 
aber Viktor schlug sanft sein Auge nieder und bereuete die Bitter- 
keit. Die Schwester fuhr gleichgultig fort: »Ich glaube, mein Bru- i< 
der ist oft im Falle, mit der Fagon zu wechseln.« - Er nahm es 
heiter lachend auf und dachte wie Viktor, sie ziele auf seine ga- 
lanten Abenteuer und Lusttreffen mit Weibern aus alien Standen, 
die auf dem Landtag sitzen. - Aber da sie ihn fortgeschickt hatte, 
um bei ihrer Mutter anzufragen, wer heute abends zum Cercle 
komme, so sagte sie dem Medikus: »Sie wissen nicht, was ich 
meinte. Wir haben am Hofe eine kranke Dame, die Ihre leibhafte 
Pastorstochter ist - Und mein Bruder hat nicht so viel und nicht 
so wenig Geist, um den Armenkatecheten zu machen.« Viktor 
fuhr zuruck, brach ab und ging ab. *< 

Warum? Wieso? Weswegen? - Aber merkt man denn nicht, 
daB die kranke Dame Klotilde sein soil, die Matzens feinen An- 
naherungen zur Schall- und SchuBweite des Herzens zu entfliehen 
sucht? Oberhaupt hatte Viktor wohl gesehen, daB der Evangelist 
gegen Klotilden bisher eine verbindlichere Rolle spielte, als er vor 
ihrem Einzuge in sein Eskurial und RaubschloB durchmachte; 
aber Viktor hatte diese Hof lichkeit eben diesem Einquartieren zu- 
geschrieben. Jetzo hingegen lag die Karte von dessen Plane auf- 
geschlagen da: er hatte einer gegen ihn gleichgultigen Person 
darum mit dem Scheine der Verachtung (die er aber fein mehr y 
auf ihren kianftigen kleinen Kassenbestand als auf ihre Reize fallen 
lieB) absichtlich begegnet, um dadurch ihre Aufmerksamkeit - 
diese Turnachbarin der Liebe - und nachher durch den schnellen 
Wechsel mit Gefalligkeit noch mehr als diese Aufmerksamkeit zu 
gewinnen. O ! du kannst nichts gewinnen ! rief in Viktor jeder 
Seufzer. Aber doch gab es ihm Schmerzen, daB diese Edle, dieser 



24. HUNDPOSTTAG 865 

Engel mit seinen Fliigeln einen solchen Widersacher schlagen 
miisse. - Nun wurden ihm dreiBig Dinge zugleich verdachtig: 
Joachimens ErorThung und Kalte, Matthieus Lacheln und - alles. 
So weit dieses Kapitel, dem ich nur noch einige reife Gedanken 
anhange. Man sieht doch offenbar, daB der arme Viktor seine 
Seek fur jede weibliche, wie jener Tyrann die Bettgenossen fiir 
das Bette, kleiner verstiimmelt. FreiHch ist Achtung die Mutter 
der Liebe; aber die Tochter wird oft einige Jahre alter als die 
Mutter. Er nimmt eine HofFnung des weiblichen Werts nach der 

10 andern zuriick. Am spatesten gab er zwar seine Foderung oder 
Erwartung jenes erhabenen indischen Gefuhls fiir die Ewigkeit 
auf, das uns, diesen im magischen Rauche von Leben hangenden 
Schattenfiguren, einen unausloschlichen Lichtpunkt zum Ich er- 
teilt, und das uns uber mehr als eine Erde hebt; aber da er sah, daB 
die Weiber unter alien Ahnlichkeiten mit Klotilden diese zuletzt 
erhalten; und da er bedachte, daB das Weltleben alles GroBe am 
Menschen wegschleife, wie das Wetter an Statuen und Leichen- 
steinen gerade die erhabnen Telle wegnagt: so fehlte ihm nichts, 
um Joachimen die schon lange ins reine geschriebene Lieberkla- 

20 rung zu iibergeben, nichts als von ihrer Seite ein Ungliick - ein 
nasses Auge - ein Seelensturm - ein Kothurn. Mit deutlkhern 
Worten: er sagte zu sich: »Ich wollte, sie ware eine empfindsame 
Narrin und gar nicht auszuhalten. Wenn sie dann einmal die Augen 
recht voll hatte und das Herz dazu, und wenn ich dann vor Run- 
ning nicht wiiBte, wo mir der Kopf stande: so konnt* ich dann 
anrucken und mein Herz herausbringen und es ihr hinlangen und 
sagen: es ist des armen Bastians seines, behalt es nur.« Mir ist, als 
hort* ich ihn leise dazu denken : »Wem will ichs welter geben?« - 
DaB er das erste wirklich gedacht hat, sehen wir daraus, weil 

30 ers in sein Tagebuch hineingesetzt, aus dem mein Korrespondent 
alles zieht, und das er mit der Aufnchtigkeit der freiesten Seele 
fiir seinen Vater machte, um gleichsam seine Fehler durch das 
Protokollieren derselben auszusohnen. Sein italienischer Lakai 
tat fast nichts, als es mundieren. - - Hinge ich nicht vom Hunde 
und seiner Zeitungkapsel ab, so fiele seine Lieberklarung noch 
heute vor; ich brache Joachimen etwan einen Arm - oder legte 



866 HESPERUS 

sie ins Krankenbette - oder bliese dem Minister das Lebenslicht 
aus — oder richtete irgendein Ungluck in ihrem Hause an — und 
ftihrte dann meinen Helden hin zur leidenden Heldin und sagte : 
»Wenn ich fort bin, so knie nieder und iiberreich' ihr dein Herz.« - 
So aber kann der chymische ProzeB .seiner Verliebung noch so 
lang werden wie ein juristischer, und ich bin auf drei Alphabete 
gefaBt. 

Hier aber will ich etwas bekennen, was der Leser aus Hochmut 
verheimlicht: daB ich und er bei jeder auftretenden Dame in die- 
sen Posttagen einen Fehlschufi zum Salutieren getan - jede hielten 10 
wir fur die Heldin des Helden - anfangs Agathen - dann Klotilden 
- dann, als er in die Uhr der Fiirstin seine Lieberklarung sperrte, 
sagte ich: »Ich weiB schon den ganzen Handel voraus« - dann 
sagten wir beide : »Wir hatten doch recht mit Klotilden« - dann 
griff ich aus Not zu Marien und sagte : »Ich will mir aber weiter 
nichts merken lassen« - endlich wirds eine, an die keiner von uns 
nur dachte (wenigstens ich nicht), Joachime. - So kann mirs sel- 
ber ergehen, wenn ich heirate 

Eh' ich zum Schalttage aus dem Posttag iibergehe, sind hoch 
folgende Minuten zu passieren: Klotilde legte die Kebs-Wangen, zc 
die joues de Paris, die Schminke, ab und setzte jetzt ihr einwel- 
kendes Herz seltener dem Druck der Hof-Serviettenpresse aus. 
Der Fiirst, der ihrentwegen im Horsaale seiner Gemahlin hospi- 
tiert hatte, blieb ofter aus und sprach dann bei Schleunes ein: 
gleichwohl dachte die Fiirstin edel genug, um nicht unsern Viktor 
durch eine Zuriicknahme des Danks die Zuriicknahme der Jenner- 
schen Gunst entgelten zu lassen. - In Viktor war ein langer Krieg, 
ob er Klotildens Bruder die neuen Beweise ihrer Schwesterliebe 
sagen sollte : — endlich - da Flamins leidendes, verarmtes, von 
Relationen und Schelmen und Argwohn zerstochenes Herz ihn 3c 
bewegte, und da er diesem rechtschaffenen Freunde bisher so 
wenig Freude machen konnte - sagte er ihm (die Verwandtschaft 
ausgenommen) fast alles. 

Postskripti Endesunterschriebener soil hiemit auf Verlangen 
bezeugen, daB Endesunterschriebener seinen 24sten Posttag or- 



SECHSTER SCHALTTAG 867 

dentlich am Letzten des Juliusmonats oder des Messidors zu Ende 
gebracht hat. Auf der Insel St, Johannis 1793. 

Jean Paul, 
Scheeranischer Berghauptmann 



Sechster Schalttag 
Ober die Wiiste und das gelobte Land des Menschengeschlechts 

Es gibt Pflanzenmenschen, Tiermenschen und Gottmenschen.- 
Als wir getraumt werden sollten: wurde ein Engel duster und 
entschlief und traumte. Es kam Phantasus 1 und bewegte gebrochne 
10 Lufterscheinungen, Dinge wie Nachte, Chaosstiicke, zusamnien- 
geworfhe Pfianzen vor ihm und verschwand damit. 

Es kam Phobetor und trieb tierische Herden, die unter dem 
Gehen wurgten und graseten, vor ihm voriiber und verschwand 
damit. 

Es kam Morpheus und spielte mit seligen Kindern, mit be- 
kranzten Miittern, mit kiissenden Gestalten und mit fliegenden 
Menschen vor ihm, und als die Entzuckung den Engel weckte, 
war Morpheus und das Menschengeschlecht und die Weltge- 
schichte verschwunden . . . 
*<> - Jetzo schlaft und traumt der Engel noch - wir sind noch in 
seinem Traum - erst Phobetor ist bei ihm, und Morpheus wartet 
noch darauf, daB Phobetor mit seinen Tieren verschwinde ... 

Aber lasset uns, statt zu traumen, denken und hoffen; und jetzt 
fragen : werden auf Pflanzenmenschen^ auf Tiermenschen endlich 
Gottmenschen kommen? Verrat der Gang der Welt-Uhr so viel 
Zweck wie der Bau derselben, und hat sie ein Zifferblatt-RzA und 
einen Zeigerl 

Man kann nicht (wie ein bekannter Philosoph) von Endab- 
sichten in der Physik sofort auf Endabsichten in der Geschichte 

30 * Der Gott des Schlafes wurde von drei ^esen umgeben, von Phantasus, 
der sich nur in Ieblose Dinge verwandeln konnte, von Phobetor > der alle Tier- 
gestalten, und von Morpheus, der alle Menschengestalten annehmen und 
vorgaukeln konnte. Metamorph. L. II. Fab. 10. 



868 HESPERUS 

schlieBen-so wenig als ich, imeinzelnen,ausdem teleologischen 
(absichtvollen) Bau eines Menschen eine teleologische Lebens- 
geschichte desselben folgern kann, oder so wenig als ich aus dem 
weisen Bau der Tiere auf einen fortlaufenden Plan in der Welt- 
geschichte derselben schlieBen darf. Die Natur ist eisern, immer 
dieselbe, und die Weisheit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das 
Menschengeschlecht ist frei und nimmt wie das.AufguBtier, die 
vielgestaltete Vortizelle, in jedem Augenblkk bald regelmaBige, 
bald regellose Figuren an. Jede physische Unordnung ist nur die 
Hiilse einer Ordnung, jeder trube Friihling die Hiilse eines heitern 10 
Herbstes; aber sind denn unsere Laster die Bluteknospen unserer 
Tugenden, und ist der Erdfall eines fortsinkenden Bosewichts 
denn nichts als eine verborgne Himmelfahrt desselben? - Und ist 
im Leben eines Nero ein Zweck? Dann konnt' ich ebensogut alles 
zuriickgeben und umkehren und Tugenden zu Herzblattern ver- 
steckter Laster machen. Wenn man aber, wie mancher, den 
SprachmiBbrauch so weit treibt, daB man moratische Hohe und 
Tiefe, wie die geometrische, nach dem Standort umkehret, wie po- 
sitive und negative GroBen; wenn also alle Gichtknoten, Fleck- 
fieber und Blei- oder Silberkotiken des Menschengeschlechts nichts 20 
sind als eine andere Art von Wohlbefinden : so brauchen wir ja 
nicht zu fragen, ob es je genesen werde - es konnte ja dann in 
alien moglichen Krankheiten doch nichts sein als gesund. 

Wenn sich ein Monch des zehnten Jahrhunderts schwermiitig 
eingeschlossen und iiber die Erde, aber nicht iiber ihr Ende, son- 
dern iiber ihre Zukunft, nachgedacht hatte : ware nicht in seinen 
Traumen das dreizehnte Jahrhundert schon ein helleres gewesen 
und das achtzehnte bloB ein verklartes zehntes? 

Unsere Wetterprophezeiungen aus der gegenwdrtigen Tem- 
peratur sind logisch richtig und historisch falsch, weil neue Zu- 30 
falle, ein Erdbeben, ein Komet, die Strome des ganzen Dunst- 
kreises umwenden. Kann der gedachte Monch richtig berechnen, 
wenn er solche kiinftige GroBen wie Amerika, SchieBpulver und 
Druckerschwarze nicht ansetzt? - Eine neue Religion - ein neuer 
Alexander - eine neue Krankheit - ein neuer Franklin kann den 
Waldstrom, dessen Weg und Inhalt wir auf unserer Rechenhaut 



SECHSTER SCHALTTAG 869 

verjiingen wollen, brechen, verschluckerij dammen, umlenken. — 
Noch Hegen vier Weltteile voll angeketteter wilder Volker - ihre 
Kette wird taglich diinner — die Zeit schlieBet sie los - welche Ver- 
wiistung, wenigstens Veranderungen mussen diese nicht auf dem 
kleinen bowling-green unserer kultivierten Lander anrichten! - 
Gleichwohl mussen alle Volker der Erde einmal zusammengegos- 
sen werden und sich in gemeinschaftlicher Garung abklaren, 
wenn einmal dieser Lebens-Dunstkreis heiter werden soil. 
Konnen wir von einigen mit Eisenfeile und Scheidewasser (hier 

:o Lettern und Druckschwarze) selbst angelegten Miniatur-Erdbe- 
ben und Vulkanen auf die Atnas-Ausbriiche schlieBen, d.h. von 
den Umwalzungen der wenigen gebildeten Volker auf die der un- 
gebildeten? Da wir setzen diirfen, daB das Menschengeschlecht 
so viele Jahrtausende lebt als der Mensch Jahre: diirfen wir schon 
aus dem sechsten Jahre dem Jiinglings- und Mannsalter die Nativi- 
tat stellen? Dazu kommt, daB die Lebensbeschreibung dieses 
Kindes-Alters gerade am magersten ist, und daB aufgewachte 
Volker - fast alle Weltteile liegen voll schlafender - in einem Jahre 
mehr historischen Stofi und folglich mehr Historiker erzeugen als 

;o ein eingeschlafnes Afrika in einem Jahrhundert. Wir werden also 
aus der allgemeinen Welthistorie dann am besten prophezeien 
konnen, wenn die erwachenden Volker ihre paar Millionen Nach- 
tragbande gar dazugebunden haben werden. - Alle wilde Volker 
scheinen nur unter einem Pragstock gewesen zu sein ; hingegen die 
Randelmaschine der Kultur miinzet jedes anders aus. Der Nord- 
amerikaner und der alte Deutsche gleichen sich starker als Deutsche 
einander aus benachbarten Jahrhunderten. Weder die Goldne 
Bulle, noch die Magna charta, noch den Code noir konnte Ari- 
stoteles in seine Regier- und Gehorch-Formen hineinlegen : sonst 

,0 hatt' er sie weiter gemacht; aber getrauen wir uns denn, den kunf- 
tigen Nationalkonvent in der Mungalei oder die Dekretalbriefe 
und Extravaganten des aufgeklarten Dalai Lama oder die Rezesse 
der arabischen Reichs-Ritterschaft besser vorherzusehen? Da die 
Natur kein Volk mit einem Miinzstempel und einer Hand allein 
auspragt, sondern mit tausenden auf einmal - daher auf dem 
deutschen ein groBeres Gedrange von Abdriicken ist als auf 



87O HESPERUS 

Achilles' Schild -: wie wollen wir, die wir nicht einmal die ver- 
gangnen, aber einfacheren Umwalzungen des Erdballs nachrech- 
nen konnen, in die moralischen seiner Bewohrier schauen? — 

Von allem, was aus diesen Pramissen folgt, glaub' ich - das 
Gegenteil, ausgenommen die Notwendigkeit der prophetischen 
Demut. Der Skeptizismus, der uns, statt hartglaubig, unglaubig 
macht und statt der Augen das Licht reinigen will, wird zum Un- 
sinn und zur fiirchterlichsten philosophischen Kraft- und Ton- 
losigkeit. 

Der Mensch halt sein Jahrhundert oder sein Jahrfunfzig fur die 10 
Kulmination des Lichts, fur einen Festtag, zu welchem alle andre 
Jahrhunderte nur als Wochentage fiihren. Er kennt nur zwei 
goldne Zeitalter, das am Anfang der Erde, das am Ende derselben, 
worunter er nur seines denkt; die Geschichte fihdet er den groBen 
Waldern ahnlich, in deren Mitte Schweigen, Nacht und Raub- 
vogel sind, und deren Rand bloB Licht und Gesang erfullen. - 
Allerdings dienet mir alles; aber ich diene auch allem. Da es fur 
die Natur, die bei ihrer Ewtgkeit keinen Zeitverlust, bei ihrer Un- 
erschopflichkeit keinen Kraftverlust kennt, kein anderes Gesetz 
der Sparsamkeit gibt als das der Verschwendung - da sie mit Eiern 2< 
und Samenkornern ebensogut der Ernahrung als der Fortpjflaniung 
dient und mit einer unentwickelten Keim-Welt eine halbe ent- 
wickelte erhalt - da ihr Weg iiber keine glatte Kegelbahn, son- 
dern iiber Alpen und Meere geht: so muB unser kleines Herz sie 
miBverstehen, es mag hoffen oder furchten; es muB in der Auf- 
klarung Morgen- und Abendrote gegenseitig verwechseln^ es muB 
im Vergnugen bald den Nachsommer fur den Fruhling, bald den 
Nachwinter fiir den Herbst ansehen. Die moralischen Revolutionen 
machen uns mehr irre als die physischen, weil jene ihrer Natur nach 
einen grofiern Spiel- und Zeitraum einnehmen als diese - und y 
doch sind die finstern Jahrhunderte nichts als eine Eintauchung 
in den Schatten des Saturns oder eine Sonnenfinsternis ohne Ver- 
weilen. Ein Mensch, der sechstausend Jahre alt ware, wurde zu 
den sechs Schopfungtagen der Weltgeschichte sagen : sie sind gut. 

Man sollte aber niemals moralische und physische Revolutionen 
und Entwickelungen zu naheaneinanderstellen. Die ganze Natur 



SECHSTER SCHALTTAG 871 

hat keine andere Bewegungen als vorige, der Zirkel ist ihre Bahn, 
sie hat keine andere Jahre als platonische - aber der Mensch allein 
ist veranderlich, und die gerade Linie oder der Zickzack fuhren 
ihn. Eine Sonne hat so gut wie der Mond ihre Finsternisse, so 
gut wie eine Blume ihre Bliite und Abblute, aber auch ihre Palin- 
genesie und Erneuerung. Allein im Menschengeschlecht liegt die 
Notwendigkeit einer ewigen Veranderung; jedoch hier gibts nur 
auf- und niedersteigende Zeichen, keine Kulmination; jene ziehen 
nicht einander notwendig nach sich, wie in der Physik, und haben 

[o keine auBerste Stufe. Kein Volk, kein Zeitalter kommt wieder; in 
der Physik mu8 alles wiederkommen. Es ist nur zufallig, nicht 
notwendig, da8 Volker in einem gewissen Stufenalter, auf einer 
gewissen miirben Sprosse wieder heruntersturzen — man ver- 
wechselt nur die let^te Stufe, von welcher Volker fallen, mit der 
hochsten; die Romer, bei denen keine Sprosse, sondern die ganze 
Leiter brach, muBten nicht notwendig durch eine Kultur sinken 1 , 
die nicht einmal an unsere reicht. Volker haben kein Alter, oder 
oft geht das Greisenalter vor dem Jiinglingalter. Schon bei dem 
Einzelwesen ist der Krebsgang des Geistes im Alter nur zufallig; 

to noch weniger hat die Tugend darin eine Sommer-Sonnenwende. 
- Die Menschheit hat also zu einer ewigen Verbesserung Fahig- 
keit; aber auch Hoffnung? - 

Das gestorte Gleichgewicht der eignen Krafte macht den ein- 
zelnen Menschen elend, die Ungteickhett der Burger, die Un- 
gteichheit der Volker macht die Erde elend; so wie alle Blitze aus 
der Nachbarschaft der Ebbe und Flut des Athers entstehen und 
alle Sturme aus ungleichen Luftverteilungen. Aber zum Gliick 
Hegts in der Natur der Berge, die Taler zu fullen. 

Nicht die Ungleichheit der Giiter am meisten - denn dem 

*o 1 Auch nicht durch den Luxus, dessen GroBe man - indem man ihre Aus- 
gabe mit unserer Einnahme vergleicht - iibertreibt, und der ihnen nur da- 
durch schadete, daB sie die Volker gleichsam wie ostindische Vettern 
beerbten. Es war der eines Schusters, der das groBe Los gewonnenjes war 
die Verschwendung eines Soldaten nach der Plunderung. Daher hattensie 
Luxus ohne Verfeinerung. Es konnte siclt ihre Grofie. nur durch Vergrofierung 
erhalten. Hatte man ihnen Amerika mit seinen Goldstangen vorgeworfen, 
sie hatten bei groBerm Luxus noch einige Jahrhunderte langer an dieser 
.Kriicke gehenkonnen. 



872 HESPERUS 

Reichen halt die Stimmen- und Fauste-Mehrheit der Armen die 
Waage -, sondern die Ungleichheit der Kultur macht und ver- 
teilt die politischen Druckwerke und Druckpumpen. Die lex 
agraria in Feldern der Wissenschaften geht zuletzt auch auf die 
physischen Felder iiber. Seitdem der Baum des Erkenntnisses 
seine Aste aus den philosophischen Schulf ens tern und priester- 
lichen Kirchenj ens tern hinausdrangt in den allgemeinen Garten : 
so werden alle Volker gestarkt. - Die ungleiche Ausbildung kettet 
Westindien an den FuB Europas, Heloten an Sparter, und der 
eiserne Hohlkopf 1 mit dem Driicker auf der Neger-Zunge setzt u 
einen Hohlkopf anderer Art voraus. 

Bei der furchterlichen Ungleichheit der Volker in Macht, Reich- 
turn, Kultur kann nur ein allgemeines Stiirmen aus alien Kom- 
paB-Ecken sich mit einer dauerhaften Windstille beschlieBen. Ein 
ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier 
ubrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen ab- 
gerechnet, unserer KugeL versprechen kann. Man wird kunftig 
ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken. Ein Volk 
muB das andere aus semen Tolpeljahren Ziehen. Die gleichere 
Kultur wird die Kommerzientraktate mit gleichern Vorteilen ab- 21 
schlieBen. Die langsten Regenmonate der Menschheit - in welche 
die Volkerverpflanzungen allzeit fielen, so wie man Blumen all- 
zeit an truben Tagen versetzt - haben ausgewittert. Noch steht 
ein Gespenst aus der Mitternacht da, das weit in die Zeiten des 
Lichts hereinreicht - der Krieg. Aber den Wappen-Adlern wach- 
sen Krallen und Schnabel so lange, bis sie sich, wie Eberhauer, 
kriimmen und sich selber unbrauchbar machen. Wie man vom 
Vesuv berechnete, daB er nur zu 43 Entziindungen noch StofF 
verschlieBe: so konnte man auch die kunftigen Kriege zahlen. 
Dieses lange Gewitter, das schon seit sechs Jahrtausenden tiber 3 
unserer Kugel steht, stiirmt fort, bis Wolken und Erde ein- 
ander mit einem gleichen MaB von Blitzmaterie vollgeschlagen 
haben. 

Alle Volker werden nur in gemeinsckaftlicher Aufbrausung 

1 Bekanntlich wird der Kopf des armen Negers in einen hohlen von Eisen 
gesperrt, der seine Zunge niederdriickt. 



SECHSTER SCHALTTAG 873 

hell; und der Niederschlag ist Blut und Totenknochen. Ware die 
Erde urn die Halite verengert: so ware auch die Zeit ihrer mora- 
lischen-und physischen-Entwickelungum die Halfte verkiirzt. 

Mit den Kriegen sind die starksten Hemmketten der Wissen- 
schaften abgeschnitten. Sonst waren Kriegsmaschinen die Sae- 
maschinen neuer Kenntnisse, indes sie alte Ernten unterdruckten; 
jetzo ists die Presse, die den Samenstaub weiter und sanfter wirft. 
Statt eines Alexanders brauchte nun Griechenland nichts nach 
Asien zu schicken als einen - Setzer; der Eroberer pelzet, der 
10 Schriftsteller saet. 

Es ist eine Eigenheit der Auf klarung, daB sie, ob sie gleich den 
Einzelwesen noch die Tauschung und Schwache des Lasters mog- 
lich lasset, doch Volker von Kompagnie-Lastern und von Natio- 
nal-Tauschungen - z. B. von Strandrecht, Seeraub - erloset. Die 
besten und schlimmsten Taten begehen wir in Gesellschaft; ein 
Beispiel ist der Krieg. Der Negerhandel muB in unsern Tagen, es 
miiBte denn der Untertanenhandel anfangen, aufhoren. 1 

Die hochsten steilsten Thronen stehen wie die hochsten Berge 
in den warmsten Landern. Die politischen Berge werden wie die 
20 physischen taglich kiirzer (zumal wenn sie Feuer speien) und 
miissen endlich mit den Talern in einer - Ebene liegen. 

Aus allem diesem folgt: 

Es kommt einmal ein goldnes Zeitalter, das jeder Weise und 
Tugendhafte schon jetzo genieBet, und wo die Menschen es leich- 
ter haben, gut zu leben, weil sie es leichter haben, iiberhaupt zu 
leben - wo einzelne, aber nicht Volker siindigen - wo die Men- 
schen nicht mehr Freude (denn diesen Honig ziehen sie aus jeder 
Blume und Blattlaus), sondern mehr Tugend haben - wo das 
Volk am Denken, und der Denker am Arbeiten' Anteil nimmt, 
30 damit er sich die Heloten erspare - wo man den kriegerischen und 
juristischen Mord verdammt und nur zuweilen mit dem Pftuge 
Kanonenkugeln aufackert — Wenn diese Zeit da ist: so stockt 
beim Obergewicht des Guten die Maschine nicht mehr durch 

1 Im Jahr 1792 geschrieben. 

1 Der Millionar setzt Bettler, der Gelehrte Heloten voraus; die hohere 
Bildung der Einzelnen wird mit der Verwilderung der Menge erkauft. 



874 HESPERUS 

Reibungen - Wenn sie da ist: so liegt nicht notwendig in der 
menschlichen Natur, dafi sie wieder ausarte und wieder Gewitter 
aufziehe (denn bisher lag das Edle bloB im fliehenden Kampfe mit 
dem ubermachtigen Schlimmen), so wie es, nach Forster, auch 
auf der heiBen St. Helenen-Insel 1 kein Gewitter gibt. - 

Wenn diese Festzeit kommt, dann sind unsre Kindeskinder - 
nicht mehr. Wir stehen jetzo am Abend und sehen nach unserm 
dunkeln Tag die Sonne durchgluhend untergehen und uns den 
heitern stillen Sabbattag der Menschheit hinter der letzten Wolke 
versprechen ; aber unsre Nachkommenschaft geht noch durch eine i < 
Nacht voll Wind und durch einen Nebel voll Gift, bis endlich 
iiber eine glucklichere Erde ein ewiger Morgenwind voll Bluten- 
geister, vor der Sonne ziehend, alle Wolken verdrangend, an 
Menschen ohne Seufzer weht. Die Astronomie verspricht der 
Erde eine ewige Friihling-Tag- und Nachtgleiche 8 ; und die Ge- 
schichte verspricht ihr eine hohere; vielleicht fallen beide ewige 
Friihlinge ineinander. - 

Wir Niedergesenkte, da der Mensch unter den Menschen ver- 
schwindet, miissen uns vor der Menschheit erheben. Wenn ich an 
die Griechen denke : so seh' ich, daB unsere Hoffnungen schneller *< 
gehen als das Schicksal. - Wie man mit Lichtern nachts iiber die 
Alpen von Eis reiset, um nicht vor den Abgriinden und vor dem 
langen Wege zu erschrecken : so legt das Schicksal Nacht um uns 
und reicht uns nur Fackeln fur den nachsten Weg, damit wir uns 
nicht betrtiben iiber die Kliifte der Zukunft und iiber die Entfer- 
nung des Ziels. - Es gab Jahrhunderte, wo die Menschheit mit 
verbundnen Augen gefiihrt wurde - von einem Gefangnis ins 
andere; - es gab andere Jahrhunderte, wo Gespenster die ganze 
Nacht polterten und umstiirzten, und am Morgen war nichts ver- 
riickt; es kann keine andern Jahrhunderte geben als solche, wo 3= 
Einzelwesen sterben, wenn Volker steigen, wo Volker zerfallen, 
wenn das Menschengeschlecht steigt; wo dieses selber sinkt und 

1 J 79 2 geschrieben. Jetzo liegt sogar das Gewitter, das sonst am Himmel 
iiber ganz Europa stand, dort auf platter Erde. 

1 Denn nach 400000 Jahren stent die Erdachse, wie Jupiter jetzt, senk- 
recht auf ihrer Bahn. 



25. HUNDPOSTTAG 875 

stiirzt und endigt mit der verstiebenden Kugel... Was trostet 



■uns? - 

Ein verschleiertes Auge hinter der Zeit, ein unendliches Herz 
jenseits der Welt. Es gibt eine hohere Ordnung der Dinge, als 
wir erweisen konnen - es gibt eine Vorsehung in der Weltge- 
schichte und in eines jeden Leben, welche die Vernunft aus Kiihn- 
heit leugnet, und die das Herz aus Kiihnheit glaubt - es muB eine 
Vorsehung geben, die nach andern Regeln, als wir bisher zum 
Grunde legten, diese verwirrte Erde verkniipft als Tochterland 
° mit einer hohern Stadt Gottes - es muB einen Gott, eine Tugend 
und eine Ewigkeit geben. 



25. HUNDPOSTTAG 

Verstellte und wahre Ohnmacht Klotildens - Julius - 
Emanuels Brief iiber Gott 



Gutes, schones Geschlecht! Zuweilen wenn ich ein demantenes 
Herz iiber deinem warmen hangen sehe: so frag* ich: tragst du 
etwan ein abgebildetes darum auf deiner Brust, um dem Amor, 
dem Schicksal und der Verleumdung das gleiche Ziel ihrer ver- 
schiedenen Pfeile zu bezeichnen, wie der arme Soldat, der kniend 

o umgeschossen wird, durch ein in Papier geschnittenes Herz den 
Kugeln seiner Kameraden die Stelle des schlagenden anweist? — 
Wenn dieses Kapitel geendigt ist, wird mich der Leser nicht mehr 
fragen, warum ichs so angefangen habe . . . 

Einst kam Viktor von einem tagelangen Spaziergange zuriick, 
als ihm Marie mit einem Briefchen von Matthieu atemlos ent- 
gegenlief. Es stand die Frage darin, ob er ihn und seine Schwester 
nicht heute iiber St. Liine bis nach Kussewitz begleiten wollte. 
Das Laufen Mariens hatte bloB von einem reichen Botenlohn und 
Gnadengelde Matzens hergeruhrt, der arme Leute oft zugleich 

to beschenkte und persiflierte, wie er seine Schwester zugleich lie- 
benswurdig und lacherlich fand. Leuten, die ihn kannten, kam er 
daher komisch vor, wenn er ernsthaft sein muBte. Aber Viktor 



876 HESPERUS 

sagte Nein zur Mitreise; was recht gut war, denn beide waren 
ohnehin schon fort. Ich kann nicht bestimmen, obs nach zwei oder 
nach drei Tagen war, daB sie wiederkamen, die Schwester mit 
dem kaltesten Gesichte gegen ihn, und der Bruder mit dem warm- 
sten. Er konnte sich diese doppelte Temperatur nicht ganz er- 
klaren, sondern nur halb etwan aus Entdeckungen, die beide bei 
Tostato und dem Grafen O iiber seine Verkleidung und sein 
Buden-Drama konnten gemacht haben. Bisher war Joachimens 
Ziirnen immer erst eine Folge des seinigen gewesen; jetzo wars 
umgekehrt; dies verdroB ihn aber sehr. ic 

Einige Tage darauf stand er mit der Fiirstin und mit Joachimen 
in einem Fenster des ministerialischen Louvre. Die Unterhaltung 
war lebhaft genug; die Fiirstin uberzahlte die Buden auf dem 
Markte, Joachime sah dem schnellen Zkkzack einer Schwalbe 
nach, Viktor stand heimlich auf einem Beine (das andere stellt* er 
nur zum Schein und unbe laden auf den Boden), um zu versuchen, 
wie lang' ers aushalte. Auf einmal sagte die Fiirstin : »Heilige 
Maria! wie kann man doch ein armes Kind so eingesperrt in einem 
Kasten herumtragen !« Sie guckten alle auf die StraBe. Viktor 
nahm sich die Freiheit zu bemerken, daB das arme Kind von - *■<■ 
Wachs sei. Eine Frau trug einen kleinen Glasschrank vor sich 
hangend, worin ein wachserner eingewindelter Engel schlief; sie 
bettelte, wie andere, gleichsam auf dieses Kind, und das Kleine er- 
nahrte sie besser, als wenn es lebendig gewesen ware. Die Fiirstin 
verlangte die neue Erscheinung herauf. Die Frau trat zitternd mit 
ihrem Mumienkastchen ein und zog den kleinen Vorhang zuriick. 
Die Fiirstin hing ein kiinstlerisch-trunknes Auge an die schlafende 
holde Gestalt, die (wie ihr Stoffvon Wachs) aus Blumen geboren 
und in Friihlingen erzogen schien. Jede Schonheit drang tief in 
ihr Herz; daher liebte sie Klotilden so sehr und viele Deutsche so j< 
wenig. Joachime hatte nur ein Kind und eine Schonheit Heb — und 
beides war sie selber. Viktor sagte, diese wachserne Mimik und 
Kopie des Lebens nab' ihn von jeher triibe gemacht, und er konne 
nicht einmal seine eigne Wachs-Nachbildung in St. Liine ohne 
Schauder sehen. »Steht sie nicht in einem Oberrock am Fenster 
des Pfarrhauses?« fragte Joachime viel heiterer. »Nicht wahr?« 



25. HUNDPOSTTAG 877 

fragt* er wieder, »Sie dachten wohl vor einigen Tagen, ich war' es 
selber?« - Aus ihrer Miene erriet er ihren bisherigen Irrtum, der 
vielleicht mit beigetragen hatte, sie gegen ihn aufzubringen. Der 
Pater der Fiirstin kam dazu und fiigte - nach seiner Gewohnheit, 
zu huldigen - bei, er werd' ihn, um ihm das Sitzen zu ersparen, 
nachstens bloB nach seinem Wachsbild zeichnen. Der Pater war 
bekanntlich ein guter Zeichner. 

Ich lasse Begebenheiten, die weniger wichtig sind, unerzahlt 
liegen und gehe frohlich weiter. 

10 Es war schon im Marz, wo die hohern Stande wegen ihres 
sitzenden Winterschlafes mehr vollbliitig als kaltbliitig sind - 
wers nicht versteht, nimmt an, ihr UberfluB an Blute riihre mehr 
vom Aussaugen des fremden her -; wo die Krankheiten ihre Be- 
suchkarten in Gestalt der Rezepte beim ganzen Hof abgeben; wo 
die Augen der Fiirstin, das Ather-Embonpoint des Fiirsten und 
die gichtischen Han.de. des Hofapothekers die WinterstUrme fort- 
setzten: da war es schon, sag ich, als auch Klotilde den EinfluB 
des Winters und ihrer verdoppelten Abgeschiedenheit von Zer- 
streuungen und ihres Umgangs mit ihren Phantasien jeden Tag 

20 heftiger empfand . . . Wenn ich aufrichtig sein soil : so mess* ich 
ihrer Abgeschiedenheit wenig, aber ihrem vom Wohlstand auf- 
erlegten Umgang mit dem edlen Matz, mit den Schleunesschen, 
mit andern kaltblutigen Amphibien alles bei; ein unschuldiges 
Herz muB in dem moralischen Frostwetter, wie alabasterne Gar- 
tenstatuen im physischen, wenn jenes und wenn diese weiche ein- 
saugende Adern haben, Risse bekommen und brechen.- 

So stands mit ihr an einem wichtigen Tage, wo er bei ihr die 
kleine Julia fand. Diesen geliebten Namen legte sie dem Kinde des 
Seniors bei, des Mietherrn von Flamin, um ihre Trauersehnsucht 

50 nach ihrer toten Giulia durch einen ahnlichen Klang, durch den 
Rest eines Echo zu ernahren. »Dieser Trauerton« (sagte Viktor 
bei sich) »ist ja fur sie das willkommene feme Rollen des Leichen- 
wagens, der sie zu ihrer Jugendfreundin holt; und ihre Erwar- 
tung eines ahnlichen Schicksals ist ja der traurigste Beweis eines 
ahnlichen Grams.« Wenn noch etwas notig war, seine Freund- 
schaft von aller Liebe zu reinigen: so wars dieses schnelle Ent- 



878 HESPERUS 

blattern einer so schonenPassionblume; - gegenLeidende schamt 
man sich des kleinsten Eigennutzes. - Unter dem Gesprache, von 
dem sich die eifersiichtige Julia durch die Unverstandlichkeit aus- 
geschlossen fand, zupfte sie an der Bedientenklingel aus VerdruB; 
dennMadchenmachen schonum achtjahre fruherGefallansprtiche 
als Knaben. Klotilde verbot dieses Gelaute durch ein zu spates 
Interdikt; die Kleine, erfreuet, daB sie das hereilende Kammer- 
madchen in Bewegung gesetzt, suchte wieder an der Quaste zu 
zupfen. Klotilde sagte auf franzosisch zum Doktor: »Man darf ihr 
nichts zu monarchisch befehlen; jetzt ruht sie nicht, bis ich mein 10 
auBerstes Mittel versuche. - Julia !« sagte sie noch einmal mit einem 
weiten, von Liebe ubergossenen Auge; aber umsonst. »Nun sterb' 
kh!« sagte sie, schon dahinsterbend, und lehnte das schone, von 
einem scheidenden Genius bewohnte Haupt an den Stuhl zu- 
riick und schloB die frommen Augen zu, die nur in einem Himmel 
wieder aufzugehen verdienten. Indem Viktor bewegt und stumm 
vor der stfllen Scheintoten stand und bei sich dachte : »Wenn sie 
nun nicht mehr erwachte und du die starre Hand vergeblich 
rissest, und ihr letztes Wort auf dieser oden Erde gewesen ware: 
nun sterb' ich! - o Gott, gab' es dann ein anderes Mittel fur die 20 
Trostlosigkeit ihres Freundes als ein Schwert und die letzte Wun- 
de? Und ich faBte mit der kalten Hand ihre Hand und sagte: ich 
gehe mit dirk - indem er so dachte, und indem die Kleine wei- 
nend die sinkende Rechte zog: so wurde das Angesicht wirklich 
bleicher, und die Linke gleitete vom SchoB herab — hier wurde 

jenes Schwert mit der Scharfe iiber sein Herz gezogen Aber 

bald schlug sie wieder die irren Augen auf, todesschlaftrunken 
sich besinnend und schamend. Sie beschonigte die fluchtige Ohn- 
macht durch die Bemerkung: »Ich habe es wie jener Schauspieler 
mit der Urne seines Kindes gefnacht, ich dachte mich an die Stelle JO 
meiner Giulia in ihrer Ietzten Minute, aber ein wenig zu gliick- 
lich.« 

Er wollte eben medizinische Hirtenbriefe gegen diese zer- 
nagende Schwarmerei abfassen - so sehr iibersetzt eine ungliick- 
liche Liebe jedes weibliche Herz aus dem majore-Ton in den mi- 
nore-Ton, sogar einer Klotilde ihres, deren Stirn mannlich, und 



2 S . HUNDPOSTTAG 879 

deren Kinn sich fast mehr zum Mut als zur Schonheit erhob -, als 
ganz andere Hirtenbriefe kamen. Die Botenmeisterin derselben 
war Viktors gtilcklichere Freundin - Agathe. Lache wieder Leben, 
du Unbefangne, in zwei Herzen, auf welche der Tod seine fliegen- 
den Wolken-Schatten geworfen! Sie fiel vertraut in zwei freund- 
schaftliche Arme; aber gegen ihren Bruder Doktor, der so lange 
statt des ganzen Rumpfs nur seine Hand, d. h. seine Briefe, nach 
St. Liine hatte gehen lassen, war sie noch scheu. Ich kann aber 
seinen Fehler, aus einem Hause, das er ein Vierteljahr aus Griin- 

l0 den gemieden, nachher noch ein zweites ohne Griinde wegzu- 
bleiben, ich kann diesen Fehler nicht ganz verdammen, weil ich 
ihn - selber habe. - Sie konnte sich nicht satt an ihm sehen; ihr 
bliihendes Landgesicht wies ihm statt seiner jetzigen Karwoche 
des Grames eine Rdtebplchnung seiner und ihrer dahihgeflatterten 
Freudentage im Pfarrgarten. Er verhieB ihr feierlich,ihr Ostergast 
zu sein mit ihrem Bruder und statt der Kopfe und Fenster ein- 
ander nichts einzuschlagen als Eier; er rastete nicht, bis er der 
alte wieder war, und sie die alte. Da sie die Langduodez-Ge- 
schichte des Dorfes und Vaters den beiden nur aus Liebe lacheln- 

20 den Hofleuten gar nicht als eine Auszugmacherin oder in einer 
verstummelten Ausgabe ablieferte, sondern in der Lange ihrer 
Ruckenbander: so fuhlten Klotilde und Viktor, wie sanft ihnen 
dieses Niedersteigen von den bunten spitzen Hofgletschern in die 
weichen Taler der mittlern Stande tat, und sie sehnten sich beide 
weg von glatten Herzen an warme. Unter den Menschen und 
Borsdorferapfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die 
rauhen mit einigen Warzen. Dieses Sehnen nach aufrichtigern 
Seelen war es auch wohl, was aus Klotilden die Behauptung 
preBte: es gebe nur MiBheiraten zwischen den Seelen, nicht zwi^- 

30 schen den Standen. Daher kam ihre wachsende Liebe gegen die 
auBer dem Lohkasten eines Stammbaums, nur in der Gemeinhut 
griinende Agathe - welche Liebe einmal ich und der Leser im 
ersten Bande aus Scharfsicht fur den Deckmantel einer andern 
Liebe gegen Flamin erklart haben, und die uns beiden den Tadel 
gegen eine Heldin abgewohnen sollte, die ihn hintennach immer 
widerlegt. 



880 HESPERUS 

Auf der dicken Brieftasche, die Agathe brachte, war die Hand- 
schrift der Aufschrift von — Emanuel, welchen Klotilde alles an 
die Pfarrerin iiberschreiben lieB, um ihrer Stiefmutter das - Zu- 
machen ihrer Briefe abzunehmen. Die Frau Le Baut hatte diese 
Einsicht der Akten, diese Sokrates-Hebammenkunst im Mini- 
sterium erlernt, das ein Recht besitzt, Haussuchung in den Briefen 
aller Untertanen zu tun, weil es sie entweder fiir Pestkranke oder 
fur Gefangene halten kann, wenn es will. Wahrend die Stieftoch- 
ter im Nebenzimmer das auBere Paket erbrach, weil sie aus seiner 
Dicke einen EinschluB fiir den Doktor prophezeiete : hauchte 10 
letzter aus Zufall - oder aus Absicht ; denn seit einiger Zeit legte er 
iiberall seine Entzifferkanzleien der Weiber an, im engsten Win- 
kel, in jeder Kleidfalte, in den Spuren gelesener Biicher - haucht* 
er, sagt* ich, zufalligerweise an die Fensterscheiben, auf denen 
man sodann lesen kann, was ein warmer Finger daran geschrieben 
hat. Es traten nach dem unwillkiirlichen Hauche lauter franzo- 
sische, mit dem Fingernagel skizzierte Anfang-S heraus. »S!« - 
dacht' er - »das ist sonderbar: ich fange mich selber so an.« 

Seine Vermutungen brach die mit einem seligentwolkten An- 
gesicht wiederkommende Klotilde ab, die dem denkenden Medi- zo 
kus einen groBen Brief von Emanuel reichte. Nach dieser iweiten 
Freude folgte statt der dritten eine Neuigkeit; sie eroffnete ihm 
jetzt, »daB endlich Emanuel sie instand gesetzt, eine gehorsame, 
wenn auch nicht glaubige Patientin zu sein«. Sie hatte namlich 
bisher den Vorsatz ihres Gehorsams und ihrer Friihlingkur so 
lange verschwiegen, bis ihr Freund in Maienthal ihr ein Kranken- 
zimmer - gerade Giulias ihres - bei der Abtissin auf einige Lenz- 
monate ausgewirket hatte, damit da das Wehen des Friihlings ihre 
gesunknen Schwingen hebe, der Blumenduft das zerspaltne Herz 
ausheile, und der groBe Freund die groBe Freundin aufrichte. 30 

Viktor entwich eilend, nicht allein aus Hunger und Durst nach 
dem Inhalte seiner Hand, sondern weil eine neue Gedankenflut 
durch seine alten Gedankenreihen brach. - »Bastian!« (sagte Ba- 
stian un'terweges zu sich) »ich hielt dich oft fiir dumm, aber fiir so 
dumm nicht - Nein, es ist siindlich, wenn ein Mann, ein Hof- 
Medikus, ein Denker, monatelang dariiber spintisieret, oft halbe 



25. HUNDPOSTTAG 88l 

Abende, und doch die Sache nicht eher herausbringt, als wenn er 
sie hort, jetzt erst - Wahrlich sogar das Fenster-S passet an!« - 
Ich und der Leser wollen ihm das aus den Handen nehmen, womit 
er sich hier vor uns steinigt; denn er wirft nach uns beiden eben- 
sogut, weil wir ebensogut nichts erraten haben wie er. Kurz, der 
versteckte Gluckliche, der die schdne Klotilde zur Unglucklichen 
macht, und fur den sie ihre stumme scheue Seele ausseufzet, und 
der fur ihre meisten Reize gar keine Augen hat, ist der blinde - 
Julius in MaienthaL Daher will sie hin. 

10 Ich wollt' einen Folioband mit den Beweisen davon voll- 
bringen: Viktor zahlte sie sich an seinen fiinf Fingern ab. Beim 
Daumen sagt' er: »Des Julius wegen sucht sie die kleine Julia, so 
ists auch mit Giulia« - beim Schreibflnger sagte er: »Das franzo- 
sische Anfang-J sieht wie ein S ohne Querstrich aus« - beim 
Mittelfinger: »Die Minerva hat ihm ja nicht bloB die Flote, son- 
dern auch Minervens schones Gesicht beschert, und in dieses 
blinde Amors-Gesicht konnte Klotilde sich ohne Erroten ver- 
tiefen; schon aus Liebe gegen seinen Freund Emanuel hatte sie ihn 
geliebt« - beim Ringfinger: »Daher ihre Verteidigung der MiB- 

20 heiraten, da sein biirgerlicher Ringfinger an ihren adeligen kom- 
men soll« - beim Ohrfinger: »Beim Himmel! das alles beweiset 
nicht das geringste.« 

Denn nun uberstromten ihn erst die ganzen Beweise: im ersten 
Bande dieses Buchs kam oft ein unbekannter Engel zu Julius und 
sagte : »Sei fromm, ich schweb' um dich, ich beschirme deine ein- 
gehullte Seele - ich gehe in den Himmel zuriick.« - 

Zweitens: dieser Engel gab einmal Julius ein Blatt und sagte: 
»Verbirg es, und nach einem Jahr, wenn die Birken im Tempel 
griinen, laB es dir von Klotilden vorlesen: ich entfliehe, und du 

30 horst mich nicht eher als uber ein Jahr.« — Alles das lag ja Klo- 
tilden wie angegossen an : sie konnte dem Blinden nie ihr sterben- 
des Herz aufdecken - sie ging gerade jetzt (wie lange ist noch auf 
Pfingsten?) nach Maienthal, um das Blatt, das sie ihm in der Cha- 
raktermaske eines Engels gereicht, selber vorzulesen - endlich 
ging sie ja gerade damals nach St. Liine ab — kurz, aufs Haar 
trifft alles zu. 



882 HESPERUS 

Wenn der Lebensbeschreiber ein Wort dareinsprechen dtirfte: 
so war' es dieses: Der Berghauptmann, der Lebensbeschreiber, 
glaubt seines Orts alles recht gern; aber Klotilden, die bisher aus 
jedem Schmutznebel weiB strahlend herausging, und an der man, 
wie an der Sonne, so oft Wolken mit Sonnenflecken vermengte, 
kann er so lange nicht tadeln, bis sie es selber vorher tut. Viktor 
hat sogar, wie ich in der ersten Auflage, manche Beweise ver- 
gessen, die fur Klotildens Liebe gegen Julius reden : z. B. den war- 
men Anteil an dessen Blindheit und ihren Wunsch seiner Heilung 
(im Briefe an Emanuel), Flamins veraltete Eifersucht in Maien- i< 
thai, sogar die Wonne, mit der sie im Schauspielhaus das Tal ein 
Eden nennt und die Lethe ausschlagt. 

Viktor riB das Paket entzwei, und zwei Blattchen fielen aus 
einem groBen Blatte heraus. Das eine Blattchen und das groBe 
Blatt waren von Emanuel, das zweite vom Lord. Er studierte das 
letzte, in doppelten ChifTern geschriebne zuerst; folgendes: 

»Im Herbst komm* ich, wenn die Apfel reifen. — Die Dreieinig- 
keit« (der Lord meint des Fiirsten drei Sohne) »ist gefunden; aber 
die vierte Person in der Gottheit« (der vierte Iustige Sohn) »fehlet. 
- Fliehe aus dem Palaste der Kaiserin aller ReuBen,« (- mit dieser * 
ChifTer hatten beide den Minister Schleunes zu bezeichnen vef- 
abredet -) »aber die GroBfiirstin (Joachime) meide noch mehr : sie 
will nicht lieben, sondern herrschen, sie will kein Herz, sondern 
einen Furstenhut. - In Rom« (er meint Agnola) »hiite dich vor 
*dem Kruzifix, aus dem ein Stilett springt! Denk an die Insel, eh' 
du fehlest.« 

Viktor erstaunte anfangs iiber die zufallige Angemessenheit 
dieser Verbote; aber da er sich bedachte, daB er sie ihm schon auf 
der Insel gegeben haben wiirde, wenn sie sich nicht auf seine 
neuern Begebenheiten bezogen : so erstaunt' er noch mehr iiber 3< 
die Kanale, durch welche seinem Vater die Spionen-Depeschen 
von Seinen jetzigen Verhaltnissen zugekommen sein mogen 
(- konnte denn mein Korrespondent und Spion nicht auch des 
Vaters seiner sein? -), und am meisten uber die Warnung vor 



25. HUNDPOSTTAG 883 

Joachimen. »0! wenn diese gegen mich falschware!« sagte er 
seufzend und mochte das triibe Bild und den Seufzer nicht voll- 

enden. Sondern er vertrieb beide durch das kleine Blatt von 

Emanuel, das so klang: 

»Mein Sohn! 

Die Morgenrote des Neujahrs schien iiber den Schnee an mein 
Angesicht, als ich das Papier hinlegte,« (Emanuels zweiten, so- 
glekh folgenden Brief) »auf das ich zum letzten Male meine Seele 
mit alien ihren iiber diese Kugel hinausreichenden Bildern ab- 

o zudrucken suchte. Aber die Flammen meiner Seele wehen bis zum 
Korper und sengen den mtirben Lebensfaden ab; ich muBte oft 
die zu leicht blutende Brust vom Papier und von der Entzuckung 
wegwenden. 

Ich habe, mein Sohn, mit meinem Blut an dich geschrieben. - 
Julius denkt jetzo Gott. - Der Lenz gluht unter dem Schnee und 
richtet sich bald auf aus dem Grunen und bluht bis an die Wolken. 
- Meine Tochter (Klotilde) fiihrt den Friihling an der Hand und 
kommt zu mir - Sie nehme meinen Sohn an die andre Hand und 
lege ihn an meine Brust, worin ein zerlaufender Atem istoind ein 

o ewiges Herz . . . O wie tonen die Abendglocken des Lebens so me- 
lodisch um mich! - Ja wenn du und deine Klotilde und tinser Ju- 
lius, wenn wir alle, die wir uns lieben, beisammen stehen; wenn 
ich eure Stimmen hore: so werd' ich gen Himmel blicken und 
sagen : die Abendglocken des Lebens umtonen mich zu wehmutig, 
ich werde vor Entzuckung noch friiher sterben als vor dem Iang- 
sten Tage, und ehe mir mein verewigter "Vater erschienen ist. 

Emanuel.« 



Lieber Emanuel, das wirst du leider ! Der Freuden-Himmel dringt 
an deinen Mund, und unter Wehen, unter Tonen, unter Kussen 
o saugt er dir den flackernden Atem aus; denn der Erdenleib, der 
nur grasen, nicht pflucken will, verdauet nur niedrige Freuden, und 
erkaltet unter dem Strahl einer hokern Sonne! — 



884 HESPERUS 

Mit Ruhrung zieh' ich von Viktors entzweigedrucktem un- 
kenntlichen Angesicht den Schleier weg, der seine Schmerzen be- 
deckt. La6 dich anschauen, trostloser Mensch, der einem Friih- 
ling entgegengeht, wo sein Herz alles verlieren soil, Emanuel 
durch den Tod, Klotilde durch Liebe, Flamin durch Eifersucht, 
sogar Joachime durch Argwohn ! LaB dich anschauen, Verarmter, 
ich weiB, warum dein Auge noch trocken ist, und warum du ge- 
brochen und den Kopf schiittelnd sagst; »Nein, mein teurer Ema- 
nuel, ich komme nicht, denn ich kann ja nicht.« - Es atzte sich in 
dein Herz am tiefsten, daB gerade dein treuer Emanuel noch i 
glaubte, du wiirdest von seiner Freundin geliebt. - Der unent- 
wickelte Schmerz ist ohne Trane und ohne Zeichen; aber wenn 
der Mensch das Herz voll zusammenflie Bender Wunden durch 
Phantasie aus dem eignen Busen zieht und die Stiche zahlt und 
dann vergisset, daB es sein eignes ist : so weint er mitleidig iiber 
das, was so schmerzhaft in seinen Handen schlagt, und dann be- 
sinnt er sich und weint noch mehr. — Viktor wollte gleichsam die 
starre Seele aus den gefrornen Tranen warmend Iosen und ging 
ans Erkerfenster und make sich, indes die verhaltene Abendglut 
des Marzes aus dem Gewolke iiber den -maienthalischen Bergen 2 
brannte, Klotildens Vermahltag mit Julius vor - O, er zog, um 
sich recht wehe zu tun, einen Fruhlingtag iiber das Tal, der Ge- 
nius der Liebe schlug iiber den Traualtar den blauen Himmel auf 
und trug die Sonne als Brautfackel ohne Wolkendampf durch die 
reine UnermeBlichkeit. - Da ging an jenem Tage Emanuel ver- 
klart, Julius blind, aber selig, Klotilde errotend und langst ge- 
nesen, und jeder war glucklich - Da sah er nur einen einzigen 
Unglucklichen in den Blumen stehen, sich namlich; da sah er, 
wie dieser Betriibte wortkarg vor Schmerzen, frohlich aus Tu- 
gend, naher und vertrauter mit der Braut aus Kalte, so ungekannt, 3 
eigentlich so entbehrlich mit herumgeht, wie ihm das schuldlose 
Paar mit jedem Zeichen der Liebe alles vorrechnet, was er ver- 
loreri, oder gar aus Schonung diese Zeichen verhehlt, weil es sei- 
nen Gram errat - dieser Gedanke fuhr gleich einer Lohe wider 
ihn — , und wie er endlich, weil die beladene Vergangenheit alle 
seine getoteten Hoffnungen und seine entfarbten Wunsche vor 



25. HUNDPOSTTAG 885 

ihn tragt, sich umwendet, wenn das geliebte Paar von ihm zum 
Altar und zum ewigen Bunde geht, wie er sich trostlos umwendet 
nach den stillen leeren Fluren, um unendlich viel zu weinen, und 
wie er dann so allein und dunkel in der schonen Gegend bleibt und 
zu sich sagt: »Deiner nimmt sich heute kein Mensch an - niemand 
driickt deine Hand, und niemand sagt: Viktor, warum weinst du 
so? — O dieses Herz ist so* voll unaussprechlicher Liebe wie eines, 
aber es zerfallt ungeliebt und ungekannt, und niemand stort sein 
Sterben und sein Weinen - Doch, doch, o Julius, o Klotilde, 

10 wunsch' ich euch ewiges Gliick und lauter zufriedne Tage«.... 
Dann konnt' er nicht mehr; er legte die Augen in die Hand und 
an den Fensterrahmen und erlaubte ihnen alles und dachte nichts 
mehr; der Schmerz, der wie eine Klapperschlange mit aufgeris- 
senem Rachen ihn und sein Entgegentaumeln angeschauet hatte, 
driickte ihn jetzt, ergriffen und hineingeschlungen, auseinander . . . 
Weiche Herzen, ihr qualet euch auf dieser felsichten Erde so 
sehr wie harte den andern - den Funken, der nur eine Brandwunde 
macht, schwinget ihr zum Feuerrade um, und unter den Bliiten 
ist euch ein spitzes Blatt ein Dornl... Aber warum, sag* ich zu 

20 mir, zeigst du deines Freundes seines und offnest entfernte ahn- 
liche Wunden an geheilten Menschen? O antwortet fur mich, ihr, 
die ihr ihm gleicht: mochtet ihr eine einzige Trane entbehren? 
Und da die Leiden der Phantasie unter die Freuden der Phantasie 
gehoren: so ist ja ein nasses Auge und ein schwerer Atemzug das 

geringste, womit wir eine schone Stunde kaufen 

- Der Stolz - die beste Widerlage gegen weichliche Tranen - 
wischte sie meinem Helden ab und sagte ihm vor: »Du bist so 
viel wert wie die, weiche glticklicher sind; und wenn ungliick- 
liche Liebe dich bisher schlimm machte, wie gut k6nnte dich nicht 

jo die gliickliche machen !« - Es war Stille in ihm und auBer ihm; die 
Nacht war am Himmel; er las Emanuels Brief. 

»Mein Horion! 

Vor einigen Stunden hat die Zeit ihre Sanduhr umgekehrt, und 
jetzo rieselt der Staub eines neuen Jahres nieder. - Der Uranus 



886 HESPERUS 

schlagt unserer kleinen Erde die Jahrhunderte, die Sonne schlagt 
die Jahre, der Mond die Monate; und an dieser aus Welten zu- 
sammengesetzten Konzertuhr treten die Menschen als Bilder her- 
aus, die freudig rufen und tonen, wenn es schlagt. 

Auch ich trete froh heraus unter das schone Neujahrmorgen- 
rot, das durch alle Wolken glimmt und den hohen halben Himmel 
heraufbrennt. In einem Jahre sen' ich aus einer andern Welt in die 
Sonne : o wie wallet dieses letzte Mai mein Herz unter dem Erden- 
gewolk von Liebe iiber, gegen den Vater dieser schonen Erde, 
gegen seine Kinder und meine Geschwister, gegen diese Blumen- ™> 
wiege, worin wir nur emma/erwachen, und unter ihrem Wiegen 
an der Sonne nur ezn/Tza/entschlafen! 

Ich erlebe keinen Sommertag mehr, darum will ich den schon- 
sten, wo ich mit deinem Julius 1 zum ersten Male betend durch 
Lichtwolken und durch Harmonien drang und mit ihm vor einem 
donnernden Throne niederfiel und zu ihm sagte: >Oben in der un- 
ermeBlichen Wolke, die man die Ewigkeit nennt, wohnt der, der 
uns geschaffen hat und liebt< — diesen Tag will ich heute in meiner 
Seele wiederholen; und nie erlosche er auch in meinem Julius und 
Horion! 2° 

Ich habe oft zu meinem Julius gesagt : >Ich habe dir den groBten 
Gedanken des Menschen, der seine Seele zusammenbeugt und 
doch wieder aufrichtet auf ewig, noch nicht gegeben; aber ich 
sage dir ihn an dem Tage, wo dein und mein Geist am reinsten 
ist, oder wo ich sterbe.< Daher bat er mich oft, wenn sein Engel bei 
ihm gewesen war, oder wenn die Flote und die schauernde Nacht 
oder der Sturm ihn erhoben hatte : >Sage mir, Emanuel, den groB- 
ten Gedanken des Menschen !< - 

Es war an einem holden Juliusabend, wo mein Geliebter an 
meinem Busen auf dem Berge unter der Trauerbirke lag und 30 
weinte und mich fragte : >Sage mir, warum ich diesen Abend so 
sehr weine! - Tust du es denn nie, Emanuel? Es fallen aber auch 
warme Tropfen von den Wolken auf meine Wangen.< - Ich ant- 
wortete: >Im Himmel Ziehen kleine warme Nebel herum und ver- 

1 Julius wurde erst im zwolften Jahre blind und hatte also Vorstellungen 
des Gesichts. 



25. HUNDPOSTTAG 887 

schutten einige Tautropfen; aber geht nicht der Engel in deiner 

■ Seele auf und nieder? Denn du streckest deine Hand aus, um ihn 
anzuriihren.< - Julius sagte: >Ja, er steht vor meinen Gedanken; 
aber ich wollte nur dich anruhren; denn der Engel ist ja aus der 
Erde gegangen, und ich sehne mich recht nach seiner Stimme. 
In mir wallen Traumgestalten ineinander, aber sie haben keine so 
hellen Farben wie im Schlafe - lachelnde Angesichter blicken 
mich an und kommen mit aufgebreiteten Schattenarmen auf mich 
und winken meiner Seele und zerflieBen, eh' ich sie an mein Herz 

10 andriicke — Mein Emanuel, ist denn dein Angesicht nicht mit 
unter meinen Schattengestalten?< Hier schloB er sein nasses An- 
gesicht gliihend an meines, das ihm abgeschattet vorzuschweben 
schien; eine Wolke sprengte das Weihwasser des Himmels iiber 
unsre Umarmung, und ich sagte: >Wir sind heute so weich bloB 
durch das, was uns umringt und was ich jetzt sehe.< - Er ant- 
wortete: >0 sage mir es, was du siehest, und hore nicht auf, bis 
die Sonne hinabgegangen ist.< 

Mein Herz schwamm in Liebe und zitterte in Entziicken unter 
meiner Rede: >Geliebter, die Erde ist heute so schon, das macht 

20 ja den Menschen weicher - der Himmel ruht kiissend und liebend 
an der Erde, wie ein Vater an der Mutter, und ihre Kinder, die 
Blumen und die schlagenden Herzen, fallen in die Umarmung ein 
und schmiegen sich an die Mutter. - Der Zweig hebt leise seinen 
Sanger auf und nieder, die Blume wiegt ihre Biene, das Blatt seine 
Miicke und seinen Honigtropfen - den ofFnen Blumenkelchen 
hangen die warmen Tranen, in die sich die Wolken zerteilen, 
gleichsam in den Augen, und meine Blumenbeete tragen den auf- 
gebauten Regenbogen und sinken nicht - Die Walder liegen sau- 
gend am Himmel, und trunken von Wolken stehen alle Gipfel in 

30 stiller WoIIust fest - Ein Zephyr, nicht starker als ein warmer 
Seufzer der Liebe, hauchet vor unsern Wangen'vorbei unter die 
rauchenden Kornbliiten und treibt Samen-Staubwolken auf, und 
ein Luftchen urns andre gaukelt und spielt mit den fliegenden 
Ernten der Lander, aber es legt sie uns hin, wenn es gespielt hat - 
- O Geliebter, wenn alles Liebe ist, alles Harmonie, alles liebend 
und geliebt, alle Fluren ein berauschender Blutenkelch, dann 



888 HESPERUS 

streckt wohl auch im Menschen der hohe Geist die Arme aus und 
will mit ihnen einen Geist umschlingen, und dann, wenn er die 
Arme nur an Schatten zusammenlegt, dann wird er sehr traurig 
vor unendlicher, vor unaussprechlicher Sehnsucht nach Liebe.< - 

>Emanuel, ich bin auch traurig<, sagte mein Julius. 

>Siehe, die Sonne zieht hinab, die Erde hiillet sich zu - laB mich 
alles noch sehen und es dir sagen.... Jetzo fliehet eine weiBe 
Taube, wie eine groBe Schneeflocke, blendend uber das tiefe 
Blau . . . Jetzo zieht sie um den Goldfunken des Gewitterableiters 
herum, gleichsam um einen im Taghimmel aufgehangenen glim- : 
menden Stern - o sie woget und woget und sinkt und ver- 
schwindet in den hohen Blumen des Gottesackers .... Julius, fuhl- 
test du nichts, da ich sprach? Ach die weiBe Taube war vielleicht 
deih Engel, und darum zerfloB heute vor seiner Nahe dein Herz - 
Die Taube fliegt nicht auf, aber Tau-Wolken, wie abgerissene 
Stiicke aus Sommernachten, mit einem Silberrand, ziehen uber 
den Gottesacker und iiberfarben die bliihenden Graber mit Schat- 
ten Jetzo. schwimmt ein solcher vom Himmel fallender Schat- 
ten auf uns her und iiberspult unsern Berg Rinne, rinne, 

fliichtige Nacht, Bild des Lebens, und verdecke mir die fallende : 
Sonne nicht lange ! . ... UnserWolkchen stent in Sonnenflammen .... 
o du holde, so sanft hinter dem Erdenufer zuriickblickende Sonne, 
du Mutterauge der Welt, dein Abendlicht vergieBest du ja so 
warm und langsam wie rinnendes Blut aus dir und erblassest sin- 
kend, aber die Erde, in Fruchtscrmiiren und Blumenbandern auf- 
gehangen und an dich gelegt, rotet sich neugeschaffen und vor 
schwellender Kraft .... Hore, Julius, jetzo tonen die Garten - die 
Luft summet - die Vogel durchkreuzen sich rufend - der Sturm- 
wind hebt den groBen Fliigel auf und schlagt an die Walder; hore, 
sie geben das Zeichen, daB unsre gute Sonne geschieden ist . . . . 

O Julius, Julius,< (sagt' ich und umfaBte seine Brust) >die Erde 
ist groB - aber das Herz, das auf ihr ruht, ist noch groBer als die 
Erde und groBer als die Sonne . . . Denn es allein denkt den grofiten 
GedankenA 

Plotzlich ging es vom Sterbebette der Sonne kiihl wie aus einem 
Grabe daher. Das hohe Luftmeer wankte, und ein breiter Strom, 



25. HUNDPOSTTAG 889 

in dessen Bette Walder niedergebogen lagen, brauste durch den 
Himmel die Lauf bahn der Sonne zuruck. Die Altare der Natur, 
die Berge, waren wie bei einer groBen Trauer schwarz uberhiillt. 
Der Mensch war vom Nebelgewolbe auf die Erde eingesperrt und 
geschieden vom Himmel. Am FuBe des Gewolbes leckten durch- 
sichtige Blitze, und der Donner schlug dreimal an das schwarze 
Gewolbe. Aber der Sturm richtete sich auf und riB es auseinander ; 
er trieb die fliegenden Trummer des zerbrochenen Gefangnisses 
durch das Blau und warf die zerstiickten Dampfmassen unter den 

10 Himmel hinab — und noch lange braust' er allein iiber die offne 
Erde fort, durch die lichte gereinigte Ebene . . . Aber iiber ihm, 
hinter dem weggerissenen Vorhang glanzte das Allerheiligste, die 
Sternennacht. - 

Wie eine Sonne ging der groBte Gedanke des Menschen am 
Himmel auf- meine Seele wurde eingedrikkt, wenn ich gen Him- 
mel sah — sie wurde aufgehoben, wenn ich auf die Erde sah - 

Denn der Unendliche hat in den Himmel seinen Namen in 
gliihenden Sternen gesaet, aber auf die Erde hat er seinen Namen 
in sanften Blumen gesaet. 

20 >0 Julius,< sagt* ich, >bist du heute gut gewesen?< - Er ant- 
wortete: >Ich habe nichts getan, auBer geweint.< 

>Julius, knie nieder und entferne jeden bosen Gedanken - hore 
meine Stimme beben, fiihle meine Hand zittern - ich knie neben 
dir. 

Wir knien hier auf dieser kleinen Erde vor der Unendlichkeit, 
vor der unermeBlichen, iiber uns schwebenden Welt, vor dem 
leuchtenden Umkreis des Raums. Erhebe deinen Geist und denke, 
was ich sehe. Du horst den Sturmwind, der die Wolken um die 
Erde treibt — aber du horst den Sturmwind nicht, der die Erden 

30 um die Sonne treibt, und den groBten nicht, der hinter den Son- 
nen weht und sie um ein verhiilltes All fiihrt, das mit Sonnen- 
flammen im Abgrund liegt. Tritt von der Erde in den leeren Ather : 
hier schwebe und siehe sie zu einem fliegenden Gebirge ein- 
schwinden und mit sechs andern Sonnenstaubchen um die Sonne 
spielen - ziehende Berge, denen Hugel 1 nachflattern, stiirzen vor- 
1 Planeten mit Monden. 



890 HESPERUS 

iiber vor dir und steigen hinauf und hinab vor dem Sonnenschein 
- dann schau umher im runden, blitzenden,hohen, aus kristalli- 
sierten Sonnen erbaueten Gewolbe, durch dessen Ritzen die un- 
ermeBliche Nacht schauet, in der das funkelnde Gewolbe hangt - 
Du fliegst Jahrtausende, aber du trittst nicht auf die letzte Sonne 
und in die grofle Nacht hinaus - Du schlieBest das Auge zu und 
wirfst dich mit einem Gedanken iiber den Abgrund und iiber die 
ganze Sichtbarkeit, und wenn du es wieder offnest, so umkreisen 
dich, wie Seelen Gedanken, neue hinauf.- und hinabsturmende 
Strome aus lichten Wellen von Sonnen, aus dunkeln Tropfen von 10 
Erden, und neue Sonnenreihen stehen einander wieder aus Mor- 
gen und Abend entgegen, und das Feuerrad einer neuen Milch- 
straBe walzt sich um im Strom der Zeit - Ja dich rucke eine un- 
endliche Hand aus dem ganzen Himmel, du siehest zuruck und 
heftest dein Auge auf das erblassende eintrocknende Sonnenmeer, 
endlich schwebt die entfernte Schopfung nur noch als ein bleiches 
stilles Wolkchen tief in der Nacht, du diinkst dich allein und 

schauest dich um und ebensoviel Sonnen und MilchstraBen 

flammen herunter und hinauf, und das bleiche Wolkchen hangt 
noch zwischen ihnen bleicher, und auBen um den ganzen blen- '«> 
denden Abgrund ziehen sich lauter bleiche stille Wolkchen. — 

O Julius, o Julius, zwischen den wandelnden Feuerbergen, 
zwischen den von einem Abgrund in den andern geschleuderten 
MilchstraBen, da flatten ein Bliitenstaubchen, aus sechs Jahrtausen- 
den und dem Menschengeschlecht gemacht- Julius, wer erblickt 
und wer versorgt das flatternde Staubchen, das aus alien unsern 
Herzen besteht? - 

Ein Stern wurde jetzt herabgeschlagen. Falle willig, Stern, in 
die Luft der Erde geheftet, auch die Sterne iiber der Erde taumeln 
wie du in ihre entlegnen Graber herab - das Weltenmeer ohne Ufer 30 
und ohne Grund quillet hier, versieget dort; die Miicke, die Erde, 
fliegt um das Sonnenlicht und sinkt in das Licht und zerbrockelt - 
O Julius, wer erblickt und erhalt das flatternde Staubchen auf der 
Miicke, mitten im garenden, grunenden, verwitternden Chaos? 
O Julius, wenn jeder Augenblick einen Menschen und eine Welt 
zerlegt - wenn die Zeit iiber die Kometen geht und sie austritt wie 



25. HUNDPOSTTAG 89I 

Funken und die verkohlten Sonnen zerreibt - wenn die Milch- 
straBen nur wie zuriickfahrende Blitze aus dem groBen Dunkel 
dringen - werin eine Weltenreihe um die andere in den Abgrund 
hinuntergezogen wird, wenn das ewige Grab nie voll wird und 
der ewige Sternenhimmel nie leer: o mein Geliebter, wer erblickt 
und erhalt denn uns kleine Menschen aus Staub? - Du, Allgutiger, 
erhaltst uns, du, Unendlicher, du, o Gott, du bildest uns, du siehest 
uns, du liebest uns - O Julius, erhebe deinen Geist und fasse den 
groBten Gedanken des Menschen! Da wo die Ewigkeit ist, da wo 

10 die UnermeBlichkeit ist und wo die Nacht anfangt, da breitet ein 
unendlicher Geist seine Arrrie aus und legt sie um das groBe 
fallende Welten-All und tragt es und warmt es. Ich und du und 
alle Menschen und alle Engel und alle Wurmchen ruhen an seiner 
Brust, und das brausende schlagende Welten- und Sonnenmeer 
ist ein einziges Kind in seinem Arm. Er siehet durch das Meer 
hindurch, worin Korallenbaume voll Erden schwanken, und sieht 
an der kleinsten Koralle das Wurmchen kleben, das ich bin, und 
er gibt dem Wurmchen den nachsten Tropfen und ein seliges 
Herz und eine Zukunft und ein Auge bis zu ihm hinauf - ja, o 

20 Gott, bis zu dir hinauf, bis an dein Herz.< - 

Unaussprechlich geruhrt sagte weinend Julius: >Du siehst, o 
Geist der Liebe, also auch mich armen Blinden - o! komm in 
meine Seele, wenn sie allein ist, und wenn es warm und still auf 
meine Wan gen regnet, und ich dazu weine und eine unaussprech- 
liche Liebe fuhle: ach du guter groBer Geist, dich nab' ich gewiB 
bisher gemeint und geliebt! - Emanuel, sage mir noch viel, sage 
mir seine Gedanken und seinen Anfang.< 

>Gott ist die Ewigkeit, Gott ist die Wahrheit, Gott ist die Hei- 
ligkeit - er hat nichts, er ist alles - das gan^e Heri fasset ihn, aber 

30 kein GeJanke; und Er denkt nur uns, wenn wir ihn denken. Alles 

Unendliche und Unbegreif liche im Menschen ist sein Widerschein ; 
aber weiter denke dein Schauder nicht. Die Schopfung hangt als 
Schleier, der aus Sonnen und Geistern gewebt ist, iiber dem Un- 
endlichen, und die Ewigkeiten gehen vor dem Schleier vorbei und 
ziehen ihn nicht weg von dem Glanze, den er verhiilleu 

Stumm gingen wir Hand in Hand den Berg hinab, wir ver- 



892 HESPERUS 

nahmen den Sturmwind nicht vor der Stimme unserer Gedanken, 

und als wir in unsere Hiitte traten, sagte Julius: >Ich werde den 

groBten Gedanken des Menschen immer denken, unter dem To- 

nen meiner Flote, unter dem Brausen des Sturms und unter dem 

Fallen des warmen Regens, und wenn ich weine, und wenn ich 

dich umarme, und wenn ich im Sterben bin.< - Und du, mein ge- 

liebter Horion, tue es auch. 

Emanuel.« 



Der kleine Erden-Kummer, die kleinen Erdengedanken waren 
jetzt aus Horions Seele geflohen, und er ging, nach einem beten- 
den Blick in den geoffneten Sternenhimmel, an der Hand des 
Schlafs in das Reich der Traume hinein. — Lasset uns ihn nach- 
ahmen und heute auf nichts weiter kommen. - 

Ende des zweiten Heftleins 



Drittes Heftlein 



26.HUNDPOSTTAG 

Drillinge - Zeusel und sein Zwillingbruder - die aufsteigende Periicke - 
Entdeckung von Spitzbiibereien 

Wenn ich in Coventgarden iiber das Trauerspiel geweint hatte : 
so wiird' ich doch im Epiloge bleiben, den sie nachher halten, ob 
ich gleich iiber ihn lachen miiBte. Allein nur aus dem Trauerspiele 
fiihrt ein QuergaBchen in das Lustspiel, aber nicht aus dem Hel- 
dengedicht; kurz der Mensch kann nach dem Erweicken, aber 
nicht nach dem Erheben lachen. Ich darf es daher nie verstatten, 

° daB ein Vielleser sogleich nach dem 25sten Kapitel dieses anfange. 
Wenn man iiberhaupt selber zusieht, wie sie einen lesen - nam- 
lich noch funfmal elender, gedankenloser, abgerissener, als man 
schreibt - (ich rede bloB von FleiB; Kenntnisse fallen von selber 
beim Lesen weg, und die Autorfeder kann die Lebengeister des 
Lesers, wie der Pumpenstiefel das Wasser, doch nur auf eine ge- 
wisse Hohe Ziehen) - wie sie bei den besten Stellen zwei Blatter 
auf einmal umwenden, bald zwei ungleichartige Kapitel entern 
lassen, bald in vier Wochen erst ein Kapitel gar hinauslesen, das 
in einer Sitzung hatte durchsein sollen — wie solche klassische 

io Leser oft kurz vor einem Besuche oder unter dem Andrehen oder 
gar Ansengen der Haarwickel oder unter dem Auskammen der 
Haare (die gar das erhabenste Kapitel einpudern) letztes lesen 
oder ein riihrendes unter dem Keifen mit der ganzen Stube - wenn 
man bedenkt, daB unter solche Leser die meisten Scheerauer und 
Flachsenfinger gehoren, und bloB die Leserinnen nicht, die sich 
in alle Bucher und Manner einzuschieBen wissen, und denen einer- 
lei ist, was sie lesen oder heiraten - und wenn man gar die traurige 
Betrachtung macht, daB, wenn iiber diese Leser nicht einmal der 
Lesegroschen, den sie furs Buch bezahlen miissen, so viel Gewalt 

to besitzt, um sie zum Genusse riihrender und erhabner Blatter zu 
vermogen, daB es dieser lange Periode noch weniger erzwingen 



896 HESPERUS 

werde: so preiset man das deutsche Publikum glucklich, das doch 
solche Werke nahren, an denen wie an Truthuhnern das Weifie 
das beste ist. 

Da ein solcher Truthahn auch die Wiener Zeitschrift ist, und 
ich vorige Woche im Traume dachte, mein Hund schreibe daran : 
so wirds hierher passen, daB ich meinen Irrsal widerrufe. Mir fallt 
der Traum nicht auf — (da die Korrespondenzbestie gleichfalls 
Hofmann 1 heiBt) -*, daB diese gar der in eine Hundshaut einge- 
windelte und verpuppte Professor sei. Ich ware gar nicht darauf 
verfallen, daB ein Professor der»praktischenE\oquenz« in der Form 1 
eines Hundes der Welt Drucksachen apportierte, hatte nicht ein- 
mal in Paris ein Kerl sich mit konterbanden Waren in eine Pudel- 
haut einnahen lassen, um so verkappt durchs Tor zu kommen. 
Schon aus der ungleichen GroBe beider Wesen hatt* ich wissen 
konnen, welche Zeit es sei; aber ich ging im tollen Traume so 
weit, daB ich den Hund wirklich examinierend zwickte und be- 
fiihlte, als der Professor, den ich hinter dieser Charaktermaske 
suchte, selber lebendig zur Tiir eintrat. Er hob zwar sofort alle 
Verwechslung; ich legte mir aber, gleichsam um ihm Genugtuung 
zu geben, die Strafe auf, das ganze Ding bekannt zu machen und * 
noch dazu sein Mitarbeiter, d.h. seine Monattaube zu werden, die 
monatlich heckt... Es sollen daher viele wirklich in der Wiener 
Zeitschrift (denn in der ersten Auflage vergaB ich das zu sagen, 
daB ich nur getraumt) nach Arbeiten von mir geforschet haben: 
ist das moglich, ich bitte? — 

Wir haben unsern Viktor unter lauter triiben Vermutungen 
stehen lassen : jetzo finden wir ihn wieder vor einem Begegnis, das 
sie alle bestatigt. 

Wer den Apotheker Zeusel, um den sich der ganze Vorfall 
dreht, nur von Horensagen kennt, weiB, daB er ein HasenfuB ist. 3 
Besagter FuB - ein Hase und drr Teufel behalten, wenn auch das 
ganze Fell abgestreift ist, noch den FuB - sah es gern, wenn ihn 

1 Der Professor Hoffmann und seine Zeitschrift, worin er im Anfange der 
Revolution jeden freien Geist als Thronenstiirmer gefangen nahm, ist frei- 
lich langst vergessen; aber man kann ja den nachsten neuesten deutschen 
Ultra statt seiner setzen. 



26. HUNDPOSTTAG 897 

ein Herr von Hofe ausschmausete und - auslachte; er konnte 
nicht bescheiden verbleiben, sobald ihn ein Vornehmer zum Nar- 
ren hatte. Der edle Matz benahm ihm daher seine Bescheidenheit 
oft. Von diesem vertrug er wie die Flachsenfinger alles, von Vik- 
tor nichts. Ich erklaV es nur daraus, weil Viktors Satiren allge- 
mein und passend und fur das Bessern waren; die Menschen aber 
vergeben lieber Pasquill als Satire, lieber Verleumdung als Er- 
mahnung, lieber Spotten iiber Orthodoxe und Aristokraten als 
Verniinfteln daruber 1 . - Demungeachtet, ob Zeusel gleich von 

10 Matthieu diesesmalwiedergehanseltundgeprelletwurde^ollt'ers 
ihm nicht recht vergeben, sondern bekam das Chiragra daruber. 
Es war namlich kurz vor dem ersten April - manche haben. 
jahrlich 365 erste Aprile -, als der Junker den Apotheker in jenen 
April schickte. In St. Liine waren schon drei Bad- und Trinkgaste 
angekommen, drei junge wilde Englander, die sich fur Drillinge 
ausgaben, aber wahrscheinlich nur nacheinander, nicht mitein- 
ander geborne Briider waren. BloB ihre Seelen schienen Drillinge 
des Gemein- und Freiheitgeistes zu sein; sie waren so republika- 
nisch, da 3 sie nicht einmal an dem Hofe erschienen, und hielten 

20 wie jeder Englander uns alle (mich und den Leser und den Elo- 
quenz-Professor) fur Christensklaven und die Freigelassenen fur 
Steckenknechte. Die Zauberkraft eines ahnlichen Herzens trieb 
bald den Regierrat Flamin in ihre kartesischen Wirbel; sie waren 
kaum acht Tage da, so hatten sie mit ihm schon einen Klub beim 
Kaplan gehalten. Er versprach ihnen auf Ostern das Gesicht ihres 
Landsmanns Sebastian; und den edlen Matthieu hatt' er gleich 
anfangs mitgebracht. Matzens Freiheitbaum war bloB ein satiri- 
scher Dornstrauch; seine Satiren ersetzten die Grundsatze. Nur 
ein einziger Drilling, den selber der Bose mit Hornern und Bocks- 

fuBen, namlich der Satyr, ritt, konnte den beiBenden Evangelisten 
und falschen Vte\he\t-Apostel recht leiden; denn in einem heitern 
lichten Kopf nimmt jedes fremde Witz- und Blitzwort einen gro- 
Bern Schimmer an, wie Johanniswurmchen in dephlogistisierter 
Luftart heller glimmen. 

1 Daher war es in Athen erlaubt, die Gotter zu verspotten, aber nicht zu 
verneinen. 



898 HESPERUS 

Als Matthieu den Pfarrkutscher und den Lohnlakai der Eng- 
ender, den Blasbalgtreter Zeusel - den Zwillingbruder des Apo- 
thekers -, erblickte : erfand er etwas, das ich eben erzahlen werde. 
Der Apotheker muBte sich bekanntlich seines leiblichen Bruders 
schamen, weil er ein bloBer Balgtreter war und keinen andern 
Wind machte als musikalischen - und weil er ferner schlechte 
innere Ohren und auBen gar keine hatte. Jedoch hatt' er sich wegen 
der letzten mit einem gerichtlichen Zeugnis gedeckt, das ihm nach- 
riihmte, daB er seine Schallmuscheln auf eine ehrliche Art durch 
einen Bader verloren, der ihm von seiner Schwerhorigkeit helfen ic 
wollen. Aber sein Kopf war sein Ohr. Wenn er einen Stab an den 
Redner oder an seinen Sessel hielt, oder wenn man gerade iiber 
seinem Kopfe predigte: so horte er recht gut. Hatter erzahlt ahn- 
liche Beispiele, z. B. von einem Tauben, der allemal einen Iangen 
Stock an die Kanzel als Leiter und Steg der Andacht stieB. Seine 
Taubheit, die ihn eher zu einem hochsten Staatsbedienten, als zu 
einem Lehnbedienten berief, wendete ihm gerade den Sieg iiber 
andere Wahlkandidaten zu, weil dem Kato dem Altern - so hieB 
sich der lustige Englander - seine narrische Stellung gefiel. 

Der edle Matthieu, dessen Herz eine ebenso dunkle Farbe hatte 2 < 
wie seine Haare und Augen, hing die Drillinge als Koder-Wiirm- 
chen an die Angel, um den Apotheker zwischen seinem und Fla- 
mins Arm nach St. Liine zu bringen. Zeusel ging freudig mit und 
ahnete das Ungliick nicht, das ihn erwartete, namlich seinen Bru- 
der, mit dem ers schon seit vielen Jahren gegen etwas Gewisses 
ausgemacht hatte, daB sie einander in Gesellschaften gar nicht 
kennen wollten. Der Balgtreter' begriff ohnehin aus Einfalt gar 
nicht, wie ein so vornehmer Mann wie Zeusel sein Bruder sein 
konnte, und verehrte ihn im stillen von weitem; nur eine Sache 
vertrug er nicht, trotz seiner blodsinnigen Geduld, die, daB sich y 
derApotheker fiir denErstgebornen ausgab: »Bin ich nicht«,sagt' 
er, »um eine Viertelelle Ianger und eine Viertelstunde alter als er?« 
Er schwur, in der Bibel sei es verboten, seine Erstgeburt zu ver- 
kaufen - und er war dann wie alle, denen eine dumme Geduld 
ausreiBet, nicht mehr zu bandigen. 

Der Apotheker bemerkte nach dem ersten Schrecken iiber den 



26. HUNDPOSTTAG 899 

dastehenden Bruder mit Vergniigen, daB niemand seine Verbru- 
derung kenne; er wollte es daher auch nachtun und foderte vom 
Bruder-Bedienten so kalt wie jeder, zu trinken. Der Balgtreter 
besab, indem er den Kopf niederbog, damit der Bruder oben dar- 
iiber die Befehle gabe, mit Erstaunen und wahrer Achtung die 
silbernen Gattertore und Beinschellen auf den FiiBen seines Ver- 
wandten und dessen Hiiftgehenk von Stahl-Girlanden der Uhren. 
Zeusel hatte sich gern - ware dem Junker zu trauen gewesen - 
gegen die Briten angestellt, als betrog* er sich und hielte des Tau- 

10 ben Bucken fiir iibertriebene Kriecherei gegen Hofleute; er ware 
dann imstande gewesen, dazuzusetzen, der Opisthotonus gegen 
Niedere sei derselbe Krampf wie der Emprosthotonus 1 gegen 
Hohere - aber wie gesagt, der Henker traue Hof junkern ! 

Die Briten indessen nahmen den Narren samt seiner Geldborse 
am Hintern kaum wahr und wunderten sich bloB, was er da wolle. 
Ihre republikanischen Flammen schlugen mit Flamins seinen zu- 
sammen, und zwar so, daB der Hof junker sie fiir Franzosen und 
fiir Reisediener und Zirkularboten der franzosischen Propaganda 
wiirde genommen haben, wenn er nicht geglaubt hatte, nur ein 

zo Narr konne eine versuchen und eine glauben. Matthieu hatte 
Scharfsinn, aber keine Grundsatze -Wahrheiten, aber keineWahr- 
heitliebe - Scharfsinn ohne Gefiihl — Witz ohne Zweck. Er war 
heute nur darauf aus, durch losgezundete Streifschusse den Apo- 
theker immer in der Angst zu befestigen, irgendeine Ideenver- 
bindung werde ihn den Augenblick auf den dastehenden Bruder 
lenken. So legt* er recht glucklich nebenher den armen HasenfuB 
auf die Folter des »gespickten Hasens«, als er ironisch fiir den Ne- 
potism us focht. »Die Papste, die Mimster« (sagt* er) »geben wich- 
tige Posten nicht dem ersten besten, sondern einem Manne, den 

;o sie genau gepriift haben, weil sie mit ihm fast auferzogen wurden, 
namlich einem Blutfreund. Sie denken zu moralisch, als daB sie 
nach ihrer Erhebung ihre Verwandten nicht mehr kennen sollten, 
und sie halten den Hof fiir keinen Himmel, wo man nach seiner in 
die Holle verdammten Magenschaft nichts fragt. Weil ein Minister 

1 Emprosthotonus ist der Krampf, der den Menschen vorwdrts krummt - 
der Opisthotonus beugt ihn riickwarts. 



900 HESPERUS 

so viet verdauen kann wie ein StrauB : so wundert man sich, daB 
er nicht auch wie ein StrauB seine Eier voll Anverwandten in den 
Sand und vor die Sonne wirft und ihr Aufkommen nicht dem Zu- 
fall anvertrauet. Aber nichts vertragt sich weniger mit dem echten 
Nepotismus als dies; ja selber der StrauB briitet zu Nacht und in 
kaltern Orten personlich und unterlasset es nur dann, wo die 
Sonne besser briitet: so sorgt auch der Mann von EinfluB nur in 
solchen Fallen fur seine Vettern, wenn grofier Mangel von Ver- 
diensten es fodert. Ich gesteh' es, die Moral kann so wenig Nepo- 
tismus wie Freundschaften gebieten; aber das Verdienst ist desto i< 
groBer, wenn man ohne alle moralische Verbindlichkeit mit sei- 
nem Stammbaum gleichsam die halben Thronstufen iiberdeckt.« 
- Dieser satirische Hiittenrauch und Schwaden nahm die Briten 
fur ihn ein, zumal da der Rauch edle Metalle voraussetzte, nam- 
lich die hochste Unparteilichkeit bei einem Sonne, dessen Vater 
Minister war. 

Da der Apotheker das Souper zerlegte - Matz hart' ihn ersucht, 
le grand escuyer tranchant zu sein -, so paBte sein Freund es ab, 
bis er einen groBen Truthahn an der Gabel hatte, urn ihn in der 
Luft, wie Reiher die Fische, und noch dazu italienisch zu zer- * 
fallen; dann nahm der Edle seinen Weg iiber den Partage-Trut- 
hahn und iiber Polen durch die Wahlreiche, bis er in den Erb- 
reichen anlangte, wo er stille lag, um da die Bemerkung zu machen, 
daB ganz naturlicherweise der erste groBe Diktator seinen eignen 
Sohn auf seinen Thron nach sich werde hinaufgezogen haben: 
»so nab* er sich oft beim flachsenfingischen VogelschieBen an den 
Kindern ergotzt, die mit den Kronen und Zeptern, welche die 
Vater herabgeschossen, herumsprangen und damit warfen und 
spiel ten .«- Der Taube unterhielt durch seinen Visierstab und seine 
Ziindrute, die er an den Tisch stemmte, die freieste Verbindung 3 
mit dem ganzen Klub und sah seinem arbeitenden Bruder zu, wie 
er sagte und hie It. Matthieu, der den Vorschneider liebte, aber 
die Wahrheit noch mehr, konnte seinetwegen nicht die Reflexio- 
nen iiber die gekronten Erstgeburten unterschlagen, sondern er 
merkte frei an, man sollte wenigstens unter der regierenden Fa- 
milie, wenn auch nicht unter dem Volke, die Wahl frei haben. 



26. HUNDPOSTTAG 9 01 

»Jetzt denken wir nicht einmal wie die Juden, bei denen zwar eine 
halbtierische MiBgeburt noch die Rechte eines Erstgebornen hat, 
aber doch keine ganze tierische 1 .* - Der Balgtreter wurde durch 
die fallopische Muttertrompete des Stabs mit neuen Ideen des 
Erstgebornen geschwangert - sein Bruder wurde von der Angst 
mehr zerlegt als der indische Hahn in der Luft. - Der Evangelist 
fuhr fort: »Auch bei den Juden hat bloB die tierische Erstgeburt, 
weil sie nicht mehr opfern diirfen, das beste Futter und ist heilig 
und unverletzlich - das ubrige Vieh gehort unter die jungern 

10 SohneA.., 

- Darauf sagte er plotzlich und lachelnd das Kompliment : »Blofi 
mein Freund hier mit dem Truthahn macht die glucklichste Aus- 
nahme von meiner Behauptung und sein Herr Bruder mit dem 
Stabe da die betriibteste; es sind aber Zwillinge, und er ist nur 
eine Viertelstunde alter als der Taube.« Er wandte sich unbefan- 
gen an den Gestabten, der sein Gesicht schon zum Krieg mobil 
gemacht hatte : »Nicht wahr, eine Viertelstunde alter ?« - »Ja, straf ' 
mich Gott,« (sagt' er) »das bin ich: was sagt mein Bruder ?« - Der 
Apotheker muBte matt den Dividendus an der Gabel senken, ob 

20 er gleich durch die herabgeschnktenen Quotienten schon leichter 
war. Der Balgtreter uberschauete fluchtig alle Gesichter und ent- 
deckte iiberall darauf einen schweigenden Unglauben, den der 
Junker durch seine kalten Versicherungen noch lesbarer machte. 
»Der ganze Scherz« - sagte Zeusel leise - »ist wohl fiir niemand 
interessant.« Da der Balgtreter die leise Exzeptionhandlung nicht 
durch seinen langen Gehorknochen habhaft werden konnte - er 
sah aber dann nicht ab, wie er seinen ProzeB und sein Erstge- 
burtrecht behaupten wollte -, so trat er seinen Beweis an und 
zog vier lange Fliiche als ebensoviel syllogistische Figuren 

5° heraus und biickte den Kopf unter seinen Bruder, damit der 
iiber demselben seine Salvationschrift einreichte. Der Apo- 
theker, der nicht die Erstgeburt, sondern nur das wankend 
machen wollte, daB er sein Bruder sei, und der ihn wegen 

1 Siehe die Wochenschrift »Der Jude«, S. 380; z . B. nach dem Buch Lebusch 
Atteret Sahaph ist ein Mensch mit einem Tierkopf eine menschliche Erst- 
geburt, aber ein Insekt, ein ganzes Tier ist es nicht. 



9©2 HESPERUS 

Zweifel iiber dessen Titulaturen nicht gern anreden wollte, sagte 
blttend zu Matthieu: »Geben Sie ihm recht, denn er weiB gar 
nicht, wovon wir bisher gesprochen haben.« - Schnell und ab- 
gerissen, aber mit einer unglaubigen Miene sagte daher der Jun- 
ker zu ihm: »Er soil recht haben, mein Freund«, und setzte unter 
dem Schein, ihn ablenken zu wollen, dazu: »recht frisch und jung 
sieht er aus.« — »Bei Gott!« (versetzte er aufbrennend) »der da ist 
junger; aber er kam hinter mir schon zusammengefahren auf die 
Welt in der Gestalt eines Tabakbeutels — er ist aus den Bettel- 
mannern 1 , die von mir abfielen, zusammengedreht und gezwirnt.« 10 
Der Balgtreter brannte nun alle Kanonen auf dem Wall seines 
Kopfes ab, erbittert durch die Essigmienen und Giftblicke und 
die Unhorbarkeit seines Blutfreundes: er spannte daher den Dau- 
men und den Ohrfinger aus und setzte sie wie ZirkelfiiBe an sein 
eignes Gesicht, um es auszumessen ; dann wollt' er beide als ein 
LangenmaB iiber das Gesicht seines Blutfreundes legen - er wiirde 
dann, da der Mensch zehn Gesichtlangen hat, das fremde und sein 
eignes Gesicht gegeneinander gehalten und dann aus ihrem ver- 
schiedenen MaBe leicht auf ihre Statur geschlossen haben -; aber 
der Apotheker wackelte, und der Balgtreter setzte den Daumen 20 
ganz falsch iiber dem Kinnbacken ein. Hier hob den Daumen, der 
sich in den wekhen Backen eintunken wollte, etwas Hartes und 
Rundes auf, und der Balgdiener trieb durch das Heruntergleiten 
an dem Kinnbacken eine Wachskugel zum Maule heraus, womit 
der Apotheker seine eingekrempten Wangen ausgefiittert hatte 
wie mit einem Polster, um das eingelegte Bildwerk des Gesichts 
zum erhobenen aufzustiilpen. Die herausgleitende Kugel warf wie 
eine Boselkugel den Apotheker um, d. h. seine Gelassenheit, und 
er sagte zum Tauben, der jetzo gar zu einer Historie von seinem 
Kahlkopfe uberschreiten wollte, mit blitzenden Augen nur so viel : JC 
»Ihr Mensch habt keine Lebensart, und Euer alterer Bruder muB 
Euch erst abhobeln.« Da aber der Kalkant schon in der Natur- 
geschichte des Kahlkopfes fortschritt: so eilte Zeusel davon mit 
der Entschuldigung, der Herr Hofmedikus Horion warte heut* 
abends auf ihn. Der ernsthafteste unter den Englandern trat ganz 
1 Die Spinner nennen das Abfallige der Baumwolle so. 



26. HUNDPOSTTAG 9O3 

nahe an ihn und sagte : »EmpfehIen Sie mich dem Doktor, und da 
er so gute Kuren macht, so sagen Sie ihm in meinem Namen, Sie 
waren ein groBer - Narr.« 

Kaum war er zum Dorfe hinaus: so dauerte den Kalkanten der 
Emigrant, und er wollte in der Historie des Kahlkopfes aufhoren. 
Der Evangelist schickte ihn daher dem erbosten Zwilling nach, 
urn ihn jetzt in der Nacht einzufangen; und nahm dafur selber den 
historischen Faden auf. Namlich an einem Abend, wo der Hof 
nicht im Schauspiel war, hielt der Hofapotheker (der Himmel 

1D weiB wie) sein NuBknackergesicht aus einer der ersten Logen 
heraus. Matthieu, damals noch Page, postierte den Balgtreter im 
Scheitelpunkte seiner Periicke, namlich in der Galerie gerade uber 
ihm. Der Kalkant lieB oben an einem unsichtbaren RoBhaar einen 
kleinen Haken niedersteigen, der wie ein Raubvogel uber der 
herausschauenden Periicke hing, die ich fur ein Ideal von Haaren 
halte. Denn sie schien aus dem Kopfe, dem die Locken und die 
Vergette langst ausgefallen waren, als Eingeborner und Fechser 
herausgewachsen zu sein, und niemand nahm sie fur adoptiertes 
Pelzwerk. Der Balgtreter HeB den Haken so lange uber der Periicke 

*o wie einen Perpendikel schwanken, bis Gewifiheit da war, daB er 
in die Vergette eingegriffen. Sofort bedient* er sich seiner Hande 
als Fuhrmannwinden und hob (wie der Frost andre Gewachse) 
die ganze Frisur aus den Wurzeln und zog langsam die Zopf- 
perucke wie eine steigende Haar-Montgolfiere in die Hohe. Das 
Parterre und der erste Dtbhaber und der Lichtputzer wurden vor 
Erstaunen zu Eisschollen, da sie den Schwanzkometen in gerader 
Aufsteigung zur Galerie aufgehen sahen. Auf dem Apotheker, der 
seinen Kopf abgedeckt und kalt angeweht fiihlte, richteten sich 
die wenigen naturlichen Haare auch empor vor Schrecken, wie 

t o die kunstHchen ; und als er sich mit dem kahlen Scheitel umdrehte, 
um der Kreuzerhohung seines Haarwuchses nachzusehen, HeB 
sein Zwillingbruder (um nicht entdeckt zu werden) das ganze 
harene Meteor, das dem Haar der Berenice im Himmel nachwollte, 
gar unter die Leute herunterfallen vor seinem Gesichte vorbei und 
sah gelassen herab auf die Kulmination im Nadir, wie die ganze 
Galerie. — 



904 HESPERUS 

Wahrend unserer Erzahlung haben die Zwillinge einander ge- 
prugelt. Der Erstgeburt-Akzessist rief drauBen auf dem mit Nacht 
iiberdeckten Flachsenfinger Weg in einem fort: »Herr Hofapo- 
theker!« Und da er keine Antwort vernehmen konnte, muBt* er 
mit dem Horrohr an jedes Ding, ob es etwan rede, stochern. End- 
lich stieB sein Visitiereisen an die Erstgeburt, und er ging hin, urn 
sie um Vergebung und Retour zu ersuchen. Aber der Apotheker 
war dermaBen im Kochen und Sprudeln, daB er, als der Balgtreter 
seinen Kopf unterhielt, um dessen Antwort einzuholen, seine 
Hand in eine Kugel anschieBen und sie wie einen Glockenhammer 10 
auf die Pfeilnaht des untergehaltenen Hauptes fallen lieB, worauf 
die Taucherglocke einen ordentlichen Ton angab. Der Apotheker 
wiirde, wenn man ihn recht verstanden und ihm Zeit gelassen 
hatte, durch diesen Zainhammer dieSuturenauf dem taubenHaupte 
um vieles vorgehoben haben; aber so storte ihn sein eigner Bru- 
der, der ihn am Kopfe - denn der Balgtreter wiirde seine Finger 
als Schmucknadeln in die kunstlichen Haare gelegt und ihn daran 
gelenkt haben, ware die Perucke am Kopfe festgemacht gewesen 
- wie ein Gestrauch niederbog, um sein Horrohr als ein zweites 
Riickgrat so stark und doch so behutsam iiber des Zwillings u 
erstes zu legen, daB niemand komplizierte Frakturen davontrug 
als der Hdrstab. — Darauf sagte er gute Nacht und empfahl ihm, 
sich links zu halten, um nicht irrezugehen — 

— Hatte ich gewuBt, daB diese Geschkhte so viele Blatter iiber- 
schatten wiirde, ich hatte sie lieber weggeworfen. Am andern 
Morgen stattete der unverschamte Matthieu einen Besuch beim 
Kreuztrager ab, an dessen Handen jetzt das vom Zorn reifge- 
warmte Chiragra gliihte; er wollte - weil er jeden Tadel seiner 
Unverschamtheit mit einer groBern beantwortete — die gicht- 
briichigen Hande zu neuen Katzenpfoten machen, um frische y 
SpaB-Kastanien aus dem Feuer zu nehmen. Aber der Apotheker, 
dessen Herz nur klein, aber doch nicht schwarz war, fuhlte sich 
zu sehr gekrankt, und als Matthieu, iiber seine Klagen lachend 
und schweigend, von ihm ging, ohne sich nur die Miihe einer Ent- 
schuldigung zu geben: so schwur der Chiragrist, ihn - da haben 
wir wieder den Narren - zu stiirzen. 



26. HUNDPOSTTAG 9° 5 

Tritt wieder auf, mein Viktor, ich sehne mich nach schonern 
Seelen, als dieses Gebruder Narren da hat! - Niemand von uns 
lebt und lieset so in den Tag hinein, daB er nicht wiiBte, in welcher 
biographischen Zeitperiode wir leben : es ist namlich acht Tage 
vor Ostern, wo Zeusel auf dem Krankenbette und Klotilde auf 
dem Wege nach St. Liine ist. - Flamin hinterbrachte unserm Vik- 
tor den SpaB mit dem kranken Zeusel. Er miBfiel ihm ganzlich, 
so wie ihn Schriften wie der Antihypochondriakus, das Vademe- 
kum oder die mundlichen Erzahler gedruckter SpaBe — die fade- 

io sten aller Gesellschafter - ekelten. Er konnte nie eine Tierhatze 
zwischen zwei Narren anlegen: nur der Entwurf eines solchen 
Schlachtstiicks kitzelte seine Laune, absr nicht die Ausfiihrung, so 
wie er Priigelszenen gern in Smollet (dem Meister darin) las und 
dachte, aber niemals sehen mochte. Sogar von den Korper-Bon- 
mots und Hand-Pointen am fremden Leibe dacht* er zu gering- 
schatzig, die ich doch den stummen Witz (wie stumme Sunden) 
nennen mochte, und die das wahre attische Salz kleiner Stadte 
sind; denn wahrer Witz, diinkt mich, muB sich wie das Christen- 
tum nicht in Worten, sondern in Werken offenbaren. Er sah 

20 unsere Torheiten mit einem vergebenden Auge, mit humoristi- 
schen Phantasien und mit dem ewigen Gedanken an die allgemeine 
Menschennarrheit und mitschwermutigen Schlussen an. Sobald 
er den bosen Punkt ausnahm, daB Zeusel sich jedem Edelmann 
zum Miettier so lange, bis ihn dieser zuriickprugelte, vorstreckte, 
wie man in Paris SchoBhunde zum Spazierengehen mieten kann: 
so hatt' er gegen dessen Eitelkeit, da sie zumal in andern Fallen 
gutmiitig, freigebig und oft sogar witzig war, wenig einzuwenden. 
Niemand ertrug Eitelkeit und Stolz Hebreicher als er: »Was hat 
denn der Mensch davon,« sagt' er viel zu lebhaft, »wenn er kein 

3° Narr ist, oder wo soil er denn aufhoren, demutig zu sein? Ent- 
weder zu gut oder gar nichts miissen wir von uns denken.« 

Viktor stattete also bei seinem Hausherrn zugleicheinen freund- 
schaftlichen und einen arztlichen Besuch mit seiner teilnehmenden 
Seele ab. Diese Gesinnung griff herrlich in den Plan des Apothe- 
kers ein, den Doktor anzuwerben, damit er gegen Matzen diene. 
»Dazu brauche ich nichts,« (sagte Zeusel zu Zeusel) »als daB ich 



9°6 HESPERUS 

ihn die Intrigen, die das Schleunessche Haus gegen ihn spielet, 
sehen Iasse, denn er ist ohne mich nicht raffiniert genug dazu.« 
Denn er halt iiberhaupt den Helden der Hundposttage - ders auch 
willig litt - ein wenig fur dumm, bloB weil dieser gutmutig, hu- 
moristisch und gegen alle Menschen vertraulich war. In der Tat 
gab ihm das Leben in der groBen Welt zwar geistige und korper- 
liche Gewandtheit und Freiheit, wenigstens groBere; aber eine 
gewisse auBere Wtirde, die er an seinem Vater, am Minister und 
sogar oft an Matthieu wahrnahm, konnt* er niemals recht oder 
lange nachmachen ; er war zufrieden, daB er eine hohere in seinem 10 
Innern hatte, und fand es fast lacherlich, auf der Erde ernsthaft zu 
sein, und zu gering, stolz auszusehen. Vielleicht konnten sich eben 
darum Viktor und Schleunes nicht leiden; ein Mensch von Talen- 
ten und ein Burger von Talenten hassen einander gegenseitig. 
Eh' ich dem Apotheker erlaube, alle Faden des Schleunesschen 
Kanker-Gespinstes vorzuzeichnen : will ich nur erklaren, warum 
Zeusel hieruber so allwissend war, und doch Viktor so blind. 
Dieser aber war es, weil er sich unter seinen Freuden auf das 
Erraten gleichgiiltiger oder schlimmer Leute gar nicht legte; 
er schwebte iiberhaupt wie ein Paradiesvogel immer in der Him- 20 
melluft, vom Schmutzboden abgetrennt, und flog, wie alle Para- 
diesvogel, der losen Federn wegen immer gegen den Wind; daher 
bekam er, aus Mangel an Verbindungen, die munctticken Hofzei- 
tungen erst, wenn alle Heiducken, die Lakaien der Pagen und die 
Einheizer sie schon schwarz gelesen hatten; - oft gar nicht. - Der 
Apotheker ist imentgegengesetzten Falle, weiler zwar die schlech- 
ten Augen, aber auch die guten Ohren eines Maulwurfs hat, und 
weil in der camera obscura seines ahnlichern Herzens sich leichter 
die Bilder der verwandten Kniffe malen; noch dazu setzt er zwei 
lange Horrohre - zwei Tochter - an die Kabinette oder vielmehr 30 
an ihre Liebhaber an, die daraus kommen, und horcht durch die 
Rohre manches weg, was ich in dieser Lebensbeschreibung recht 
herrlich schon im dritten Heftlein nutzen kann. Es gibt Menschen 
— der war so -, die nur Nachrichten, ohne Interesse fur den In- 
halt, erhetzen wollen und Personalien ohne Realien, und die alle 
groBe Gelehrte, aber keine Gelehrsamkeit - alle groBe Staats- 



26. HUNDPOSTTAG 907 

manner, aber keine Politik - alle Generate, ohne Liebe zum 
Kriege - zu kennen suchen personlich und schriftlich. 

Es kann sein, daB mancher feine Leser schon aus dem vorigen 
von dem, was Zeusel jetzt entdecken will, Wind hat. Ich gebe des 
Apothekers Darstellung in folgender verjiingten: 

»Der Minister habe den Fiirsten sonst niemals in sein Interesse 
ziehen konnen, selten in sein Haus; zwar nab' er zuweilen eine 
Tochter, die ihm gefallen konnte, zu vermahlen nicht unterlassen ; 
aber entweder das verschiedene Interesse des Tochtermanns war 

, allemal dem seinigen ungiinstig, oder auch der EinfiuB Sr. Herr- 
lichkeit (des Lords). Daher sei er mehr zu entschuldigen als zu 
verdammen, daB er die Partei des Schwachern ergriffen, namlich 
die der verlassenen Fiirstih, die doch allemal etwas sei, und welche 
ihre italienischen Kiinste vielleicht nur noch verdecke. Im ganzen 
genommen sei es also nicht unrecht, daB man die Furstin, die viel 
Temperament habe, durch Matthieu an Schleunes* Haus zu kniip- 
fen suche, worin man sich nach ihrer auBern Tugend-Grandezza . 
geniere, indes man sie durch den Hofjunker iiber die Kdlte ihres 
Gemahls beruhige.«... 

>' Wenn sich der Leser das Schlimmste vorstellt: so begreift er 
Viktors unglaubiges Erstarren und Verfluchen; er lieB aber Zeu- 
seln erst ausreden. 

»Zum Gliick habe Herr Hofmedikus dem Hause die Ehre er- 
wiesen, oft hinzukommen; und die SchleunesscHen werden ihn 
wahrscheinlich auf alle Weise zum oftern Geschenk seiner Be- 
suche ermuntert haben, da er zumal dadurch auch den Fiirsten 
eingewohne. Er wisse hieriiber allerlei von guter Hand.«... 

Viktor erriet, was Zeusel aus Hoflichkeit verschwieg - den 
Wink auf Joachime. »Sonderbar ists doch,« dacht' er, »daB mir 

s mein Vater fast dasselbe schreibt! - Aber ein hubsches Gewirre 
von Absichten! ich machte bei meinen Absichten auf die Furstin 
den Minister zu meinem Deckmantel, und er mich bei seinen auf 
den Fiirsten zu dem seinigen.« - Das hatt' er ohne mich wissen 
sollen, daB bose Menschen die guten nie aus Liebe suchen, und 
daB Joachimens Herz nichts ist als ein Koder in der Hand des 
Ministers; aber dichterische Menschen, die immer die Fliigel der 



908 HESPERUS 

Phantasie aufsparmen, werden, wie die Lerchen wegen ihrer aus- 
gesprei^ten Fliigel, sogar in Netzen festgehalten, wtlche die wei- 
testen Maschen haben, wodurch sonst leicht ein glatter Vogel- 
korper glitte. - Nur noch ein Wort: warum betrug sich Viktor 
gegen die besten Menschen, gegen Klotilde, seinen Vater etc., 
feiner, anstandiger und schoner als der beste Weltmann; und 
gegen mittelmaBige und schlimme benahm er sich doch so links: 
warum? — Weil er alles aus Neigung und Achtung tat, und mchts 
aus Eigennutz und Nachahrhung; die Weltleute hingegen be- 
haupten ein immer gleiches Betragen, weil sie es nie nach frem- jo 
den Verdiensten, sondern nach eignen Absichten abformen. Da- 
her gab ihm sein Vater auf der Insel unter den Lebenregeln - die 
uberhaupt eine feine versteckte Weissagung von seinen Fehlern 
und Begebenheiten waren - diese mit: man begeht die meisten 
Torheiten unter Leuten, die man nicht achtet. 

»Da nun Klotilde dem Ftirsten gefalle: so werde dieser Mat- 
thieu, der um sie schon vor einigen Jahren geworben, sie zu seinen 
Eroberungen zu machen suchen, um durch sie viel wichtigere zu 
machen.« 

Pfui! rief Viktors ganze Seele, jetzt sen* ich erst alle Stacheln *° 
der Dornenkrone, die auf dein Herz gedrucket wird, du arme 
Klotilde! 

»Matthieu ware langst mit seinen Heuratsantragen weiter her- 
ausgegangen, hatt' er die gegenwartigen Aussichten (eines - Ehe- 
bruchs) naher gehabt. Vielleicht sei auch Matthieu noch uber die 
Zuriickkunft ihres Bruders (Flamins, wegen ihrer verkleinerten 
Erbschaft) in Sorge, ob ihn gleich der Tod seiner Schwester (der 
beerbten Giulia) ein wenig entschadige. Daher liebe die Furstin 
Klotilden, da deren Heurat mit Matthieu nur eine Sache des 
Interesse ser. Kam' es aber wirklich zu einer Vermahlung, wie 30 
wahrscheinlich sei, da Matthieu sie schon durch Grobheit dem 
Kammerherrn abnotigen wurde«.... (Es ist ein eigner Zug des 
Evangelisten, da6 er gegen Schwache grob und oft gegen dieselbe 
Person rauh und wieder fein war) - »so konnte jener und Jenner 
sich im wechselseitigen Vergeben uben; und das Band der Freund- 
schaft wiirde sich auf einmal um vier Personen in verschiedenen 



26. HUNDPOSTTAG 9<39 

Schleifen wickeln. Diese vierfache Verkettung risse dann keiner 
mehr auseinander, und alles ginge zum Teufel. Der einzige Ma- 
schinengott, der die Kniipfung dieses Knotens noch verhuten 
konnte, sei der - Herr Hofmedikus. Ihm versage Herr Le Baut 
vielleicht die Tochter nicht, da er ihr zum Hofdamenamt ver- 
holfen - >welches damals, da ich mich Ihnen nicht deutlich er- 
klaren durfte, ge'rade meine wahre Absicht war, die Sie ebensogut 
errieten als ausfiihrten< - und da das Schicksal des Sohns (Fla- 
mins, der nach der allgemeinen Meinung noch verschollen war) 

o ja in den Handen Sr. Herrlichkeit stehe. Auch zweifle er am Ge- 
winnen der Fiirstin nicht, da er (der Doktor) bisher ihre Gunst 
besessen, und sie ihn dem Doktor Kuhlpepper vorgezogeri. 
Durch den Verlust Klotildens und Agnolas waren den Schleunes- 
schen die Fliigel beschnitten.«... 

Schurke! hatte hier Flamin geflucht; aber Viktor, der glaubte, 
diesen moralischen Staubbesen verdiene nur ein ganzes Leben, 
nie eine Handlung, und der mit der groBten Unduldung der Laster 
eine zu groBe Duldung der Lasterhaften verband, dieser sagte, aber 
mit mehr Hitze, als man nun vermuten wird : »0 du gute Fiirstin ! 

'■o die deutschen Skorpionen sitzen um dein Herz und stechen es zur 
Wunde und gieBen als Balsam Gift in die Wunde, damit sie nie- 
mals heile! - Abscheuliche, abscheuliche Verleumdung!« Viktor 
lobte und verfocht gern seine Freunde zu lebhaft - und zwar aus 
Neigung zum Gegenteil ; denn da er bei seiner eignen Ehre die Be- 
lbbbriefe seines Gewissens den Schandgemalden der Welt ruhig 
und stumm entgegensetzte, so war's zwar seine Neigung gewesen , 
die Ehre seiner Freunde so kalt-zu verteidigen wie seine eigne, aber 
es war Gehorsam gegen sein Gewissen, es (trotz dem Gefuhle der 
Entbehrlichkeit) mit der groBten Warme zu tun. 

o Das hofische und triumphierende Lacheln Zeusels war eine 
zweite Verleumdung; der Tropf hielt Viktor fiir ein Zifferblatt- 
oder Stundenrad bei der Sache und sich fiir den PerpendikeL Da- 
her sagte Viktor mit einem aus Wehmut und Stolz gemischten 
Unwillen : »Meine Seele erhebt sich zu weit iiber eure Hof-KIeinig- 
keiten, iiber eure Hof-Spitzbubereien, mich ekelt euer Kram un- 
aussprechlich. - O du edler Geist in Maienthal!« — 



910 HESPERUS 

Er ging mit durchschnittenem Herzen weg- der Nachtwachter, 
der ihn allemal im hohern Sinne an die Zeit und an die Ewigkeit 
dazu erinnerte, rief seines Lehrers Gestalt vor seine weinende 
Seele und - Klotilde mit ihren blassen Mienen kam mit und sagte : 
»Siehst du noch nicht ein, warum ich so bleiche Wangen habe und 
so schnell in das fromme Tal Emanuels ziehe?« - und Joachime 
tanzte voruber und sagte: »Ich lache Sie aus, mon cher!«-und 
die Fiirstin verhiillte ihr unschuldiges Gesicht und sagte aus Stolz : 
»Verteidige mich nicht !« - 

Der Leser kann sich Ieicht denken, daB Viktor den Namen 10 
Klotilde fur zu groB hielt, um ihn nur in einer solchen Nachbar- 
schaft tiber die Lippen zu bringen - wie die Juden den Namen 
Jehova nur in der heiligen Stadt, nicht in den Provinzen auf die 
Zunge nahmen. Seine Seele heftete sich nun an den Nachflor sei- 
ner Liebe, an die von Zeuseln besprutzte Agnola. Es war ihm er- 
wiinscht, daB gerade jetzo der Kaufmann Tostato aus Kussewitz 
ankommen muBte, um seine katholische Osterbeichte in der Stadt 
abzutun : er konnte bei ihm doch auf Verschwiegenheit iiber die 
Maskopei-Rolle in der Bude dringen, damit er der gemiBhandel- 
ten Fiirstin wenigstens den Schmerz iiber eine gutgemeinte Be- 2C 
leidigung, iiber die in die Uhr eingeklebte Lieberklarung, ersparte. 



27. HUNDPOSTTAG 

Augenverband - Bild hinter Bettevorhang - Gefahr fur zwei Tugenden 

Klotilde ging in der Leidenwoche, unter Liebkosungen von der 
Fiirstin entlassen, nach St. Liine. In der Osterwoche tragt sie ihr 
Herz voll bedeckter Sorgen nach Maienthal zu ahnlichern Seelen, 
wenn sie vorher durch die Vorholle gegangen, namlich durch 
einen schimmernden Ball, den ihr - oder hoflicher zu reden, der 

Fiirstin - der Furst am dritten Osterfeiertage gibt 1st diese 

Blume mit dem Melonenheber des Todes oder Schicksals aus mei- 50 
nen biographischen Beeten ausgestochen und versetzt: so werf 
ich die Feder weg und priigle den Spitz zuriick - ich habe mich 



27. HUNDPOSTTAG 9 1 1 

so sehr an sie gewohnt wie an eine Verlobte: wo treib* ich am 
Hofe wieder einen weiblichen Charakter auf, der wie ihrer heilige 
und feine Sitten verbindet, Himmel und Welt, Tugend und Ton, 
ein Herz, welches (ist es anders mit etwas Kleinem zu vergleichen 
erlaubt) der unsern Helddn angstigenden und auch wie ein Herz 
aussehenden montre a regulateur ahnlich ist, welche mit dem Zei- 
ger der Hofstunden einen Zeiger der Sonnenstunden und den lie- 
benden Magnet verknupft? 

Jetzo sind wir noch die ganzen Osterfeiertage beisammen; denn 
10 Sebastian muB zum Pfarrer Eymann, um ihn und die britischen 
Drillinge und seine liebe Kaplanin und mehr Liebes zu sehen. Er 
ware gern schon am Osterheiligenabend dem Regierrat dahin ge- 
folgt (und dem Lebensbeschreiber war's so lieb gewesen wie ein 
Osterfladen, well er der Stadte und Hofe auf dem Papiere uber- 
satt ist); aber der Genius der zartlkhsten Freundschaft winkte 
ihm, nur wenigstens bis den ersten Ostertag Flamins und Klotil- 
dens wegen, welche beide einander so lange entbehret und so 
sehnlich gewtinschet hatten, sich wechselseitig neue Wunden nun 
mitbringend, zuriickzubleiben, gleichsam als woll' er fragen : »Die 
20 ersten Freudenblicke dieser so lange auseinandergedrangten Ge- 
schwister wird doch mein unglucklicher Sebastian nicht storen 
wollen?« - Wahrlich, nein! antwortete seine Trane. 

Die Stadt war nun von seinen Geliebten ausgeleert - die Lei- 
denwoche war eine wahre fur ihn - nicht einmal die Fiirstin, 
gleichsam die Elektrizitattragerin seiner auf sein eignes Herz zu- 
riickgewehten Liebeflamme, war ihm seit langen erschienen - 
denn mit dieser Stimmung konnt' er nicht zu Joachimen gehen - 
— als ihn der Pater der Fiirstin, die heute bei ihm (am heiligen 
Osterabend) gebeichtet hatte, besuchte und vor ihm einen Wund- 
30 zettel ihrer Augen entfaltete und ihn freundlich schalt, daB der 
Hofbeichtvater dem Hofmedikus Siinden, statt zu erlassen, vor- 
zurucken habe. »Ich wollte morgen verreisen«, sagte Viktor - 
»Gut!« sagte der Pater, »die Fiirstin verlangt schon heute Ihre 
Hiilfe.« 

Auf dem Wege zu ihr sagt' er zu sich : »Hat denn Tostato das 
Osterbeichten verschworen, daB er jetzt abends noch nicht da ist? 



912 HESPERUS 

und wo wird ihn der Henker morgen haben?« - »Hier !« antwortete 
- Tostato hinter ihm. - So einen lustigen BuBfertigen hatte noch 
keine Sakristei gesehen. Das Freuden- und Teufels- und Beicht- 
kind sagte die Ursache seines frohen Tobens : »die Furstin nab* 
ihm alsLandsmann heute das halbe Gewolbe ausgekauft.« - Eh' 
Viktor auf seinem Gesicht die ernsthaften Mienen in Reih und 
Glied gestellet hatte, mit welchen er ihm die Bitte um Verschwei- 
gung seines kaufmannischen Vikariats tun wollen, ich meine die 
Buden-Verwaltung: so erfreuete ihn der springende Beichtsohn 
mit der Nachricht, daB die Furstin nach seinen und ihren Lands- " 
leuten, nach seinen Associes, gefragt, und daB er ihr gar nicht 
verborgen, daB einer einmal das letzte ohne das erste gewesen — 
namlich ihr Hofmedikus selber. — »Donner!« sagte der.... 

Der arme Narr von Kaufmann meint* es gut, und es war weiter 
nichts anzustellen als die Untersuchung, ob nicht Agnolas Fragen 
Zufall gewesen - ob sie die Uhr noch habe, oder je aufgemacht, 
ob kein Wind die Lieberklarung als einen verschwisterten Wind 
fortgetrieben. 

Bedenklich bliebs, daB gerade der Pater und der Kaufmann, 
gerade die bosen Augen und die guten Nachrichten in einen Tag 2C 
zusammenfielen; in diesen 30sten Marz, in den Osterabend. Da 
dieser Besuch fur meinen Helden sehr merkwiirdig ist: so bitt* 
ich jeden, sich recht bequem zu setzen und die vom Buchbinder- 
golde verpichten Blatter dieser Erzahlung vorher aufzuspalten 
und achtzugeben wie ein Spion. - 

Als Viktor im Schlosse war: stieB ihm der Pater auf, welcher 
sagte, er gehe auch mit. Es war ein Gluck; denn ohne diesen Weg- 
weiser hatt' er schwerlich den Pfad durch ein Labyrinth von Zim- 
mern in das veranderte Krankenkabinett gefunden. Und mit ihm 
ging wie ein Kibitz die Sorge durch alle Gemacher, er werde auf 5° 
dem Gesichte der Furstin ein Klaglibell gegen das eingesperrte 
billet doux erblicken ; aber nicht einmal ein Anfangbuchstabe oder 
das Rubrum eines Urteils stand auf ihrem Gesichte, als er vor sie 
trat, und seine Wetterwolke war seitwarts gegangen. Wenigstens 
stieB eine, die uber der Furstin selber hing, seine ab; sie war nam- 
lich krank, aber nicht an Augen bloB, und eine zweite Botschaft, 



27. HUNDPOSTTAG $H3 

die ihn holen sollte, hatt' ihn nur verfehlt. Sie empfing ihn im 
Bette — nicht ihrer Krankheit, sondern ihres Standes wegen : denn 
fur Damen von einigem Range ist das Bette das Hoflager - die 
Moosbank - der Hochaltar - die Konigpfalz - kurz der Fursten- 
stuhl und Sessel. Wie der Philosoph Descartes, der Abt Galiani 
und der alte Shandy, so konnen sie in diesem Treibhaus am besten 
denken und arbeiten. Ob sie gleich im Bette lag, so war sie, wie 
gesagt, doch nicht gesund, sondern von Kopf- und Augenschmer- 
zen angefallen. Daher hatte sie von ihrer fortgeschickten Diener- 

10 schaft fur heute nichts behalten als eine Kammerfrau, die sie sehr 
liebte, und die Miicke an der Wand, die sie irrte, und unsern Dok- 
tor, der eines von beiden unterlieB. Ich hatte eine im offenstehen- 
den Bilderkabinett sefihafte Hofdame gerne mitgezahlet; aber sie. 
saB so stumm und unbeweglich drauBen, daB Viktor schwur, sie 
ist entweder ein Kniestiick oder - eine Deutsche - oder beides. 
Es ersparte den verbriihten Augen der Fiif stin ebensoviel Schmer- 
zen, daB der griine Lichtschirm und die griinen Atlastapeten und 
die griinen Atlasgardinen im Krankenkabinett ein wogendes 
blaues Helldunkel zusammengossen, als es gesunden Augen Ver- 

20 gniigen verschaffte. Eine einzige Wachskerze stand auf einem 
Leuchter, den alle Jahreszeiten einfaBten, namlich abgebildete - 
iiber welche Sitte der GroBen, die Natur immer nur in Spielmar- 
ken, in effigie und durchs Kopierpapier, nie in natura selber zu ge- 
nieBen, ich hier weder meine Meinung noch die Griinde sagen 
kann, weil ein ganzes 

Extrablatt 

vohnoten ware, um nur unter so vielen moglichen Grunden, war- 
um sie iiberall - auf den Tapeten - auf den dessus des portes - des 
trumeaux - des cheminees - auf den Vasen - auf den Leuchtern — 
30 auf den plats de menage - auf den Lichtscher-Untersatzen - in 
ihren Garten - auf jedem Quark eine Landschaft, die sie nie be- 
treten, einen Salvator Rosa-Felsen, den sie nie besteigen, gern 
sitzen sehen ... ich sage, weil unter so vielen Grunden, warum sie 
es tun und der alten Natur dieses jus imaginum einraumen, der 
wahre nur von einem Extrablattchen auszuklauben ware, indem 



914 HESPERUS 

nur ein solches es weitlauftig entscheiden konnte, ob es davon 
komme, daB ihnen die Natur, wie einem Liebhaber die Geliebte, 
bei der ewigen Trennung ihr Bild geschenkt - oder davon, daB 
die Kiinstler ihnen, wie den alten Gottern, das gerade am liebsten 
bringen und opfern, was sie hassen - oder daB sie dem Kaiser 
Konstantin gleichen, der zur namlichen Zeit das wahre Kreuz ab- 
schafTte, und die Abbildungen desselben vermehrte und heiligte - 
oder daB sie aus feinerem Gefuhl das dauerhafte, aber musivische 
Gemalde der Natur, in welchem ganze Bergriicken die musivischen 
Steinchen sind,den zartern, aber kleinern Vexierbi Idem der Kiinst- 10 
Ier nachsetzen muljten - oder daB sie Leuten glichen (wenns 
solche gabe), die auf den Theatervorhang sich die ganze Oper mit 
alien Dekorationen abmalen lieBen, um sich das Aufziehen des 

Vorhanges und das Beschauen der Akte zu ersparen Und 

doch, wenn das Extrablattchen mitten im Entscheiden ware, wurde 
jeder aus Hundhunger nach bio Ben Vorfallen ReiBaus nehmen 
und auf nlchts auslaufen als auf die Fortsetzung der Vorfalle und 
auf 

das Ende des Extrablattes. 

Die Fiirstin hatte zwei Verhullungenj wovon er die eine sehr 2 C 
liebte und die andre sehr haBte. Die geliebte war ein Schleier, der 
fiir ihre wunden Augen eine Heilbinde war; ihm aber war einer 
die Folie und Fassung des weiblichen Gesichts, und er machte 
sich anheischig, den Satz als Respondent und Prases zugleich zu 
verteidigen, daB die Tugend nie besser mit Schonheit belohnet 
werde als in St. Ferieux bei Besangon : denn beim Sittenfeste be- 
kommt dort das beste Madchen einen Schleier zu 6 Livres. - Die 
verhaBte Verhiillungwaren die Handschuhe, gegen die eruberall 
seinen Fehdehandschuh hinwarf : »Eine Frau« - sagt* er im Han- 
noverischen — »wag' es einmal und ziehe gegen mich von Leder, 5 c 
namlich ihre Hand, und verfechte damit ohne Hulfe der Esaus- 
hande die Esaushande und sage, man muB sie nicht abziehen als im 
Bette. Anziehen mii Bte man sie hochstens da, konnt* ich versetzen ; 
aber ich werde anfragen : zu was dienen denn am Ende die schon- 
sten Hande, die ich sehe, wenn sie immer unter den Fliigeldecken 



27. HUNDPOSTTAG 9 1 5 

liegen, als waren wir Manner persische Konige? Und ist es 
dann zu streng, wenn man Personen, die solche nachgemachte 
Hande von Leder oder Seide tragen, ins Gesicht sagt, sie glichen 
der Mediceischen Venus, sogar bis auf die Hande 1 ? Man ant- 
worte!- 

Oberhaupt ist in diesem dunkeln griinen Kabinett fast alles - 
Agnolas schone romische Schultern ausgenommen - zugehullt; 
sogar zwei Heiligenbilder warens. Denn ein gemaltes Marienbild 
mit einer wahren metallischen Krone - es sollte kein Sinnbild der 

io Regenten mit Vexier-Kopfen unter echten Kronen sein - deckten 
die Zedern der Bette-Federbusche zu; und uber einen sehr hub- 
schen heiligen Sebastian von Tizian - aus dem Palast Barbarigo 
in Venedig kopiert - (der Mann sah mit seinen Pfeilen wie ein 
Stachelschwein aus und hing doch neben ihrem Kopfkissen) hatte 
sie die Bettgardine weiter vorgezogen, als sein Namenvetter ohne 
Pfeile kam, der mehr anbetete als angebetet wurde. Viele ver- 
sicherten mich seitdem, es sei ein Sebastian von van Dyk aus der 
Diisseldorfer Galerie gewesen; aber weiter unten werd* ich zei- 
gen, warum nicht. 

ao AuBer einem weiblichen Auge, das hinter einem Schleier niht, 
gibts nichts Schoneres als eines, das (hier hat der Teuftl sechs 
End-S hintereinander) ihn gerade wegleget. Dem armen Doktor 
schlug eine solche schone Glut entgegen - da er als Okulist ver- 
fahren wollte - ? daB er sogleich als Protomedikus ihres Kopfes 
verfuhr, um an ihre Hand zu fuhlen und sich dadurch zu retten. 
Denn wahrend sie den Handschuh-Kallus von ihrer Hand - es 
waren aber nur halbe Handschuhe mit nackten Fingern oder halbe 
Fliigeldecken, d.h. hemiptera-herunterzupfte: so war der Dok- 
tor, weil sie darauf hinsehen muBte, in der groBten Sicherheit von 

30 der Welt, und das griechische Feuer fuhr ganz neben ihm vorbei. 
Daher ist recht mit Bedacht in die Feuerordnung der Moral ein 
ganzer, fast zu langer Artikel hineingesetzt, ders jungen Madchen 
verbietet, mit den Augen frei wie mit bloBem Lichte in dem Be- 
suchsaale herumzugehen, weil so viel brennbares Zeug darin steht 
- wir samtlich -, sondern sie miissen solche in einen Strickstrumpf 
1 Die Hande der Mediceischen Venus sind neu und erganzt. 



5>l6 HESPERUS 

oder Nahrahmen oder in ein dickes Buch - z. B. in die Hundpost- 
tage — stecken wie in eine Laterne. 

— Es ist wahrlich ein Jammer: seit ich und das Publikum im 
furstlichen Zimmer sind, folgt eine Ausschweifung nach der an- 
dern - ich meine Sternische^ - 

Der furstliche Puis ging noch etwas erhitzter als dessen seiner, 
der ihn hier beschreibt. Sie hatte kurz vorher, eh* er kam, einen 
warmen Verband aus zerbratnen Apfeln von den Augen abge- 
nommen. Sie begehrte einen Zwischenverband, indes man das zu- 
bereiten wiirde, was der Doktor verordnete. Er konnte aber jetzt ic 
in der Nacht, bei diesem Wirrwarr des Helldunkels, in alien vier 
Kammern seines Gehirns und in den acht kleinern Gehirnen der 
vierten Gehirnkammer keinen Augendoktor auftreiben als den 
Doktor v. Rosens tein y welcher darin aufstand und ihm riet, er 
solle raten, Safranpulver, ein jtel Kampfer und zerschmolzene 
Winterapfel auf gezupfte feine Linnen zu streichen. Die Kammer- 
frau wurde fortgeschickt, die Zubereitung des Rezeptes zu be- 
sorgen oder zu befehlen, nachdem sie vorher ein schwarzes Taft- 
band mit dem Apfeln-Oberschlage um zwei der schonsten Augen 
vorgebunden hatte, die einer angenehmern Binde und Blindheit 20 
wiirdig waren. Ich bin lebhaft, wenn ich schreibe: der Cberschlag 
schien aus dem Apfel der Schonheit - und das schwarze Band aus 
aneinander gestoBenen Schminkmuschen gemacht zu sein. Der 
Pater ging auch fort, sobald er die Hoffnung der baldigen Heilung 
vom Doktor hatte. Fur den Medikus wars aber wahrhaftig jetzt 
kein Kinderspiel, einem italienischen Rosen- und Madonnenge- 
sicht gegeniiber zu sitzen - noch dazu so nahe, daB er den Atem 
flustern horen kann, nachdem er ihn vorher wachsen sehen konnte 
- einem Gesicht gegeniiber zu halten (mem' ich, war kein Spiel), 
auf dem Rosen den Lilien eingeimpfet sind wie Abendrote den 30 
lichten Mondwolken, und das ein malerischer Schatten, namlich 
ein schwarzes Ordenband, eine priesterliche Kopf binde, ein wah- 
rer postilion d'amour, so schon zerteilt und hebt - ein zugebund- 
nes Gesicht, das er recht bequem in einem fort anschauen kann, 
und das sich (in einer malerischen Halbstellung) auf das Kopf- 
kissen und auf die Hand, ihm zugerichtet, stiitzt 



27. HUNDPOSTTAG 917 

Ich hatte eine Steigerung versuchen und bej Sebastians Seele 
anfangen sollen, die heute aus ihrer eignen Schwermut, aus ihren 
Sorgen, aus ihrer durch die Zeuselsche Verleumdung vergroBer- 
ten Liebe fur Agnola lamer Schonheitlinien und fiussige Tuschen 
machte, um damit in dessen eignes Gesicht ein so schones neues 
hineinzumalen, als je eine schone Seele eines auf Leinwand, oder 
am eignen Kopf, oder an einem fremden erschaffen hat. 
Agnola machte wohl diese Bemerkung eher als ich. 
Es tat freilich dem Paare schlechten Vorschub, daB es unter - 

o nicht vier Augen (denn Agnola war zugehangen), sondern unter 
— zwei Augen war ; denn die beiden andern Augen der Hofdame 
im Kabinett, aus denen Viktor nicht eher klug werden konnte als 
jetzt, da die furstHchen zu waren und er ohne Fragen durch Blicke 
und Anlacheln das starre Ding auf dem Sessel drinnen im Kabinett 
untersuchen konnte, waren wahrhaftig. gemalt und der Rumpf 
dazu, der sie trug. 

Es frappierte ihn jetzo, daB er wider alle Hofordnung allein bei 
der Furstin sein durfte; aber er sagte sich, sie ist eine Italienerin - 
eine Patientin - eine kleine schone Phantastin - (letztes war sogar 

o aus dem ungewohnlichen Winterneglige und Sizilien-Feuer er- 
sichtlich). - Er konnte bisher (und auch heute vor dem Verbande 
der Augen) den rechten Ton gar nicht bei ihr treffen; denn da sie 
zu fein war fur eine Deutsche, zu wenig zartlich fur eine Eng- 
landerin, zu lebhaft fiir eine Spanierin: so hatt' er auf sie freilich 
geschrieben p. p. p. (passe par Paris, welches auf den iiber Paris 
gelaufnen Briefen steht), er hatt* es, sag' ich, ware sie nicht wie- 
der zu innig-leidensphaftlich gewesen fiir eine Pariserin. Daran 
stieB sichs. — Aber da zwei Menschen sich mutiger und freier 
unterreden, wenn einer oder beide im Finstern sitzen - und Agnola 

> saB da -: so war Viktor doch heute nicht ganz und gar so ein- 
faltig wie ein Schaf. Noch dazu machte ihn der Kleinodienschrank 
beherzt, in dem er - sie konnt' es nicht sehen, daB er unhoflich 
herumsah - zu seiner Freude unter 20 Uhren keine montre a re- 
gulateur ausfand. Sie fragte ihn, ob sie bis zum dritten Feiertage 
so hergestellt sein werde, daB sie zum Vergniigen des Fiirsten auf 
dem Balle etwas beitragen konne. Er bejahete es, ob er gleich 



91 8 HESPERUS 

wuBte, sie truge noch mehr bei, wenn sie wegbliebe, und ob sie 
gleich dasselbe wuBte. - Hier dauerte sie ihn, und er wollt* ihr 
alles offenbaren. Er wollte nicht etwan plump sagen: »In GroB- 
kussewitz HeB ich mich vom Teufel breitschlagen, daB ich in die 
Uhr Ew. Durchlaucht einen Liebesantrag eingeschwarzet«; son- 
dern er wollte im schonsten Seelenergusse mit dem pochenden 
Busen niederfallen und sagen: »Nicht aus Furcht der Strafe, son- 
dern aus Furcht, daB das Gestandnis meines Fehlers einige Ahn- 
lichkeit mit der Wiederholung desselben erhalte, hab* ichs bisher 
verborgen, daB ich einmal eine Hochachtung, in der ich nur Ihren i 
Hof, und nicht den Gebieter desselben nachahmen darf, weniger 
zu stark als zu kiihri ausgedriickt habe; aber die Starke der Ge- 
fuhle wird leicht mit der RechtmaBigkeit derselben verwechselt.« 

— Er setzte dieses Niederfallen npch aus, weil er hinter der Gar- 
dine einen goldnen Streif wahrnahm, der der Anfang eines Bilder- 
rahmens zu sein schien. Dieses EinfaBgewachs muBte doch um 
etwas Herumlaufen, um ein Bild, mein' ich - und das wollt' er 
gern wissen. 

Der verdammte Hofapotheker samt seiner Verleumdung hatt' 
es zu verantworten, daB er das wollte; nicht als ob er glaubte, daB 2 
Matzens Gesicht umgoldet hinter dem Bette hinge: sondern weil 
ihm heute allerlei aufgefallen war. Er konnt' es, da ihres Auges 
Tapetentiir und Sprachgitter schwarz verhangen war, recht leicht 
machen: er durfte nur die linke Hand leis' auf die Bettkante auf- 
stemmen und so, hineingebogen und iiber ihr mit gehaltenem 
Atem schwebend, mit der rechten iiber das Bette (es war schmal 
und er lang) hinubergreifen und die Gardine ein wenig zupfen - 
so wuBt' er, was dahinter hing. Ich sag' es noch einmal: ohne den 
Apotheker war's ihm gar nicht eingefallen. Ein Verleumder macht, 
daB man wenigstens jede Handhing um ihren PaB befragt - man 3 
tuts bloB, um den Verleumder recht augenscheinlich zu wider- 
legen - und da oft die unschuldigste keinen GesundheitpaB hat : 
so schiittelt man den Kopf und sagt: es ist wahre Verleumdung, 
aber aufpassen will ich denn doch. 

Er hatte etlichemal den Versuch gemacht, hinuberzulangen; 
aber da sie immer zu sprechen und er immer zu antworten hatte, 



27. HUNDPOSTTAG 919 

so gings nicht, wenn er nicht seine Annaherung an ihre Ohren 
verraten wollte. Die Gesprache betrafen den Ball - die Gegen- 
wart und Krankheit ihrer Hofdame Klotilde - die Stellvertreterin 
der Ietzten, Joachime, iiber deren Anstellung sich Viktor herzlich 
kalt ausdruckte; er konnte es bei Agnola niemals iiber Hof-Neuig- 
keiten hinaustreiben ; sie schien alles Abstrakte und Metaphysische 
zu hassen oder zu unkennen ; und vollends von Empfindungen 
mit ihr zu reden - was er sonst bei jeder am liebsten tat, und wozu 
ihm auch des Gemahls seine AnlaB und Stoffgenug gegeben hat- 

10 ten — , kam ihm nicht viel besser vor, als sie gar zu haben. 

Als er seine kalte Antwort iiber die Erhebung Joachimens ge- 
geben hatte - eine Kalte, die mit seiner heutigen schwarmerischen 
gefiihlvollen Warme fur die Fiirstin einen schmeichelhaften Ab- 
stich machte-: so wollt* er in die halbe Takt-Pause darauf, welche 
Agnola mit Denken ausfiillte, die Aufhebung des Vorhangs 
verlegen. Er stemmte die Hand auf, hielt den Atem auf, zog den 
Vorhang auf - aber der heilige Sebastian war dahinter, den ich 
schon oben besagt, und der ganz gewifl von Tizian, und nicht von 
van Dyk war,weil erunserem Viktor so ahnlich sari 1 , daB es ihm 

20 selber glaublich wurde, der Pater habe ihn nach seiner Wachs- 
statue in St. Liine dazu kopiert. Der Heilige kam ihm noch schlim- 
mer vor als der Evangelist - nicht well er dachte, das Portrat sei 
sein Namenvetter, sondern weil ihm einflel, warum die Weiber in 
Italien zuweilen Heiligenbilder verkangen. Die Ursache kann be- 
kanntlich einen Holzschnitt zu den zehn Geboten - Goschen und 
Unger soil ten den Katechismus mit geschmackvollern Schnitten 
zu den Verboten herausgeben, als die alten sind - ausfiillen. Auch 
die Maria iiber dem Bette war mit Federbiischen und allem ver- 
schleiert.... Zeusel, Zeusel! hattest du nicht verleumdet, diese 

30 ganze Lebensbeschreibung liefe (soviet ich voraussehen kann) 
wohl anders! - 

Er erhielt sich, durch Anstemmung der Rechten an die Wand, 

iiber der schonen Blinden schwebend, weil ihn eine kleine Welt- 

kugel bei der Zentripetalkraft anfaBte und ihn aus seinem Zuriick- 

laufe brachte. - Denn weil die Kranke auf der rechten Seite ruhte : 

1 Denn der Sebastian van Dyks soil diesem Maler selber ahnlich sein. 



920 HESPERUS 

so war vom aufgerollten Haar eine Wolke nach der andern iiber 
das Herz und iiber den Lilienhiigel, welchen Seufzer tragen, hin- 
iibergeflossen, und die zum andern Hiigel sinkenden Locken hat- 
ten dort nicht so viel iiberdecken konnen, als sie hier entkleidet 
hatten. Den Locken sank langsam das Spitzengewebe nach, und 
die Herzblatten und die reifen Bliiten blatterten sich ab von der 
aufdringenden Apfel-Frucht... Teurer asthetischer Held dieser 
Posttage, wirst du ein moralischer bleiben, jetzt ungesehen han- 
gend iiber diesem wahren globe de compression von Belidor - 
iiber dieser %unehmenden Mondkugel, wo von man nie die andere ic 
Halfte sieht - neben dieser Anhohe, die man wie andre Anhohen 
urn keine Festung dulden sollte - und noch dazu an einem Hofe, 
wo man sonst alles Erhabne durch die Kleiderordnung erdriickt? 

Sobald er aus dem Bette und Paulinum ist: will ich mich mit 
dem Leser weitlauftig iiber den ganzen Vorfall entzweien - jetzo 
muB er erst erzahlt werden in einem fort und mit vielem Feuer. 

Er war gleichsam in die Luft geheftet - Aber endlich wars Zeit, 
aus dieser heifien Zone aller Gefiihle und der Stellung zu weichen. 
Noch dazu erhohte ein neuer Umstand Gefahr und Reiz zugleich. 
- Ein langer Seufzer schien ihren ganzen Busen zu iiberladen und ^ 
aufzuheben und wie ein Zephyr durch einen Lilienflor zu wogen, 
und der iiberbauende Schneehiigel schien vom schwellenden Her- 
zen, das unter ihm gliihte, und vom schwellenden Seufzer zu zit- 
tern. — Die Hand der zugehiillten Gottin bewegte sich mecha- 
nisch nach dem eingekerkerten Auge, als wollte sie eine Trane 
hinter dem Bande wegdrucken. Viktor, in Sorge, sie verschiebe 
die Binde, zieht die Rechte ab von der Wand, und die Linke vom 
Bette, um, auf den Zehen schwebend, ohne Bestreifen sich aus 
diesem Zauberhimmel herauszubeugen. 

Zu spat! - Das Band ist herab von ihren Augen - vielleicht 3c 
war sein Seufzer zu nahe gewesen oder sein Schweigen zu lange. - 

Und die enthullten Augen finden iiber sich einen begeisterten, 
in Liebe zerronnenen, im Anfange einer Umarmung schweben- 
den Jiingling .... Erstarrt hing er in der versteinerten Lage - ihre 
von Schmerzen entbrannten Augen iiberquollen schnell vom mil- 
dern Lichte der Liebe - sie sagte heiB und leise: »comment?« - 



2J. HUNDPOSTTAG 921 

Und gelahmt zur Entschuldigung, bebend, sinkend, gliihend, 
sterbend fallt er auf die heiBen Lippen nieder und auf den schla- 
genden Busen. - Er schloB seine Augen vor Entziickung und vor 
Besturzung zu, und blind und liebestrunken und kiihn und bange 
wuchs er mit seinen trinkenden Lippen an ihre an — als plotzlich 
in sein auf jeden kommenden Laut gespanntes Ohr der Nacht- 
wachter-Ausruf der zwolften Stunde fuhr - und als Agnola wie 
mit einer fremden hereindringenden Hand ihn abstemmte, um 
eine blutige Hemdnadel wegzuwerfen — 

10 Wie ein Weltgericht in Nachtwolken schmetterte des Wachters 
einfache Ermahnung, an den Tod und an die zwolfte Geister- 
stunde dieses Mitternachtlebens zu denken, in seine Ohren, vor 
denen die Blutstrome des Herzens voruberbrausten - Der Ruf 
auf der Gasse schien von Emanuel zu kommen und zu sagen: 
»Horion! Beflecke deine Seele nicht und falle nicht ab von deinem 
Emanuel und von dir ! Schau an die Leinwand iiber ihrem kranken 
Auge, als verhullte es der Tod - und sinke nicht !« 

»Ich sinke nicht!« sagte sein ganzes Herz: er wand sich mit 
ehrerbietigem Schonen aus den pulsierenden Armen und fiel, er- 

20 starrend vor der Moglichkeit einer Nachahmung des elenden 
Matthieu, den er so verachtet hatte, auBerhalb des Bettes an ihrer 
hinausgenommenen Hand mit vorstromenden Tranen nieder 
und sagte: 

»Vergeben Sie dem Jiingling - seinem iiberwaltigten Herzen - 

seinen geblendeten Augen ich verdiene alle Strafen, jede ist 

mir eine Vergebung - aber ich habe niemand vergessen als mich.« 
— »Mais c'est moi que j'oublie en Vous pardonnanw 1 , sagte sie 
mit einem zweideutigen Auge, und er stand auf und suchte sich, 
da ihm ihre Antwort die Wahl zwischen der angenehmsten und 

30 der demiitigsten Auslegung anbot, gern selber mit der letzten 
heim - Agnolas Auge blitzte vor Liebe - dann vor Zorn - dann 
vor Liebe - dann schloB sie es - er trat in die ehrerbietigste Ent- 
fernung zuruck - sie offnete es wieder und kehrte ihr. Gesicht kalt 
gegen die Wand und gab durch einen geheimen Druck an die 
Wand, der, glaub* ich, eine eigene Klingel im Zimmer der Kam- 
1 Aber ich vergesse hingegen mich, wenn ich verzeihe. 



922 HESPERUS 

merfrau regierte, der letzten den Befehl zu eilen - und in einigen 
Minuten kam diese mit der Augen-Gurt. Naturlicherweise spielte 
man (wie im Leben des Menschen) den funften Akt so hinaus, als 
ware der dritte und vierte gar nicht dagewesen. - Dann zog er 
hoflich ab. 

So ! - Nun fangen ich und der Leser daruber zu fechten an, und 
Viktor daruber zu denken. Recht war seine Umarmung nicht— 
seine Entdeckreise nach der Wand und seine Gemaldeausstellung 
waren es auch nicht -, aber klug war sie; denn er konnte doch 
wahrlich nicht zuriickpurzeln und sagen: »Ich dachte, Matz hange i< 
hinter dem Bette.« ; — Darauf antworten mir freilich Leute von Er- 
fahrung : »Wir sind hier nicht daruber mit ihm unzufrieden, daB er 
die Klugheit der Tugend vorzog, sondern daruber vielmehr, daB 
ers nach dem Kusse nicht wieder so machte - Dieser KuB ist ein zu 
kleiner Fehler, als daB ihn Agnola vergeben konnte.« Ich merke, 
diese Leute von Erfahrung sind Anhanger von der Sekte, welche 
in meinem Buche die Fiirstin wegen so vieler halben Beweise 
unter diejenigen Weiber rechnet, die, zu stolz und zu hart fur die 
Liebe des Herzens, die Liebe der Smne nur fliichtig mit der Liebe 
zum Herrschen abwechseln lassen, und die es nur tun, urn aUs *c 
Amors Binde ein Leitseil, aus seinen Pfeilen Sporen und Steig- 
eisen zu machen. Es sind mir auch die halben Beweise recht gut 
bekannt, womit sich diese Sekte deckt- die Bigotterie der Fiirstin 
— ihr Beichtabend — ihre bisherige Aufmerksamkeit fur meinen 
Helden -das Verdecken der gemalten Marie und das Enthullen der 
lebendigern - und alle Umstande meiner Erzahlung. Aber ich 
kann so etwas von einer Freundin Klotildens (diese miiBte sich 
denn gerade deswegen von ihr geschieden oder aus Seelengiite 
diese nur dem mannlichen Geschlechte gewohnlichern Eilboten 
des Temperaments gar nicht begriffen haben) unmoglich eher 3c 
denken, als bis mich in der Folge offenbare Spuren eines mehr 
erbitterten als gekrdnkten Weibes dazu notigen. - 

Ich komme von meinem Versprechen ganz ab, einiges naher zu 
legen, was gewiBbei Unparteiischen meinen Helden daruber, wo 
nicht rechtfertigt, doch entschuldigt, daB er nach dem Kusse so- 
zusagen wieder tugendhaft wurde, und nicht des leibhaften Teu- 



27. HUNDPOSTTAG 923 

fels lebendlg. Ich stelle keck unter die Milderunggrunde seine Un- 
bekanntschaft mit solchen Weibern, die, gleich den Spartern, 
mutig nicht nach der Zahlder Feinde ihrer Tugend fragen, son- 
dern nach dem One derselben; er war wohl oft bei ihnen und in 
ihrem Lager, aber seine Tugend hinderte sie, ihm die ihrige zu 
zeigen. - Nicht so viel wie durch jenes wird er durch die Einwir- 
kung des Nachtwachters und durch das Erinnern an den Tod 
entschuldigt; denn dieses muB selber entschuldigt werden; - es 
ist aber auch nur gar zu gewiB, daB gewisse Menschen, die zu 

io Philosophen oder auch zu Dichtern organisiert sind, gerade dann, 
und zwar allemal, statt ihres Zustandes allgemeine Ideen be- 
schauen, wo es andere gar nicht konnen und wo sie nichts sind 
als Ich, namlich in den groBten Gefahren, in den groBten Lei- 
den, in den groBten Freuden. — 

Ein Billiger schiebt alles auf den Apotheker, der Viktors mora- 
lischer und mechamscher Be tt%opf oder Bettauf heifer war; denn 
da der ihm den edlen Matz in einer ahn lichen Lage (aber ohne 
Bettzopf ) vorgemalet hatte : so wurde der Abscheu, welchen Vik- 
tor einige Tage vorher gegen des Evangelisten Betragen empfun- 

*o den hatte, in ihm zum lahmenden Unvermogen, einige Tage dar- 
auf im geringsten es zu kopieren. — O wenn wir doch jede Siinde, 
zu der wir oder andre uns versuchen, ein paar Tage vorher von 
einem wahren Schuft begehen sahen, den wir anspeien! - Konn- 
ten wir dann dem Schufte nacheifern? 

Endlich braucht man nur zu Viktor in den Erker, wo er jetzo 
sitzt in einem sonderbaren Barometerstande, hinzusehen, wenn 
man den vorigen beurteilen will. Sein jetziger ist namlich eine 
Mischung von Leerheit, Unzufriedenheit (mit sich und jedem), 
von groBerer Liebe gegen Agnola, von Rechtfertigungen dieser 

50 Agnola, und doch von einem Unvermogen^ sie sich als eine nahe 
Freundin Klotildens zu denken. - 

Mich wird das wenige, was ich in der Eile zusammengetragen, 
niemals reuen, wenn ich dadurch einige gliickliche Winke ge- 
geben hatte, wie gut meinen Held bei seinem Betragen nach dem 
Kusse, das strengen Leuten von Welt auffallen muB, eine unan- 
genehme Vereinigung von moralischen Zwingmitteln vorschutzen 



924 HESPERUS 

konne, und wenn es mir also gegliickt ware, ihm die Hochachtung, 
um die er sich brachte, weil er den fur seinen Finger zu weiten 
Furstenring nicht mit dem langen Seidenfaden der Liebe iiber- 
wickelte zum Anpassen, am Ende des 27sten Kapitels wieder zu 
geben 

28. HlJNDPOSTTAG 
Osterfest 

Einen Hundtag, der so lang und wichtig ist wie der 28ste, darf 
man schon in drei Feiertage zerfallen. 

Erster Osterfeiertag k 

Ankunft im Pfarrhause - Klub der Drillinge - Karpfe 

Am ersten Ostertage schlich Sebastian, voll Schneewolken wie 
der Himmel iiber ihm, aus dem Totenhaus der Tugend, aus den 
Wirtschaftgebauden der Leidenschaften, ich meine aus der Resi- 
denzstadt -aber erst gegen Abend, um heute mit seinem von einem 
halbjahrigen Gewitterregen bodenlos gewordnen Herzen keinem 
Freunde lange zur Last zu sein. Auf dem Berge, hinter welchem 
Flachsenfingen wie durch einen Erdfall einsinkt, kehrt' er sich um 
gegen die- dunkle Stadt und lieB vor seiner Seele wie einen Abend- 
nebel die Erinnerung voruberziehen, wie er vor drei Vierteljahren *c 
im Abendglanze des Sommers und der Hoffnung so frohlich iiber 
diese Hauser geblickt habe - ich beschrieb es langst -, und er ver- 
glich seine damaligen Aussichten mit seiner heutigen Wiiste; er 
sagte endlich : »Sage dirs nur geradezu, was du hast und willst - 
du hast namlich nichts mehr, kein geliebtes und liebendes Herz 
in der ganzen Stadt - aber du willst noch einmal nach St. Liine 
marschieren und ganz verarmt vom blassen Engel, den dein ausge- 
stohlnes Herz nicht vergessen kann,den ^weiten Abschied nehmen, 
wie du der Sonne nachsteigst und sie, wenn du ihren Untergang 
aus einem Tale gesehen, noch einmal auf einem Berge sinken 30 
siehest.«... 



28. HUNDPOSTTAG 925 

Funf halbe Sabbaterwege vom Dorfe erblickte er den Hof ka- 
plan, von einem Katechumenen (sowohl des Schneiderhandwerks 
als des Christen turns) gejagt. Vergeblich suchte er und der junge 
Schneider den vorausgehetzten Seelenhirten zu erlaufen. Der Hirt 
stand nicht eher fest, als bis der Junge in sein Haus hinein war. 
Ein Hundertundzwanzigpfiinder (das ist mein physisches Ge- 
wicht) bekommt nicht mehr asthetisches, wenn er die unbedeu- 
tende Ursache des unbedeutenden Rennens so lange bei sich be- 
halt und es nicht eher sagt als jetzo, daB der Kaplan durchaus 

10 niemand hinter sich gehen horen konnte, weil er besorgte, der 
Mensch erschmeiB* ihn von hinten. Nun wollte der Lehrbursche 
in die FuBstapfen seines geistlichen Meisters treten und ihm nach- 
kommen - je arger der Meister ins Freie setzte, um jenen zuriick- 
zulassen, desto weiter sprang der Schuler vor, ihn zu ertappen - 
das war der ganze Bettel; aber so jagen Menschen Menschen. 

Viktor Hef mit aufgeflognen Armen an hangende, die der Eig- 
ner in der Angst nicht erheben konnte. Aber im Pfarrhause legten 
sich zwei warmere um seinen ausgefrornen Busen, die seiner 
Landsmannin ; und die Pfarrerin triibte seine und ihre Aufersteh- 

20 Freude nicht mit einer einzigen Klage iiber seine bisherige Ent- 
fernung - er erwiderte diese freundschaftliche Feinheit, die dem 
andern unniitze Entschuldigungen erlieB, mit doppelter Warme 
und mit einem dickbandigen Klaglibell gegen seine eigne Narr- * 
heiten. Sie fuhrte ihn eine Treppe im freudigen, heute mit lauter 
erleuchteten Stockwerken durchbrochnen Pfarrhause hinauf an 
ihres lieben Sohnes Brust und vor die Augen der drei verwandten 

Sonne aus einem Vaterland, vor die Drillinge 

O ihr vier Menschen eines Herzens, druckt meines verlassenen 
Viktors seines an eurem warm und macht den Guten froh, nur 

30 auf einen Abend — Ich bins wahrlich selber, seit dem Pascha- 
Ausgange aus dem fiachsenflngischen Agypten. Ich will daher das 
28ste Kapitel so lang machen, wie das Baddorf selber ist. Meinem 
Werke wird dadurch Gewicht erteilt bei wahren Kunstrichtern - 
aber auch bei Postmeistern } die von mir, wenn ichs in die Verlags- 
handlung absende, fiirs Wagen etwas Erhebliches ziehen... Soil 
aber e'in Autor so schabicht sein und seine Empfindungenj bloB 



926 HESPERUS 

weil sie ein Postsekretar mehr nach seiner eignen abwiegt als nach 
der Posttaxe, des Portos wegen abkiirzen? Und muntert mich 
nicht die Kur-, die Fiirsten- und die Stadte-Bank in Regensburg 
zum Gegenteil auf, zu verlangerten Empfindungen, indem be- 
sagte Banke mir durch einen Reichsabschied zwei Drittel Post- 
geld fur Drucksachen erlassen, um die Gelehrsamkeit, hoffen sie, 
in Gang zu bringen und die Empfindsamkeit? 

Der edle Evangelist war zwar auch mit droben - er und Jo- 
achime hatten die Hofdame hof lich zu den Eltern begleitet -, aber 
hier auf dem Lande, wo weniger moralisches Unkraut steht als in 10 
S tad ten (so wie weniger botanisches in Feldern als in Garten) und 
wo man Freuden ohne maitres de deplaisirs genieBet, hier, wo in 
Viktor die Liebe des Vaterlandes die Sehnsucht nach jeder andern 
stillte, konnte niemand unglucklich sein als der, ders verdiente. 
Matz verschwand da wie eine Krote unter Tulpen. Viktor hatte 
die Briten geliebt, auch ohne die vaterlandische Blutverwandt- 
schaft - und hatte die Hollander gelastert, auch mit derselben; 
daher schreibt sich seine unbesonnene Rede, diese Volker malten 
sich in ihren Tabakpfeifen, indem die englischen aufgerichtete 
Kopfe hatten und die belgischen hangende. 20 

Alle drei waren von der Oppositionpartei und verloren ihr 
kaltes Blut iiber das eiskalte von Pitt. Der Korrespondent der 
Hundtage schreibt mir nicht, warum - obs war, weil sie vom Mi- 
nister beleidigt wurden - oder ob sie am fiirchterlichen Welt- 
gerichte und der Totenauferstehung in Frankreich, wo die Sonne 
iiber Phonix-Asche und Krokodileneier zugleich briitet, nahern 
Anteil nahmen - oder weswegen sonst. Er berichtet mir iiber- 
haupt nichts weiter von ihnen als ihre Namen, narnlkh Kaspar, 
Melchior und Balthasar, welches die Namen der heiligen drei 
Konige aus Morgenland waren 1 . 3<= 

1 Nach der gemeinen Meinung; denn ich bin der andern zugetan, nach der 
sie heiCen A tor, Sator, Peratoras. - Diese Namen unterscheiden die Konige 
ganz von den Hirten, die Misael, Acheel, Cyriakus und Stephanus heiBen 
und auch eher kamen, was ich alles aus Casaub. exercit. ad Ann. Baron. II. 
1 o. hier abschreibe, weil ich mich gar nicht schame, etwas Unniitzes zu wissen, 
sobald ein Casaubonus sich desselben nicht schamt und sobald es noch dazu 
ein gelehrtes ist. 



28. HUNDPOSTTAG 927 

Der, der sich aus Laune Melchior nannte, verbarg unter einer 
phlegmatischen Eiskruste eine Gleicherglut und war ein Hekla, 
der erst seine Eisberge spellt, eh* er Flammen ausschiittet; mit 
kaltem Auge und schlaffer Stimme und welker Stirne sprach er, 
einsilbig, vielsinnig, gepreBt - er sah die Wahrheit nur in einem 
Brennspiegel, und seine Dinte war eine wegreiBende Wasserhose. 
- Der zweite Englander war ein Philosoph und Deutscher auf 
einmal. Den altern Kato, der zugleich den Mohrenkonig vor- 
stellte, kennt jeder. Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber ware, 

to daB gerade mein Held durch eine groBere heitere Besonnenheit 
der Denkfreiheit von ihnen alien unterschieden war - ich meine 
jenes sokratische helle Auge, das frei iiber und durch den Garten 
der Baume des Erkenntnisses umherblickt und das wahlet wie ein 
Mensch, anstatt daB andre vom Instinkt irgendeinem Satze, 
irgendeinem Apfel dieser Baume ausschlieBend zugetrieben wer- 
den, wie jedes Insekt seiner Frucht. Die moralische Freiheit wirkt 
so gut auf unsre Meinungen als auf unsre Taten ; und trotz der 
Entscheidgrunde beim Verstande und trotz der Beweggriinde 
beim Willen wahlt doch der Mensch sowohl sein System als sein 

20 Tun. 

Daher waren die Drillinge beinahe noch vor dem Abendessen 
kalt gegen Sebastian geworden im Lieben, bloB weil ers war im 
Urteilen. Er war heute mit ihnen zum ersten Male in einem Falle, 
worein er mit Flamin jeden Tag dreimal geriet: gewisse Menschen 
verschmerzen lieber uneingeschrankten Widerspruch als einge- 
schrankten Beifall. Die Sache war die : 

Matthieu gab durch seine satirischen Obertreibungen der klei- 
nen Unahnlichkeit zwischen Viktor und ihnen ein immer groBeres 
Hervortreten. Er sagte (nicht um anzuspielen, sondern um es zu 

50 scheinen), die Fursten, von denen die Untertanen wie vom sine- 
sischen Konig die Witterung des Staats erbaten, halfen sich wie 
jener Rektor, der den Kalender selber verfaBte nnd seinen Schti- 
lern (hier den Giinstlingen der Fursten) zulieB, das Wetter dazu 
zu machen. Auch sagt' er, die Dichter konnten wohl fiir die Frei- 
heit singen, aber nicht sprechen, sondern sie machten in furcht- 
samer Verfassung unter der Larve der Tragodienhelden die Stimme 



928 HESPERUS 

der Helden nach, so wie er einen ahnlichen SpaB oft an einem 
gebratnen Kalbskopfe gesehen, der der ganzen table zu briillen ge- 
schienen wie ein lebendes Kalb, indes nichts als ein lebender Laub- 
frosch darin gesteckt ware, der sich bloB mit seinem Quaken dar- 
aus horen lassen. »Aber eine noch groBere Feigheit waVs,« sagte 
Viktor, »nicht einmal zu singen; allein ich weiB, die Menschen 
sind jetzo weder barbarisch noch gebildet genug, urn die Dichter 
zu genieBen und zu befolgen ; die Dichter, die Religion, dieLeiden- 
schaften und die Weiber sind vier Dinge, die drei Zeiten erleben, 
wovon wir erst in der mittlern sind, sie zu verachten; die ver- : 
gangne war, sie zu vergottern, die kiinftige ist, sie zu verehrenA 
Die erziirnten Drillinge glaubten besonders, die Religion und die 
Weiber waren bloB fur den Staat. Viktors republikanische Ge- 
sinnungen waren ihnen ohnehin schon wegen seiner aristokra- 
tischen Verhaltnisse zweideutig. Da er nun gar dazusetzte: die 
Staatenfreiheit habe mit den kleinern Abgaben, mit groBerer 
Sicherheit des Eigen turns, mit bssserem Wohlkben, kurz mit der 
Steigerung des sinnlichen G liicks gar nichts zu schaffen, alles dies 
wohne oft noch reichlicher in Monarchien, und das, wofiir man 
Eigentum und Leben opfere, miisse doch etwas Hoheres sein als : 
Eigentum und Leben — da er ferner sagte: ein jeder Mensch von 
Bildung und Tugend kbe in einer republikanischen Regierform 
trotz den Verhaltnissen seines Leibes, so wie ja Gefangne in De~ 
mokr atien doch die Rechte der Freiheit genieBen - und da er gar 
nicht sowohl fur den Minister und das Oberhaus als fur das eng- 
lische Volk der Waffentrager und Kontradiktor wurde, v/eil die 
Grundsatze von den ersten beiden von jeher des letzten seine be- 
kriegt und doch nicht bestimmt hatten; weil die jetzige Klage so 
alt ware wie die (englische) Revolution ; weil der GrundriB der 
letzten nur in einer formlichen Gegenrevolution zerschlitzet wer- 3 
den konnte; weil alle Ungerechtigkeiten nach dem Schein der Ge- 
setze begangen wiirden, welches besser ware als eine Gerechtig- 
keit wider den Schein der Gesetze; und weil das Sprachgitter, das 
man jetzt um die englische PreBfreiheit 1 gemacht, nicht schlimmer 
sei als die athenischen Verbote, zu philosophieren, sondern besser 
1 Oberali ist von den Jahren 1792, 1793 die Rede. 



28. HUNDPOSTTAG 929 

als die Erlaubnisse der rormschen Kaiser, auf sie zu pasquillie- 
ren — 

...Die Englander lieben lange Rocke und Reden. Da er mit 
))da« anfing: so muB in seinem wie in meinem Perioden »jo« darauf 
kommen \ . . . 

So wars keinem Teufel recht, und Kato der Altere sagte : »wenn 
er diese Prinzipien im Oberhause vortmge, so entstiinde der groBte 
Larm dariiber, aber aus Beifall, und jeder Horer schriee noch: 
hear him!« Viktor sagte mit der Bescheidenheit eines Weltmanns: 
10 »er sei ein so warmer Republikaner und Altbrite wie sie alle, nur 
heute sei er zu unfahig, um aus diesen Grundsatzen zu erweisen, 
daB er ihnen gleiche'; - vielleicht im nachsten Klub!« - »Und der 
kann« (sagte der Hofkaplan) »an meinem Geburttage gehalten 
werden, in wenig Wochen.« - Wenn wirs erleben, ich und die 
Leser, so wird man uns hoffentlich als Altgevattern mit dazu ein- 
laden ; wir waren das erstemal (am 6ten Hundposttage) bekannt- 
lich auch dabei. 

Mein Held foderte den Menschen (zumal da er sich nicht Miine 
gab) zu wenig Achtung ab. Er arbeitete zwar um diesen Arbeit- 
20 lohn; wenn sie ihm aber nichts gaben: so wuBt' er tausend Ent- 
schuldigungen fiir die Menschen und zog seinen Miinzstempel 
heraus und schlug sich selber eineEhrenmedaille,indem er dabei 
schwur : »Ich will verdammt sein, wenn ich mich nicht das nachste- 
mal stolzer auffuhre und minder nachsichtig und iiberhaupt ernst- 
hafter, um eine gewisse Ehrfurcht zu erregen.« Das nachstemal 
soil noch kommen. Er vergab daher den Drillingen so schon, daB 
sie endlich den Menschenfreund mit leidenschaftlichen Armen auf 
immer an ihre Seele schlossen. 

Nach einer solchen Gradualdisputation machte er nichts lieber 
50 als etwas recht Tolles, Galantes, Kindisches - damals wars ein 
Weg in die Kiiche. Catinat sagte : der nur sei ein Held, qui jouerait 
une partie de quilles au sortie d'une bataille gagnee ou perdue - 
oder der nach einer gewonnenen Disputation in die Kuche gehen 
kann. Entweder nichts oder alles ist in diesem Tausch-Leben 
wichtig, sagt* er. In die Kuche, die nicht so schmutzig war wie ein 
franzosisches Schlafzimmer, sondern so rein wie ein belgischer 



93<3 HESPERUS 

Viehstall, war schon ein anderer Festhase und auBerordentlicher 
Gesandter eingelaufen, der Hofkaplan, der da seinem Berufe ob- 
lag. Er muBte zusehen, ob sein Karpfen-Vierpfunder - aus dem 
Pastoralteich gebiirtig und fur den Adoptivsohn Bastian aus- 
driicklich ausgewintert - nicht sowohl recht abgeschuppet (dar- 
uber setzt' er mit wenig Philosophic sich hinweg) als recht 
geschwanzet wurde. Es konnt' ihm doch wahrhaftig nicht gleich- 
giiltig sein, sondern als Mensch muBt* er den Schmerz zugleich 
empflnden und bekampfen, wenn ein Karpfe von soviel Pfunden, 
als ein Sterblicher Gehirn hat, so jammerlkh hinausgeschlitzet i 
wird, dai3 das eine Schwanzquotum nicht kleiner ist wie ein Haar- 
beutel, und das andre nicht groBer als eine Flofifeder.-Und doch 
ist diese ganze Nominalterrition von geringem Belang gegen eine 
ganz andere Realterrition (so sehr verschwindet erheblicher Kum- 
mer vor groBerem), die den Pfarrer mit der Drohung angstigte, 

daB man die Gallenblase des Vierpfiinders zerdriicke Seine 

hatte sich der andern sofort nachergossen — : »Um Gottes Willen 
bedachtiger, Appel! verbitter* mir den ersten Ostertag nicht«, 
sagt' er. Galle ist nach Boerhaave wahre Seife; daher waschet die 
satirische die halbe Lesewelt gleiBend und rein, und die Leber 2 
eines solchen Menschen ist die Seifenkugel eines Weltteils und 
seiner Kolonien. 

Es lief indes herrlich ab. - Aber beim Himmel! die Welt sollte 
nach dem Abdruck dieses Buchs einmal einsehen, daB ein Karpfen 
von vier Pfund - so lange gefiittert im Fischkasten, so geschickt 
ausgeweidet - mehr wiege auf der Fischwaage der Zufriedenheit 
als die goldnen Fischgrdten in rotem Felde des Wappens der Gra- 
fen von Windischgratz ! - 

Konnt' er denn lange in der Kuche - diesem Witwensitz seiner 
alten geschiednen Jugend — unter so vielen Freundinnen Klotil- 31 
dens, die ihm alle das Niedersinken und Weggehen derselben (im 
doppelten Sinne) vorklagten, stehen, ohne daB der Honigessig zu- 
riickgewunschter Freuden iiber seinen Gaumen lief und die Zuk- 
kung des Mitleidens durch sein Herz; ob er heute gleich im zwei- 
ten Stockwerk die Disputation iiber die Freiheit als ein wahres 
zerteilendes Mittel, als ein SchuBwasser, wenigstens als eine Ader- 



28. HUNDPOSTTAG 931 

laBbinde uber seine offne Adern iibergeschlagen hatte? Ich fragte, 
ob er an die Gute lange nicht denken konnte. - Aber ich wurde die 
Antwort gar nicht geben und aus Mitleiden mit dem unschuldigen 
Viktor es vor soviel uberrindeten Seelen - die in ihrer leeren 
Brusthohle die poetischen Freuden der Liebe gutheiBen und doch 
die poetischen Leiden derselben nicht - gar nicht offenbaren, 
wie oft er jeden Milchzucker des Schicksals mit dem giftigen 
Bleizucker der Erinnerung versetzte, wenn ich nicht deswegen 
muBte:... 

to - weil die kleine Julia wiederkam aus dem Schlosse und das 
Versprechen mitbrachte, morgen komme Tante schon (Klotilde). 
Dieses versprach also, daB die Ministers-Tochter morgen abfahre. 
- Man verarge den Pfarrleuten die Zudringlichkeit um Klotilden 
nicht: denn am dritten Feiertag geht sie zum Balle, am Tage dar- 

auf nach Maienthal - sie hatten ja nur noch morgen und heute 

Die kleine Julia hatte unser Flamin, dem ihr Penny-Postamt 
wohlgefiel, mitgebracht. - Ich bin moralisch gewiB, die Kaplanin 
sah meinem Helden soviel an, als ich von ihm schreibe, und sie 
liebte ihn so sehr, daB, wenn sie statt des Schicksals hatte dekre- 

10 tieren mtissen, sie vor Kummer gestorben ware, eh' sie es uber 
sich gewonnen hatte, den Sohn auf Kosten des Freundes zu be- 
gliicken. - So sehr gewann er durch eine schone Vereinigung von 
Feinheit, Empfindung und Phantasie die schonsten und weichsten 
Herzen, ich meine die weiblichen. 

Diese winzige Julia, der Nachflor der untergegangnen Giulia, 
band in Viktors Seele Rosen mit Nesseln zusammen^und alle 
seine heutigen Blumen der Freude hatten ihre Wurzeln in tiefen 
Tranen, die seine Brust verdeckte. Ihn ruhrte sogar der KuB von 
Klotildens Freundin, von Agathen. Er dachte an das Stamitzische 

jo Konzert und an ihr Nebeneinandersein und an den Florhut, der 
den Schmerz von zwei geliebten Augen verhing. Er bat Agathen, 
sie sollte von Klotilden diesen Hut entlehnen und ihm ein genaues 
Ebenbild darnach machen, weil ers verschenken wolle. - »Wenn 
sie fort ist« (sagte er zu sich) — »nein, aber wenn sie tot ist : dann 
wein* ich unverhiillt und sage alien Menschen frei heraus, daB ich 
sie geliebet habe.« - Du Lieber, uber dem Souper - ein Pfarrer 



932 HESPERUS 

kann eines geben - wird man den Glanz deiner Augen mehr dem 
sich selber entladenden Witze zuschreiben als dem zuriickgepreB- 
ten Tranenwasser, und ich konnte dich, wenn ich mitaBe, vor 
Riihrung nicht ansehen, wenn du unter dem Aufhammern und 
»Harten« der roten Eier dein uberquellendes Auge starr und halb- 
zugedeckt auf einen roten Eierpol niederzuheften suchtest und 
schweigend deinen Eier-Giebel dem Fallbocke des Eymannschen 
Eies unterstelltest, um Zeit zum Siege iiber die Stimme und Augen- 
hohle zu gewinnen! — Und doch kann ich nicht sehen, was du 
aus dieser Maske fur einen erheblichen Vorteil dann zu ziehen ge- 10 
denkst, wenn dir die alte Appel durch die kleine Iris und Expres- 
sin Julia - sie selber kann sichs nie unterfangen - ein geflecktes 
tatowiertes Ei, ein wahres gekochtes allegorisches Gemalde, zu- 
schickt, und wenn du die mit Scheidewasser darauf eingebeizten 
Blumenstucke und deinen Namen, mit VergiBmeinnicht umgraset, 
auf der zerbrechlichen Schale iiberliesest; ich sagte, was konnte 
dir deine vorige Verstellung helfen, wenn du jetzt, um den Ge- 
danken »VergiBmeinnicht« nicht hinauszudenken, eilig hinaus- 
gehest und den doppelten Vorwand nimmst, du mussest Apollo- 
nien danken und wegen der Ermiidung schon zur Ruhe gehen? - 2° 
O danken wirst du wohl, aber ruhen nicht ! . . . 



Zweiter Osterfeiertag 

Leichenrede auf sich selber - zweierlei entgegengesetzte Schicksale 
der Wachsstatue 



Der niedergefallene Schneehimmel lag auf der Gegend. Der 
Schnee machte traurig und erinnerte an das winterliche Nestel- 
knupfen der Natur. Es war der erste April, wo die Natur sozu- 
sagen die Jahrzeit selber in den April schickte. -Viktor hatte so viel 
mores langst gelernt, daB man, wenn man bei einem Hofkaplan 
im Hause ist, auch mit ihm in seine Predigt gehen miisse. Auch ; 
schritt er in Sakristeien aus demselben Grunde, warum er gern in 
Schafer-, Jagd- und Vogelhutten kroch. Er fand es nicht iiber- 



28. HUNDPOSTTAG 933 

trieben, daB der Kaplan (wie er zuletzt selber) sein Ersteigen der 
Kanzel - bloB weiler eine Menge Zurustungen dazu machte - dem 
Ersteigen eines Walks in Hinsicht der Wichtigkeit an die Seite 
setzte. Ja er disputierte unter dem Hauptliede mit ihm iiber die 
Stolgebiihren eines totgebornen Fotus und tat mit wenigem dar, 
daB ein Pfarrer von jedem Fotus - und war' er fiinf Nachte alt - 
die gehorigen Begrabnisgebtihren, die filzigen Eltern mochten 
immerhin fur das Ding keinen Leichensermon bestellen, fodern 
konnte. Der Kaplan machte einen wichtigen Einwurf; aber Vik- 

io tor hob ihn durch den wichtigen Vorschlag, daB ein Geistlicher 
sich (weil sonst die besten Fotus unterschlagen wiirden) so oft 
Leichengebuhren von jedem Paare zahlen lie Be, als es Taufgelder 
entrichten konnte. Der Kaplan versetzte: »Es ist dumm, daB die 
besten Pastoraltheologien liber diesen Punkt so hurtig weg sind 
wie Schnupftabak.« 

Bei soviel Laune meines Helden und bei soviel Lustigkeit mei- 
nes Pfarrers - der an jedem heiligen Abend keifte und urtelte wie 
ein Revolutionstribunalj und der sich an jedem ersten Feiertag 
milderte, bis er am dritten gar ein Engel wurde - sollte sich die 

20 Welt etwas anders versprechen, als was doch kommt: daB nam- 
lich Viktor aus jeder Stunde des kommenden Abends, welcher 
Klotilden zum vorletzten Male in seine Gesellschaft brachte, ein 
vorragendes Opfermesser blinken sah, in das er seinen wunden 
Busen driicken muB. Sie war auf heute gleichsam zu einem Valet- 
Abendmahl geladen - die Driliinge ohnehin. 

Endlich kam sie abends am Arme des verkannten Matthieu. - 
Wenn Ruska behauptet, daB die Zahl von 44435 556 Teufeln, die 
nach der Behauptung desGuliermusParisiensis um emesterbende 
Abtissin fiankieren, viel zu schwach angegeben sei 1 : so kann man 

50 leicht denken, wieviel Teufel um eine lebende, um eine bluhende 
schwadronieren mogen; ich meines Ortes nehme um eine Schone 
so viele Teufel an, als es Mannspersonen gibt. 

Als Klotilde erschien mit dem ins Abbliihen hineinlachelnden 
Angesicht, mit der erschopften Lautenstimme, die der Schmerz 
als eine eigne Fortepianos-Veranderung durch den Driicker aus 
1 Voetii select, disputat. theol. P. I. p. 918. 



934 HESPERUS 

uns bringt - aber ists nicht mit den Menschen wie mit den Orgeln, 
deren Menschenstimme am schonsten mit dem Tremulanten geht? 
- als sie so erschien : so hatte ihr schonster Freund die Wahl, ent- 
weder vor ihr niederzusinken mit den Worten: »La6 mich friiher 
sterben«, oder recht scherzhaft heute zu sein. 

Das letzte wahlt* er (ausgenommen gegen sie), urn seine 
Traume zu iibertauben. Daher warf er mit Historien und gesun- 
den Anmerkungen um sich - Daher schenkte er in die Reichs- 
operationskasse gegen die Empfindsamkeit auch diese Satire mit, 
daB sie die Marz- oder NaBgalle am menschlichen Acker sei, d.h. 10 
eine immer naBbleibende Stelle, auf der alles verfault. - Als das 
nichts verfing : trat er mit ganzen Staaten in Allianz und versprach 
sich, es wurde helfen, wenn er von ihnen anmerkte, daB die Gipfel 
derselben wie Waldbaume ineinander verwachsen waren, und daB 
es nichts wirkte, unten einen durchzusagen - daB die Gleichheit 
der Reiche die Gleichheit der Stande ersetzte oder vorbereitete - 
und daB das SchieBpulver, das bisher Heftpulver der Machte war, 
die wasserscheuen Wunden des Menschengeschlechts endlich aus- 
brennen und heilen werde. - Endlich als er offenbar merkte, daB 
es ihm geringen Vorschub tat, da er vermutete, Europa werde 20 
einmal zum Nordindten werden und derselbe Norden, der einmal 
das Brech- und Bauzeug der Erde war, werd* es noch einmal sein, 
aber der Norden auf der andern Halbkugel: so schlug er bei sei- 
nem chymischen Prozesse den nassen Weg ein und nahm (wie 
ein Gesandschaftsekretar) statt der Politik - Punsch vor. 

Aber nur Sorgen, nicht Wehmut oder Liebe lassen sich ver- 
trinken. Die in Nervengeist aufgelosten andern Geister ziehen 
sich mit einem magisch-schimmernden Zirkel um jede Idee, um 
jede Empfindung, die du darin hast, wie in Brauhausern die Lich- 
ter wegen des Dunstes in einem farbigen Kreise brennen. Das 3° 
Glas mit seinem heiBen Nebel ist ein papinischer Topf sogar des 
dichtesten Herzens und zersetzt die ganze Seele; der Trunk macht 
jeden zugleich weicher und kuhner. Ein weiches Herz war von 
jeher neben einer tapfern geharteten Faust. Da es noch fort- 
schneiete: so bot er Klotilden auf morgen seinen Muschel-Schlit- 
ten und sich (da er ohnehin zum Balle geladen war) zum fahrenden 



28. HUNDPOSTTAG 935 

Ritter an - wodurch er den Evangelisten notigte, sich als Schlit- 
ten-Gondelierer der Stiefmutter anzutragen. 

Klotilde entfernte sich jetzt von der mannlichen lustigen Ge- 
sellschaft ins Nebenzimmer, wo ihre Agathe und alles war - es ge- 
schah nicht aus MiBbilligung der anstandigen mannlichen Froh- 
lichkeit - noch weniger aus Verlegenheit, da es iiberhaupt ihrem 
Geschlechte leichter ist und leichter gemacht wird, sich unter 
vierzig Augen unbefangen zu benehmen als unter vier - noch 
weniger aus Unvermogen der Verstellung ihrer Schwesterliebe 

20 gegen Flamin; denn ihre fliegende Seele hatte langst die Flugel 
zusammenzulegen, die Tranen und Wiinsche zu verhiillen ge- 
lernt, unter Fremden erwachsen, in schwierigen Verhaltnissen und 
unter uneinigen Eltern erzogen - sie tat es bloB, wie die Pfarrerin, 
weil es britische Sitte ist, daB sich die Damen von Mannern und 
ihrem Punsch-Weihkessel wegbegeben. 

Da sie aus Viktors Augen war - und da er aus ihrem jet^igen 
noch bleichern Aussehen den SchluB zog, daB ihr das Tal Ema- 
nuels schwerlich die Lenzfarben wiedergeben werde, weil die Aus- 
sicht der Abreise nichts geheilet habe- und da ihm diese kleine 

20 Abwesenheit gleichsam in einem Taschenspiegel die Totener- 
scheinung einer ewigen vorhielt - und da das schwellende Herz 
doch endlich den Damm der Verstellung. uberwaltigt -; so eilte 
er in den Winter hinaus - deckte die entziindete Brust den kiih- 
lenden Flocken auf- und riB den Spalt weiter, in den das Schick- 
sal seine Schmerzen impfte - und lief durch die weiBe Nacht auf 
den Wartturm hinauf; - und hier, iibergossen von der still aus 
dem Himmel steigenden Schneelawine, sah er in die graue, wuh- 
lende, zitternde, flackernde Landschaft hinaus und in die weite, 
von Schnee durchbrochne Nacht - und alle Tranen seines Her- 

30 zens fielen, und alle Gedanken seiner Seele nefen : »So sieht die 
Zukunft aus ! So schimmernd sinken die Freuden des Menschen 
vom Himmel und zerflieBen schon unter dem Sinken! So rinnt 
alles dahinl Ach welche Luftschlosser sah ich von dieser Hohe 
um mich glanzen, und Abendrot glimmte an ihnen! Ach alle sind 
unter Schnee verschuttet und unter Nacht !« Er sah in den Garten 
Klotildens hinab, in dessen finstern, vom Schnee uberflatterten 



93^ HESPERUS 

Lauben er das Eden seines Herzens gefunden und wieder verloren 
hatte. »Die Tone, die iiber diesen Garten flossen, sind versiegt, 
aber nicht die Tranen, die ihnen nachrinnen«, dacht' er. Er sah in 
den Garten ihres Bruders hinab, wo das Tulpen-K zerblattert und 
die griinenden Namen vergangen und verhiillet waren. 

Mit dieser Seele, die in diese Gegend wie in das Gebeinhaus 
verweseter Tage hineingeschauet hatte, kehrte er zum freudigen 
Klube zuriick. Der Wechsel mit Kalte und Warme hatte seine 
Ahnlichkeit mit dem Punschverein fortgesetzt, der unterdessen 
fortgetrunken. Alle und er betraten die Grenze des Trunkes, wo ic 
man in einem Atem lacht und weint; aber es freuet mich, daB der 
Mensch doch wahre Nahrung des Geistes und Herzens (wenn- 
gleich aus keiner Klosterkuche oder Klosterbibliothek, doch) aus 
einem — Klosterkeller ziehen kann; - daB erdie Gesundheit sei- 
nes - Witzes trinkt; - daB ihn ein jeder Kelch (nicht bloB aiif dem 
Altar) geistlich starkt, und daB er, wenn die Schlangen ihre Kro- 
nen beim Trinken abnehmen, seine darunter aufsetzt - und daB 
die Weinrebe Tranen nicht bloB selber oder aus den Augen eines 
katholischen Marienbildes vergieBet, sondern auch aus denen 
eines Mannes, der von ihr getrunken.DerKlub fiel darauf, Parla- 2c 
mentreden zu halten. - Der Kaplan schlug Kasualreden vor. - 
Viktor sprang auf einen Stuhl und sagte: »Ich halte den Leichen- 
sermon auf mich selber - ich habe hier schon in meiner Kindheit 
gepredigt.« 

Alle tranken noch einmal, selber die Leiche, und diese perorierte 
dann so: 

»Geiiebteste und traurigste Zuhorer und Mitbriider! 

Ein Mensch, tiefgebeugte Zuhorer, kann in die zweite Welt hin- 
absinken, ohne daB ein Trauerpferd nachspringt, so wie er in 
diese einlauft, ohne daB ein Paradegaul vorantrabt. - Wir unsers jo 
Orts haben samtlich den Leichentrunk voraus eingenommen, um 
alles auszuhalten; denn im Nassen dehnt sich der Mensch aus, und 
im Trocknen dorret er ein, ich meine durch feste Speisen, gleich 
dem Blutigel, der auBer dem Wasser vier Zoll kurzer ausfallt. Und 



28. HUNDPOSTTAG 937 

ich horfe, ich und das tiefgebeugte Trauergefolge haben dem 
Hochseligen zu Ehren getoastet genug. 

Und so seh* ich ihn denn vor mir« . . . 

- Hier winkte er dem Pfarrer, seine Schlafmiitze hinzuwerfen, 
damit etwas Totes dalage, an das sich sein Affekt wenden konnte - 

»..vor mir da liegen den un verge Blichen Herrn Hofmedikus 
Sebastian Viktor von Horion, und gestorben ist er und will hinab 
unter das Erde-Zudeck, in die Statte voll langer Ruhe. Was sehen 
wir noch vor uns ruhen als die Taucherglocke, worin die be- 
io deckte Seele in dieses Dunstleben hereinsank - als die trockne 
Schale eines Kerns, der erst in einem zweiten Planeten gesaet wird 
- als seine Hiille, als, sozusagen, die weggeworfne Schlafmiitze 
seines erwachten Geistes? 

Besehet, weinende Zuhorer, diese figiirliche blasse Mutze ! Hier 
liegt sie, der Kopf ist heraus, der darin sann - unser Viktor ist da- 
hin und schweigt, der so oft sprach von Mathematik, Klinik, He- 
raldik, Kautelarjurisprudenz, medicina forensis, Sphragistik und 
ihren Hulfwissenschaften. - Wir haben viel an ihm verloren - 
wer trostet Sie, vortrefflicher Herr v. Schleunes, iiber diese Ein- 
20 buBe, und so die andern Herren auch? - Man hat aber in diesem 
narrischen Leben, das wohl eine Art von Vor-Tod sein mag, gar 
nicht so viel Zeit, um ordentlich zu trosten. Nicht bloB Kirchen- 
stiihle sind oft auf Leichensteine gebauet, sondern auch Fiirsten- 
stiihle — die vollends - und selber Kanzeln. 

Sollte wohl deine Seele, hochseliger Sebastian, in ihrem mitt- 
lern Zustande nach dem Tode etwas von ihrem Korper wissen, 
aus dem sie wie aus ihrem Hut-Futteral ausgepackt ist, und von 
der letzten Ehre, die wir hier ihrer Kap a el an tun? Falls sie noch 
BewuBtsein hat und noch ein Auge fur diese Stube, worin sie so 
jo oft war: so wird es sie freuen, daB die heiligen drei Konige, wo- 
von der Mohr der Kato der Altere ist, um ihren abgezognen 
Madensack herumstehen und den Sack kaum fahren lassen wol- 
len; es muB ihr gefallen, daB wir samtlich klagen: wo ist seines- 
gleichen in der gemeinen Chemie - in der Physiognomik und 
Physiognomie - in den neuern Sprachen - in der Banclerlehre, aus 
der er eine Liebe fur alle Arten von Bandern schopfte? - Wer 



938 HESPERUS 

suchte weniger als er strengen Zusammenhang der Gedanken, 
der den Deutschen verleitet, gute durch schlechte zu verkitten 
und mehr Mortel als Quader zu brauchen? - Nicht einmal der Hof 
- daher er nicht gern hinging, wenn dort SpaB vorfiel - brachte 
ihn von einem gewissen ernsthaften gesetzten Wesen ab, das er 
bis zu einem Iacherlichen trieb, auf welches letzte er allezeit aus 
war. — Beim Himmell durch das Stundenglas des Todes, durch 
das er wie durch ein Taschenperspektiv guckte, brach ihm alles 
so klein hervor, daB er nicht wuBte, weswegen er ernsthaft sein 
sollte - ich will nicht gesund dastehen, wenn ihm nicht im be- 10 
sagten Glase alle Stufen zum Throne so winzig vorkamen wie die 
daumenlange Hofytreppe des Laubfrosches in seinem Einmach- 
glase. 

Er war ein recht guter Prediger, besonders ein Leichenredner, 
daher ihn auch ein recht guter Prediger zu Gevatter bat, und das 
Patchen steht mit da und weint seines Orts uber Leibschmer- 

zen Nur groBe Hofprediger, die in der Hauptkirche die furst- 

liche Leichenpredigt halten, konnen sich dessen riihmen, was ich 
zu meinem groBten Vergniigen jetzo hore, daB das Leichenge- 
folge lacht, und das ist mir ein Pfand, daB ich troste.... 20 

Und doch hat einer, der auf dem Totenbette Hegt, mehr Trost 
als einer, der nur neben dem BettfuB steht. Das Souterrain der 
Erdrinde bewohnen lauter stille ruhende Menschen, die vorein- 
ander zusammenriicken; aber auf dem Souterrain stehen ihre un- 
ruhigen Freunde und wollen hinunter in die geliebten Arme aus 
Staub; denn die Leinwand auf dem Toten-Auge ist ja ein Fallhut 
der erkalteten Stirn, der Sarg ist der Fallschirm des Ungliick- 
lichen, und das Lelchentuch der letzte Verband der weitesten 
Wunden - ach warum fallt der mtide Mensch lieber in den kurzen 
als in den langen ungestorten sichern Schlaf? - So nimm denn, 30 
guter Sebastian, den Totenschein als ein ewiges Friedensinstru- 
ment aus der Hand der sanften Natur... 

Aber beim Henker! wo haben wir denn den Toten? was soil 
die weiBe Miitze da unten? - Ich sehe die Leiche im Spiegel gegen- 
uber - sie muB wo stehen - ich muB sie holen.« — 

- Mit einem Schauer seines Ich sprang er herab - ein erhabner 



28. HUNDPOSTTAG 939 

Wahnsinn ging in den Stufen der Wehmut, des Lachelns, dcs 
Erstarrens sein Angesicht auf und ab. Er lief hinter eine spanische 
Wand, die vor seine Statue aus Wachs gestellet war - und trug 
den wachsernen Menschen heraus - und warf ihn hin wie einen 
Leichnam - und ein Schleier war iiber den Leichnam gewickelt - 
und er stieg verzerret auf den Stuhl, um fortzufahren : 

»Das ist die Nachtleiche — der verschlackte, der verkohlte 
Mensch — in solche starre Klumpen sind die Ich geklebt und miis- 
sen sie walzen - Warum bebet ihr uber mich, Zuhorer, weil ich 

10 bebe, dafi ich dieses umgeworfene Menschenbild so starr an- 
blicke? - Ich seh* ein Gespenst um diesen Leichnam schweben, 
das ein Ich ist — Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Ge- 
dankens tief ins Dunkle zuriicklauft - Ich! du Spiegel im Spiegel 
— du Schauder im Schauder! — Ziehet den Schleier vom Leichnam 
weg ! Ich will den Toten keck anschauen, bis es mich zerstort.« . . . 
- Jeder schauderte nach; aber ein Englander zog den Toten- 

schleier weg Starr, sprachlos, ergriffen, erbebend sah Viktor 

auf das enthullte Gesicht, das auch lebendig um seine Seele hing; 
aber endlich ergossen sich Tranen iiber seine kalten Wangen, und 

20 er sprach leiser, wie wenn sich sein Herz auf loste : 

»Seht, wie der Leichnam lachelt! Warum lachelst du denn so, 
Sebastian? Warst du etwan so glucklich auf der Erde, daB dein 
Mund in einer Entziickung erkaltete? . . . Nein, glucklich warst du 
wohl nicht - die Freude selber war oft fiir dich ein Samengehause 
des Schmerzes - Und du sagtest selber recht oft: ich bin schon 
zufrieden, und ich verdiene kaum meine HofTnungen und Wiin- 
sche, geschweige ihre ErfuIIung. - 

Flamin! schaue dieses umgelegte Gesicht hier an - es lachelt 
.aus Freundschaft, nicht aus Freude - Flamin, diese erloschene 

3 o Brust war iiber ein Herz gewolbt, das dich ohne Grenzen liebte 
und bis in den Tod. 

Und das ist im ganzen das einzige Ungliick des armen Seligen. 
An und fiir sich und seiner origlnellen Lage und Laune wegen 
hatte der gute Bastian schon gut genug fahren konnen; aber er 
war zu weich zur Freude - zu unbesonnen - zu heiB - fast zu 
phantastisch. Er wollte gar lieben (bei seinen Lebzeiten), und es 



94° HESPERUS 

war nicht zu tun. Die Blumengottin der Liebe ging vor ihm vorbei, 
sie versagte ihm die Verklarung des Menschen, das Melodrama 

des Herzens, das goldne Zeitalter des Lebens Kalte Gestalt, 

richte dich auf und zeige den Menschen die Tranen, dieauseinem 
weichen Herzen flieBen, das vor Liebe bricht und keine flndet! . . . 

Wenn unser Horion nicht gliicklich war: so mag es ihm frei- 
lich gar wohl tun, wenn er schon am Mittage des Lebens seine 
Mittagruhe halten darf, wenn er sterben und, losgemacht vom 
heiBpochenden Herzen, gestillt vom Todesengel, sich so friihe 
legen darf unter das lange Leichentuch, das der Menschen- Genius 10 
iiber ganze Volker, wie der Gartner das Verdeckuber den Blumen- 
fior, gegen Regen und Sonne zieht - gegen die Glut unsrer Freu- 
den, gegen den GuB unsers Wehs Ruhe du auch, Horionh.. . 

- Seine Wehmut bei diesen Worten aus dem alten Traume war 
so iibermannend, daB er aus ihr - zur Entschuldigung oder zur 
Erholung — in eine fast wahnsinnige Laune iibertrat. 

»Inzwischen ist der samtliche SpaB halb gegen meinen Ge- 
schmack, den ich am Hofe ausbilden wollte. Das Leben verloh- 
nets gar nicht, daB man seinetwegen den guten Tod auszankt 
oder berauchert und erhebt. Die Furcht zu sterben ausgenommen, 20 
gibts nichts Jammerlicheres als die Furcht zu leben. Leute von 
wahren Talenten sollten sich betrinken, um das Leben aus dem 
rechten Licht zu sehen und es uns nachher zu melden. - Am 
allerelendesten aber (so daB das menschliche Leben dagegen noch 
passabel ausfallt) ist das burger liche, auf das ich jahrelang los- 
ziehen konnte, bloB weil es nichts hat als lange Troge fiir den 
Magen, aus denen die Ketten fiir die Phantasie herabhangen - 
weils den Menschen zum Kleinstadter umsetzt- weils unser fliehen- 
des Dasein aus einem Fruchtacker zur Saemaschine macht — weils 
einen fatalen Dunst ausdampft, der sich dick vor das Grab und 5° 
iiber den Himmel ansetzt, und in dem sich der arme Expedition- 
rat von Mensch schwitzend, kauend, feist, beschmieret, ohne einen 
warmen Sonnenstrahl fiir sein Herz, ohne ein Streif licht fiir sein 
Auge herumtreibt, bis ihn der Fall-Bock des Pflasterers 1 auf den 

1 Er nennt den Tod und den Staat einen Pflasterer, obwohl in verschie- 
denem Sinn. 



28. HUNDPOSTTAG 94I 

morastigen Drehplatz einrammt. - Den einzigen Nutzen hat so 
ein armer Marmorstein, aus dem ein Pflaster statt einer Statue ge- 
macht wird, daB er das ganze Menschenleben fur etwas recht Er- 
hebliches ansieht, das er nicht genug preisen konne. - Inzwischen 
konnte doch auch uns guten Narren das AuBere nicht so klein vor- 
kommen, wenn nicht etwas ewiges GroBes in uns ware, womit 
wirs zusammenhalten - wenn nicht ein Sonnenlicht in uns ware, 
das in dieses Opertheater so hineinfallt, wie das Taglicht zuweilen, 
. wenn eine Tiire aufgeht, in die nachtlichte Schaubiihne - wenn 
10 wir nicht, wie Menschen in alten Auferstehgemalden, halb in der 
Erde steckten, halb aber auBer ihr - und wenn dieses Eisleben 
keine Aiguille percee 1 ware und keine Offnung in ein ewiges Blau 
hinaus hatte .... Amen ! 

Ich hab' aber der leidtragenden Versammlung noch zu melden, 
daB ich sie - in den ersten April geschickt; denn der Tote, dessen 
Leichenrede ich hake, bin ich wirklich selber.«... 

Aber hier umarmten ihn alle seine Freunde, urn seinem geist- 
vollen Wahnsinne Schranken zu setzen - und um ein so heftiges 
echt-britisches Herz an ihres zu driicken. Die Umarmung er- 
ic warmte alle seine kalten Wunden sanft, und er war geheilt, obwohl 
erschopft; das fremde Leben wuchs in seines hinein, und die Liebe 
uberwand den Tod. Die Englander, in deren Augen die Tranen 
einer doppelten Trunkenheit waren, konnten sich kaum abreiBen 
vom humoristischen Liebling. - 

Klotilde, die mit ihren Freundinnen der Leichenrede im Neben- 
zimmer zuhorte, hielt sie anfangs bittend ab, dieses aufzumachen. 
Aber als Viktor sagte: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige 
den Menschen die Tranen, die aus einem weichen Herzen flieBen, 
das vor Liebe bricht« - so nahm sie eilend von ihnen gute Nacht, 
30 weil sie iiber eine ihr ganzes Wesen hebende Riihrung nicht Mei- 
ster werden konnte. Da man ihm die Zeit ihrer Entfernung be- 

1 So nennt man eine hohe Felsenpyramide neben dem Montblanc, in der 
ein Loch ist, wodurch man den Himmel sieht. Fur mich ists eine sanfte 
Phantasie, mir neben dem hochsten Berg, der so viel Himmel als Erde nimmt, 
einen kleinern vorzustellen, der sich in eine kleine Aussicht auftut, die unse- 
rem Auge eine blaue Perspektive re ich c, aus welcher unsere Hoffnung die 
Wolbung des Himmels bauet. 



942 HESPERUS 

richtet hatte: so wurde er, der jetzo schon so miide, weich und 
zartlich war, es in einem unaussprechlichen Grade - alle durch die 
Anstrengung erhohten Lichter auf seinem Angesicht schienen in 
Liebe wie Mondschimmer in Tautropfen zu zerflieBen- er wartete 
nicht, bis sein Zimmer leer wurde, sondern zeigte das, was Klo- 
tilde in dem ihrigen verbergen wollte - er konnte sogar die un- 
verschleierte Wachsstatue mit sanftem Geiste anschauen und 
sagte lachelnd : »Ich glaube, ich habe mich darum gan{ in Wachs 
wiederholen lassen, warum es der< Katholik mit einzelnen Glie- 
dern tut, urn sie an eine Heilige zu hangen und dadurch um Ge- n 
nesung zu danken oder zu bitten; oder wie die romischen Kaiser, 
deren Wachsstatue die Arzte nach dem Tode des Originals be- 
suchten.« 

Die Gesellschaft ging ab, und er war endlich allein. Der Mond, 
der um n Uhr 57Minuten aufgegangen war, warf sein nochver- 
tieftes abnehmendes Licht erst oben an die Fenster von Klotildens 
Wohnzimmer. Viktor loschte das Nachtlicht aus und setzte sich, 
um mit seinem noch wogenden traumenden Herzen nicht in die 
Traume des Schlafes zu treten, ans Fenster, beinahe an den ge- 
wohnlichen Standort seiner Wachskopie und in ahnlicher Stel- *c 

lung als das Schicksal es fugte, daB er, der heute die Wachs- 

mumie fur seine Person ausgegeben hatte, jetzt umgekehrt fur 
das Bild angesehen werden sollte — 

- von Klotilden! Sie stand in einiger Entfemung von ihrem 
Fenster, an welches kein Licht als das vom Himmel fiel; Viktor 
war, da das letzte noch nicht zu ihm hineinkonnte, ganz im Schat- 
ten und ihr mit Vierfunftel seines Profils zugekehrt. Kaum sah' 
er, daB sie einen unverwandten fassenden, gleichsam einschlagen- 
den Blick auf ihn hefte: so erriet er, daB sie ihn mit dem wachser- 
nen Menschen vermenge ; auch bemerkte er aus dem Augenwinkel, 30 
daB etwas WeiBes um sie flattere, d.h. daB sie sich die Augen oft 
trockne. Aber wie war' es seinem feinen Gefuhle moglich ge- 
wesen, ihr durch die geringste Bewegung ihren Irrtum zu nehmen 
und sie fur ihr unschuldiges Anblicken verlegen und rot zu 
machen! - Ein anderer, z.B. der verkannte Matz, hatte sich in 
einem solchen Vorfalle gelassen in die Hohe gerichtet und gleich- 



28. HUNDPOSTTAG 943 

giilrig zum Fenster hinausgesehen; aber er verknocherte sich 
gleichsam in seiner Stellung der Leblosigkeit. Allein nur die 
Nacht und Entfernung konnten ihr sein Zittern zudecken, da ihre 
fur seine Leiche fallenden Tranen wie ein heiBer Strom sein zer- 
stortes Herz ergrifFen und das wenige, was der heutige Abend 
daran noch fest gelassen, erweichten und auflosten in eine bren- 
nende Welle der Liebe. Den Kindern flieBen die Tranen starker, , 
wenn man ihnen Mitleid bezeigt; und in dieser Stunde der Er- 
schopfung wurde Viktor weicher, der sonst durch fremdes Mit- 

10 leid mit ihm harter wurde, und als Klotilde sich ans Fenster setzte, 
um das miide Haupt aufzulehnen: so war ihm, als ermahne ihn 
etwas, das jetzo wahr zu machen, was er heute zu der Statue ge- 
sagt: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige den Menschen die 
Tranen, die aus einem weichen Herzen etc.« ^ 

Klotilde zog endlich die Vorhange zu und verschwand. Aber 
er setzte behutsam noch lange die Rolle seines Bildes fort, und 
eben, da er sich weniger anstrengte, um eine Statue zu spielen, 
gelang es ihm besser. Alle seine Gedanken flossen nun wie Bal- 
sam iiber die Narben und aufgerissenen Stellen seines Innern, und 

2° er sagte: »Wenn du auch nur meine Freundin bist, so genuget es 
mir, und du kannst diesen von Sehnsucht emporten Busen stillen. 
O dieses voile Herz wurde ohnehin auseinandergetrieben, wenn 
es den Gedanken fassen sollte, daB du mich liebtest!« - Ubrigens 
fiel ihm heute zum erstenmal die Unwahrscheinlichkeit seiner neu- 
Hchen Vermutung ein, daB eine so zuriickhaltende Person wie sie 
sich auf eine so wenig zuriickhaltende Art gegen den blinden Ju- 
lius sollte benommen haben, und er fragte sich: »Ists denn zur Er- 
klarung ihrer Abreise vom Hof nicht genug an Jenners und Mat- 
thieus unheiliger Liebe und an Emanuels heiliger?« - Damit sie 

30 aber am Morgen nicht ihre irrige Verwechslung entdeckte, so gab 
er selnem wachsernen Figuranten genau die Stelle, die er selber 
am Fenster eingenommen. 



944 HESPERUS 

Dntter Osterfeiertag 
F. Kochs doppelte Mundharmonika - die Schlittenfahrt - der Ball - und — 

Der Leser wird mit mir wiinschen, daB der dritte Ostertag etwas 
Schlimmers endige als den langen 28sten Hundposttag. 

Der Schlitten ging leidlich, soviel vorauszusehen war. — Ich 
seh' aber noch etwas anders voraus: daB sich eine halbe Million 
meiner Lesekunden (fiir die andre halbe steh' ich) nicht aus mei- 
nem Helden finden kann. Es ist daher mein Amt, nur soviel ihnen 
vorzusagen : Viktor war nie kleinmiitig, ihn ekelte die mensch- 
liche Unterjochung unter das Gliick; der Tod nahm ihn jeden Tag 10 
einmal auf den erhabenen Arm und lieB ihn von da herunter be- 
merken, wie winzig alle Berge und Hugel sind, auch Graber. Jedes 
Ungliick machte ihn stahlern, der Medusenkopf des Totenkopfs 
machte ihn steinern, und er argerte sich nachher iiber den schmel- 
zenden Sonnenblick der freudigen Ruhrung. Seine lustige Laune, 
sein Ideal weiblicher Vollkommenheit, der Mangel an Gelegenheit 
und das Schild Minervens hatten ihm iiber die Windmonate des 
Gefuhls hiniibergeholfen, und er hatte bisher keine andre Sonne 
angebetet als die um 21 Millionen Meilen entlegne - bis der Him- 
mel oder der Henker die nahere herfiihrte, gerade im Jahr 1792. - 20 
Noch war* es ganz leidlich gegangen und das Ungliick schon aus- 
zuhalten gewesen, wenn er gescheut oder kalt gewesen ware; ich 
will sagen, wenn er nicht zu sich gesagt hatte: »Es ist schon, nie 
iiber sich zu weinen, aber doch iiber den andern; es ist schon, 
jeden Verlust zu verbeiBen, aber nicht den eines Herzens, und 
was wird ein geschiedner Freund aus seiner Hohe groBer finden, 
entweder wenn ich mir Trostpredigten iiber sein Ableben mit 
wahrer Fassung hake, oder wenn ich dem Geliebten im freiwilli- 
gen iibermannenden Kummer nachsinke?« - Dadurch - und aus 
Unbekanntschaft mit der Ubermacht edler, aber unbezahmter Ge- 3 o 
fiihle - und weil er seine bisherige zufallige Herzstille mit einer 
frei willi gen verwechselte - und aus einer uberschwenglichen 
Menschenliebe hatte er absichtlich seinem innern Menschen bis 
jetzt die Fiihlhorner zu gfoB wachsen lassen - und so war er durch 



28. HUNDPOSTTAG 945 

die Wirbel aller bisherigen Einflusse, der bisherigen Beraubungen, 
der bisherigen Ruhrungen, dieser Ostertage, dieses schonen Ju- 
genddorfes so weit verschlagen, daB er ungeachtet seiner Beson- 
nenheit, seines Hoflebens, seiner Laune einiges von seiner alten 
Unahnlichkeit mit jenen Genies (wenigstens fiir Ostern) ein- 
biiBete, die gleich dem Seekrabben Fuhlfaden aufnchten, die 

kaum ein Mann umklaftert 

Jenes teilnehmende Anblicken Klotildens, das ihm gestern nach 
der vorigen Hitze kiihlender Balsam gewesen, wurd* ihm heute 

io ein sehr heiBer; ihr Auge voll Tranen seinetwegen richtete alle 
Tage seiner Liebe fiir sie und ihr ganzes Bild in seinem Herzen 
auf. Ich bin uberzeugt, sogar dem Regierrat, der ubrtgens durch 
den gestrigen Leichensermon von seinem Argwohn, so wie durch 
die republikanische Zerstreuung einiges von seiner Liebe gegen 
Klotilden, hatte verlieren konnen, entwischte das Trunkne und 
Traumerische seiner Augen nicht. Das Pfarrhaus selber war heute 
zum Gluck eine Borse oder ein geistliches IntelHgenzkomtoir und 
Werbhaus: der Kaplan registrierte - nicht etwan franzosische car 
tel est notre plaisir, sondern - die Katechumenen ein, die auf 

20 Pfingsten beichten wollten. 

Er wollte nicht eher ins SchloB hiniibergehen - sein verkannter 
Freund Matz hatt* ihm schon um io Uhr aus dem Fenster Mor- 
gengruB und Gliickwunsch zum Schneewetter zugerufen — , als 
bis sein Schlitten aus der Stadt da war, damit er sogleich abfiihre, 
weil er druben keine lacherliche Running zeigen wollte. Seitdem 
ihm die groBe Welt zur Werkeltagwelt geworden war, fiel ihm 
Verstellung vor ihr schwerer; man verbirgt sich vor denen am 
leichtesten, die man achtet. 

Aber die Drillinge und Frani Koch trieben ihn fruher hiniiber, 

jo schon abends um 5 1 /, Uhr. - 

Ich fuhr in 'die Hohe beim Namen Franz Koch in des Hunds 
Papieren. Wenn einer von meinen Lesern ein Karlsbader Brun- 
nengast ist oder Se. Majestat der Konig von PreuBen Wilhelm II. 
oder von dessen Hof oder der Kurfiirst von Sachsen oder der 
Herzog von Braunschweig oder eine andre furstliche Person : so 
hat er den guten Koch gehort, der ein bescheidner abgedankter 



946 HESPERUS 

Soldat ist und der iiberall mit seinem Instrument herumreiset und 
spielet. Das letzte, das er doppelte Mundharmonika nennt, besteht 
aus einem yerbesserten Paar zugleich gespielter - Maultrommeln 
oder Brummeisen, die er immer nach den Spiel-Stiicken urn- 
wechselt. Seine Brummeisen-Handhabung verhalt sich zur alten 
wie Harmonikaglocken zu Bedientenglocken. Es ist meine Schul- 
digkeit, solche von meinen Lesern, deren Phantasie Zaunkonigs- 
Schwingen hat, oder die wenigstens vom Herzen an Lithopadia 
(Stein-Fotus) sind, oder die das Ohrentrommelfell zu nichts . 
haben als zum Trommeln darauf, solche Leser mit der wenigen i 
Oratorie, die ich habe, dahin zu bringen, daB sie den besagten 
Franz aus dem Hause werfen, wenn er kommen und vor ihnen 
summen will. Denn es ist nichts daran, und die elendste Bratsche 
und Strohfiedel schreiet meines Bediinkens lauter; ja sein Getone 
ist so leise, daB er im Karlsbade vor nicht mehr als 12 Kunden auf 
einmal aufspielte, weil man nicht nahe genug an ihm sitzen kann, 
wie er denn sogar bei seinen Hauptliedern das Licht wegtragen 
lasset, damit weder Aug' noch Ohr die Phantasien store. - Ist aber 
freilich ein Leser anders - etwan ein Dichter - oder ein Verliebter 
- oder sehr zart - oder wie Viktor - oder wie ich : so horch' er 2 
ohne Bedenken mit stiller zerflieBender Seele dem Franz Koch - 
oder — denn heute wird er nicht gerade zu haben sein - mir zu. 

Der lustige Englander hatte Viktor diesen Harmonisten mit 
der Karte geschickt : »t)berbringer dieses ist der Oberbringer eines 
Echo, das er in der Tasche fuhrt.« - Viktor nahm ihn daher lieber 
zur Freundin aller schonen Tone hiniiber, damit ihre Abreise sie 
nicht um diese melodische Stunde bringe. Es war ihm, wie wenn 
er durch eine Iange Kirche ginge, da er in Klotildens Lorettohaus 
eintrat; ihr einfaches Zimmer war, wie Marias Wohnzimmer, von 
einem Tempel eingefasset. Sie hatte schon ihre schwarze Putz- y 
kleidung vollendet. Die schwarze Tracht ist eine schone Verfinste- 
rung der Sonne, worin man das Auge von ihr gar nicht wegzu- 
bringen vermag. Viktor, der bei seiner sinesischen Achtung fur 
diese Farbe heute dieser schwarzen Magie eine wehrlpse Seele, ein 
entzundetes Auge mitbrachte, wurde blaB und verwirrt iiber das 
aufgehellte Angesicht Klotildens, iiber welches der Zug eines her- 



28. HUNDPOSTTAG . 947 

abgeregneten Kummers so wie ein Regenbogen iiber den hellen 
blauen Himmel schwebte. Es war nicht die Heiterkeit der Zer- 
streuung - die jedes Madchen durch das Ankleiden bekommt -, 
sondern die Heiterkeit der frommen Seele voll Geduld und Liebe. 
Er besorgte, in zweierlei Disteln zu treten, in die gemalten des 
FuBbodens, iiber die er immer wegschritt, und in die satirischen 
der feinen Beobachter um ihn, an die ersich immer stieB. Ihre Stief- 
mutter war noch iiber der Stukkatur und Appretur ihres Maden- 
sacks, und der Evangelist war in ihrem Ankleide-Zimmer als Putz- 

io MeBhelfer und Mitarbeiter. Daher hatte Klotilde noch Zeit, den 
Mundharmonisten zu horen; und der Kammerherr bot sich der^ 
Tochter und meinem Helden - denn er war ein Vater von Lebens- 
art gegen seine Tochter - zu einem Teil der Zuhorerschaft an, ob 
er gleich aus der Musik sich wenig machte, Tafel- und Ball-Musik 
ausgenommen. 

Viktor sah jetzt erst aus Klotildens Freude iiber den mitge- 
brachten Musiker, daB ihr harmonisches Herz gern mit den Saiten 
zittere; iiberhaupt wurd* er oft iiber sie irre, weil sie - wie du, teu- 
erster**- sowohl ihr hochstes Lob durch Schweigen sagte als ihren 

20 hochstenTadel. Sie.bat ihren Vater, der die Mundharmonika schon 
im Karlsbad gehoret hatte, ihr und Viktor eine Idee davon zu 
geben - er gab sie : »sie driicke nicht sowohl das fortissimo als das 
piano-dolce meisterhaft aus und sei wie die einfache Harmonika 
dem Adagio am angemessensten.« Sie antwortete darauf - an Vik- 
tors Arm, der sie in ein dazu verfinstertes stilles Zimmer fuhrte -: 
»die Musik sei vielleicht zu gut f iir Trinklieder und fiir lustige Emp- 
findungen. Da der Schmerz den Menschen veredle und ihn durch 
die kleinen Schnitte, die er ihm gebe, so regelmaBig entfalte, wie 
man die Knospen der Nelke mit einem Messer aufritze, damit sie 

jo ohne Bersten aufbliihen: so ersetze die Musik als kunstlicher 
Schmerz den wahren.« - »Ist der wahre so selten?« sagte Viktor in 
dem dunkeln, von einem Wachslicht beschienenen Zimmer. - Er 
kam neben Klotilde, und ihr Vater saB ihm gegeniiber. - 

Selige Stunde ! die du einmal mit den Echolauten dieser Harmo- 
nika durch meine Seele zogest - fliehe noch einmal voriiber, und 
der Nachklang jenes Echos klinge wieder um dich! - 



Aber als der bescheidne stille Virtuos das Gerate der Entziak- 
kung kaum in die Lippen geleget hatte: so fuhlte Viktor, daB er 
es jetzo (bevor das Licht hinauskame) nicht so machen diirfe wie 
sonst, wo er sich zu jedem Adagio eigne Szenen vormalte und 
jedem Stticke besondere Schwarmereien seiner Texte unterlegte. 
Denn es ist ein unfehlbares Mittel, den Tonen ihre Allmacht zu 
geben, wenn man sie zu Ripienstimmen unserer Stimmung und so 
aus Instrumental-Musik gleichsam Vokal-Musik, aus unartikulier- 
ten Tonen artikulierte macht, anstatt daB die schonste Reihe Tone, 
die kein bestimmter Gegenstand zu Alphabet und Sprache ordnet, k 
abgleitet vom bespiilten, aber nicht erweichten Herzen. - Als da- 
her die holdesten Laute, die je uber Menschenlippen als Mitlauter 
der Seele flossen, von der bebenden Mundharmonika zu wehen 
anfingen; als er fuhlte, daB diese kleinen Stahlringe gleichsam als 
Fassung und Griffbrett seines Herzens ihre Erschutterungen zu 
seinen machen wiirden : so zwang er sein fieberhaftes Herz, an dem 
ohnehin heute alle Wunden aufgingen, sich gegen die Tone zu- 
sammenzuziehen und sich keine Szenen vorzuzeichnen, bloB da- 
init er nicht in Tranen ausbrache, bevor das Licht weg ware. 

Immer hoher stieg das Zuggarn hebender Tone mit seinem er- *c 
griffenen Herzen empor. - Eine wehmiitige Erinnerung um die 
andere sagte in dieser Geisterstunde der Vergangenheit zu ihm: 
»Erdriicke mich nicht, sondern gib mir meine Trane« - Alle seine 
gefangnen Tranen wurden um sein Herz versammelt, und sein 
ganzes Innere schwamm, aus dem Boden gehoben, sanft in ihnen 
- Aber er faBte sich: »Kannst du noch nicht entbehren,« (sagt' er 
zu sich) »nicht einmal ein nasses Auge? Nein, mit einem trocknen 
nimm dieses beklommene Echo deiner ganzen Brust, nimm diesen 
Nachhall aus Arkadien und alle diese weinenden Laute in eine 
zerstorte Seele auf« - Unter einer solchen uberhiillten ZerflieBung, 5^ 
die er oft fur Fassung nahm, wars allemal in ihm, als wenn ihn aus 
einer fernen Gegend eine brechende Stimme anredete, deren 
Worte den Silbenfall von Versen hatten; die brechende Stimme 
redete ihn wieder an : »Sind nicht diese Tone aus verklungenen 
HofTnungen *gemacht? Rinnen nicht diese Laute, Horion, wie 
Menschentage ineinander? O blicke nicht auf dein Herz! in das 



28. HUNDPOSTTAG 949 

staubende Herz malen sich wie in einen Nebel die vorigen schim- 
mernden Zeiten hinein« - Gleichwohl antwortete er noch ruhig: 
»Das Leben ist ja zu kurz fur zwei Tranen, fur die des Kummers 
und fiir die andre« — Aber als jetzt die weifie Taube, die Ema- 
nuel im Gottesacker niederfallen sah, durch seine Bilder flog - 
als er dachte: »Diese Taube hat ja schon in meinem Traum von 
Klotilden geflattert und sich an die Eisberge geklammert: ach sie 
ist das Bild des verwelkenden Engels neben mir« — und als die 
Tone immer leiser flatterten und endlich in dem flusternden Laube 

10 eines Totenkranzes umherliefen - und als die brechende Stimme 
wiederkam und sagte: »Kennst du die alten Tone nicht? - Siehe, 
sie gingen schon in deinem Traum vor ihrem Wiegenfeste und 
senkten dort bis ans Herz die kranke Seele neben dir ins Grab, 
und sie He 6 dir nichts zuriick als ein Auge voll Tranen und eine 

Seele voll Schmerz« »Nein, mehr lieB sie mir nicht«, sagte ge- 

brochen sein miides Herz, und alle seine bekampften Tranen 
drangen in Stromen aus den Augen .... 

Aber das Licht ward eben aus dem Zimmer getragen, und der 
erste Strom fiel ungesehen in den Schofi der Nacht. 

io Die Harmonika fing die Melodie der Toten an: »Wie sie so 
sanft ruhn ! etc.« - Ach in solchen Tonen schlagen die zerlaufen- 
den Wellen des Meeres der Ewigkeit an das Herz der dunklen 
Menschen, die am Ufer stehen und sich hinubersehnen ! - Jetzo 
wirst du, Horion, von einem tonenden Wehen aus dem Regen- 
dunst des Lebens hinubergehoben in die lichte Ewigkeit! - Hore, 
welche Tone umlaufen die weiten Gefilde von Eden! Schlagen 
nicht die Laute, in Hauche verflogen, an fernen Blumen zuriick 
und umflieBen, vom Echo geschwollen, den Schwanen-Busen, 
der selig-zergehend auf Fliigeln schwimmt, und ziehen ihn von 

jo melodischen Fluten in Fluten und sinken mit ihm in die fernen 
Blumen ein, die ein Nebel aus Diiften fiillt, und im dunkeln Dufte 
glimmt die Seele wieder an wie Abendrot, eh' sie selig unter- 

geht? 

Ach Horion, ruht die Erde noch unter uns, die ihre Todeshiigel 
um das weite Leben tragt? Zittern diese Tone in einer irdischen 
Luft? O! Tonkunst, die du die Vergangenheit und die Zukunft 



950 HESPERUS 

mit ihren fliegenden Flammen so nahe an unsre Wunden bringst, 
bist du das Abendwehen aus diesem Leben oder die Morgenluft 
aus jenem? — Ja, deine Laute sind Echo, welche Engel den Freu- 
dentonen der zweiten Welt abnehmen, urn in unser stummes 
Herz, urn in unsre ode Nacht das verwehte Lenzgeton fern von 
uns fliegender Himmel zu senken! Und du, verklingender Har- 
monikaton! du kommst ja aus einem Jauchzen zu uns, das, von 
Himmel in Himmel verschlagen, endlich in dem fernsten stummen 
Himmel stirbt, der aus nichts besteht als aus einer tiefen, weiten, 
ewig stillen Wonne — i 

»Ewig stille Wonne,« (wiederholet Honons aufgeloste Seele, 
deren Entzucken ich bisher zu meinem machte) »ja, dort wird die 
Gegend liegen, wo ich meine Augen aufhebe gegen den Allgiiti- 
gen, und meine Arme ausbreite gegen sie, gegen diese miide Seele, 
gegen dieses groBe Herz - Dann fall* ich an dein Herz, Klotilde, 
dann umschling* ich dich auf ewig, und die Flut der ewig stillen 
Wonne hiillt uns ein - Wehet wieder nach dem Leben, Erden- 
tone, zwischen meiner und ihrer Brust, und dann schwimme eine 
kleine Nacht, ein wallender SchattenumriB auf euren lichten 
Wogen daher, und ich werde hinsehen und sagen : das war mein 2 
Leben — dann sag' ich sanfter und weine starker: ja der Mensch 
ist unglucklich, aber auf der Erde nur.« 

O gibts einen Menschen, uber welchen bei diesen letzten Wor- 
ten die Erinnerung groBe Regenwolken zieht, so sag* ich zu ihm : 
Geliebter Bruder, geliebte Schwester, ich bin heute so geruhrt wie 
du, ich achte den Schmerz, den du verbirgst - ach du entschul- 
digst mich und ich dich.... 

Das Lied stand still und tonte aus. - Welche Stille jetzt im 
Dunkell Alles Seufzen war in ein zogerndes Atmen eingekleidet. 
Nur die Nebelsterne der Empfindung funkelten hell in der Fin- 5 
sternis. Keiner sah, wessen Auge naB geworden war. Viktor 
blickte in die stille schwarze Luft vor ihm, die vor wenig Minuten 
mit*hangenden Garten von Tonen, mit zerflieBenden Luftschlos- 
sern des menschlichen Ohrs, mit verkleinerten Himmeln erfullt 
gewesen und die nun dablieb als nacktes schwarzes Feuerwerks- 
Geriist. 



28. HUNDPOSTTAG 95 I 

Aber die Harmonika fullte dieses Dunkel bald wieder mit Luft- 
erscheinungen von Welten an. Ach warum mufit' es denn gerade 
die meinen Viktor nagende Melodie des »VergiBmeinnicht« tref- 
fen, die ihm die Verse vortonte, als wenn er sie Klotilden vor- 
sagte : » VergiB mein nicht, da jetzt des Schicksals Strenge dich von 
mir ruft - VergiB mein nicht, wenn lockre kuhle Erde dies Herz 
einst deckt, das zartlich fiir dich schlug - Denk, daB ichs sei, wenns 
sanft in deiner Seele spricht: vergiB mein nicht«... O wenn noch 
dazu diese Tone sich in wogende Blumen verschlingen, aus einer 
o Vergangenheit in die andre zuriickflieBen, immer leiser rinnen 
durch die vergangnen, hinter dem Menschen ruhenden Jahre - 
endlich nur murmeln unter dem Lebensmorgenrot - nur unge- 
hort aufwallen unter der Wiege des Menschen - und erstarren in 
unsrer kalten Dammerung und versiegen in der Mitternacht, wo 
jeder von uns nicht war: dann hort der geriihrte Mensch auf, 
seine Seufzer zu verbergen und seine unendlichen Schmerzen. 

Der stille Engel neben Viktor konnte sie nicht mehr verhiillen, 
und Viktor horte Klotildens ersten Seufzer. - 

Ja, dann nahm er ihre Hand, als wenn er sie schwebend erhalten 
10 wo lite iiber einem offnen Grabe. 

Sie HeB ihm ihre Hand, und ihre Pulse schlugen bebend mit 
seinen zusammen. - 

Endlich warf nur noch der letzte Ton des Liedes seine melo- 
dischen Kreise im Ather und floB auseinander iiber eine ganze 
Vergangenheit - dann hullte ihn ein femes Echo in ein flatterndes 
Liiftchen und wehte ihn durch tiefere Echo hindurch und endlich 
an das letzte hiniiber, das rings urn den Himmel Hegt - dann ver- 
schied der Ton und flog als eine Seele in einen Seufzer Klotil- 
dens. - 
jo Da entfiel ihr die erste Trane, wie ein heiBes Herz, auf Viktors 
Hand. 

Ihr Freund war uberwaltigt - sie war dahingerissen - er preBte 
die sanfte Hand - sie zog sie aus seiner - und gihg langsam aus 
dem Zimmer, um dem zu weichen Herzen, iiber dessen holde 
Zeichen die Nacht ihren Schleier hing, wieder zu Hiilfe zu kom- 



9^2 HESPERUS 

Das kommende Licht nahm diese Traumwelten hinweg. - 
Matthieu und die Kammerherrin erschienen auch. Wir wollen 
aber in dieser weichen Stimmung, wo man gerade gegen Schlimme 
in der hartesten ist, nichts sagen und nichts denken iiber das neue 
Paar, das fiir den Abstich gegen unsere Erweichung nichts kann. 
Viktor sagte sich dies auch, aber mehr als einmal; weil sich die 
vom Apotheker erlogne Vermahlung Klotildens mit Matthieu 
ihm mit den grellsten Farben aufdrang, ahnlich jener platonischen 
Verbindung, wo der reine Geist aus seinem Ather getrieben und 
mit zusammengekriimmten Flugeln in einen befleckten Leib ge- i< 
mauert wird. Klotilde kam zuruck. Sie war in Verlegenheit gegen 
Viktor, bloB weil er darin war oder neben ihr auf dem Schlitten 
noch mehr darin sein muBte - ihren geschwollenen Augapfel ent- 
fernte sie vom Licht. - Da Tranen-Versetzungen wie Milchverset- 
zungen drucken und zerstoren: so suchte die in sein Inneres zu- 
ruckgedriickte Wehmut einen Ausgang durch die Stimme, die 
heftig und abgebrochen war, durch die Bewegungen, welche 
schnell waren, sogar durch die Lebhaftigkeit des Ausdrucks - 
kurz es war gut, daB sie fuhren. 

Er dachte wieder das Gegenteil, als er auf dem Schlitten hinter «. 
ihr stand. Die Nacht schien sich hinter die Wolken gezogen zu 
haben, deren weites Gewolbe den Himmel einnahm. Er konnte 
keine Materie zum Gesprach auftreiben, er mochte sinnen, wie er 
wollte - er lief Klotildens, Viktors, aller Bekannten Leben durch 

- es stieB ihm nichts auf. Der Grund war, seine Gedanken, die er 
darauf ausschickte, kehrten ohne sein Wissen in jeder Minute um 
und hingen sich wie Bienen an Klotildens edles Profil, oder an ihr 
weiches Auge, oder sanken in ihre auf seine Hand gefallne Trane 
ein und in das ganze Ather-Meer der heurigen Tone. Der dunkle 
Himmel iiber ihm gab ihm endlich Emanuels letztes Schreiben in 3 c 
den Sinn, und er konnte ihr daraus des BHnden Einweihung in 
den hochsten Gedanken des Menschen erzahlen. Klotilde horte 
ihm freudig zu und sagte endlich : »Niemand ist glucklicher als ein 
Schiiler eines solchen Lehrers; aber er muB nie in die Welt treten 

- da wird er es nicht sein. Sein Lehrer hat ihm ein zu weiches Herz 
gegeben, und ein weiches hangt, wie Sie ja selber sagen, wie das 



28. HUNDPOSTTAG 953 

weiche Obst so tiefherab, daB es jeder erreichen und verwunden 
kann; die hapten Friichte hangen hoher,« 

Sie kamen jetzt bei den harten Residenzfruchten an, und ihre 
Bemerkung war ihre eigne Geschichte. Aber die neuen Auftritte 
- die rauschenden Wagen und Kleider - der Larm um nichts und 
um wenig-die Saalleuchter wie Fixsternsysteme - die doppelten 
Mund-Disharmonikas - die mannliche Hof-Fauna - die weibliche 
Hof-Flora - das ganze mobil gemachte Lustlager, dieses MeB- 
Getummel iiberschmetterte das gedampfte Echo, das zwischen 

to zwei harmonischen Seelen hiniiber und heruber ging. 

Unser Held wurde von der Fiirstin noch freundlicher angelas- 
sen als vom Fiirsten. Joachime, die Amtverweserin Klotildens, 
hatte noch auBer der kalten ziirnenden Freundlichkeit eine ju- 
welenreiche montre a regulateur. An einem offentlichen Orte 
kostet es weniger als in einem Kabinett, den auBern Menschen wie 
eine Charaktermaske iiber den innern zu decken. Viktor, auf wel- 
chen ohnehin jeder Schmeri die witzige Wirkung des Trunkes 
machte, verriet den ersten hochstens durch das ObermaB seiner 
Lebhaftigkeit. 

ao Eine Frau verrat sich durch das Gegenteil - Klotilde durch 
nichts. Er sagte ihr in der sonderbaren Obertaubung, in weiche 
auBere Freudentone und innere Phantasien setzen, wenn sie wie 
zwei Strome miteinander zusammenkommen, folgende Ideen; 
»WaV ich die Gottin der Wonne (wenns eine gibt), so lieB' ich 
drei Uhr schlagen - um die Wandleuchter machte ich Farben- 
prismen oder hinge sie gar in die Kabinette und zoge iiber den 
Tanzsaal durch Weihrauch eine Zauberdammerung - dann muBt* 
ich die Tone des Orchesters in so viele Zimmer zuriickstellen, daB 
davon nichts hereinkame als ein weiches Echo - und wenn dann 

30 in dem dammernden, von Melodien durchwehten Wirrwarr nicht 
die Leute nach einigen stillen Bewegungen vor Entziicken ver- 
gehen wollten: so wufit* ich mcht«.... »Setzen Sie noch dazu,<c 
(sagte sie) »damit wir auch eines haben, daB wir hier bleiben und 
die Auf losung beobachten.« - 

Aber seine Fassung uberlebte in jedem Balle kaum die Menuett. 
Nach dem ersten Gerausch, wenigstens um die Geisterstunde, 



954 HESPERUS 

war allemal seine ganze Seele in eine eigne poetische, der Augen 
kaum machtige Schwermut zersetzt. AuBer den Tonen kann ich 
noch die Bewegung zum Erlautern dieser Erscheinung brauchen : 
alle Bewegung ist erstlich erhaben - namlich die von groBen Mas- 
sen, oder vielmehr jede schnelle Bewegung gibt dem Gegenstand 
die GroBe des durcheilten Raums, daher bei Abstich mit dem 
Zwecke bewegte Gegenstande komischer sind als ruhige - zwei- 
tens das Bewegen der Menschen stellte ihm ihr Voriiberflattern, 
ihr Fliehen in die Graber dar. Er blieb oft in der Nacht triibe 
unten an Hausern stehen, in deren zweitem Stockwerke man i 
tanzte, und sah hinauf, und das Voruberschweben freudiger Kopfe 
war ihm der Gaukelsprung der Irrlichter auf dem Kirchhofe. 

Heute fuhlte er dies bei einer zerschmolzenen uberlaufenden 
Seele noch eher als sonst. Die Anglaise, worin aus der Kolonne 
ein Paar nach dem andern verschwiridet, war ja das Bild unsers 
schattigen Lebens, in das wir alle ausziehen mit Trommeln, und 
von tausend Spielkameraden eingefaBt, und in dem wir fort- 
riicken, jedes Jahr verarmend, jede Stunde einsamer, und worin 
wir zu Ende laufen, von alien verlassen, auBer einem gemieteten 
Mann, der uns eingrabt hinter das Ziel. - Aber der Tod breitet 2 
gleichsam unsere Arme aus und drtickt sie urn unsere geliebten 
Geschwister; ein Mensch fiihlt erst am Rande der Gruft, wo er 
ans Reich unbekannter Wesen s to Bet, wie sehr er die bekannten 
liebt, die ihn lieben, die leiden wie er, die sterben wie er. 

Da ein Weib uns mit nichts die ganze selige Vergangenheit 
riihrender aufdeckt, als wenn sie ihr Augenlid aufhebt und uns 
ihr schimmerndes Auge zeigt: so muBte er ja wohl wenigstens 
unter dem Tanze in ein Auge blicken, das ihm lauter Himmel 
zeichnete, die versunken waren - und heute sollte ihm alles ver- 
sinken, das Auge sogar. Und da Klotilde durch das Tanzen ge- 3 
wohnlich erblaBte: so zog er durch ihre Augen in ihr Inneres und 
zahlte darin an der stillen Seele die Tranentropfen, die unerschiit- 
tert an ihr hingen - die vielen Impf-Einschnitte des Schicksals fur 
neue Tugenden - die beschnittenen Wurzeln, die das Schicksal an 
dieser Blume, wie wir an niedern Gewachsen, vor der Verpflan- 
zung in eine andre Erde verkiirzt - und die tausend HoniggefaBe 



28. HUNDPOSTTAG 955 

schoner Gedanken. (Jnd da er an alle ihre bedeckten Tugenden 
auf einmal dachte, an die Herrschaft ihrer weiblichen Vernunft 
tiber ihre Empfindsamkeit, an ihr leichtes Einwilligen in den Ball, 
den ihr jetzo der Ftirst, so wie das in die Schminke, die ihr sonst 
die Fiirstin aufgedrungen, und an ihre Gefalligkeit, sobald sie 
nichts aufzuopfern brauchte wie sich; und da er sich vorhielt, daB 
sie, nicht ahnlich den Hof- und Stadtweibern, die wie Gewachse 
sich ans Fenster des Gewachshauses nach dem Llchte ausspreizen, 
sondern ahnlich den Friihlingb lumen gern im Schatten bluhe, und 

o doch die Liebe zum Landleben so wenig wie ihre Bescheidenheit 
zur Schau auslege : so muBt' er das Auge abwenden von der zar- 
ten aufgerichteten Blume, auf die der Tod den Leichenstein nie- 
derwarf, von der schonsten Seele, die ihren Wert noch nicht im 
Spiegel einer gleichen sah, vom sterbenden Herzen, das doch 
nicht glucklich war. 

Alsdann stieg freilich der Gedanke, vor dem er zusammenfuhr, 
wie ein Sturm empor: »Ich will ihrs heute sagen, wie gut sie ist - 
o ich sen' sie doch nicht wieder, und sie stirbt sonst von sich un- 
gekannt! - Ich will ihr zu FuBen sinken und meine unaussprech- 

o Hche Liebe bekennen. - Sie kann nicht ziirnen; ich begehre ja 
nicht ihr heiliges Herz, das keiner verdient, ich will ja nur sagen: 
meines vergisset dich nie, aber es verlanget deines nicht, es will 
nur sanfter brechen, wenn es vor dir gezitteft und geblutet und 
geweinet und gesprochen haw. . . 

Nahe hinter diesem Gedanken kam Klotilde selber zu ihm an 

der Hand ihrer Stiefmutter, und das von der Warme wie Rosen 

von der Sonne entfarbte Angesicht, die krankern miiden Ziige 

taten die stille Bitte, in die frische Luft und nach Haus zu kommen. 

Sie fuhr; die Stiefmutter entfernt hinter ihr. - Welcher Tausch 

o der Biihnen! - Unter dem Morgentor des Himmels stand der 
Mond, der den Leichenschleier aus Gewolk abgehoben hatte von 
der MilchstraBe und von dem ganzen blauen Abgrund. Er trug 
allmahlich einen Grund von Silber auf und zeichnete mit Schatten 
und Blitzen ein riickendes* Nachtstuck hinein. Sein Licht schien 
der Frost in Korper zu verdichten, in weiBe Auen, in taumelnde 
Strdme, in schwebende Flocken, es hing blitzend als weiBes Blu- 



956 HESPERUS 

tenlaub an den Gebiischen, es glimmte die ostlichen Berge hinauf, 
die die Sonne in Eisspiegel gegossen hatte. - Und alles iiber dem 
Menschen und um den Menschen war erhaben-still - der Schlaf 
spielte mit dem Tod — jedes Herz ruhte in seiner eignen Nacht. — 

Und hier bei diesem Eintritt gleichsam aus dem Getummel der 
Erde in die stille uberdammerte Unterwelt flossen kalte Schauer 
und nach ihnen gliihende Schauer uber Viktors Nerven. - Dies 
geschieht, wenn die Seele des Menschen zu voll ist und zu sehr er- 
schuttert wird, und alle Faden ihres zitternden Korpergewebes 
schwanken dann mit ihr. - Sein Schlitten wurde jetzt eine flie- it 
gende Gondel. Die entgegenschlagende Nachtluft wehte alle seine 
Flammen an. O ! der Strom voll Eisspitzen, wenn er iiber ihn ge- 
zogen, die kiihle Decke von Schnee, wenn sie auf ihm gelegen 
ware! - Immerfort rief es in ihm: »Du fahrst die Stille, die Ge- 
duldige mit ihrem schwarzen Schleier dem Tode zu - es ist ihr 
Leichenwagen - die edle Perlenfischerin hat dem Himmel ihr 
Zeichen gegeben, daB sie hier unten Schmerzen und Tugenden 
genug gesammelt habe, damit er sie wieder hinaufziehe zu sich.« - 
Die voriiberriickenden Berge, die vorbeistiirzenden Baume, die 
wegrinnenden Felder, diese Flucht der Natur schien in einen *c 
groBen Wasserfall zusammenzuflieBen, der alles mittrieb und den 
Menschen zuerst, und nichts stehen lieB als die Zeit. - Und als er 
in das Tal, wo die Stadt verschwindet, wie vor einem Jahre seine 
begleitenden Freundinnen, hinunterrollte und als der Morid 
scheinbar hinter den Baumen durch den Himmel zu fliegen an- 
fing: so richtete er seine Augen gegen die Sterne auf und redete 
zuriickgebogen, hinaufstarrend, zertriimmert den Himmel laut 
an: »Tiefes blaues Grab iiber den Menschen, du versteckst deine 
weiten Nachte hinter zusammengeriickten Sonnen! Du ziehest 
uns und unsre Tranen hinauf wie Diinste. - Ach wirf nicht die jc 
armen, sich so kurz sehenden Menschen so weit auseinander, 
nicht so unendlich weit! - Und warum kann der Mensch nicht 
hinaufblicken zu dir, ohne zu denken : wer weiB, welches geliebte 
Herz ich droben nach einem Jahre suchen muB!« - 

Seine verdunkelten Augen fielen schmerzhaft vom Himmel 
herab - auf Klotildens ihre, die aufgehoben seinen gegeniiber- 



28. HUNDPOSTTAG 957 

standen. Sie konnte die Trane, die vom Auge erst bis zur Wange 
gefallen war, weder durch den Schleier entziehen, noch fiir eine 
auf dem Anges'icht zergangene Schneeflocke ausgeben, da der 
Schleier die Flocken abstieB; aber eine solche Trane hatte keinen 
Schleier notig. Klotilde hatte gedacht, er meine blofi Emanuel, 

und darum wurde sie weich Wie zwei scheidende Engel schau- 

ten beide sich mit weinenden Augen an. Aber Klotilde zog die 
ihrigen ab, und ihr Haupt biickte erliegend sich vorwarts. Gleich- 
wohl wandte sie sich wieder um und tat mit dem Himmels-Ange- 

o sicht und mit der Himmels-Stimme die schone Bitte an ihn : »Wiir- 
digen Sie dieser warmen Freundschaft auch meinen Bruder; und 
vergeben Sie der Sch wester heute diese Bitte, da ich sie vielleicht 
lange nicht erneuern kann.« - Er biickte sich tief und konnte nicht 
antworten. - 

Aber da ihr Wohnort ihnen jetzt entgegenschimmerte und ihr 
SchloB, von dem der Silberregen des Mondes niederrann - da die 
Minute immer groBer und dunkler herankam, worin ihm der Ab- 
schied (vielleicht die Maske des Todes) diesen stillen Engel von 
der Seite nahm - da ihm jede gleichgultige Abschiedformel, die er 

o sich aussinnen wollte, sein krankes Herz zerschnitt - da er sah, wie 
sie ihr Haupt auf die Hand und auf den Schleier lehnte, um unbe- 
merkt die ersten Zeichen ihres Abschiedes wegzunehmen oder 
aufzuhalten: so stiirzte die ganze Wolke, die so lange einzelne 
Tropfen in seine Augen fallen lassen, zerrissen auf ihn nieder und 

uberflutete sein Herz Er hielt plotzlich still . . . Er sah mit un- 

versiegenden Augen gegen St. Liine Klotilde kehrte sich um 

und erblickte ein entfarbtes Angesicht, eine Stirn voll Schmerzen 
und einen zitternden Mund und sagte blode : »Ihre Seele ist zu gut 
und zu weich.« - Ja, dann brach sein uberfulltes Herz entzwei. - 

o Dann quollen alle mit alten Tranen vollgegossenen Tiefen seiner 
Seele auf und hoben aus den Wurzeln sein schwimmendes Herz, 
und er sank vor Klotilden nieder, glanzend in himmlischer Liebe 
und rinnendem Schmerz - von der Tugend uberflammt - vom 
Mondenlicht verklart - mit der treuen erliegenden Brust, mit den 
uberhullten Augen, und die zerrinnende Stimme konnte nur die 
Worte sagen: »EngeI des Himmels! endlich bricht vor dir das 



95 8 HESPERUS 

Herz, das dich unaussprechlich liebt - o ich habe ja lange ge- 
schwiegen. — Nein, du edle Gestalt weichest nie aus meiner Seele. 
- O Seele vom Himmel, warum haben deine Leiden und deine 
Giite und alles, was du bist, mir eine ewige Liebe gegeben, und 
keine Hoffnung und einen ewigen Schmerz?« - Von ihm weg- 
gebogen lag ihr erschrocknes Angesicht in ihrer rechten Hand, 
und die linke deckte nur die Augen, aber nicht die Tranen zu. Ein 
sterbender Laut fiehete ihn an, aufzustehen. Man horte den zwei- 
ten Schlitten von feme. - »UnvergeBIiche ! ich martere Sie, aber 
ich bleibe, bis Sie mir ein Zeichen der Vergebung geben.« — Sie ic 
reichte ihm die linke Hand hinaus, und ein heiliges Angesicht 
voll Ruhrung wurde aufgedeckt. Er preBte die warme Hand an 
sein flammendes Angesicht, in seine heiBen Tranengtisse. Er fragte 
zitternd wieder: »0 mein Fehler wird immer groBer, werden Sie 
ihn denn ganz verzeihen?«. . . 

Da verhiillte sie das errotende Angesicht in den verdoppelten 
Schleier und stammelte abgewaodt: »Ach dann muB ich ihn tei- 
len, edler Freund meines Lehrers.« 

Seliger, seliger Mensch! nach diesem Wort bietet dir das ganze 
Erdenleben keinen groBern Himmel an ! Ruhe nun in stillem Ent- zc 
ziicken mit dem iiberwaltigten Angesicht auf der Engelhand, in 
die das edelste Herz das fur die Tugend wallende Blut ausgieBet! 
Weine alle deine Freudentranen auf die gute Hand, die dir sie ge- 
geben hat! Und dann: wenn du es vermagst vor Entziicken oder 
vor Ehrfurcht, denn hebe dein reines glanzendes Auge auf und 
zeig ihr darin den Blick der erhabnen Liebe, den Blick der ewigen 
Liebe und der stummen und der seligen und der unaussprech- 
lichen! - 

Ach der, den einmal eine Klotilde geliebt hatte, der konnte 

jetzo vor Entziicken nicht weiterlesen - nicht weiterschreiben 3c 

oder auch vor Schmerz ! - 

Jetzt legte er den schonern Weg schweigend und geheiligt zu- 
riick — der Mond hing wie ein betauter, mit weiBen Bliiten iiber- 
legter Morgen vom Himmel herab - der Friihling bewegte seine 
Auen und seine Blumen unter dem Schleier von Schnee - das 
Entziicken schlug in Viktors Herzen, schwoll in seiner Brust, 



28. HUNDPOSTTAG 959 

glanzt* in seinem Auge - aber die Sprachlosigkeit der Ehrfurcht 
herrschte iiber das Entzucken — Sie kamen an. Und als beide im 
Zimmer der Harmonika, wo er abends vor Schmerzen ihre Hand 
ergriffen hatte, einander einsam gegeniiberstanden, so verandert, 
so selig zum ersten Male, zwei solche Herzen, sie wie ein Engel, 
der vom Himmel niedersank, er wie ein Seliger, der aus der Erde 
auferstand, um dem bloden Engel an das Herz zu fallen und mit 
ihm sprachlos in den Himmel zuruckzugehen . . . welche Stunde! 
- O nur fur euch, ihr schonen Seelen, die ihr solche Stunde nie er- 

10 lebt und doch verdient, mal* ich diese fort! Wie zwei Selige 

vor Gott schauen sie einander in die Augen und in die Seelen - 
wie ein Zephyr, den zwei schwankende Rosen fortsetzen, wehet 
zwischen den zitternden Lippen der sprachlose WonneseuFzer, 
von der Brust in schnellen Ziigen eingetrunken und freudig 
schauernd in langen ausgezittert — sie schweigen, um sich anzu- 
blicken, sie heben die Augen auf, um durch den Freudentropfen 
durchzusehen, und senken sie nieder, um ihn mit dem Augenlide 
abzutrocknen . . . . Nein, es ist genug - o es ist eine andre Trane, 
die jetzo druckend in dem schonen Herzen liegt, das schweigt und 

to sagen will: ich war niemals glucklich, und ich werd* es auch nie! 
Viktor hatte ihr so viel zu sagen und hatte so wenige Minuten 
mehr dazu : gleichwohl machte ihn nicht sowohl die Freude als die 
Ehrfurcht stumm — denn heilig ist dem liebenden Herzen die Ge- 
stalt, die zu ihm gesagt: ich bin dein. - Denket aber nicht, er 
wollte etwan die rohe Bitte tun, seinetwegen dazubleiben; nur die 
Frage, ob er sie in Maienthal besuchen diirfe, nur die Bitte, da 6 
sie fur ihr Genesen sorge, kann er wagen. Klotilde hatte nur eine 
an ihn zu tun, die sie nicht genug uberhullen konnte; die nam- 
lich, ihres eifersuchtigen Bruders wegen sie nicht in Maienthal zu 

so sehen. 

Unter dem Zogern der Entziickung schellet der zweite Schlit- 
ten. Die Eile notigte sie zum Mut — Viktor verwandelte die Bitte 
in den Wunsch, daB der Fruhling die Absicht ihrer Reise (die Ge- 
nesung) begiinstigen moge, und die Frage in die Freude, wie 
glucklich sie in Maienthal neben Dahore sein werde, wie selig er 
sonst dort gewesen und wie wenig er sonst geglaubt, daB man es 



960 HESPERUS 

da noch mehr werden konne. Klo tilde antwortete (wahrschein- 
lich auf seinen Wunsch nachzureisen) : »Ich hinterlasse Ihnen 
ebensoviel, meinen Bruder und Ihren FreunJ; yergessen Sie meine 
vorige Bitte nicht!« 

Erst da die annahernden Eltern Klotilden erinnerten, den 
Schleier zuruckzuschlagen, und ihren Geliebten anmahnten, den 
ersten Abschied von dem errungenen Herzen zu nehmen ; da blick- 
ten beide weit in das groBe Eden hinein,das sich ura ihrLeben auf- 
getan - und die helle Minute, die jetzt im Strom der Zeit voruber- 
floB, spiegelte in die Ewigkeit zwei himmlische Gestalten hinauf, i< 
eine entschleierte, blaBrote, von Tranen verklarte, und eine von 
Liebe verherrlichte, von HofFnung widerscheinende - und nun 
lasset nicht langer die Hand Seelen zeichnen, die nicht einmal das 
glanzende groBe Auge der Liebe abmalet... 

Als die Eltern kameh : funk* er alle mogliche Kontraste, aber er 
vergab alle mogliche. Er nahm bald Abschied, um zu Hause in der 
Stille der Nacht den ersten betenden Blick iiber seinen kiinftigen 
Lebensstrom zu werfen, der sich jetzt zum Grab hinzog in Schori- 
heitlinien, und in welchem bunte Minuten spielten wie Gold- 
fische. 2 

In der Nachtstille, nicht weit von seiner Wachsmumie, wollte 
der Gluckliche niederfallen vor dem unendlichen Genius und ihm 
mit neuen Tranen danken fur diese Nacht, fur diese Freundin, 
deren erste Liebe er ist. Aber der Gedanke, es zu tun, ist die Tat, 
und o wie konnte unser geriihrtes Herz, das schon vor Menschen 
verstummt, noch andere Worte vor dem Unendlichen finden als 
Tranen und Gedanken? - 

- Und in dieser ergebnen Stimmung voll tiefer Ruhe, worin 
ich die Feder weglege, mogest du, lieber Leser, dieses Buch weg- 
legen und auch sagen wie ich: es werden sich wohl mehr triibe j 
Tage so beschlieBen wie der achtundzwanzigste Hundposttag. 



SIEBENTER SCHALTTAG 961 

VoRREDE ZUM DRITTEN HEFTLEIN 

(das in der ersten Auflage um ein Dut^end Bogenfruher anging) 

Da jetzt auch der Schalttag in die Vorrede einfallt und er noch 
dazu beim Anfangbuchstaben V anfangt: so konnen ja beide un- 
gemein glucklich miteinander abgefertigt werden. 



SlEBENTER SCHALTTAG 

Ende des Registers der Extra-SchoBIinge 

uv 

Unempfindlichkeit der Leser - Vorrede. Es gab gliickliche Zei- 
to ten, wo man von seinem Nebenwilden und Nachsten nichts zu 
befahren hatte, als totgeschlagen zu werden - wo nur der Hagel 
der Knutenmeister der Haut war, anstatt daB jetzt der Passatwind 
des Visitenfachers fur uns eine Windsbraut ist und der kuhle 
Atem iiber die Teetasse hiniiber ein Seewind - wxd man weniger 
am Kummer des andern Anteil nahm als an seinem FraBe - wo 
die Damen die Herren in Barenhauten mit nichts verwundeten 
(mit Blicken, Reizen, Locken am allerwenigsten), mit nichts als 
mit Keulen, und wo sie sich zwar so gut wie heute und morgen 
des Herzens eines ehrlichen Mannes bemachtigten, aber doch nur 
10 so, daB sie den Inhaber desselben vorher auf einen Altar hin- 
streckten und ordentlich abschlachteten, eh' sie ihm den Himmel- 
globus aus dem Brustgehause ausschnitten. — 

Um diese Zeiten sind wir nun alle gebracht; in den jetzigen 
siehts schlecht aus. Beim Himmel, man hat ja nicht viel weniger 
als alles vonnoten, um glucklich, und nicht viel mehr als nichts, 
um ungliicklich zu sein - zu jenem braucht man eine Sonne, zu 
diesem ein Sonnenstaubchen ! - Gut waren wir daran und groBe 
Zimmer in alien Lustschlossern hatten wir innen, wenn es uns 
vom Schicksal bescheret ware, daB wir etwan so viele Foltern er- 



9<52 HESPERUS 

Htten, wie die Juristen haben, namlich drei - nicht mehr Plagen, 
als die Agypter trugen, namlich sieben - nicht mehr Verfolgun- 
gen, als die ersten Christen ausstanden, namlich zehn. Aber auf 
solche Gliick-Ziehungen sieht ein Mann von Verstand gar nicht 
a.uf; wenigstens verspricht sich solcher Treffer einer nicht, der 
sich wie ich hinsetzt und erwagt unsre Kolibrimagen — unsere 
weiche Raupenhaut — unsere selber klingende Ohren - unsere 
Selberztinder von Augen - und unsere culs de Paris, die nicht von 
einem umgestulpten Rosenblatt, sondern schon vom Schatten 
eines Domes gestochen werden - und unsere feine Hautfarbe, die i 
ohne einen Mondschirm im Mondlicht schwarz wiirde .... Und 
doch nab' ich in diese Rechnung unserer Leiden - weil ich mit 
FleiB darauf aus bin, sie kleiner zu machen - noch ganz andere, 
ganz verdammte Posten nicht gebracht, sondern z. B. den Reich- 
rum vollig ausgelassen, dieses Schmerzengeld so vieler tausend 
Schrammen und Splitterungen der Brust, unduberhauptMillionen 
Seelenwunden, die unser durchlochertes Ich ganz durchsichtig 
machen wiirden, war' es nicht zum Gliick ganz vom Kopf bis zum 
FuB in englisches Taftpflaster gekleidet.... Aber ich HeB alles 
dergleichen weg, weil ich wuBte, es ware doch so gut wie nichts, a 
wenn ichs gegen ein ganz anderes Fegfeuer und Gewitter hielte, 
in das vorziiglich wir Mannspersonen geworfen werden, wenn 
wir so unglucklich sind, daB wir uns selber kielholen - namlich 
uns verlieben, welches meines wenigen Erachtens ein geringer 
Vorgeschmack der Holle ist, so wie des Himmels. Die beste Pee- 
reB in diesem Fache schreib' an mich und kouvertier' es postfrei 
an die Verlaghandlung in Berlin und nenne sich mir, wenn sie 
fahig war, ihren armen Pastor fldo nicht zu schinden und zu spie- 
Ben, noch mit Zwickelurteln zu verfolgen, noch ihm mit den 
Druckmaschinen der Hande sein Herz voll Quetschwunden, mit \ 
der Facher-Bastonade seinen Kopf voll Fissuren, mit den Augen 
die Brust voll Brandblasen zu machen und ihm wie dem Rauch- 
tabak mit Tranen eine Beize zu geben — Wenigstens komm* ich 
selber gegenwartig gerade aus einem solchen Zucht- und Hatz- 
haus her und sen* erbarmlich aus in meiner Haut, als hatt' ich eine 
skalpierte um mich geschlagen. 



SIEBENTER SCHALTTAG 963 

Wir wollen nichts weiter davon reden. Meine Absicht bei die- 
sem alien ist, den Leser standhaft zu machen, weil ein ganz neues 
Regengestirn, das ich gar nicht namhaft gemacht, fur ihn herauf- 
steigt, urn ihn einzuschneien. Das tobet arger als alles vorige. Ich 
meine so: ein Reichsbiirger kann schon mit allem zu Rande sein - 
seine Kasse und seine Feinde konnen schon gesturzt und seine Ar- 
beiten vom Publikum oder vom Kollegium recht gut aufgenom- 
men - seine Fristgesuche bewilligt sein und die Quinquennells 
seiner Schuldner abgeschlagen worden - seine jiingste Tochter, 

to die, wie die alteste des Bruders des franzosischen Konigs, Made- 
moiselle heiBet, kann schon die Blattern uberstanden haben und 
die Verlobung nachher : es hilft ihm wenig, das Argste, eine ganze 
Gehenna erwartet ihn noch - im Bucherbrett; denn dort konnen 
die schonen Geister, er habe immer schon alle bittere Salze des 
Geschicks hinuntergeschluckt, unter dem Namen Romanen- 
Manna ein hartes Tranenbrot ihm vorgeschnitten haben, das ich 
fiir meine Person weder backen noch kauen mochte - wahrlich 
sie konnen (in einer andern Metapher) Totenmarsche und Trauer- 
kantaten fiir ihn gesetzt und bereitgelegt haben, die ihn ganz nie- 

10 derwerfen und ihm warm machen, daB ihm die Augen uber- 
gehen. 

Und zum Ungliick zeichnen sich gerade warmblutige und 
weichhautige herrliche Manner am wenigsten durch standhaftes 
maBigendes Ertragen der poetischen Leiden aus, die ihnen die 
Schreiber zuschicken. Ich kann daher dieses dritte Heft, das zu 
leicht riihret, unmoglich ohne alle Vorrede als eine Widerlage 
Iassen, wenn ich nicht selber Ursache sein will, daB unschuldige 
Menschen bei den besten Auftritten dieses Hefts weinen und mit 
Ieiden. Solche zu weiche Menschen, denen die Natur die asthe- 

o tische Apathie gegen groBe Leidensfalle in Tragodien und Ro- 
manen versagt hat, sollten sich - sie miiBten denn fett sein; denn 
Fetten tut der Kummer gut wie Hungerkur und Hollen stein - 
diese sollten sich durch Philosophie kalt machen und bewaffnen 
gegen den tragischen Dichter; sie sollten sich unter dem Lesen 
eines groBen Jammers trosten und sagen : »Wie lange dauert ein 
solches gedrucktes Ungliick? - Wie bald ist ein Buch und Leben 



964 HESPERUS 

hinaus - Morgen denkst du doch anders - Der ungluckliche Zu- 
stand, in den ich durch Shakespeare hier gebracht werde, existiert 
ja nur in meiner Vorstellung, und der Schmerz dariiber ist ja, nach 
den Stoikern, nur Tauschung - Man muB, sagt Epiktet im Hand- 
buch, das nicht bejammern, was nicht in unserem Willen liegt, 
und hier die traurige Szene von Klopstock ist ja ein auBeres Ding, 
das du nicht andern kannst - Willst du dich von einem Nord- 
amerikaner, vom Halloren, vom Pobel, vom Cretin aus Gex be- 
schamen lassen, der diese ganze Szene aus Goethe s Tasso still und 
gelassenaushielte, ohne ein Auge naB zu machen?« - i< 

Ich beteur' es den Lesern, daB ich hier nur gegen ihre Weiber 
und Schwestern zu Felde liege: denn unter den Lesern fehlten 
standhafte Zuschauer asthetischer Leiden niemals ganz und noch 
weniger als selber unter dem Pobel, und ich mochte am wenigsten 
den Schein haben, als stritt* ich dem groBern Teile der Geschaft- 
leute, der Rezensenten, Kriminalisten und Hollander groBe Ge- 
lassenheit unter dem Lesen iiberflorter triiber Szenen ab, die ich 
und andre in die Presse gaben. Ich berede mich vielmehr gern, 
daB - wenn jemals Hoftnung dazu war - es gerade jetzt ist, wo 
der Deutsche jenen belgischen Stoizismus, jene edle Unempfind- i< 
lichkeit anzunehmen verspricht, die ihn so ziert und durch die er 
gegen Melpomenens Dolch schuB- und stichfest wird und in Dan- 
tes Holle, wie Christus in der wahren, ohne Leiden ist. Wir hatten 
zwar nie die Empfindlichkeit der Franzosen, und ihr Racine ware 
immer fur uns ein kurzweiliger Rat gewesen; aber jetzo sind wir, 
wenns ein Verfasser nicht gar zu,kraus macht und nicht gar zu 
viele Schlachtfelder und Kelche mit Mausegift und Rabensteine 
vorschiebt - denn das greift uns an -, sondern wenn er nur so 
halb aufgeraumt - ich sen' ihn ordentHch reiten - auf einem 
Trauerpferde dahersetzt und mit der einen Hand eine Toten- 3 
glocke schiittelt und mit der andern einen Leichenmarschalls-Stab 
Wehe schwenkt, oder wenn er vollends nur die unsichtbaren zu- 
gequollenen Stichwunden der zartern feinern Seele vorzeichnet, 
da sind wir jetzo schon imstande, unsere lustige Laune zu behaup- 
ten und zu zeigen, was der Deutsche ertragt. Leute von geringerer 
Kraft scklafen wenigstens, damit sie bei einer Goetheschcn I phi- 



SIEBENTER SCHALTTAG 965 

genie nicht leiden, weil der Schlaf Leidende aufrichtet; oder wir 
vergessen solche Elegien gar, weil wir nach Platner kein Ge- 
dachtnis fur Schmerzen haben, und weil die Vergessenheit - wie 
ein Fiirst schrieb - das einzige Heilmittel der Schmerzen ist, oder 
der Himmel schenkt uns, wie nach Leid Freude, nach einer Messi- 
ade (wovon uns eine gute Travestierung anzuwiinschen ware) 
eine blumauerische Parodie, woriiber wir die vorige Epopoe leicht 
vergessen konnen. 



W 

10 Weiber. Ihr holden weichen Fruhlingblumen und Engel-Absen- 
ker neben uns harten Winterkohlstriinken, ich habe ja schon im 
vorigen Buchstaben eurer gedacht und eurer Weichheit im Gegen- 
satz der deutschen Strengfliissigkeitl Was soil ich weiter sagen, 
als daB ihr, sobald ihr gut seid, es im hochsten Grad seid, und 
daB ihr und das englische Zinn einerlei Stempel habt - namlich die 
Figur eines Engels? - 

X siehe I K S - Y siehe I - Z siehe T S 



Tz 

Spiti* Der arme Spitz will so gut in Vorreden unter Extra-SchoB- 

ao Hnge wie sein Herr und kommt gerade recht mit dem 29Sten Ka- 

pitel.Ich kann stundenlang mitSpitzhunden reden, wie Yorickmit 

Eseln. Ich will jetzt den Gotterboten auf die HinterfuBe stellen und 

an den vordern halten, damit er mir aufgerichtet zuhort. 

»Steh, leichte Bestie! - Ich rede nur mit dir uber etwas, damit ich 
dich in die dritte Vorrede setzen kann. Es verdient, Spitz, bemerkt 
zu werden, daB du ein Schelm bist wie Menschen und gleich ihnen 
nicht gerade, sondern gekrummt und niedergebiickt verbleiben 
willst, bloB um recht zu fressen; du und sie wollen wie Pharo- 
karten durch Beugen und Krummen gewinnen, wie die gemeinen 
*o Englander ihre schlechten Silbermiinzen krummen, damit sie nicht 
fur weniger ausgegeben werden, namlich zwei fiir eine. - Du hast 



966 HESPERUS 

falsche Augen, aber du handelst doch gut. - Die Rezensenten, 
ungeduldiges Vieh, sagen, wenn sie an deiner Stelle waren, sie 
wiirden das biographische Bauzeug fleiBiger zutragen, damit die 
Lebensbeschreibung aus ware, eh* es schneiet - Setze ihhen nicht 
entgegen, daB ichs wie Baronius machen konnte, der seine An- 
nalen ohne Bart angefangen und mit einem grauen ausgemacht - 
Das konnen ihm nur Rezensenten (ich aber nicht) nachtun, die 
Zeit haben zu feilen und die ein Werk unbdrtig anfangen konnen 
am Rasiertage, und erst drei Tage darauf vollenden, wenn sie ein- 

geseift sind. Fall nur nieder, Hofmann, und friB; du bist we- 1° 

nigstens nicht ohne alien Verstand und gibst doch mehr auf das 
Haranguieren acht als ein Dauphin-Fotus und wedelst doch, aber 
der Fotus nicht — Ich habe nun mit ganz andern Leuten zu spre- 
chen, und die wenigsten wedeln, Spitz !« 

Jean Paul. 



29. HUNDPOSTTAG 9<>7 

29.. HUNDPOSTTAG 
Bekehrung - Billetdoux der Uhr - Florhut 

Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinsel ab, und mit- 
tags Viktor nach seinem pontinischen Sumpf - beide mit einer 
Entfemung zufrieden, die sie wiirdig machte, eine Vereinigung 
zu genieBen. 

Das erste, was der Hofmedikus in Flachsenflngen vornahm, 
war - daB er nachsann oder vielmehr nachempfand. Der Mensch 
ist der Doppelspat der Zeit, der alle Szenen zweimal nebenein- 

10 ander zeigt. Die Erinnerung ring in ihrem Spiegel noch einmal den 
Mondschein der letzten Nacht und die Engel auf, die darin 
schwebten, und kehrte den Spiegel mit diesem Schimmer, mit 
dieser Perspektive meinem Viktor zu. Er iiberdachte Klotildens 
bisheriges Betragen, aus dem er — und ich hoffe, mein Leser - die 
Ziige der reinsten Liebe, die nur mit einem Auge aus dem Schleier 
blickt, neben den Zugen einer entschiedenen Herrschaft der weib- 
Iichen Gefuhle iiber die weiblichen Wunsche entdeckte. Sie 
kommt den ersten Mai aus Maienthal mit einem weinenden Her- 
zen, das, von einer Toten abgerissen, ofFen noch fortblutet. - Der 

ao Schiiler Emanuels begegnet ihr, und sie eilet wieder zum Grabe 
zuruck, um dort mit den Tranen der Trauer ihre erste Liebe aus- 
zuloschen. - Aber Emanuel teilet dieser Liebe sein heiliges Feuer 
mit durch die seinige, durch sein Lob des Geliebten, durch den 
offnen Brief voll keimender Liebe, den dieser am Geburtfeste des 
4ten Maies an ihn geschrieben. - Sie kehrt ungeheilet gegen die 
Zeit seiner nahen Abreise zuruck. -Aber ihr guter Emanuel driickt 
freundschaftlich-grausam das Bild, das ihr das Herz zu enge 
macht, tiefer in die Wunden desselben hinein, indem er ihr Viktors 
Leben in Maienthal und dessen Gestandnis berkhtet, daB er sie 

30 liebe. - Viktor schweigt vor ihr, aber sie glaubt, er tu' es, weil er 
von seinem Vater keine Erlaubnis habe, mit ihr uber Flamins Ver- 
wandtschaft zu reden. - Er geht an den Hof und scheint sie zu 
vergessen, ja er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch, wie 
er weiB, ihre Seele blutig driicken. - Ihre Eltern notigen ihr, um 



968 HESPERUS 

sie auszuforschen oder urn ihrem geheimen Werber Matthieu mit 
ihrer weiblichen Verschleierung zu schmeicheln, durch eine ty- 
rannische Frage das ungliickliche Nein ab, das ihren Bruder 
tauscht und ihren Freund entfernt - Viktor weicht an ihrem Fest- 
abende aus dem Garten, ohne sie anzureden, besucht darauf ihre 
Eltern wieder und ist ganz erkaltet. - Nun hort sie nichts mehr 
von ihm als hochstens Berichte seiner hofischen Freuden und sei- 
ner Besuche bei Joachimen Ja, du Gute, so muBten ja im 

Kampfe mit Wiinschen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach 
der geliebten Seele alle deine Freuden einschlafen und deine Hoff- ic 
nun gen aussterben und deine unschuldigen Wangen erblassen. 

— Da nun Viktor so diese triibe Vergangenheit durchdachte und 
sich erinnerte, wie ihr im Schauspielhause, wo er ihr seine Wissen- 
schaft urn ihre Verschwisterung zeigte, die letzte Blute der Wange, 
der letzte Zweig der Hoffnung wegbrach, weil sie sein bisheriges 
Schweigen fur ein von seinem Vater befohlnes halten konnte - 
und da alle diese Ziige in eine Himmelkonigin zusammenliefen, 
vor welcher das Niederknien leichter als das Umarmen ist - und 
da er weiter bedachte, daB dieses edle, von einem Emanuel ver- 
schonerte und eines Emanuels wurdige Herz sich doch mit alien ic 
seinen Himmeln dem wankelmiitigen Herzen des Schiilers ergab 

— und daB der Guten nicht einmal dieser bescheidne Wunsch ge- 
lang, weil das Schicksal die Blute ihrer Liebe wie die einer Rosen- 
staude aufschob durch Verpflanzung, durch Setzen in Schatten, 
durch Beschneiden der Knospen im Friihjahr und Herbs t - und 
da er sah, daB gleichwohl diese Edle mit dem Finger auf dem 
Munde, mit der Hand auf dem truben Herzen, ohne einen Wink 
ihres Grams geschieden ware nach Maienthal, und daB die mora- 
lische Kdlte diese Blume, wie die physische andere Blumen, erhoh y 
aber ihr dadurch die Wurzeln des Lebens abriB - und da endlich 30 
sein Traum am dritten Osterfeiertag, wo ihm vorkam, als sah* er 
sie auf einem lichten Nebel singend aus der Erde steigen, wie eine 
groBe Regenwolke voriiberging, und der Traum mit ihren er- 
blaBten Farben vor seiner schmachtenden Seele srille stand, und 
eine Stimme aus dem Traum ihn fragte: »Wirst du sie lange lie- 
ben, da sich Engel nach ihr sehnen und sie aus dem Kummer 



29. HUNDPOSTTAG 969 

heben und dir nichts lassen als das Grab des zu lang verkannten 

Herzens?« da alle diese Gedanken gluhend und aneinander- 

gereihet wie Hiigelketten von roten Abendwolken um seine Seele 
zogen: so wurde sein Herz wie ein Altar durch ein vom Himmel 
fallendes Opferfeuer bedeckt, und alle seine erdigen Liiste, alle 
seine Flecken vergingen in diesem Feuer - kurz, er beschloB, sich 
zu bessern, um durch Tugend wiirdig zu sein einer Tugendhaften. 
Er bekehrte sich den 3ten April 1793 gegen Abend, als der 
Mond - und die Erie — unter seinen FiiBen im Nadir waren. - 

10 Der Leser kann uber diesen Chronometer gelacht haben; aber 
jeder Mensch, an dem die Tugend etwas Hoheres ist als ein zu- 
falliger Wasserast und Holztrieb, muB die Stunde sagen konnen, 
worin jene die Hamadryade seines Innern wurde - welches die 
Theologen Bekehrung und die Herrnhuter Durchbruch nennen. 
Wie soil die Zeit nicht unsre geistigen Empfindungen abmarken, 
da ja bloB diese jene abstecken? 

Es gibt - oder kommt - in jedem mehr solarischen als plane- 
tarischen Menschen eine hohe Stunde, wo sich sein Herz unter ge- 
waltsamen Bewegungen und schmerzlichen Losreifiungen end- 

20 lich durch eine Erhebung plotzlich umwendet gegen die Tugend, 
in jenem unbegreiflichen Obergang, wie der ist, wenn sich der 
Mensch von einem Glaubenssystem auf einmal zum andern, oder 
vom hochsten Punkte des Grolls schnell zu einer zerschmelzen- 
den Vergebung aller Fehler hiniiberhebt - jene hohe Stunde, die 
Geburtstunde des tugendhaften Lebens, ist auch die siiBeste des- 
selben, weil dem Menschen ist, als ware ihm der driickende Kor- 
per abgenommen, weil er die Wonne genie Bet, keine Wider spriiche 
in sich zu fuhlen, weil alle seine Ketten fallen, weil er nichts mehr 
furchtet im schauerlich-erhabnen All. - Der Anblick ist groB, 

5° wenn der Engel im Menschen geboren wird, wenn alsdann am 
Horizont der Erde die zweite Welt aufsteigt und wenn die ganze 
Sonnenwarme der Tugend auf das Herz nicht mehr durch Wolken 
fallt. - 

Aber der arme Mensch, der gebundne, in Blut versunkne, von 
Fleisch umfaBte Mensch empfindet bald den Unterschied zwi- 
schen seinen Entzuckungen und seinen Kraften; er, der das ge- 



97° HESPERUS 

lobte Land erkampfen wollte, da ihm die Trauben desselben ent- 
gegenkamen, stockt, wenn er gegen dessen Riesen ziehen soil 
(gegen die Leidenschaften). Gleichwohl verwerf ' ich nicht einmal 
die Obertreibung jenes Enthusiasmus; der Mensch muB wie Ge- 
baude in die Hohe geschraubt werden, damit er umgebauet werde; 
ein Syllogismus grabt die Blutstrome unserer Begierden nicht ab. 
Es ist sonderbar, da6 der Teufel in uns allein das Recht haben 
soil, das Blut, die Nerven, die Getranke, die Leidenschaften zu 
seinen Kriegsoperationen und fur seine Reichskasse zu verwen- 
den, der Engel aber nicht. . . 10 

Indessen ists so: die Menschen sind lasterhaft, weil sie die Tu- 
gend fur zu schwer ansehen, und sie werden es wieder, weil sie sie 
fiir zu leicht hielten. Nicht die Vernunft (d. h. das Gewissen) macht 
uns gut, sie ist der ausgestreckte holzerne Arm am Wege der 
Tugend; aber dieser Arm kann uns weder hintragen noch hin- 
drangen — die Vernunft hat die gesetzgebende, nicht die aus- 
iibende Gewalt. Die Kraft, diese Befehle zu lieben, die noch gro- 
Bere, sich ihnen zu ergeben, ist ein zweites Gewissen neben dem 
ersten; und wie Kant nicht das mk Dinte anzeichnen kann, was 
den Menschen schlimm macht, so ist auch das nicht darzustellen, 2 o 
was sein Herz uber dem moralischen Kote aufrecht erhalt oder 
aus diesem emporzieht. 

Wer erklart es, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf 
ein gewisses Gefiihl von Ehre entweder besitzen oder entbehren - 
im weiblichen Geschlecht ist diese Abteilung noch schrorTer und 
wichtiger -, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf eine ge- 
wisse Sehnsucht nach dem Oberirdischen, nach der Religion, 
nach dem Edleren im Menschen (und nach Systemen, die dieses 
Edlere besiegeln und nicht bestreiten) entweder empfinden oder 
ewig entraten? — (Bei Kindern ist warmes Gefiihl fiir die Reli- 30 
gion oft ein Zeichen des Genies.) Der Mensch wird nicht gut 
(obwohl besser), weil er sich bekehrt, sondern er bekehrt sich, 
weil er gut ist. 

Ware die Tugend nichts wie Stoizismus: so ware sie ein bloBes 
Kind der Vernunft, deren Pflegetochter sie hochstens ist. Der 
Stoizismus stellt die Tugend so niitzlich, so verniinftig dar, daB 



29. HUNDPOSTTAG 97 1 

sie nichts weiter ist als ein SchluB; man hat bei ihr nichts zu iiber- 
winden als Irrtiimer. Da sie (nach ihm) nicht das hochste, son- 
dern das einzige Gut ist; da alle Begierden nach ihm auf ein leeres 
Nichts losgehen : so ist Tugend kein Verdienst, sonderri eine Not- 
wendigkeit. Z.B. wenn es nichts Hassenswertes gibt; so ist der 
Sieg uber den Zorn und die Liebe gegen den Feind nicht schwerer 
oder verdienstlicher als die gegen den Freund, sondern eineriei. 
Was hat denn der Stoiker der Tugend nach seiner Meinung 
aufzuopfern als Vexiergiiter, Luftschlosser und Fieberbilder? - 

io Gleichwohl tut der Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem 
Genie, negative Dienste; die stoische Erkaltung treibt keinen 
Fruhling heraus, aber sie richtet die Insekten hin, die ihn zer- 
nagen; der stoische Winter nimmt, wie der physische, die Pest 
hinweg, eh' die warmern Monate kommen, die neues Leben 
reichen .... 

Obgleich Viktor sagte: »Du Teure, kein Herz kann rein, still, 
zart und groB genug fur deines sein, aber das schwache, das du 
erduldest, wird an deinem sich heiligen und kommt gebessert zu 
dir«: so war doch nicht die bio Be Liebe die Quelle seiner Tugend, 

3° sondern umgekehrt konnte nur Tugend sich durch eine solche 
Liebe offenbaren. Aber auch ohne das wird eine halb eigenntitzige 
Sinnanderung durch Handeln zur uneigenniitzigen, wie die Liebe, 
die von der Schonheit des Gesichts anfangt, sich zuletzt in Liebe 
fur Schonheit der Seele veredelt. 

Die Absonderung von Klotilden gab ihm durch den Gedanken 
Freude, daB er wahrend derselben die eifersuchtigen Irrtiimer 
ihres Bruders schone. Die Gesamtliebe riickte jetzt der Freund- 
schaft gegen die bessern Weiber zu, und der Toleranz gegen die 
schlimmern. Er hob seine satirische Intoleranz - die aber nicht 

50 halb so groB war wie die junger schriftstellerischer SpaBvogel - 
durch eigne Toleranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reise ins 
Pferdeland als Rezept gegen Lugen, wenn man an den Hof geht. 
Sein Kubach und Schatzkastlein und sein collegium pietatis be- 
stand aus drei unahnlichen Banden : Kant, Jacobi und Epiktet. 

Ich wollt* aber, er machte sich nicht lacherlich. Von einem 
Manne, der neun Monate am Hofe gewesen, war man schon zu 



972 HESPERUS 

erwarten berechtigt, daB er sich anders benehmen und gegen jene 
Gleichheit der Stande und der Laster nicht verstoBen werde, da 
die Menschen die Siinden am besten gemeinschaftlich veruben, 
wie in den schweizerischen Kirchen die Zuhorer gemeinschaftlich 
husten miissen oder die Rekruten eines Transports zugleich pis- 
sen. Wenigstens sucht der Mann von Lebensart seine Liebe gegen 
seine Religion so gut zu verbergen wie die gegen seine Frau. - Ich 
komme wieder zur Historie : 

Viktor beschloB nun, lauter Besuche zu machen, die ihn arger- 
ten und dem Nachsten gefielen. Der nachste war eine auBeror- 10 
dentliche Steuer von Besuch bei der Fiirstin (denn seine tagliche 
Prinzessinsteuer bei ihr horte nun auf). Freilich wurde die dicke 
Stunden-Uhr des alten Zeidler Linds jede Minute ein Wecker, der 
ihm seine vorigen tollkuhnen Scherze, seinen Uhr-EinschluB- 
und Licbebrief an Agnola vorhielt. Ich kann mich der Sorge nicht 
erwehren, daB die Leser ausglitschen und sichs nicht traumen 
iassen, mit welchem Herzen Sebastian zur Fiirstin ging: o! mit 
einem voll stummer Abbitten und - Lossprechungen, mit einer 
ausgedehnten Brust voll stolzer Zuversicht und doch voll teil- 
nehmender Milde. Woher kam das? - Aus der schonen Seele kam 20 
es, die jetzt, von fremder Liebe ausgesohnt und ausgefiillt, nichts 
mehr wiinschen konnte als Freundschaft, und die nun zu gliick- 
lich war, urn nicht versohnlich zu sein. Aber er fand zwei kalte 
raffinierte Gesichter bei ihr, denen ebenso schwer abzubitten als 
zu verge ben ist — namlich ihr eignes und das des Grafen von O 
aus Kussewitz, bei welchem ihre Obergabe geschehen war. Viktor 
errotete ; der Graf schien ihn gar nicht zu kennen - sie wurden 
einander nicht vorgestellt - sprachen aber zusammen so teil- 
nehmend, als wenn sie es waren (zumal da es keinen Unterschied 
machte) - und so ging man mit ktihlen Gefiihlen und mit der 30 
groBten Gleichgiiltigkeit gegen eigne und fremde Anonymitat 
hofmafiig auseinander. BloB Viktor angstigte sich nachher mit 
Zweiftln, ob er nicht friiher als Agnola den unbekannten Grafen 
einen Grafen genannt. 

Obrigens fand er erst jetzt, seitdem er Klotilden liebte, die 
Scheidewand zwischen Liebe und Freundschaft mit Weibern recht 



29. HUNDPOSTTAG 973 

sichtbar und dick: vorher konnt* er durch die Scheidewand gut 
hindurchsehen. Eine Frau.kann sich keinen festern und reinern 
Freund erwahlen als den Liebhaber einer andern. 

Viktor muBte nun auch, und noch dringender, zu Joachimen 
gehen. Der bose Geist, der im Menschen allzeit wie die jiingsten 
Rate zuerst stimmt, machte die Motion: »er solle Joachimen den 
kleinen Irrwahn, daB er sie liebe, lassen« - als dies nicht durch- 
ging, nahm der Filou eine andere Stimme an und schlug damit 
vor: »er sollte sie fiir ihre bisherige Zweideutigkeit durch die 

10 deutHchsten Zeichen seines Hasses strafen«. - Aber er ging willig 
dem guten Geiste nach , der ihn an der Hand f uhrte und unterweges 
sagte : »Gehe jetzt zu ihr - ziehe dich von ihr ohne ihre Schmerzen 
los - deine Hand gleite allmahlich aus ihrer und raume einen Fin- 
ger nach dem andern, wie es Madchen mit ihrer physischen machen, 
und stelle dich weder als ihren Feind noch als ihren Liebhaber an.« 
Er ging ohne alien Eigennutz hin; denn letzter ware eher gewesen, 
zu Hause zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu ge- 
niefien und durchzublattern, oder auch aus dem Hause zu gehen 
nach St. Liine, um sich zu Agathen neben den Florhut Klotildens, 

20 den sie studierte, zu setzen. 

Um aber seinem Besuche nicht zu vieles Gewicht in den Augen 
Joachimens zu lassen, nahm er sich vor, sie um die Prospekte von 
Maienthal, die in ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige 
Wochen. O Maienthal, wie viel hast du, wenn schon dein Schat- 
tenrifi so gliicklich macht! - Aber sein Besuch lief sonderbar ab. 
Er wiinschte unterweges, in ihrem Toilettenzimmer ware der feine 
Narr und der wohlriechende und mehr Zeug - es war nichts da. 
Sie nahm ihn mit einer sorglosen Lustigkeit auf, als ware sie die 
Kolombine und der Medikus der Pickelhering. Er wollte aber 

jo bloB das allmahliche Abschwachen oder diminuendo seiner mo- 
ralischen Dissonanzen ausfiihren ; daher wurd* er durch das ewige 
Hinsehen auf seinen Notenpult und auf die Partitur seiner innern 
Harmonie etwas steif und ungelenk in seinem Spiel. Weiber unter- 
scheiden leicht Kalte der Vernunft (schon am Mangel der Ober- 
treibung) von Kalte der Laune. Jetzt verlangte er die Prospekte. 
Joachime wurde nicht kalter, sondern warm, d.h. ernsthaft, und 



974 HESPERUS 

hob in der hohlen Hand ihre Uhr empor und sagte, darauf blik- 
kend: »Ich geb' Ihnen so viele Minuten Frist, .als Sie Tage weg- 
geblieben sind, um das Wegbleiben zu entschuldigen.« - Viktor 
nahm ohne Verlegenheit - wie jeder, der nur nach einem entweder 
guten oder bosen Grundsatz handelt - die Bestimm-Frist an und 
hob die montre a regulateur unter dem Spiegel aus, um nicht von 
Joachimen betrogen zu werden. Diese verdammte Uhr der Fiir- 
stin grinste ihn uberall an, wie eine Druckkugel und Pulvermine 
unter seinen F.iiBen. Er zog sie auf, um dieses nurnbergische Ei 
(wie man sonst die Uhren nannte) aufzumachen und endlich ein- u 
mal nachzusehen, ob die Lieberklarung, d. h. das punctum saliens 
der Liebe oder der Amor - der nach Plato auch aus einem Ei aus- 
kam — , noch darin sei. »Ich weiB schon,« sagt* er zu sich, »es ist 
langst heraus, aber ich probier's nur.« 

Es ware uberhaupt die Frage gewesen, obs diese lbe Uhr war, 
da die in Tostatos Bude keine Brillanten hatte - wenn nicht aus 
dieser Pandorabiichse, sobald er sie am Fenster aufgeschlossen 
hatte, hervorgeflattert ware ein diinnes Blattchen, halb so groB 
wie ein Schmetterlingflugel, so lang wie ein Tulpenstaubfaden. - 

Die kleine Folie nahm vor jedem Luftchen die Flucht. Jo- 2c 

achime fing das Ding - las das Ding - fand die Lieberklarung noch 
darauf — hielt sie fur eine, die er ihr selber eben mache, um seine 
Abwesenheit auszusohnen, und die er der Uhr Witzes halber (er 
konnte auf ihre Herz-Gestalt anspielen) einverleiben wollen . . . 

Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war. - Recht wohl 
war* ihm dabei gewesen, wenn er hatte entsetzlich liigen durfen 
oder wenn er nur wenigstens den wenigen Hof-Leuten hatte nach- 
schlagen durfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren Korper 
wassern, nicht 28 ehrliche Bluttropfen - ein einziger kann, wie 
ein liquor probatorius, in der iibrigen Masse verdammte Nieder- 3c 
schlage nachlassen — geschiittet haben. Aber seine Seele ekelte 
der neue Koder zur Luge. Der Leser kann gar noch nicht wissen, 
daB Viktor fehlschoB, - daB er namlich (wegen der Entlegenheit 
von Joachimens Argwohn) auf diesen gar nicht kam, sondern auf 
den nahern, Joachime habe jetzt seinen ganzen narrischen Streich 
gegen die Furs tin heraus. Er war niemals fahig, einen fremden 



29. HUNDPOSTTAG 975 

Leichnam als Schild den Pfeilschiissen gegen seinen eignen vor- 
zuhalten - eine Sitte auf dem Hof-Moria, die nicht wie die alt- 
testamentliche einen Isaak mit einem Widder loset, sondern einen 
Widder mit einem Isaak, - er war heute am wenigsten fahig, die 
Fiirstin preiszugeben, ura sich zu retten; aber auch nicht einmal 
das vermocht' er, Joachimen preiszugeben, um jene zu retten, d. h. 
den Teufelzettel zu einem SiiBbriefchen an Joachimen umzumun- 
zen. Der Satan schrie sich in ihm heiser, um ihn nur so weit zu 
bringen, daB er wenigstens durch schweigende Gebarde loge und 

10 die ihrige rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm, 
als glaubte sie es an eine fremde Dame gerichtet. 

Er sagte ihr frei heraus, was er sei - ein Narr. Er erzahlte den 
ganzen Handel in Kussewitz. Er schloB damit, es sei ein Gluck 
fur ihn, daB die Fiirstin das tolle Einschiebsel der Uhr gar nicht 
aufgestobert habe.... Da er nun dieses eintonig vorsang ohne 
eine einzige Schmeichelei, aus der etwan eine neue verbesserte 
Auflage des Einschiebsels zu machen gewesen ware: so war er so 
gliicklich, bei seinem Abschiede die belehrte Joachime in einem 
Zustand zu hinterlassen, der sich nach solchen magnetischen Hand- 

20 habungen bei gebildeten Weibern in einer schonen stolzen Er- 
hebung und bei ungebildeten in den Versuchen auBert, an den 
Mann die bildende letzte Hand gerade so zu legen, wie sie die 
griechischen Kiinstler an ihre Modelle legten — namlich mit den 
Ndgeln der letztcn Hand. Viktor zog mit zweierlei sehr verschie- 
denen Prospekten ab, mit denen der Zukunft und mit den maien- 
thalischen. - 

Sie behielt das Blattchen. Aber nicht die Furcht, sondern das 
herbe Gefiihl, dafi seine bisherigen Torheiten sich bloB in einem 
fremden Herzen mit einer fehlgeschlagnen Hoffnung endeten, 

jo floB mit einigen bittern Tropfen in die siiBe verjungende Emp- 
fmdung, daB er auf seine Kosten recht gehandelt habe. Eine Run- 
ning, eine Trane ist ein Schwur vor dem Himmel, gut zu werden; 
- aber eine einzige Aufopferung stahlet dich mehr als funf BuB- 
tranen und zehn BuBpredigten. 

Ich habe nicht den Mut, es zu erraten, warum die Fiirstin die 
Uhr mit dem Einschlusse, den sie (schon nach dem Gesprach mit 



97<> HESPERUS 

Tostato) gelesen haben muB, Joachimen in die Hande gegeben; 
aber fiir die argwohnischen Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres 
Augenverbandes und Kusses gedacht, ist das ein Fund; das Ge- 
schenk der Uhr bestatigt sie ganz in ihrem spitzbiibischen Glau- 
betisatz; denn sie konnen - ich setze mich vergeblich dagegen - 
das Geschenk fiir ein Zeichen der italienischen Rache ausgeben, 
die Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der sie Viktors Wi- 
derstand zuschreiben muBte, dadurch habe nehmen wollen, daB 
sie ihr seine anderweitigen Lieberklarungen mitgeteilt. 

Viktor nahm sich, indem er zu Hause die groBten physischen x0 
Schritte machte, vor, ahnliche politische zu tun und geradezu dem 
Fursten zu bekennen : »Es ist nicht viel uber neun Monate, daB ich 
Hochstderoselben Braut mit einer schmalen Lieberklarung be- 
helligt habe, die sie gar noch nicht kann gelesen haben und die 
nun aus einer Hand in die andre geht.« Aber jetzo war die Eroff- 
nung der Uhrbrieftasche nicht tulich: Jenner war durch die Ent- 
fernung Klotildens ein wenig verdruBlich; Viktor war seit einiger 
Zeit auch weniger um ihn als sonst, wie doch ein rechtschaffener 
Gunstling nicht sollte, da z. B. der beruhmte Graf von Briihl wie 
eine Mutter von Morgen bis Mitternacht seinen Herrn umwachte, zo 
Jenner schien in dieser Einsamkeit mehr an seine Kinder zu den- 
ken, und Viktor konnte ihm keine Nachrichten vom Lord ertei- 
len. Die Hauptsache war vollends seine Fruhlingkranklichkeit, 
die ihn wieder zum glaubigen Jiinger des Doktor Kuhlpeppers 
und des Podagra machte. Dieser Doktor- Rumpf unter einem 
Doktorhute, dessen Gehirnfibern zu BaBsaiten gezwirnt waren, 
versteigerte seine EinfaltigkeitenbloB durch dieernsthafte Schwer- 
falligkeit, womit er ihrer los wurde, uber den Preis; von gewissen 
Personen, z. B. von Arzten, von Finanz-Rechnern, von okono- 
mischen Geschafttragern, fodern sogar Leute von feinen Sitten } c 
steife und halten sich an eine Zipfelperiicke lieber als an einen 
Haarbeutel von SchnallengroBe oder an einen Tituskopf Seba- 
stian kam den Leuten viel zu spaBhaft vor, als daB sie hatten 
denken konnen, er habe was gelernt. Im Punkte der Arzte - wie 
in jedem Hauptpunkte des Vermogens oder des Lebens - denket 
der vornehmste Pobel wie der niedrigste und schatzet Manner 



29. HUNDPOSTTAG 977 

und Schofihunde nach auBerer zottiger Wildnis. Noch dazu hatte 
Viktor den Fehler, sich und die Arzte in den Verdacht der Ruhm- 
sucht zu bringen, indem er sie geradezu lobte : z. B. »sie waren bei 
ihrem Matrosen- und Taten-Pressen eine Art Seelenverkaufer fur 
die andre Welt und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne 
die Korperschale begehrten, um ihn weiter zu stecken, zu NuB- 
knackern; - wie oft heben wir nicht« (fuhr er fort) »die gefahr- 
lichsten Krankheitverset^ungen durch eine leichte Krankenverset- 
{ungl Ich konnte mich auf die refugies aus dieser Welt berufen, 

10 ob unser Streu- und DintenfaB (das Gerate unserer Rezepte) 
nicht die Saemaschine und GieBkanne der menschlichen Winter- 
saat waren; aber die Hinterbliebnen sollen reden und antworten, 
ob sie nicht die Pfriinden, die Regimenter, die Lehnguter, die 
Ordenbander, die ihnen zugefallen, unsern Rezepten und Urias- 
briefen zu verdanken haben, und ob sie und sogar Konige im 
Trocknen saBen ohne unsere haufigen Abiuggrdben im Kirchhof. - 
Und doch, diinkt mich, ist unser Ruhm im Heilen und Beleben 
ebenso groB, wo nicht groBer: dieser Ruhm - so wie die Sterb- 
lichkeitlisten, worauf er sich stiitzt - ist seit vielen Jahrhunderten 

20 der ndmtiche geblieben, unsre Theorien, Spezifika, Einsichten 
mochten sich andern y wie sie wollten.« . . 

Den Fiirsten machten solche Satiren recht lustig und - un- 
glaubig. Doktor Kuhlpepper hingegen hielt auf seine Wiirde und 
wiirde gegen einen Satirikus, der vom langsamen Dezimieren der 
Arzte gesprochen hatte, seinen Degen gezogen und ihn durch ein 
schnelleres vollstandig widerlegt haben. Ich rate jedem, der in der 
Welt etwas werden will (namlich etwas anders), bei den Mannern 
auszusehen wie ein Leichenbitter - bei den Weibern wie ein Ge- 
vatterbitter. - Der Furst hielt sich im siechen Fruhjahr aus zwei 

30 Griinden wieder vom Zipperlein besessen, erstlich weil ich noch 
keinen Nerven-Schwachling gekannt habe, der sich eine Krank- 
heit, die ich ihm im Sommer ausgeredet hatte, nicht im nachsten 
kranklichen Winter wieder in den Kopf gesetzt hatte - zweitens 
weil Jenner nachgerechnet, daB er oft genug vor Damen auf die 
Knie gefallen war, um das Anbeten daran noch als Gonagra oder 
Kniegicht zu spiiren. 



978 HESPERUS 

So stands, als ein kleiner Zufall unsern Viktor wieder gliicklich 
machte. Ich muB nur vorher sagen, daB er ohnehin gar nicht un- 
glucklich war; denn ein Liebhaber bekiimmert sich urn nichts, 
um einen Hof gar n^eht; er hat Amors Binde um und verzeiht 
gern der Fortuna und der Justiz die ihrigen. Und das moralische 
Osterfeuer losete - so wie Aberglaube dem physischen eine eigne 
Kraft beimisset — alles Eis, womit man Viktors Blut andammte, in 
Freuden-Lymphe auf; der Osterwind - der nach den Wetterpro- 
pheten bis zu Pfingsten fortwehet - setzte seine alten Freuden- 
blumen in Bewegung und saete aus ihnen den Samenstaub ktinf- 10 
tiger weiter; der Schnee zerging auf dem aus dem Winterschlafe 
erwachenden heiBen Friihling, und die ersten Blumen und die 
tausend Knospen gaben alien* Herzen Krafte und Hoffnungen und 
Liebe. O wenn Viktor drauBen dem griinenden Steige nachsah, 
der ihn mit frischen Saftfarben mitten aus der Grummetsteppe 
(denn im. Friihling griinen die FuBwege zuerst) in das maientha- 
lische Eden locken und tragen wollte; und wenn er dann gliihend 
und diirstend umkehrte und in das gezeichnete Maienthal ein- 
lief, in die entlehnten Prospekte, und da jeden Farbenberg er- 
stieg und jeden punktierten Garten umzingelte mit seinen Fin- 20 
gern und Phantasien : so dachte er selber nicht, daB ein kleiner 
Zufall ihn noch froher machen konnte. - Und doch machte ers 
ihn. 

Es ist nicht wohlgetan von mir, daB ich das - und das nab* ich 
mir in dieser Lebensbeschreibung so sehr angewohht - immer 
einen Zufall nenne, was ein naher Blut-Urenkel voriger Kapitel 
ist und was ja kommen muB. Denn der Florkut — das war der 
Zufall - muBte ja kommen, weil er bestellt war. Es war aber das - 
Urbild selber. In so schmaler Zeit ware ohnehin von der flinkesten 
Putz-Bauherrin kein Hut zu machen gewesen; aber Sebastian $0 
hatt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Puderspuren und auf- 
gegangne Spitzen-Gitter gezwungen hatten, den alten Hut von 
einem neuen zu unterscheiden. Kurz : Klotilde hatte ihn Agathen, 
die es ihr nicht verschweigen konnte, fur wen sie das Nachbild 
davon nehme, vor dem dritten Ostertage gegeben zum Abkopie- 
ren, und nach dem besagten Tage ihr geschrieben, ihr die Kopie 



29. HUNDPOSTTAG 979 

zu schicken und dem Medikus das Urbild fiir das Nachbild (wie 
bei der Wachsstatue) anzuhangen. - Und warum wohl? - O das 
fuhlte ihr Freund in siiBer Ruhrung nach : es dauerte sie, dafi sie 
einem scheuen zartlichen Herzen nichts geben konnte, keinen 
Laut, keinen Blick, keine Freude, kein Andenken des schonsten 
Abends, als bloB den herbstlichen Nachflor desselben, als nach- 
genahte Seidenblumen dieser Freudenblume, den Taftschatten 
eines Taftschattens .... Nein, sie bezwang sich, um dem stummen 
Liebling wenigstens mehr als die Kopie des Schattens zu geben. - 

io O vor wem das liebevolle zugedriickte Herz eines guten Weibes 
aufginge: wie viel bekampfte Zartlichkeit, verhiillte Aufopferun- 
gen und stumme Tugenden wiird* er darin ruhen sehen! 

- Man muB nur dem deutschen Reichstage und seinen Quer- 
banken kein Geheimnis daraus machen, daB Viktor den neunten 
Kurhuty oder gar den achten und letzten, nicht annehmen will, 
wenn er dafiir den Ftorhut abstehen soil .... Was konnen, sagte 
er, die plumpesten dicksten Kronen, die man mir auf meinen Rei- 
sen vorgezeigt, in der einen Schale wiegen - gesetzt man wtirfe 
auch noch einige Tiaren und Dogermitzert mit Biigeln und papst- 

io liche Hiite zu den Kronen hinein -, wenn auf der andern Klotil- 
dens Florhut zieht? Da der Leser ebensoviel Verstand hat wie ich 
selber: so entscheid* er hierauf. - Dieser Hut gab ihm ein unaus- 
sprechliches Sehnen nach Maienthal und war fiir ihn ein Dedika- 
tionkupfer, das ihm (wie durch eine investitura per pileum) Klo- 
tilden erst schenkte; er blieb vor dieser Krone als Kronerbe - jede 
Minute zog seinen Kronwagen - mit zwei groBen Freudentropfen 
stehen, die das gliickliche Auge nicht faBte, und sagte, langsam 
den Kopf wiegend: »Nein, das giitige Schicksal gibt mir zu viel - 
Ach wie kann ich diese Seele vom Himmel verdienen? - Ich werde 

30 bloB zu ihr sagen : >Ich bin dein !< und spat einmal : >Du bist mein !< « 
Und als gar seine Phantasie hinter dem Flor-Gegitter die zwei gro- 
Ben Augen aufschloB, die sonst darunter die Tranen eines zuruck- 
gestoBenen Herzens verborgen hatten, und als er die entruckte 
Stimme wieder hinter diesem Sprachgitter aus Schattenfaden re- 
den lieB : so konnt* er sichnicht mehr halten, sondern er schrieb - 
damit er nach Maienthal durfe - dem Hute gegeniiber den ersten 



980 HESPERUS 

Brief an sie, den ich morgen abends gewiB mit der Post erhalten 
werde vom Hunde. — 

Ich glaube, ich nab' es gar noch nicht gesagt, daB Agathe ihm 
den Hut auslieferte und daB sie ihn - es ist gegen das Ende des 
Aprils - auf den 4ten Mai zum Geburttag des Vaters einlud. Vik- 
tor dachte an den melancholischen 4ten Mai vom Jahre 92 und 
wurde noch sehnsiichtiger nach der entrissenen Freundin. 

Eh' ich das Kapitel schlieBe, will ich nur den jiingern Klotilden, 
den Vize-Klotilden, den Kebs-Klotilden und den Gegen-Klotil- 
den, die mich und meine Kapitel auf dem SchoBe haben, das noch ic 
sagen: seid kalt! Ihr konnt die weibliche Tugend-Kalte gar nicht 
zu weit treiben, ihr miiBtet ihr denn gar keine Grenzen stecken. - 
Ich will euretwegen diese Lehre in weise Spriiche und witzige 
Sentenzen kleiden, damit sie besser auf Facher und in Stamm- 
biicher geht. 

Die Liebe muB wie der Aurikelsame auf Schnee gesaet werden, 
beide warmen sich durch das Eis schon durch und gehen dann 
desto frischer auf - Ihr musset euch nie zu einem bloBen Ge- 
schenke machen, sondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter 
- Ihr erhaltet und verdient gerade so viel Achtung, als ihr fodert, *c 
und ihr konnt, ihr mogt legiert sein, wie ihr wollt euren Miinz- 
stempel oder Pragstock aus der Tasche ziehen und. euch damit 
pragen zu einem Damend'or fur den einen Herrn und zu einem 
elenden Fettmannchen fiir den andern - Ein Wiistling zeigt in 
einer Gesellschaft wie ein Luftreinigkeitmesser durch die ver- 
schiedenen Grade seiner Kuhnheit die verschiedenen Grade des 
weiblkhen Verdienstes an, aber in umgekehrtem Verhaltnis . . . . 

Sogar wenns nicht zum weiblichen Ehrenpunkte gehorte, miiBte 
mans doch begehren, um nur eine Mtihe mehr zu haben - weil 
mein Geschlecht hieriiber vollig so denkt wie ich, der ich aus 3c 
keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter verlange, wo nicht we- 
nigstens die Eltern etwas wider mich haben; - und es kann hiemit 
bekannt werden (ich lasse es deshalb nicht in die Zeitung setzen), 
daB ich mir von Eltern, die aus ihrem Versteigersaal voll Tochter, 
aus ihrem Liebes-Inokulationhospital eine oder die andre ab- 
stehen wollen, und denen ein Berghauptmann, Gerichthalter, 



30. HUNDPOSTTAG 98 1 

Musikmeister und Lebensbeschreiber - das mogen meine wenigen 
Amter sein - keine zu verachtliche Partie ist, daB ich, sag' ich, 
von diesen Eltern erwarte, daB sie (wenn ihnen die Sache ein 
Ernst ist) mir wenigstens das Haus verbieten oder den haufigen 
Briefwechsel : - das frischet Schwiegersohne an. 

30. HUNDPOSTTAG 

Briefe 

Hatt' ich oder ein anderer hinter einem Busch oder in einem Hohl- 
wege aufgepasset und waren wir zu rechter Zeit vorgebrochen : 

10 so hatten wir die zwei ineinandergesiegelten Briefe, die Viktor 
nach Maienthal schickte, dem Boten abnehmen konnen, der kein 
Deutsch verstand, namlich seinem italienischen Bedienten. Der 
Brief an Emanuel war der Umschlag des Briefes an Klotilde - die 
Freundschaft ist immer das Umschlagtuch der Liebe. Vom Um- 
schlage will ich nur einen Auszug und einen Ausschnitt geben, 
eli* ich den Brief an Klotilden ganz mitteile. Er bat seinen Emanuel, 
dieses nur fur eine Briefdecke zu nehmen und die Inlage Klotilden 
allein zu ubergeben - er sagt' es ihm ohne weitere Erklarung, er 
hange nicht von seinen Wiinschen, sondern von Blumenketten 

20 ab, die ihn zuruckzogen von den andern Blumenketten in Maien- 
thal, und eine vielfache Umschniirung mit Girlanden konne man 
nicht durchbrechen, weil man nicht wolle - er war absichtlich uber 
sein neues Verhaltnis mit Klotilden undeutlich, weil er ihre Er- 
laubnis zum Gegenteil nicht voraussetzen durfte - er bat scherz- 
haft seinen Freund, seine Freundin zu bitten, daB sie ihm befehle, 
nach Flachsenfingen zu reisen, damit sie einander zu sehen be- 
kamen - (ich komm* aus dem Perioden, wenn ich die Absicht 
dieser Wendung zeige) - er strich in seinem Kopfe die Frage wie- 
der aus: ob Klotilde noch des Arztes bediirfe? bloB weil er einer 

30 fur sie im doppelten Sinne war, und fragte nur, ob sie genesen sei 
- Endlich schloB er so: 

»Und so flatter* ich denn mit ziemlich abgestaubten Schmetter- 
lingschwingen im unabsehlichen Tempel, der fur unser Phalanen- 



982 HESPERUS 

Auge in kleinere zerfallt und dessen Saulen-Laubwerk wir fur die 
Saulen selber halten und dessen Pfeilerreihen durch ihre GroBe 
unsichtbar werden, da flattert der Menschenzweifalter auf und 
nieder - zerstoBet sich an Fenstern - ruder t durch staubige Ge- 
spinste - schlagt seine Fliigel endlich um eine hohle Blume - und 
der groBe Orgelton der ewigen Harmonie wirft ihn bloB mit 
einem stummen auf- und niedergehenden Sturme umher, der zu 
groB ist fur ein Menschenohr. — 

Ach ich kenne jetzo das Leben ! Ware nicht der Mensch sogar 
in seinen Begierdeh und Wiinschen so systematisch - ging' er 10 
nicht iiberall auf Zurtindungen sowohl seiner Arkadien als des 
Reichs der Wahrheit aus: so konnt* er glucklich sein und mutig 
genug zur Weisheit - Aber eine Spiegelwand seines Systems, ein 
lebendiger Zaun seines Paradieses, die ihn beide nicht ins Un- 
endliche sehen oder laufen lassen, sprengen ihn sofort auf die 
entgegengesetzte Seite zuriick, die ihn mit neuen Gelandern emp- 
fangt und ihn neuen Schranken zuwirft — Jetzt, da ich so ver- 
schiedene Zustande durchlaufen, leidenschaftliche, weise, tolle, 
asthetische, stoische; da ich sehe, daB der vollkommenste ent- 
weder meine irdischen Wurzeln in der Erde oder meine Zweige 20 
im Ather verbiegt und einklemmt und daB er, wenn ers auch nicht 
tate, doch uber keine Stunde dauern konnte, geschweige ein 
Leben lang; — da ich also klar einsehe, daB wir ein Bruch, aber 
keine Einheit sind und daB alles Rechnen und Verkleinern am 
Bruche nur Annahern zwischen Zahler und Nenner ist, ein Ver- 
wandelri des 10M /io i in 10,co ',«o,: so sag' ich : >Meinetwegen! die 
Weisheit sei also fur mich Auffinden und Ertragen bloB der klein- 
sten Liicke im Wissen, Freuen und Tun.< Ich lasse mich daher 
nicht mehr irremachen, und meinen Nachbar auch nicht mehr, 
durch die gewohnlichste Tauschung, daB der Mensch jede Ver- 30 
anderung an sich — jede Verbesserung ohnehin, aber auch sogar 
jede Verschlimmerung - fur groBer ansieht, als sie hinterher ist. 

- Genug! aber seit dieser Bemerkung - o noch mehr, seit das 
hohe Schicksal mir Freuden gab, damit ich sie verdiente - ist 
neues Morgenlicht auf meinen Schattensteig gefallen, und ich habe 
nun Mut, mich zu bessern .... Der klare Strom der Zeit geht iiber 



30. HUNDPOSTTAG 983 

einen hinabgelagerten Blumenboden schoner Stunden, auf wel- 
chem ich einmal stand und zu dem ich ganz hinunterschauen kann 
- o wenn sich diese Eden-Aue wieder aufwarts hebt und ich kann 
an deiner Hand darauf treten und neben dir niederknien und dan- 
kend bald zum Morgenhimmel, bald iiber die wehenden Blumen- 
felder dieses Lebens blicken: dann sink* ich stumm an dich 
zuriick urid umfasse dankbar deine Brustund sage: >0 mein Ema- 
nuel, durch dich verdien' ichs ja erst.< - Ja, ich sag* es heute, ge- 
liebter Lehrer, und bleibe du recht lange neben deinem Schuler 
o auf der Erde, so lange, bis er wurdig ist, dich zu begleiten aus 

ihr.« - 

* 

So lang auch dieses Schreiben war, so liebte Viktor seinen Lehrer 
doch zu sehr - und haBte die furstliche Unart, Menschen zu Werk- 
zeugen zu machen, zu sehr -, als daB ers ihm nicht geradezu hatte 
sagen sollen, daB dieser Brief - nicht sowohl seine Entstehung 
als - seinen Geburttag dem Briefe an seine Geliebte verdanke. 
Hier ist der an Klotilde, in den er mit folgenden Worten seine 
Bitte, sie zu sehen, bringt: 

l0 »Wenn ich wiiBte, daB ich die geliebte Seele, die jetzo neben 
dem hohen Emanuel, neben dem Friihling und unter ihren scho- 
nen Gedanken gliicklich sein wird, nur einen Augenblick durch 
dieses Blatt beklemmte oder storte : o recht gerne opferte ich diese 
selige Stunde auf, um sie vielleicht zu verdienen. Aber nein, ewige 
Freundin, Ihr weiches Herz begehrt mein Schweigen nicht! Ach 
der Mensch muB so oft Kalte und Kummer verbergen, warum 
noch gar Liebe und Freude? - Und ich wiird' es auch heute nicht 
konnen. 

O wenn ein Erdenmensch in einem Traum durch das Elysium 

[o gegangen, wenn groBe unbekannte Blumen iiber ihn zusammen- 
geschlagen waren, wenn ein Seliger ihm eine von diesen .Blumen 
gereicht hatte mit den Worten : > Diese erinnere dich, wenn du er- 
wachst, dafi du nicht getraumt!< wie wiirde er schmachten nach 
dem elysischen Lande, sooft er die Blume ansahe. - UnvergeB- 
Hche ! Sie haben in der Schimmernacht, wo mein Herz zweimal er- 



984 HESPERUS 

lag, aber nur einmal vor Schmerz, einem Menschen ein Eden ge- 
geben, das hinausreicht uber sein Leben; aber mir war bisher, als 
wiird* ich wacher aus der zuriickgehenden Traumnacht - Siehe! 
da behielt ich aus dem paradiesischen Traum eine Blume 1 , die Sie 
mir gelassen haben, damit ich unaussprechlich glucklich bliebe - 
und damit meine Sehnsucht so groB wtirde wie meine Seligkeit, 
Warum zieht dieser Flor alle heiBen Traneri tief aus meinem Her- 
zen herauf, warum sen* ich hinter diesem gewebten Gegitter die 
Augen aufgehen, die so weit von mir sind und die mein Inneres 
so wehmtitig bewegen? O nichts befriedigt die liebende Seele, als * 
was sie mit der geliebten teilt - darum schau* ich den Fruhling 
mit so siiBem Wallen an; denn sie genieBet ihn auch, sag' ich - 
darum gefallst du mir so, du lieber Mond und Abendstern; denn 
du umspinnst mit deinen Silberfaden auch ihre Schatten und ihre 
Maiblumen - darum vertief ' ich mich so gern in jedes schattierte 
Tal Ihres Eldorados'; denn ich denke: in den vergroBerten Schat- 
ten, in den duftenden Bliiten dieser Bilder wandelt sie jetzt, und 
die Mondsichel wendet die Blitze der Sonne gemildert auf ihr 
Auge zuriick. Wenn ich dann zu freudig werde, wenn der Abend- 
regen der Erinnerung auf die heiBen Wangen fallt, wenn sich ic 
meine Entziickung auf einem einzigen bebenden langen Dreiklang 
des Klaviers auf- und niederwiegt: dann tut dem taumelnden Her- 
zen das Zittern und Schweigen und die unendliche Liebe zu weh, 
dann serin* ich mich nur nach dem kleinsten Laut, womit ich der 
Geliebten meines Herzens sagen darf, wie ich sie liebe, wie ich sie 
ehre, daBich fur sie leben will, daB ich fiir sie sterben will. — O 
mein Traum, mein Traum tritt mir jetzt wie eine Trane ans Herz! 
In der Nacht des dritten Ostertags traumte mir : ich und Emanuel 
standen in einer dunkeln Nachtgegend. Eine groBe Sense am 
westlichen Horizont warf widerscheinende laufende Blitze auf die 30 
hohen Fluren, die sogleich vertrockneten und erblichen. Wenn 
aber ein Blitz in unser Auge flatterte: so zog sich unser Herz suB 
zergehend empor in der Brust, und unsere Korper wurden leich- 
ter zum Wegschweben. >Es ist die Sense der Zeit,< sagte Emanuel, 

1 Den Florhut. 

2 Die Prospekte von Maienthal. 



30. HUNDPOSTTAG 985 

>aber von was hat sie wohl den Widerschein?< - Wir schaueten 
nach Morgen, und dort hing weit in der Feme und hoch in der 
Luft ein weites dunkelgliihendes Land aus Duft, das zuweilen 
blitzte. >Ist das nicht die Ewigkeit?< sagte Emanuel. - Da sanken 
vor uns lichte Schneeperlen wie Funken nieder; - wir blickten 
auf, und drei goldgriine Paradiesvogel wiegten sich oben und 
zogen unaufhorlich in einem kleinen Kreis hintereinander umher, 
und die fallenden Perlen waren aus ihren Augen oder ihre Augen 
selber. - Hoch uber ihnen stand der Vollmond im Blauen, aber 

10 auf der Erde war doch kein Licht, sondern ein blauer Schatten; 
denn das Himmelblau war eine groBe blaue Wolke, bloB an einer 
Stelle vom Monde geoffnet, der nur auf die drei Paradiesvogel 
und unten auf eine helle, von uns abgekehrte Gestalt Schimmer 
niedergoB - Sie waren diese Gestalt und wendeten Ihr Angesicht 
bloB gegen Morgen, gegen die hangende Landschaft, als ob Sie 
etwas da sogleich erblicken wiirden. Die Paradiesvogel saeten die 
Perlen haufiger in Ihre Augen: >Es sind die Tranen, die unsere 
Freundin weinen muB<, sagte Emanuel; auch fielen sie dann aus 
Ihren Augen, aber lichter und blieben glimmend auf dem Blumen- 

20 boden stehen. Das Blau auf der Erde wurde plotzlich heller als 
das Blau am Himmel, und eine schiefe Hohle, deren Mundung 
gegen die Ewigkeit aufklaffte, wiihlte sich ruckwarts durch die 
Erde gegen Abend bis nach Amerika hinab, wo unten die Sonne 
in die Offnung schien - und ein Strom von Abendrote, so breit 
wie ein Grab, schoB aufwarts aus der Erde und Iegte sich mit sei- 
nem Abendscheine an das feme Duftland der nebeligen Ewigkeit 
wie diinne Flammen an. Da zitterten Ihre Arme ausgebreitet, da 
zitterten Ihre Lieder voll sehnsiichtiger Wonne, da konnten 
wir uhd Sie die erleuchtete Ewigkeit ganz sehen. Aber sie wech- 

jo selte schillernd unter dem Sehen, wir konnten das nicht denken 
und behalten, was wir sahen, es waren unfaBIiche Gestalten und 
Farbenspiele, sie schienen nahe, schienen fern, schienen mitten in 
unseren Gedanken zu sein. - Wolkchen, aus der Erde aufziehend, 
schwebten um die gliihende Ewigkeit, und jedes hob einen auf 
ihm stehenden singenden Menschen hinauf zu dieser Lichtinsel, 
die sich gegen die Erde spaltete, bloB mit einer unabsehlichen 



986 HESPERUS 

Reihe von weiBen Baumen, aus Licht und Schnee gegossen und 
statt Bliiten Purpurblumen treibend - Und wir sahen unsere drei 
Schatten erhaben an dem lichtweiBen Hain, hiniibergeworfen, 
liegen, und auf Klotildens Schatten hingen die Purpurblumen wie 
Kranze nieder; ein Engel umflog den holden Schatten und lachelte 
ihn zartlich an und beriihrte an ihm die Stelle des Herzens - Da 
erbebtest du plotzlich, KlotiIde,und wandtest dich um gegen uns, 
schoner als der Engel in der Ewigkeit, dein ganzer Boden glimmte 
unter den gefallnen Tranen und wurde durchsichtig - Und als 
deine niedersinkenden Perlen jetzt den Boden in eine aufdrin- ic 
gende Wolke aufloseten: reichtest du uns eilig die Hand und 
sagtest: >Die Wolke hebt, wir sehen uns wieder.< - Ach mein zer- 
flossenes Herz faBte sein Blut nicht mehr, ich kniete nieder, aber 
ich konnte nichts sagen, ich wollte meine Seele in einen einzigen 
Laut zerschmelzen, aber die gebundne Zunge vermochte keinen, 
und ich starrte die aufsteigende Unsterbliche an mit unendlicher 
und tros'tloser Liebe - Ach, dacht* ich, das Leben ist ein Traum; 
aber ich konnte ihrs vielleicht sagen, wie ich sie liebe, war' ich nur 
erwacht. 

Dann erwacht' ich - O Klotilde, kann es der Mensch sagen, wie *< 
sehr er liebt? 

H.« 

Sein Charakter und der Inhalt dieses Traums schlieBen den Arg- 
wohn der Erdlchtung aus. - Obrigens wenn ihm auch Klotilde 
den eingehiillten Wunsch, sie in Maienthal zu sehen, versagt: so 
muB sie es doch auf einem Blattchen und mit drei Zeilen tun, die 
er dann tausendmal lesen kann und die das Bilder- und Siegel- 
kabinett, worin schon Hut und Prospekte liegen, um ein Ansehn- 
liches bereichern. Inzwischen stand er in seinem schonen Alpen- 
tal zwischen zwei hohen Bergen, auf deren jedem sich der Stoff $< 
zu einer Schneelauwine regte - vielleicht ist schon oben eine im 
erquetschenden Gange, und er kann sie noch nicht sehen. - Die 
erste Lauwine, die sein geringster Laut iiber ihn herunterwerfen 
kann, ist sein tolles Verhaltnis mit seiner hofischen Bekanntschaft. 
Er kann sich ruhmen, sie samtlich aufgebracht zu haben : die Fur- 



3°' HUNDPOSTTAG 9 8 7 

stin, Joachimen, Matthieu. Aber auch ohne das mufi schon irgend- 
ein Konduktor - bloB weil er nicht auf dem gemeinschaftlichen 
Isolierschemel des Thrones mit steht - mit einem verjiingten 
Blitze in seine Finger oder Augen einschlagen; in'Kollegien und 
an Hofen bleibt ohne Verbindung keiner aufrecht, es ist da wie 
auf den Galeeren, wo alle Sklaven ihre Ruder zugleich bewegen 
miissen, wenn keiner die Schneide der Kette empfinden soil. Aber 
Viktor sagte zu sich: »Sei kein Kind! sei kein umgekehrter Fuchs, 
der saure Trauben, bloB weil er sie nicht mehr erspringen kann, 
to fur suB ausgibt! Ich schmeichle mir, du kannst hofische Herzen 
entraten, die wie ihre Gerichte tiber einem Warmbecken voll 
flimmernden Weingeist erst aufgewarmt werden miissen. - Beim 
Himmel, ein Mensch wird doch essen konnen, wenn auch das, 
was er anspieBet, nicht von einem Gardesoldaten aus der Kiiche 
geholt, dann einem Pagen eingehandigt, dann von einem Kammer- 
herrn oder sonstigen Ordonnanzkavalier aufgetragen worden ist. 

— Nur meinen Vater wenns nicht verschlagtk Das wars eben; am 
Sohne war nichts zu fallen, sondern am Vater 1 , fur den man den 
Wald- und Opferhammer wahrscheinlich so lang aufgehoben 

k> schweben lasset, bis er mit seinem Kopfe daruntersteht, der ohne 
seine Zuriickkunft nicht zu haben ist. 

Aber ein Pastor fido fragt den Henker nach der ersten Schnee- 
lauwine. Auf den Harmonikaglocken seiner Phantasie.horen die 
auBern Obelklange des Schkksals, wie das Wagen-Gerolle des 
Pflasters auf einem Saitenbezuge, in sanft auffliegendem Ertonen 
auf. Bei ihm war, wie bei den Astrologen, der April, gleich mei- 
nem Buche dem Abendsterne, d. h. der Venus geweihet. 

Hingegen die andere Schneelauwine lag schon im voraus auf 
seiner Brust - der mogliche Bruch mit Klotildens Bruder. Einen 

3 o Eifersiichtigen bekehren die zwolf Apostel und die zwolf kleinen 
Propheten nicht; - wenn er am Sonntage kuriert ist: so wird er 
am Montage wieder krank, am Dienstage raset er, und am Mitt- 
woche konnt ihr ihn wieder losbinden, er ist matt und klug und 

— passet nur auf. Der eifersiichtige Krebs auf der Brust ist nie 

1 Weil die Hofleute auch hierin den ersten Christen gleichen, die nur solche 
Statuen zerschlugen, die an Gottes Statt Anbetung empfangen hatten. 



988 HESPERUS 

ganz zu schneiden, wenn ich groBen Heilkunstlern glauben soil. - 
Dasmal war noch dazu etwas Wahres dran; auch schaffet es der 
Eifersiichtige zeitig bei; Eifersucht erzwingt Untreue, und das 
gequalte Weib will, sbviel an ihr ist, den Mann nicht in lrrtum 
lassen. Ich kann mir die Muhe nicht machen (sondern der Leser), 
in meiner Lebensbeschreibung meinem Helden alle kleinen Fugen 
und F-Locher nachzuzahlen, wodurch er bisher seinen Flamin in 
sein verliebtes Herz sehen und horen lassen : diese Astlocher sind 
desto groBer, da er vor dem dritten Ostertag eben darum unvor- 
sichtiger war, weil er unschuldiger war, oder vielmehr ungluck- 10 
licher. 

Dazu kam, daB Flamin - der den teuern Evangelisten Mat- 
thaus taglich aufrichtiger und offner fand (wie ein ausgeschossenes 
Zilndloch) - seinen treuen Bastian taglich fur hinterlistiger und 
undurchsichtiger ansah. Ich wollt', der Regierrat ware gescheuter : 
aber dichte Seelen, wie Viktors seine, die mehre Krafte und eben 
darum mehre Seiten haben, scheinen freilich weniger poros zu 
sein, so wie vollotigeSchriftsteller weniger deutlich — ein Mensch, 
der euch alle seine ineinanderschillernden Farben seines Herzens 
mit Offenheit aufdeckt, verliert dadurch den Ruhm der Often- 20 
heit - einer, der wie Viktor fremde Kniffe aus Laune sammelt und 
vormacht, scheint sie nachzumachen - ein veranderlicher, ein iro- 
nischer, ein feiner Mensch ist in eingeschrankten Augen ein fal- 
scher Dieb von Haus aus. - Auch sprang Viktor, wenns ohne 
Larm anging, langen Erwahnungen Klotildens, d.h. langen Ver- 
stellungen, aus dem Wege; und eben diese Flucht vor Hinterlist, 
eben seine jetzige groBere Menschenfreundlichkeit gegen Flamin 
verschatteten gerade seine edle Gestalt; und iiber den verdrehen- 
den Argwohn trostete ihn nichts als die siiBe Betrachtung, daB er 
dem Bruder seiner Geliebten und seines Herzens zu Gefallen den 30 
schonsten Tagen in Maienthal den Riicken zukehre. 



31. HUNDPOSTTAG 989 

31. HUNDPOSTTAG 

Klotildens Brief- der Nachtbote - Risse und Schnitte im Bande 
der Freundschaft 

Ich wollt' es in die Literaturzeitung rticken lassen, ich hatte 
Herrnschmidts osculologia zu meinen (gelehrten) Arbeiten von- 
noten - Namlich zu diesem Kapitel: ich wollte daraus sehen, wie 
man zu Herrnschmidts Zeiten mit den Weibern umging. Zu Jean 
Pauls Zeiten geht man schlecht mit ihnen urn, in Romanen nam- 
lich. BloB der Englander kann vortreffliche Weiber portratieren. 

10 Den meisten deutschen Roman-Formern schlagen die Weiber zu 
Mannern urn, die Koketten zu H-, die Statuen zu Klumpen, die 
Blumenstucke zu Kuchenstiicken. DaB die Schuld mehr an den 
Malern als an den Urbildern liege, wissen nicht nur die Urbilder 
selber, sondern auch der Berghauptmann schon daraus, weil die 
Romanleserinnen alle noch romantischer sind als die Romanhel- 
dinnen, noch feiner und zuruckhaltender. Der Berghauptmann 
tut hier - ohne die Absicht zu haben, daB ihn acht vornehme 
Weiber in Mainz, wie den Weiber- und Meistersanger Heinrich 
Frauenlob, zu Grabe tragen - einen gedruckten Eidschwur (d. h. 

ao Schwurschwur), daB er die meisten seiner Zeitgenossinnen besser 
antraf, als sie der gute orlne, aber leere rohe Kopf des Verfassers 
des Alcibiades und Nordenschilds zeichnen kann. In der Tat, 
wenn die Weiber nicht den Mannern alles verziehen, sogar den 
Autoribus (und zwar taglich siebenzigmal, und sie reichen den 
andern Backen dar, wenn der eine durch Kiissen beleidigt wor- 
den): so konnt' es keiri Biicherverleiher erklaren, wie Menschen, 
deren Kopf doch schwerer, deren Zirbeldriise kleiner ist, und die 
sechs Knorpelringe der Luftrohre mehr haben - namlich 20 iiber- 
haupt, wahrscheinlich zum Mehr-Reden -, deren Brustbein kiir- 

30 zer und deren Brustknochen weicher sind als bei den Mannern, wie 
doch solche Menschen weiblichen Geschlechts noch die Magd 
oder den Kerl in eine Lesebibliothek mit dem Auftrag schicken 
konnen: »Einen Ritterroman fur meine Mademoiselle !« Meine 
/Wer-Kollegen - in Riicksicht der Weiber bin ich nach der Berg- 



990 HESPERUS 

sprache bloB von der Feder, nicht von Feuer noch von Leder - 
werden zur Erziehung der Leserinnen, wie nach Lessing die Juden 
zur Erziehung der Volker, nur darum gewahlt, weil sie roher sind 
als die Zoglinge. 

Jede Frau ist feiner als ihr Stand. Sie gewinnt mehr durch die 
Bildung als der Mann. Die weiblichen Engel (aber auch die weib- 
lichen Teufel) halten sich nur in den hochsten feinsten Menschen- 
Schubfachern auf; es sind Schmetterlinge, an denen der Samt- 
Fittisch zwischen zwei rohen Mannsfingern zum nackten hautigen 
Lappen wird — es sind Tulpen, deren Farbenblatter ein einziger ^o 
Griff des Schicksals zu einem schmutzigen Leder ausdruckt. 

Ich bringe dies alles vor, damit Herr Kotzebue und der freche 
Poetenwinkel in Jena 1 und das ganze romantische Schiffvolk es 
meiner Klotilde nicht ubelnehmen, daB sie ihr eignes Geschlecht 
als das besagte Volk nachahmt, urn so mehr, da sie vorschutzen 
kann, sie habe dieses noch nicht gelesen. 

Durch Agathen kam sehr bald eine von Emanuel iiberschrie- 
bene Antwort Klotildens an, die innen gesandten-maBig besiegelt, 
geometrisch beschnitten und kalligraphisch geschrieben war, weil 
Frauenzimmer alle Dinge, die sinnlicke Aufmerksamkeit verlan- 20 
gen, besser betreiben als wir, und weil sie - denn kaum vier aus 
meiner Bekanntschaft brauch' ich auszunehmen - gerade im 
Gegensatz der Manner desto schoner schreiben, je besser sie den- 
ken. Lavater sagt, der schonste Maler gebiert die schonsten Ge- 
malde, und ich sage, schone Hande schreiben eine schone Hand. 

Klotildens Brief stellet sich mit einer Lusthecke und einem le- 
bendigen Zaun voU Bliiten unserem Doktor in den Steig und las- 
set ihn nicht nach Maienthah Denn er heiBet so: 

»Wiirdigster Freund! 

Kein Madchen ist vielleicht so gliicklich als eine Dichterin; und $c 
ich glaube, hier in diesem aufgeschmuckten Tale wird man zu- 
letzt beides. Sie sind iiberall glucklich, da Sie sogar an einem Hofe 
ein Dichter sein konnen, wie mir Ihre schone poetische Epistel be- 
^Namlich in den Jahren der Lucinde, der Herders Feinde etc* 



31. HUNDPOSTTAG 991 

weiset. Aber die Phantasie malet gern aus Schminkdosen - das 
wahre Maienthal kann der Ihrigen nicht soviel geben, als Sie in 
die drei Landschaft-Blatter desselben zu legen wissen. Sooft ich 
und Sie einerlei durch Dichtung ersetzen miissen: so ist bloB bei 
Ihnen der Ersatz grofier als das Opfer. 

Wenn ich Ihnen das Vergniigen, Herrn Emanuel zu sehen, 
durch Oberreden hatte verschaffen konnen: so hatt* ichs gern ge- 
tan; aber ich war zuletzt aus Gewissenhaftigkeit nicht beredt ge- 
nug, um ihn zu einer Reise zu Ihnen zu bringen, die seine sieche 

io Brust der Gefahr des Verblutens aussetzte. Sehen Sie ihn fur einen 
Friihling an, den man alle Jahre neun Monate lang erwarten muB. 
Ach die Besorgnis fur meinen unvergeBlichen und unersetz- 
lichen Lehrer wirft einen Schatten iiber den jetzigen ganzen Friih- 
ling, wie ein Grabmal tiber einen Blumengarten. Ich habe niemals 
einen Friihling so gern und so freudig angesehen wie diesen - ich 
kann oft noch bei Mondschein an die Bache hinausgehen und eine 
Blume aufsuchen, die vor dem flieBenden Spiegel zittert und um 
welche ein Mond oben und einer unten schimmert, und ich stelle 
mir das Blumenfest in Morgenland vor, bei dem man (wie man 

20 sagt) nachts um jede Gartenblume einen Spiegel und zwei Lichter 
setzt. Aber doch kann ich nicht zum Blumenflor meines Lehrers 
hiniiberblicken, ohne zu weich zu werden, da ich denken muB: 
wer weiB, ob seine Tulpen nicht langer stehen als seine zerknickte 
Gestalt. Hat denn die ganze Arzneikunst kein Mittel, das seine Ho ff- 
nung zu sterben vereitelt? - Ich glaube, er stimmt mich nach und 
nach in seinen melancholischen Ton, womit ich mich vor einem 
andern als dem Freunde Emanuels lacherlich machen wiirde; aber 
eine stille verborgene Freude bricht auch gern in Schwermut aus; 
>nur in der kalten, nicht in der schonen Jahrzeit unsers Schick- 

30 sals<, sagten Sie einmal, >tun die warmen Tropfen weh, die aus den 
Augen auf die Seek fallen, so wie man bloB im Winter die Blu- 
men nicht warm begiefien darf.< Und warum sollt* ich Ihrer offen- 
herzigen Seele nicht alle Schwachen der meinigen offenbaren? 
Dieses Zimmer, worin meine Giulia ihr schones Leben endigte, 
dieser Spiegel sogar, der mir, als ich mich vor Schmerz von ihrem 
Sterben wegkehrte, meine erblassende Schwester noch einmal 



99* HESPERUS 

zeigte, die Fenster, aus denen mein Auge so oft des Tages auf 
einen traurigen dornenvollen Rosenstrauch und auf einen ewig 
geschlossenen Hiigel komraen muB, alles das darf ja wohl mei- 
nem Herzen einige Seufzer mehr geben, als eine Gluckliche sonst 
haben solL Ich weiB nicht, sagten Sie oder Emanuel es: >Der Ge- 
danke des Todes mufl nur unser Besserungmittel, aber nicht unser 
Endzweck sein; wenn in das Herz wie in die Herzblatter einer 
Blume die Grabeserde fallt, so zerstoret sie, anstatt zu befruchten< ; 
aber auf mein, Laub hat wohl das Schicksal und Giulia schon einige 
Erde geworfen. - Und ich trage sie gern, da ich seit Ihrer Freund- 10 
schaft nun zu einem Herzen fluchten kann, vor dem ich meines 
offnen darf, um ihm darin a lie Kummernisse, alle Seufzer, alle 
Zweifel, alle Fragen einer gedriickten Seele zu zeigen. O ich danke 
dem Allgiirigen, daB er mir so viel, als er mir in meinem Lehrer 
zu entziehen drohet, schon voraus in seinem Freunde wiedergibt 
— meine Freundschaft wird unserm Emanuel nachreichen bis in 
die andre Welt und seinen Liebling begleiten durch diese; und 
sollte einmal auf uns beide der gemeinschaftliche Schlag seines 
Todes fallen, so wiirden wir unsere vereinigten Tranen geduldi- 
ger vergieBen, und ich wurde vielleicht sagen: ach, sein Freund 20 
hat mehr verloren als seine Freundin ! 

+ Klotilde.« 

Das Schlagen meines fremden Herzens misset mir das Schlagen 
des gliicklichern ab. Aber eh* ich erzahle, was Viktors Freude 
iiber diesen Brief anfangs storte und dann verdoppelte, sei es .mir 
erlaubt, zwei gute Bemerkungen zu machen. Die erste ist : die ver- 
groBerte Empfindsamkeit ist in einer stolzen Brust (wie Klotil- 
dens), die sonst die Seufzer zuruckholte und nur weibliche Sati- 
ren iiber uns Herren ausschickte, das schonste Zeichen, daB ihr 
Herz im Sonnenschein der Liebe zergehe. Denn diese kehret die jo 
Weiber um; sie macht aus einer Kolumbine eine Youngin, aus 
einer Ordentlichen eine Unordentliche, aus einer Feineh eine 
Offenherzige, aus einer Putzmacherin und Putztragerin eine Phi- 
losophin und wieder umgekehru - Und du, Hebe Philippine, priife 
die zweite Bemerkung, da du jetzo so gut bist wie dein eigner 



31. HUNDPOSTTAG 993 

Bruder: ist nicht das Verhehlen der Liebe das schonste Entdecken 
derselben? Zeigt nicht ein Schleier - ein moralischer, mein* ich - 
das ganze Gesicht und ist fur nichts unzuganglich als fur den 
Wind *- den moralischen, mein* ich -? Decket nicht das glaserne 
Gehause der Damenuhr das ganze darauf gefirniBte Uhrportrat 
am Boden auf und wendet bloB das Beschmutzen, nicht das Be- 
schauen ab? - Und was wirst du fur Bemerkungen machen, wenn 
ich dir diese beiden vorlese! 

Per Brief starkte zugleich Viktors Wunsch, um Klotilde zu 

to sein, und seine Kraft, ihn aufzugeben — bis des andern Tags in der 
Nachttisch-Stunde ein Zufall alles anderte. Matthieu, der fast mehr 
Besuche bei Feinden als bei Freunden ablegte, kam vom Apothe- 
ker herauf. Er sah die Prospekte von Maienthal und den Florhut; 
und er da wuBte, daB seine Schwester Joachime beides habe: so 
sagte er scherzhaft: »Ich glaube, Sie wollen sich verkleiden, oder 
man hat sich entkleidet.« Viktor flatterte mit einem leeren lustigen 
»Beides!« dariiber. Er nahm nicht gern den Namen der Liebe oder 
eines Weibes vor einem Menschen in den Mund, der an keine Tu- 
gend glaubte, am wenigsten an weibliche, der zwar, wie andre 

20 Spinnen auf andere Musik, sich an seinem Faden auf die Liebe 
niederliefl, der aber, wie Mause aus Liebe zu den Tonen, iiber die 
Saiten kroch und sie zersprengte. Viktor war ungern (vor seinem 
Hofleben) mit solchen philosophischen Ehrenraubern unter un- 
bescholtenen Madchen, weil es ihm schon wehe tat, an den Ge- 
sichtpunkt der ersten erinnert zu werden. »Von meiner Tochter«, 
sagt* er, »miiBten sie nicht einmal das Dasein erfahren, weil sie 
einenVater schon dadurch beleidigen, daB sie sich sie vorstellen.«- 
Matthieu sprach von dem nachsten patriotischen Klub (den 
4ten Mai am Geburttag des Pfarrers) und fragte, ob er dabei ware. 

50 Agathe aber hatte ihn schon gestern (am vorletzten April) daran 
erinnert. Endlich fiihrte Matz seine Frage vor: »ob er nicht auch 
zu Pfingsten Von der Partie sei? - Er habe mit dem Regierrate 
(Flamin), der dazu immer Ferien brauche, eine kleine Lustreise 
abgekartet nach Grofikussewiti zum Grafen von O - Er habe da 
zu tun, noch einige Quartiere des Hofstaats den Kussewitzern zu 
bezahlen und den Grafen von O zu einem giitlichen Vergleich 



994 HESPERUS 

iiber das neuliche MiBverstandnis umzustimmen, daher er den 
Juristen mithaben miisse - Vielleicht seien die Englander bei die- 
sem Kongresse — das Reisekorps konne dann so groBe Vergnii- 
gungen haben wie ein corps diplomatique, nachdem es vorher 
ebensolche Geschafte gehabt. Der Graf von O Hebe uberhaupt 
Englander sehr, ob er gleich nicht gern Englander reite - denn er 
nab' es sehr bedauert, daB er neulich mit dem Herrn Hofmedikus 
bei der Fiirstin gesprochenj ohne ihn zu kennen.« Sebastian hatte 
seine lange stumme Aufmerksamkeit mit einem kalten »Nein !« be- 
schlossen, weil die Ausdiinstung dieser falschen fliegenden Katze k 
mit einem atzenden Gift sein unbeschirmtes Herz iiberzog. »Was 
nab' ich« (dacht* er unter jener Einladung) »diesem Menschen ge- 
tan, daB er mich ewig verfolgt - daB er mit einem Messer, dessen 
eine Seite vergiftet ist oder beide, meinen Jugendfreund unter 
unsern doppelten Schmerzen von meiner Seele schneidet - daB er 
seine Minier-Hohlen bis an fremde Orte fortfiihrt, um mich in 
alien Stellungen iiber seinem Pulver zu haben !« Viktor muBte 
namlich nach allem besorgen, daB die Pfingst-Reise eine Ent- 
deckreise sei, worauf Joachime dem Briider, wie Ritter Michaelis 
den Morgenlandfahrern, Fragen iiber die Uhrbriefsache, iiber * 
Tostato u. s. w. mitgebe, um wohl gar beim Fursten eine Anklage 
daraus zu bilden. Er hielt das Untere seiner Karte, d.h. seines 
tugendhaften Schmer^ens, so, daB es Matthieu nicht ganz sehen 
konnte, um ihm eine boshafte Freude zu entziehen. Dieser, der 
nicht eine Spitzenmaske, sondern eine eiserne und noch dazu eine 
mit einem Halse trug, hatte oft eine solche Kalte, daB man seinen 
wiitigen Zorn nicht begriffund umgekehrt - aber jene hatte er im 
Lager, diesen in dem Gefechte gegen den Feind. Wenn ihn je- 
mand sogleich aufbrachte, so wars ein gutes Zeicheri und bedeu- 
tete, daB er nichts gegen ihn im Schilde fuhre. jc 

Nach dem Abmarsch des Evangelisten - als er sich auszankte, 
daB er ihn den Florhut finden lassen, den er uberhaupt mehr ver- 
schlossen hatte, ware Flamin ofter gekommen - sah er sich nach 
Klotildens SchattenriB um, damit der reizende Schatte sein Ziir- 
nen kuhle. Er war nicht anzutreffen : seine erste Hypothese war, 
Matz hab* ihn still gestohlen, um so mehr da er ihn geschnitten.^ 



3 1 . HUNDPOSTTAG 995 

Hat er den SchattenriB wirklich eingesteckt: so ware der Evan- 
gelist - denn mir wurde wie bekanntlich gleich beim Anfange 
dieser Geschichte die Silhouette ubermacht - gar mein korre- 
spondierendes Mitglied Knef, und er schickte mir die Avisfre- 
gatte, den Spitzhund, zu. - Toll ists, daB mich der Korrespondent 
durch solche Nachrichten selber auf den Argwohn bringt. 

Indem Viktor den lieben Florhut als den Ersatz des Bildes in 
die Hand nahm und traumend besah: so schlugen am Hute ganz 
neue frische Blumen fur seine Seele aus. »Wie,« sagt' er zu sich, 

io »muB ich denn gerade den SchattenriB anschauen? Kann ich nicht 
das - Urbild selber dazu wahlen?« Kurz der Hut wurde ein Gliick- 
topf, aus dem er eine frohe Stunde zog, namlich den Vorsatz, auf 
Pfingsten zu verreisen, aber nach - MaienthaL Er hielt sich ernst- 
lich vor, daB ihm und Klotilden die zu weit getriebene Schonung 
eines eifersuchtigen Bruders, dessen irre Hoffnungen ja keine 
Schwester zu starken verpflichtet sei, noch dazu durch die men- 
schenfeindlichen Eingebungen Matthieus erschweret und ver- 
eitelt werde - daB also ihr Absondern so wenig erleichtere, als ihr 
Besuchen verbreche - daB es indessen schon sei, den Bruder zu 

*o schonen und bloB in seine Abwesenheit einen verdachtigen Aus- 
flug zu verlegen, bis ihm einmal die heruntergezogne Binde in 
der Ungetreuen die Schwester entdecke und im Nebenbuhler 
den schonenden Freund - und daB es immer besser sei, sie in 
Maienthal als bei ihrer Zuriickkunft in seiner Nahe zu sprechen - 
und daB der uber seine Abstammung belehrte Bruder ihm einmal 
doch bloB vorriicken konne, er habe ihm keine Tauschungen ge- 
nommen als hochstens unangenehme. - O die Liebe und die Tu- 
gend haben ein nacktes Gewissen und entschuldigen ihre himm- 
Hschen Freuden langer und mehr als andere ihre hollischen ! 

jo Als Viktor noch dazu daran dachte, daB den Tagen der Liebe 
so bald das Laub und die Bluten abfallen, und daB Emanuel und 
selber Klotilde zwei hart ans Ufer des Grabes geriickte Blumen 
sind, deren lose nackte Wurzeln schon erstorben hinunterhangen : 
so war sein EntschluB befestigt, und er schrieb an Emanuel die 
Nachricht seiner Ankunft zu Pfingsten, urn Klotilden durch kei- 
nen Uberfall zu erzurnen und urn ihr noch dazu die Gelegenhei 



99<> HESPERUS 

eines Verbotes zu lassen. Seine Wendung war die : »Wenn es ein 
sokratischer Genius erlaube (d.h. Klotilde), der ihm immer sage 
was er nicht tun solle: so komm' er zu Pfingsten, da obnehin die 
Stadt da verode, da Flamin auf 4, 5 Tage nach Kussewitz reise« etc. 

Als er den Brief fertig hatte : fiel ihm ein, dafl er gerade heute 
an diesem 29. April vor einem Jahre die ganze Nacht gereiset sei, 
um mit dem ersten Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarr- 
haus zu treten. »Ich kann ja wieder die schwiile Zephyr-Nacht 
nicht unter dem Deckbette, sondern unter den Sternen verbrin- 
gen. - Ich kann in einem fort ins Abendrot nach Maienthals Ber- 10 
gen schauen. — Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zugehen 
- oder gar den ganzen. - Ich kann mich auf einen Berg stellen und 
ins Dorfchen schauen - Wahrlich ich kann dann mein Billet hier 
irgendeinem Maienthaler inkognito einhandigen und wieder ReiB- 
aus nehmen noch vor tags « - 

Um sieben Uhr nachts ging er wie das Meer von Osten nach 
Westen. Orion, Kastor und Andromeda blinken in Westen nicht 
we it vom Abendrot iiber den Gefilden der Geliebten und werden 
wie diese bald aus einem Himmel in den andern untergehen. Das 
von lauter Hoffnungen erschiitterte Herz, seine erhititen Gehirn- 20 
kammern, an denen das mit sympathetischer Dinte gezeichnete 
Maienthal immer Hchter und farbiger vortrat, dieses innere, fast 
schmerzliche Brausen der Freude raubte ihm anfangs das Ver- 
mogen, den in griechischer Schonheit aufgebaueten Fruhling- 
tempel in eine stille helle Seele aufzufassen. Die Natur und die 
Kunst werden nur mit einem reinen Auge, aus welchem die 
beiden Arten von Tranen weggewischet sind, am besten genos- 
sen. 

Aber endlich xiberdeckte das ausgebreitete Nachtstiick seine 
heiBen Fieberbilder^ und der Himmel drang mit seinen Lichtern 50 
und die Erde mit ihren Schatten in sein erweitertes Herz. Die 
Nacht war ohne Mondlicht,' aber ohne Wolken. Der Tempel der 
Natur war wie ein christlicher erhaben verdunkelt. Viktor konnte 
sich aus den Laufgraben langer Taler, aus Walder-Finsternissen 
und aus dem schillernden Nebel der Wiesen nicht eher erheben 
als in der Mitternachtstunde, wo er einen Berg wie einen Thron 



31. HUNDPOSTTAG 997 

bestieg und sich da auf den Riicken legte, um die Augen in den 
Himmel unterzutauchen und sich abzukiihlen vom Traumen und 
Laufen. Das hereinhangende Himmelblau schien ihm eine diinne 
blaue Wolke, ein in blaue Diinste zerschlagnes Meer zu sein, und 
eine Sonne um die andre teilte mit ihren langen Strahlen diese 
blaue Flut ein wenig auseinander. Der Arkturus, der dem liegen- 
den Menschen gegeniiberstand, stieg schon von der Zinne des 
Himmels herab, und drei groBe Sternbilder, der Luchs, der Stier, 
der groBe Bar, zogen weit voraus unter das Abendtor. - Diese 

> nahern Sonnen wurden von entriickten MilchstraBen mit einem 
Hof umschwommen, und tausend groBe, in die Ewigkeit geworfne 
Himmel standen in unserm Himmel als weiBe spannenlange Diifte 
als lichte Schneeflocken aus der UnermeBlichkeit, als silberne 
Kreise aus Reif. - Und die Schichten aneinandergeruckter Sonnen, 
die erst vor dem tausendaugigen Auge der Kunst den Nebel- 
schleier fallen lassen, spielten, wie Streife unserer Sonnenstaub- 
chen, im gliihenden, durch das UnermeBHche brennenden 
Sonnenstrahl des Ewigen. — Und der Widerschein seines durch- 
gliihten Thrones lag hell auf alien Sonnen - 

► - Plotzlich stellen sich nahere zerschmolzene Lichtwolkchen, 
nahere Nebel, aufgeflogen aus Tau, unter der Versilberung, tief 
herab. vor die Sonnen, und der Silberblick des Himmels lauft mit 
zertragenen dunkeln Flocken an, — Viktor begreifet die iiber- 

irdische Entziindung nicht und richtet sich bezaubert empor 

und siehe, der gute verwandte nahe Mond, der sechste Weltteil 
unserer kleinen Erde, war still und ohne das Freudengeschrei des 
Morgens neben der Triumphpforte der Sonne hereingetreten in 
die Nacht seiner Mutter-Erde mit seinem halben Tage, 

Und als jetzt die Schatten von alien Bergen rannen und durch 
» die aufgedeckten Landschaften nur in Bachen zwischen Baumen 
zogen und als der Mond dem ganzen dunkeln Fruhling in der 
Mitternacht einen kleinen Morgen gab: so faBte Viktor nicht 
nachtlich-melancholisch, sondern morgendlich-verjungt den gro- 
Ben runden Spielraum der jahrlichen Schopfung in sein erwachtes 
Auge, in seine erwachte Seele, und er uberschauete den Fruhling 
unter dem innern Freudengeschrei mitten in der weiteh Verstum- 



998 HESPERUS 

mung, unter dem Gefiihle der Unste.rblichkeit im Kreise des 
Schlafes. — 

Auch die Erde, nicht nur der Hirnmel, macht den Menschen 
groB! 

Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr Mai-Gefiihle, die 
ihr in der Brust meines Viktors schluget, da er iiber die knospende 
schwellende Erde sah, von Sonnen iiber seinem Haupte bedeckt, 
von griinendem Leben umstrickt, das von Gipfeln zu Wurzeln, 
von Bergen zu Furchen reichte, und von einem zweiten Friihling 
unter seinen FiiBen getragen, da er sich hinter der durchbrochenen 10 
Erdrinde die Sonne mit einem Glanztage unter Amerika stehend 
dachte. - Steige hoher, Mond, damit er den quellenden, geschwol- 
lenen, dunkel-griinen Friihling leichter sehe, der mit kleinen bias- 
sen Spitzen aus der Erde dringt, bis er sich herausgehoben v6ll 
gliihender Blumen, voll wogender Baume - damit er die Ebenen 
erblicke, die unter fetten Blattern liegen und auf deren griinem 
Wege das Auge von den aufgerichteten Blumen, an welchen die 
gespaltenen Reize des Lichtes wachsen und sich befestigen, zu 
den in Bliiten zerspringenden Biischen und zu den langsamen 
Baumen aufsteigt, deren gleifiende Knospen in den Friihlingwin- zz 
den auf- und niederschwanken — Viktor war in Traume gesun- 
ken, als auf einmal das kalte Anwehen der Lenzluft, die jetzo mehr 
mit kleinen Wolken als mit Blumen spielen konnte, und das 
Rauschen der Fruhlingbache, die neben ihm von alien Bergen und 
iiber jedes dunklere Griin wegschossen, ihn erweckte und be- 
riihrte. - Da war der Mond ungesehen gestiegen, und alle Quellen 
glommen, und die Maiblumen traten weiBbliihend aus dem Griin, 
und urn die regen Wasserpflanzen hiipften Silberpunkte. Da hob 
sich sein wonneschwerer Blick, um zu Gott zu kommen, von der 
Erde auf und von den griinenden Randern der Bache und stieg 3= 
auf die herumgebognen Walder, aus denen die eisernen Funken- 
und Dampf-Saulen 1 iiber die Gipfel sprangen, und zog auf die 
weiBen Berge, wo der Winter in Wolken schlaft; — aber als der 
heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und zu Gott aufsehen 
wollte, der die Nacht und den Friihling und die Seele geschaffen 

1 Von den Eisen- und Kohlenhutten. 



31. HUNDPOSTTAG 999 

hat: so fiel er mit zuriicksinkendem Flugel und weinend und 
fromm und demiitig und selig zuriick..*. Seine schwere Seele 
konnte nur sagen: Er ist! — 

Aber sein Herz sog sich voll Leben an der unendlichen, quel- 
lenden, wehenden Welt um ihn, uber ihm, unter ihm, worin Kraft 
an Kraft, Blute an Blute reicht, und deren Lebensquellen von einer 
Erde in die andere sprutzen, und deren leere Raume nur die Steige 
der feinern Krafte und der Aufenthalt der kleinern sind - die ganze 
unermeBliche Welt stand vor ihm, deren ausgespannter Wasser- 

10 fall, in Diifte und Strome, in MilchstraBen und Herzen zersprun- 
gen, zwischen den iwei Donnern des Gipfels und des Abgrunds 
reiBend, gestirnt, geflammt herabfahrt aus einer vergangnen 
Ewigkeit und niederspringt in eine kiinftige - und wenn Gott auf 
den Wasserfall sieht, so malt sich der Zirkel der Ewigkeit als 
Regenbogen auf ihn, und der Strom verriickt den schwebenden 

Zirkel nicht 

Der selige Sterbliche stand auf und wandelte im Gefuhle der 
Unsterblichkeit durch das um ihn pulsierende Friihlingleben wei- 
ter; und er dachte, daB der Mensch mitten unter den Beispielen 

20 der Unverganglichkeit den Unterschied zwischen seinem Schlaf 
und Wachen irrig zum Unterschied zwischen Sein und Nichtsein 
zerdehne. Jetzo war seinen kraftigen strotzenden Gefuhlen jedes 
Getose willkommen, das Schlagen der Eisenhammer in den Wal- 
dern, das Rauschen der Lenzwasser und der Lenzwinde und das 
aufprasselnde Rebhuhn. - 

Um drei Uhr morgens sah er Maienthal liegen. Er trat auf den 
von fiinf einzelnen Tannenbaumen gehobnen Berg, auf dem man 
durchs ganze Dorf und wieder hiniiber zum andern Berge schauen 
kann, wo die Trauerbirke seinen Emanuel beschattet. Die uber- 

30 wachsene Zelle des letzten konnt* er nicht erblicken; aber am 
Stifte, wo seine Freundin traumte, schimmerten alle Fenster im 
ausfunkelnden Mondlicht. In seiner Brust war noch der Rausch 
der Nacht und auf seinem Angesicht das Brennen der Traume - 
aber das Tal zog ihn in die Erde heraus und gab seinen Freuden- 
blumen bloB einen festern Boden; und der Morgenwind kiihlte 
seinen Atem und der Tau seine Wangen ab. Die Tranen stiegen 



IOOO HESPERUS 

in seine Augen, als sie auf die weiBverhangnen Fenster fielen, 
hinter denen eine schone, eine weise, eine geliebte und eine lie- 
bende Seele ihre unschuldigen Morgentraume vollendete. Ach, es 
traume dir, Klotilde, von deinem Freunde, daB er dir nahe ist, daB 
er seine uberstromenden Augen auf deine Zelle wendet und daB er 
verschwindet, wenn du erscheinst, und daB er doch seliger werde 
von Minute zu Minute - ach er traumt ja auch, und wenn die 
Sonne aufgeht, ist das geliebte Tal wie dein Traum mit dem Ster- 
nenhimmel versunken. - O die Berge, die Walder, hinter denen 
eine geliebte Seele wohnt, die Mauern, die sie umschlieBen, i 
schauen den Menschen mit einem riihrenden Zauber an und han r 
gen vor ihm wie holde Vorhange der Zukunft und Vergangenheit. 

Der Berg fuhrte ihm das Bild des Malers vor, der sonst hier ge- 
wesen war, um Klotildens Reize gleichsam wie ein goldnes Zeit- 
alter nur aus der Feme abzuzeichnen und naher zu ziehen - und 
dieses fuhrte sein Auge wieder in die Tage ihrer friihern Jugend 
und ihres stillen frommen Lebens im Stift, und es schmerzte ihn, 
daB eine Zeit sonst gewesen und verloren war, in der er sie nicht 
lieben konnen. Da er sich umsah und sich dachte, auf alien diesen 
Steigen, neben diesen Bachen, unter diesen Baumen ist sie gegan- 2 
gen: so wurde ihm die ganze Gegend heilig und lebendig, und 
jeder daruber hinziehende Vogel schien seine Freundin zu suchen 
und zu lieben wie er. 

Aber nun wachte mit jedem Stern, der oben im Himmel zu- 
riicksank, unten auf der Erde eine Blume und ein Vogel auf- der 
Weg von der Nacht zum Tage wurde schon mit Halbfarben be- 
legt - kleine Nebel stiegen an der Kiiste des Tages auf - und Vik- 
tor war noch auf dem Berge. Seine Besorgnis, daB sich die weiBe 
Fensterhiille rege und ihn zeige, war so groB wie sein Wunsch, 
daB die Besorgnis immer groBer werde! Zuweilen wankte ein * 
Vorhang, aber keiner ging auf. - Auf einmal wecken die Vogel- 
kehlen eine Zauberflote an dem FuBe seines Berges, und der stille 
Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchtete, mit seinen 
Morgentonen entgegen. Da entschleierte sich plotzlich Klotildens 
Fenster, und ihre schonen hellen Augen nahmen den erfrischten 
Morgen in die fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfernung un- 



31. HUNDPOSTTAG IOOI 

geachtet, von Gestrauch hinter Gestrauch; aber die Fluent vor 
den geliebten Augen fiihrte ihn der Flote naher; er wollte jedoch 
ebensowenig vor Emanuel, den er in der Nachbarschaft des Blin- 
den glaubte, erscheinen als vor Klotilden. Als ihn nur noch einige 
Gebiasche von den Tohen schieden, erblickte er auf dem Berge 
seinen Freund Emanuel unter der Trauerbirke. Nun eilt' er froh 
und zitternd zu Julius herab und fand ihn mit dem Lilienangesicht, 
schon wie den jiingern Bruder eines Engels, umflogen und urn- 
sungen von Vogeln, an einer Birke lehnen : »Welche Gestalten, 

io welche Herzen«, dacht' er, »schmucken dieses Paradies!« Wie hatt* 
er sich an einem solchen Morgen, an einem so heiligen One, gegen 
einen so guten Jiingling verstellen und ihm etwa mit der nachge- 
machten Stimme seines italienischen Bedienten den Brief an Ema- 
nuel ubergeben konnen? - Nein, das konnt' er nicht; er sagte mit 
leiser Stimme, um ihn nicht zu erschrecken: »Lieber Julius, ich 
bins!« - Dann sank er Jangsam an den zarten Menschen und um- 
armte an einer Brust - drei Herzen; und reichte ihm den Brief mit 
den Worten : »Gib ihn deinem Emanuel !« und floh mit dem warm- 
sten Druck der lieben Hand den Berg tiefer hinab und davon. - 

50 Gerade um diese Stunde an diesem Tage vor einem Jahr ver- 
schwand auch Giulia aus Maienthal und nahm nichts von dem 
schonen Blumenboden mit als einen - Grabhiigel. 

Als er jetzt hinter Staudengangen ungesehen dem Orte der 
Seligen entronnen war: machte seine nachtliche Erheiterung einer 
unbezwinglichen Wehmut Platz. Die aufgehende Sonne zog alle 
hellen Farben aus seinem nachtlichen Traum - »Hab' ich denn 
wirklkh Maienthal und Julius und alle Geliebte gesehen, oder ist 
nur auf einer unter dem Monde schillernden Wolke ein zerflos- 
senes Schattenspiel voriibergeronnen?« sagt* er - und der Tag 

30 briitete die frische Nachtluft seiner Seele zu einem schwiilen 
Flattern des Siidwinds an. Anstatt daB der Mensch sonst, wie 
Raguel, in der Mitternacht Graber aushauet und in der Morgen- 
sonne sie wieder verschuttet, kehrte heute Sebastian es um. - 

Eigentlich war es nicht ganz so: sondern das schnelle Vor- 
springen und Einsinken der geliebten Gestalten, die vergroBerte 
Sehnsucht darnach, der ruhrende Abstich des Morgen-Getummels 



mit der Nacht-Pause, des Sonnenfeuers mit dem Mond-Dam- 
mern und die mit der Ermudung der Phantasie und des Korpers 
verkniipfte traumende Ermattung der Schlaflosigkeit, alle diese 
Dinge driickten aus dem Herzen und Tranendriisen unsers Nacht- 
wandlers unwillktirliche, siiBe Tranen aus, die keinen Gegenstand 
betrafen, die weder vor Freude noch vor Kummer flossen, son- 
dern vor Sehnsucht. 

Auf einmal lieB der schone nebellose erste Maitag das Anden- 
ken an den vorjahrigen, wo er, wie ein Frtihling und homerischer 
Gott, im Nebel ankam, voriibergehen - und der gute Mensch ic 
schauete mit den Tautropfen in den Augen die Tautropfen in den 
Blumen an und sagte unaussprechlich geruhrt: »Ach vor einem 
Jahre kam ich so gliicklich, wurde so ungliicklich, und bin wieder 
so gliicklich - o ihr fliehenden, spielenden, nachtonenden, zittern- 
den Jahre des Menschen!« - und das Feiertag-Gelaute aus alien 
Dorfern (es war Philippi Jakobi) setzte mit dem sanften Beben 
eines Echo alle seine Trauersaiten in ein weiteres Zittern. 

»0 vor einem Jahre« (tonten ihn die Glocken an) »begleiteten 
wir Giulia wie dich aus Maienthal heraus.« Dann zog vor der 
Sonne, die am Himmel ihre weiBen Bliiten aufschlug, der warme 20 
Gedanke sein Herz auseinander: »Vor einem Jahre, an diesem 
Morgen, ging dir dein Flamin entgegen und vergoB an deiner 
gliihenden Brust so viele Freudentranen - und am Ende des heu- 
tigen Tages zog er dich wieder an sein Herz und sagte gleichsam 
ahnend : >VergiB mich nicht, verrat mich nicht, und wenn du mich 
verlassen willst, so laB mich mit dir untergehen!< - 

»0 du Treuer,« (sagten alle seine Gedanken) »wie trostet es mich 
heute, daB ich einmal alle meine Wunsche gern den deinen auf- 
geopfert habe, um dir getreu zu bleiben 1 - Nein, ich kann ihm 
nichts verbergen, ich gehe jetzt zu ihm.« - Er ging gerade zu Fla- 30 
min, um (wiewohl ohne Meineid gegen den Lord und mit Scho- 
nung der Eifersucht) es zu bekennen, daB er auf Pfingsten nach 
Maienthal verreise. Sein auseinandergegangnes Herz bedurfte ein 

1 Es war, als er in der Laube mit seinem Vater fur Klotildens Verbindung 
mit Flamin sprach - und als er sich vorsetzte, vor derselben sogar ihre Freund- 
schaft zu entbehren. 



31. HUNDPOSTTAG IOO3 

entgegenweinendes Auge so sehr - sein feines Ehrgefuhl ver- 
schmahte es so sehr, eine fremde Reise zur spanischen Wand der 
eignen zu machen - seiner erneuerten Liebe tat das kleinste Ver-^ 
hehlen vor seinem Freunde so weh - Matthieu war aus diesem 
himrnelblauen Eden unter der Gehirnschale so ganzlich verstoBen 
- daB er, je langer er dachte und lief, desto mehr aufschliefien 
wollte. Er wollt* es namlich seinem Flamin sogar entdecken, daB 
er heute nachts die Einladkarte eigenhandig an den BHnden ab- 
gereicht: durch eine Tauschung wurde ihm die kunftige Pfingst- 

IO reise durch die heutige zulassiger, und diesen eignen Gesichts- 
punkt sah er fiir einen fremden an. 

Aber so weit trieb seine traumerische und nachttrunkne Seele 
ihre gefahrliche ErgieBung nicht, die desto mehr schaden konnte, 
da Flamin im Zorne auf keine Unterschiede und Rechtfertigungen 
mehr zu horen vermochte und sogar alte eingeraumte wieder ver- 
warf. Denn beim Eintritt zog ein Maifrost auf Flamins Gesicht 
den aufbrechenden Bliitenkelch seines Herzens ein wenig zusam- 
men. Er bat Flamin mit seiner kontrastierenden Warme des Ge- 
sichts um einen Spaziergang an diesem hellen Tage. DrauBen 

20 wurde der Abstich noch schneidender, da Flamin seinen Spazier- 
stock bis zum Knicken einstieB, Blumen kopfte, Laub abschlug, 
mit dem Stiefelabsatz FuBstapfen aushieb, indes Viktor in einem 
fort zu reden suchte, um seine Seele in der mitgebrachten Warme 
zu erhalten. 

Es freuet mich an ihm, daB er sein von den heutigen Entbeh- 
rungen uberrinnendes Herz gerade in eines ergieBen wollte, dem 
er die Entbehrungen schuld zu geben hatte. Endlich sagte er, um 
das erschwerte Gestandnis nur von der Seele zu werfen, eilend: 
»Auf Pfingsten gen* ich nach Maienthak - und ging fliegend zu 

3° den Worten uber: »0 gerade heute vor einem Jahre gingst du 
mir . . .« 

Flamin unterfuhr ihn, und das Eisgesicht wurde wie ein Hekla 

von Flammen zerspalten: »So so! - Zu Pfingsten? - Nach Kusse- 

witz gehst du nicht mit uns\ - LaB mich doch einmal recht aus- 

. reden, Viktor !« - Sie blieben also stehen. Flamin streifte die BIu- 

ten und Blatter von einem Schlehenast mit blutiger Hand und 



1004 HESPERUS 

blickte seinen sanften Freund nicht an, um nicht erweicht zu wer- 
den. »Heute vor einem Jahre, sagst du? Sieh, da ging ich eben 
abends mit dir auf die Wane, und wir versprachen uns entweder 
Treue oder Mord. Du schwurst mir, dich hinabzustiirzen mit mir, 
wenn du mir alles genommen hattest, alles - oder etwan ihre Liebe ; 
denn in deinem Beisein sieht sie mich kaum mehr. an. - Bin ich 
denn beim Teufel blind? Sell' ich denn nicht, die Maschinerie mit 
ikrer und deiner Reise ist abgekartet? - Was tust du mit den Maien- 
thaler Landschaften gerade jetzt? Wem gehort der Hut? - Und 
was soil ich mir aus allem nehmen? - Wem, wem? sags sags -O 10 
Gott! wenns wahr ware! - Hilf mir, Viktor !« - Dem gemiBhan- 
delten, heute erschopften Viktor standen die bittersten Tranen in 
den Augen, die aber Flamin, der sich durch sein eignes Sprechen 
erziirnte, jetzt ertragen konnte. Niemals nahm dieser in einer Er- 
grimmung Vorstellungen an: gleichwohl erwartete er sie und 
staunte uber sein Rechthaben und uber das fremde Verstummen 
und begehrte, daB man widersprache. Er quetschte seine Hand in 
die Schlehenstacheln. Sein Auge brannte in das weinende hinein. 
Viktor bejammerte den festen Schwur vor seinem Vater und sah 
auf die zitternde Waage, worauf der Eid und die schonende *c 
Freundschaft sich ausglichen. Er sammelte noch einmal alle Liebe 
in seiner Brust und breitete die Arme auseinander und wollte mit 
ihnen den Straubenden an sich ziehen und konnte doch nichts 
sagen als : »Ich und du sind unschuldig; aber bis mein Vater kommt, 
eher kann ich mich nicht rechtfertigen.« - Flamin dnickte ihn von 
sich ab: »Wozu das? - So wars im Gartenkonzert auch, und du 
warst seitdem tagtaglich bei ihr und auf Osterballen und auf 
Schlitten, ohne mich- Sag lieber geradezu, willst du sie heiraten?- 
Schwor, daB du nicht willst! - O Gott, zoger' nicht - schwor 
schwor! - Ja ja, Matthieu! - Kannst du noch nicht? - Nu so liig v 
wenigstens!« 

»Oh!« - sagte Viktor, und Blutstrome schossen verfinsternd 
durch sein Gehirn und uber sein Angesicht - »beleidigen darfst du 
mich doch nicht gar zu sehr, ich bin so gut wie du, ich bin so stolz 
wie du — vor Gott ist meine Seele rein« — Aber Flamins Blut an 
der Schlehenstaude driickte Viktors ziirnende Erhebung nieder, 



31. HUNDPOSTTAG 1005 

und er hob bloB das mitleidige Auge voll Freundschaft-Tranen in 
den hellern sanftern Himmel. - »Nur die Heirat verschworst du 
doch nicht? - Gut, gut, du hast mich erwiirgt - mein Herz hast 
du zerstampft und mein ganzes Gliick - ich hatte niemand als 
dich, du warst mein einziger Freund, jetzo will ich ohne einen 
zum Teufel fahren - Du schworst nicht? - O ich reiB' mich von 
dir blutig und elend und als dein Feind - wir scheiden uns - gehe 
nur — weg ! es ist aus, ganz ! — Adieu !« — Er entfloh mit dem in den 
Weg hauenden Stock, und sein zerriitteter Freund, zu FiiBen 

10 liegend der Wahrheit, die das Flammenschwert gegen den Mein- 
eid aufhebt, und in Tranen sterbend vor der Freundschaft, die 
auf das weiche Herz den schmelzenden Blick voll Bitten wirft, 
Viktor, sag' ich, rief dem fliehenden Geliebten im Sterben nach: 
»Lebe wohl, mein teurer Flamin! mein un verge Blicher Freund! 
ich war dir wohl treu! - Aber ein Schwur liegt zwischen uns - 
Horst du mich noch? - eile nicht so! - Flamin, horst du mich? 
ich Hebe dich noch, wir finden uns wieder, und komm, wann du 
willst.«.. . Er rief starker, obwohl mit erstickten gedampften To- 
nen nach: »Redliche, teure, teure Seek, ich habe dich sehr geliebt 

20 und noch und noch - sei nur recht glucklich - Flamin, Flamin, 
mein Herz bricht, da du mein Feind wirst.« - Flamin sah sich 
nicht mehr urn, aber seine Hand war, wie es schien, an seinen 
Augen. Der Jugendfreund schwand aus seinen Augen wie eine 
Jugend, und Viktor sank unglucklick nieder unter dem schonsten 
Himmel, mit dem BewuBtsein der Unschuld, mit alien Gefiihlen 
der Freundschaft! - O die Tugend selber gibt keinen Trost, wenn 
du einen Freund verloren hast, und das mannliche Herz, das die 
Freundschaft durchstochen hat, blutet todlich fort, und aller 
Wundbalsam der Liebe stillet es nicht! - 



ioo6 



32. HUNDPOSTTAG 

Physiognomie Viktors und Flamins - Siedpunkt der Freundschaft — 
prachtige Hoffnungen fur uns 

Wer hatt' es von Cicero gedacht (wenn ers nicht gelesen hatte), 
da 6 ein so bejahrter gescheiter Mann sich in seiner Johannis-Insel 
hinsetzen und Anfdnge, Eingange, praexistierende Keime im vor- 
aus auf den Kauf verfertigen wiirde? Inzwischen hatte der Mann 
den Vorteil, daB er, wenn er einen Torso iiber irgend etwas 
schrieb, die Wahl unter den fertig liegenden Kopfen hatte, wovon 
er einen dem Rumpfe nach der Korpuskularphilosophie auf- 10 
schrauben konnte. — Von mir, an dem nichts Gesetztes ist, kanns 
nicht wundernehmen, daB ich auf meinem molukkischen Fraskati 
ganze Zaspeln von Anfangen im voraus geweifet und gezwirnt 
habe. Wenn nachher der Spitz einen Hundtag bringt: nab* ich 
ihn schon angefangen und stoBe nur den historischen Rest gar an 
die Einleitung. - Eben gegenwartigen Anfang nab* ich fur heute 
erlesen. 

Anfangs aber wollt' ich freilich diesen nehmen: 
Mich qualet bei meinem ganzen Buche nichts als die Angst, wie 
es werde ubersetzt werden. Diese Angst ist keinem Autor zu ver- 20 
denken, wenn man sieht, wie die Franzosen die Deutschen und 
die Deutschen die Alten iibersetzen. Im Grunde ists wahrlich so 
viel, als werde man exponiert von den untern Klassen und den 
Lehrern derselben. Ich kann jene Leser und diese Klassen in Rtick- 
sicht ihrer Seelenkost, die durch so viele Zwischenglieder vorher 
geht, mit*nichts vergleichen als mit den armen Leuten in Lapp- 
land. Wenn da die Reichen sich in dem Trinkzimmer mit einem 
Likor, der aus dem teuern Fliegenschwamm gesotten wird, be- 
rauschen : so lauert an der Hausture das arme Volk, bis ein be- 
mittelter Lappe herauskommt und p-ss-t; das vertierte Getrank, 30 
die Vulgata von gebranntem Wasser, kommt dann den armen 
Teufeln zugute. 

Aber diesen Anfang heb' ich mir auf fur den Vorbericht zu einer 
Obersetzung. 



32. HUNDPOSTTAG IOO7 

Es gehort zu den schonen Gaukeleien und Naturspielen des Zu- 
falls, deren es recht viele gibt, da 6 ich dieses Buch gerade in der 
Philippi-Jakobi-Nacht 1793 anfing, wo Viktor die Hexen-Fahrt 
zum maienthalischen Blocksberg unter die Zauberer und Zaube- 
rinnen vornahm und wo er 1792 aus Gottingen anlangte. 

Ich kann nicht schreiben: »der Leser kann sichs leicht vor- 
stellen, wie Viktor die ersten Maitage verlebte oder vertrauerte«; 
denn er kann sichs schwer vorstellen. Vielleicht wir alle hielten die 
Bande, die ihn mit Flamin verschlangen, fiir dunne wenige Fibern 

o oder unempfindliche Gewohnheitflechsen; es sind aber weiche 
Nerven und feste Muskeln das Bindwerk ihrer Seelen. Er selber 
wuBte nicht, wie sehr er ihn Hebe, als da er damit aufhoren sollte. 
In diesen gemeinschaftlichen Irrtum fallen wir alle, Held, Leser 
und Schreiber, aus einem Grunde: wenn man einem Freunde, den 
man schon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben 
konnte, aus Mangel der Gelegenheit: so qualet man sich mit dem 
Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieser Vorwurf selber ist 
der schonste Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zusam- 
men, ihn selber zu bereden, er werde ein kalterer Freund. Die 

:o Vesperturniere um Klotilde, diese Disputationen pro loco, taten 
ohnehin das Ihrige; aber immer krankte er sich mit der Selbst- 
rezension, daB er zuweilen seinem Preunde kleine Opfer abge- 
schlagen, z, B. seinetwegen Versaumung einer Lustpartie, das 
Wegbleiben aus gewissen zu vornehmen Hausern, die Flamin 
haBte. Aber in der Freundschaft sind groBe Opfer leichter als 
kleine - man opfert ihr oft lieber das Leben als eine Stunde, lieber 
ein Stuck Vermogen als eine kleine unangenehme Unart, so wie 
euch manche Leute lieber einen Wechsel schenken als ein so 
groBes leeres Papier. Die Ursache ist: groBe Aufopferungen 

30 macht die Begeisterung, kleine aber die Vernunft. Flamin, der 
selber niemals kleine machte, foderte sie vom andern mit Hitze, 
weil er sie fiir groBe nahm. Viktor hatte sich hieriiber weniger 
vorzuriicken; aber Klotilde beschamte ihn, deren langste und 
kurzeste Tage wie bei den meisten ihres Geschlechts lauter Opfer- 
tage waren. - Auch wurde seine natiirliche Delikatesse, die jetzo 
durch sein Hof leben den Zusatz der kiinstlichen gewonnen hatte, 



1008 HESPERUS 

tiefer als sonst von seines Freundes Ecken verletzt. - Die feinen 
Leute geben ihrem innern Menschen (wie ihrem auBern) durch 
Mandelkleien und Nachthandschuhe weiche Hande, bloB um das 
Untere der Karten besser zu fuhlen, um niedliche halbe Damen- 
Ohrfeigen zu geben, aber nicht, wie die Wundarzte, um damit 
Wunden zu handhaben. 

Zum Ungliick schrieb ihm dieser Wahn der Erkaltung ein 
auBeres freundliches Bestreben vor, Warme bei Flamin zu zeigen. 
Da nun der Regierrat nicht bedachte, daB auch das Ge^wungne 
ebensooft von Aufrichtigkeit entstehen konne als das Unge- « 
zwungne von Falschheit: so hatte der Teufel immer mehr sein 
Bestia-Spiel (wo eine Freundschaft der hohe Einsatz war), bis 
solcher am Hexentage' es gar gewann. 

Aber am 4ten Mai soil er alles wieder verlieren, denk* ich. Denn 
Viktor, dessen Herz bei der geringsten Bewegung wieder den 
Verband durchblutete, nahm sich vor, nicht nur am 4ten Mai dem 
Wiegenfeste des Hofkaplans in St. Liine beizuwohnen, sondern 
auch einen Geburttag der erneuerten Freundschaft mit Flamin zu 
begehen. Er wollte gern den ersten, zweiten, zehnten Schritt tun, 
wenn nur jener stehen bliebe und keinen zuriick tare. Denn er kann *° 
ihn nicht vergessen, er kann die aufgedrungne Entbehrung nicht 
verwinden, so leicht ihm sonst die freiwillige wurde. Er driickt 
alle Abende Flamins schones Bild, das gemacht war aus seiner 
Liebe fur ihn, aus seiner unbestechlichen RechtschafTenheit, sei- 
nem Felsen-Mut, seiner Liebe zum Staat, seinen Talenten, sogar 
aus seinem Aufbrausen, das aus dem doppelten Gefiihl des Un- 
rechts und der eignen Unschuld entstand, dieses warme Bild 
driickte er an das aufgerissene Herz, und wenn er ihn am Morgen 
in das Kollegium gehen sah, so Iiefen ihm die Augen uber, und 
er pries den Bedienten glucklich, der ihm die Akten nachtrug. 3=> 
Wenn der 4te Mai des groBen Versohntages mit dem Suhnopfer 
nicht so nahe ware : so wiirde er die kleine Julia an sich angewoh- 
nen miissen als einen dritten Stand zwischen den zwei andern, als 
einen Leitton zwischen Widertonen. BloB die Hoffnung des 
Maies setzte seinen Gedanken statt der Nesseln-Brennspitzen 
wenigstens Rosenstacheln an. - Der Jugendfreund, lieber Leser, 



32. HUNDPOSTTAG IOO9 

der Schulfreund wird nie vergessen, denn er hat etwas von einem 
Bruder an sich ; - wenn du in den Schulhof des Lebens trittst, wel- 
ches eine Schnepfenthaler Erziehanstalt ist, eine berlinische Real- 
schule, ein breslauisches Elisabethanum, ein scheerauisches Maria- 
num : so begegnen dir die Freunde zuerst, und eure Jugendfreund- 
schaft ist der Friihgottesdienst des Lebens. 

Viktor wufite Flamins Versohnlichkeit gewiB voraus, er sah 
ihn sogar schon ofter am Fenster stehen und zum Erker hinuber- 
schielen, aus dem ein freundliches, urn alle MiBdeutungen des 

10 Ehrenpunktes unbekummertes Auge frei und gerade zum Senior 
schauete; — aber dies nahm doch seine weiche Sehnsucht nicht 
weg, sondern sie wurde vermehrt durch die Wiedererblickung des 
so schonen betrauerten geliebten Angesichts. Flamin hatte eine 
groBe mannliche Gestalt, seine ineinander- und zuruckgedrangte 
schmale Stirn war der Horst des Muts, seine durchsichtigen blauen 
Augen - weiche seine Schwester Klodlde auch hatte und die sich 
recht gut mit einer feurigen Seele vertragen, wie ja auch die alten 
Deutschen und das Landvolk beides haben - waren von einem 
denkenden Geiste entziindet, seine gepreBten und eben darum 

20 dunkelroteren ubervollen Lippen waren in die menschenfreund- 
liche Erhebung zum Kusse befestigt; bloB die Nase war nicht 
fein genug, sondern juristisch oder deutsch gebildet. Die Nase 
grofier Juristen sieht meines Erachtens zuweilen so elend aus wie 
die Nase der Justiz selber, wenn ihr biegsamer Stoffsich unter zu 
langen Drehfingern zieht. Nicht zu erklaren ists, beilauflg, warum 
die Gesichter groBer Theologen - sie miiBten denn noch etwas 
anderes GroBes sein - etwas von der typographischen Pracht der 
Cansteinischen Bibeln an sich haben. Viktors Gesicht hingegen 
hatte am wenigstens unter alien, weder jene burschikosen Trivial- 

30 Ztige mancher Juristen, noch das Mattgold mancher Theologen; 
seine Nase lief, ihre Schneide und ihren Wurzel-Einschnitt abge- 
zogen, griechisch-gerade nieder, der Winkel der geschlossenen 
diinnen Lippen war (falls er nicht gerade lachte) ein spitziger von 
1'"" und bildete mit der scharfen Nase das Ordenzeichen und 
Ordenkreuz, das oft satiflsche Leute tragen; - seine weite Stirne 
wolbte sich zu einem hellen und geraumigen Chor einer geistigen 



Rotunda, worin eine sokratische gleich beleuchtete Seele wohnt, 
obgleich weder diese Helle noch jene Stirn sich mit angeborner 
milder Festigkeit, wenn auch mit erworbener gatten ; - seine Phan- 
tasie, dieser groBe Gewinn, hatte wie mehrmals gar keine Lotterie- 
devise auf seinem Gesicht; - seine Achataugen 'aus Neapel ver- 
kiindigten und suchten ein Iiebendes Herz; - sein weiBes, weiches 
Gesicht kontrastierte, wie Hof mit Krieg, gegen Flamins braunes, 
elastisches, den zwei Glutwangen als Grund dienendes Angesicht. 
- Cbrigens war Flamins Seele ein Spiegel, der unter der Sonne 
nur mit einem einzigen Punkte flammte; an Viktors seiner aber 10 
waren mehre Krafte zu schimmernden Facetten ausgeschliffen. 
Klo tilde hatte mit ihrem Bruder dieses ganze Feuerzeug und diese 
Schwefelminen des Temperaments gemein; aber ihre Vernunft 
deckte alles zu. Der reiBende Blutstrom, der sich bei ihm von 
Felsen zu Felsen schlug, zog bei ihr schon still und glatt durch 
Blumenwiesen. 

Ich sari* es gern, er erneuerte wieder mit dem Regierrat den 
Vcrtrag der Freundschaft : ich wiirde dann seine Pfingst-Reise 
nach Maienthal zu beschreiben bekommen, die vielleicht das 
Septleva und das Beste wird, wozu es noch der menschliche Ver- 20 
stand gebracht hat. Aus diesem Septleva wird aber nichts, wenn 
sie nicht wieder Friede machen; neben jede Blume in Maienthal, 
neben jede Entziickung wiirde sjch dem Freunde die abgegramte 
Gestalt des Freundes stellen und fragen : »Kannst du so glucklich 
sein, da ichs so wefiig bin?« - 

Gescheiter war* es, beide waren Monche oder Hof leu te; dann 
ware ihnen zuzumuten, daB sie, da die Freundschaft die Ehe der 
Seelen ist, enthaltsam im Zolibate der Seelen verblieben . . . 

Eben beim Schlusse des Kapitels bringt der Hund das neue, 
und ich flechte beide gar ineinander und fahre fort: 30 

Ohne sonderliche Argernis uber das Ausbleiben'der Antwort 
aus Maienthal ging Viktor den 4ten Mai einsam nach St. Liine 
und mit jedem Schritte, um den er naher kam, wurde seine Seele 
weicher und versohnlicher, - Als er ankam : — 

Es gibt in jedem Hause Tage, die in der Litanei vergessen wur- 
den - verdammte, verteufelte, verhenkerte Tage - wo alles ge- 



32. HUNDPOSTTAG IOII 

kreuzt geht und die Quere - wo alles keift und knurrt und mit 
dem Schwanze wedelt- wo die Kinder und der Hund nicht Muck! 
sagen diirfen und der Erb-, Lehn- und Gerichtsherr des Hauses 
alle Tiiren zuwirft und die Haus-Herrin das Schnarrkorpus-Re- 
gister des Moralisierens 1 zieht und den Silberton der Teller und 
Schliisselbunde anschlagt- wo man lauter alte Schaden aufstobert, 
alle Waldfrevel der Mause und Motten, die zerknickten Sonnen- 
schirm- und Facherstabe und daB das SchieBpulver und der wohl- 
riechende Puder und das Kavalierpapier dumpfig geworden und 

j daB der Wurstschlitten ausgesessen ist zu einem holzernen Esel 
und daB der Hund und das Kanapee im Haren begriffen sind - 
wo alles zu spat kommt, alles verbrat, alles iiberkocht und die 
Kammerdonna die Stecknadeln ins Fleisch der Frau wie in eine 
Puppe treibt - und wo man, wenn man sich bei dieser hundfotti- 
schen Krankheit ohne Materie genugsam ereifert hat ohne Ur- 
sache, sich zufrieden gibt wieder ohne Ursache — 

Als Viktor anlandete in der Pfarre : hort' er den Geburthelden 
des Tages, den Pfarrer, in seiner Studierstube dozieren und 
schreien. Eymann goB seinen heiligen Geist in die langen Ohren 

) seiner Katechumenen aus, in die keine feurigen Zungen zu brin- 
gen waren. Er handhabte eine Dunsin aus einer Einode (einem 
einzigen Hause im Walde) und wollte vor ihr den Unterschied 
des Lose- und des Bindeschlussels aufklaren. Es war aber nicht 
zu machen : der Kaplan und Wiedergeborne hatte schon eine halbe 
Stunde iiber die Schulzeit mit dem Aufklaren zugebracht; die 
Dunsin vergrirlsich immer in den Schlusseln, als ware sie eine - 
Weltdame. Der Kaplan hatte seinen Kopf darauf gesetzt auf die 
Erhellung des ihrigen - er stellte ihr alles vor, was Eisenholz und 
Eisensteine geruhrt hatte, sein heutiges Wiegenfest, die allgemein- 

» versalzene Lust, die halbe OberschuB-Stunde, um sie zu iiber- 
reden, daB sie den Unterschied begriffe — sie tats nicht, sie sah' 
ihn nicht ein - er lieB sich zu Bitten herab und sagte : »Schatz, 
Lamm, Bestie, Beichttochter, faB t es, fieri* ich - mache deinem 

1 Die meisten Weiber sind nicht eher Galgenpatres (eigentlich : Galgen- 
matres) und Kasernenpredigerinnen, als bis sie teufelstoll sind, wie Sterne 
die meisten Einfalle hatte, wenn er nicht wohl war. 



Seelenhirten die Freude und repetier' ihm den auBerordentlichen 
Unterschied zwischen Bind- und Loseschlussel — mem' ichs denn 
nicht redlich mit dir? - Aber mein Pfarramt fodert es von mir, 
daB ich dich nicht wie ein Vieh, ohne einen Schliissel zu kennen, 
weglasse. - Ermanne dich nur und sprich mir nur Wort fur Wort 
nach, teuer-erkaufte Christen-Bestie.« - Das tat sie endlich, und 
da sie fertig war, sagt' er freudig: »So gefallst du deinem Lehrer, 
und merk ferner auf.« - DrauBen rekapitulierte sie es wieder, und 
sie hatte alles gut gefasset, ausgenommen, daB sie statt der Bind- 
und Loseschlussel allemal vernommen hatte Bind- und Ldseschiis^ i o 
sein. — 

Die Drillinge wollten erbarmlicherweise erst nach dem Essen 
kommen - Die Seele der roten Appel dampfte eben darum ein 
Wildprets-Fumet aus und roch wie angebrannte Milchsuppe und 
klagte, sie behielte alle Arbeit allein auf dem Hals, und als Agathe 
ihr beispringen wollte, sagte sie: »Ich kann es, Gott sei Dank! so 
gut machen wie du!« - Der Regierrat war angelangt, aber leider 
wieder auf die Felder hinausgelaufen bis zum Essen - Agathens 
Gesicht war wie ein Felsenkeller von der Kalte ihres Brudersgegen 
Viktor ausgeschlagen - Nur die Pfarrerin war die Pfarrerin, nicht 20 
bloB ein Vaterland, sondern ein Liebeatem reihete ihr Herz an sein 
Herz, und es war ihr unmoglich, auf ihn zu ziirnen. Sie lkbte ein 
Madchen, wenn ers lobte ; ware sie ohne Mann gewesen : so wtirde 
sie entweder Liebebrief-Stellerin oder Brief-Tragerin fur ihn ge- 
worden sein. - So Heben Weiber: ohne MaB! Oft hassen sie auch 
so. - Dazu setzet nun mein Korrespondent noch, daB er aus dem 
Baddorfe einen ganzen Zeugenrotul zum Beweise ausziehen 
konnte, daB die Pfarrerin nicht bloB allemal, sondern auch am 
heutigen Ventos- und Pluvios-Tage es mit ungeschminkter Fas- 
sung einer Christin auszuhalten und zu erleben vermochte, wenn 30 
eine etwas fallen lieB, eine Tasse oder ein Wort. Zu so etwas - 
zur Apathie gegen einen gegenwartigen ganzlichen Verlust eines 
Suppen-, eines Spiilnapfes, eines Fruchttellers - ist vielleicht eben- 
soviel Gesundheit als Vernunft vonnoten. 

- Endlich trat abends der Hof junker ein und sagte, Flamin sei 
noch im Garten. Viktor nahm es auf, als sei es ihm gesagt, und 



32. HUNDPOSTTAG IOI3 

ging hinaus und trug sein beklommenes Herz einem andern ban- 
gen entgegen. Flamin fand er in einer uberlaubten Ecke hinauf- 
starrend mit den Augen zum Wachsbilde des verstoflenen Ge- 
liebten; Viktors Herz ging wie zwischen Tranen schwer in der 
ubervollen Brust. Flamins Gesicht war nicht mit dem Panzer des 
Zorns, sondern mit dem Leichenschleier des Kummers bedeckt. 
Denn hier auf dem Vorgrund einer hellen warmen Jugend, 
gleichsam auf dem klassischen Boden der vorigen unersetzlichen 
Liebe, wurde er zu weich und zu warm - auf dem Dorfe widerrief 

10 er die Harte der Stadt - und was noch mehr war, lauter Freunde 
seines Freundes, lauter liebevolle Lobreden auf den verschmahten 
Liebling drangten und warmten sein verarmtes Herz, und er 
konnte ihn hier noch leichter entschuldigen als entbehren. Viktor 
bewillkommte ihn mit der sanften Stimme eines gedruckten Her- 
zens, aber dieser sagte alle Gedanken und Worte nur halb. Viktor 
schauete tief in die Seele, die um die Freundschaft trauerte; denn 
nur ein Herz sieht ein Herz; so sieht nur der groBe Mann grofie 
Manner, wie man Berge nur auf Bergen erblickt. Er hielt es daher 
fur kein Zeichen des Grolls, da Flamin langsam von ihm weg- 

20 ging; aber er muBte, so einsam da gelassen, seine Augen von der 
geweihten Erde des Gartens, wo ihre Freundschaft sonst die Blu- 
ten gedffnet hatte, und von der Opferlaube, wo er bei seinem 
Vater fiir Klotildens und Flamins Verkniipfung gesprochen, und 
von der hohen Warte, dem Tabor der freundschaftlichen Ver- 
klarung, von alien diesen Begrabmsstatten einer schonern Zeit 
muBt' er die Augen abwenden, um die armere zu ertragen. Allein 
das, was er nicht anschauen wollte, stellte er sich desto heller vor. 
Jetzo dehnte die Gebet- und Abendglocke ihre melanchoHschen 
Bebungen aus bis an die Herzen der Menschen - die vergangnen 

30 Zeiten schkkten die Tone, und die Abendklagen sanken wie heiBe 
Bitten in die getrennten Freunde: »0 sohnet euch aus und gehet 
zusammen ! 1st denn das Leben so lang, daB die Menschen ziirnen 
diirfen, sind denn der gute Seelen so viele, daB sie einander fliehen 
konnen? O diese Tone zogen um viele Aschen-Leichen, um 
manches erstarrte Herz voll Liebe, um manchen geschlossenen 
Mund voll Grimm, o Vergangliche, liebet, liebet euch!« - Viktor 



IOI4 HESPERUS 

ging willig (denn er weinte) dem Freunde nach und fand ihn am 
Beete stehen, worauf Eymann dessen Namens-F in Kohlrabi- 
pflanzeh griinen lie 8, und er schwieg, weil er wuBte, daB zu alien 
sympathetischen Kuren geschwiegen werden rauB. O eine solche 
schweigende Stunde, wo Freunde wie Fremdlinge nebenein- 
ander stehen und mit dem Verstummen das alte ErgieBen ver- 
gleichen, hat zu viele Herzstiche und tausend erdriickte Tranen 
und statt der Worte die Seufzer ! 

Viktor, so nahe am Freund, wollte, da unter dem Gelaute seine 
schonere Seele, wie Nachtigallen unter Konzerten, immer lauter 10 
wurde, von Minute zu Minute an dieses schone edle Gesicht, an 
diese zum Versohnkusse geriindeten Lippen fallen - aber er er- 
schrak vor der neulichen AbstoBung. Er sah jetzo, wie Flamin ins 
Beet immer weiter schritt und die Herzblatter der Kohlrabi lang- 
sam umtrat und auseinander quetschte; endlich merkte er, dieses 
Zerknirschen des griinenden Namens sei bloB die stumme Sprache 
der Trostlosigkeit, die sagen wollte: »Ich hasse mein gequaltes 
Ich, und ich mocht' es zermalmen wie meinen Namen hier: fiir 
wen soil er?« - Das riB Blut aus Viktors Herzen und weggekehrte 
Tranen aus seinem Auge, und er nahm sanft die lang entzogne 20 
Hand, um ihn wegzufuhren vom Selbermorde des Namens. Aber 
Flamin drehte sein zuckendes Angesicht seitwarts nach dem 
wachsernen Schatten seines Freundes und sah, starr abgekriimmt, 
hinauf. — »Bester Flamin !« sagte Viktor mit dem geriihrtesten 
Laute und driickte die brennende Hand. Da riB sie Flamin aus 
seiner heraus und stieB mit den.zwei Handballen die Tranen- 
tropfen in die Augen zurlick - und atmete laut - und sagte er- 
stickt: »Viktor!« - und wandte sich mit groBen Tranen um und 
sagte noch dumpfer: »Liebe mich wieder!« - Und sie stiirzten zu- 
sammen, und Viktor antwortete: »Ewig und ewig lieb' ich dich, 30 
du hast mkh ja nie beleidigt«, und Flamin stammelte gluhend und 
sterbend: »Nimm nur meine Geliebte, und bleibe mein Freund !« 
- Viktor konnte lange nicht reden, und ihre Wangen und ihre 
Tranen brannten vereinigt aneinander, bis er endlich sagen 
konnte : »0 du ! o du ! du edler Mensch ! Aber du irrest dich irgend- 
wo ! - Nun verlassen wir uns nicht mehr, nun wollen wir ewig 



3 2. HUNDPOSTTAG I O I 5 

so bleiben. - Ach wie unaussprechlich werden wir uns einmal 
lieben, wenn mein Vater kommt!« 

Hier holte sie die vielleicht um beide besorgte Pfarrerin ab, 
und Flamin ehrte sie, was er selten tat, in seiner Erweichung mit 
einer kindlichen Umarmung; und aus vier verweinten Augen las 
sie entzuckt die Erneuerung ihres unverganglichen Bundes. 

Nichts beweget den Menschen mehr als der Anblick einer Ver- 
sohnung, unsere Schwachen werden nicht zu kostbar durch die 
Stunden ihrer Vergebung erkauft, und der Engel, der keinen 

10 Zorn empfande, miiBte den Menschen beneiden, der ihn iiber- 
windet. - Wenn du vergibst, so ist der Mensch, der in dein Herz 
Wunden macht, der Seewurm, der die Muschelschale zerlochert, 
welche die OfTnungen mit Perten verschlieBet. 

Diese Aussohnung zog gleichsam eine mit dem Gliick nach 
sich — der Brumaire- Abend wurde zu einem Floreal-Abend - die 
Drillinge a Ben vom g'ebratnen Ruhm der Appel nach - der Pfar- 
rer hatte mit keinen Schlusseln weiter zu tun als mit Loseschlus- 
seln, den geistigen Musikschlusseln - und das Geburtfest war zu 
einem Bundfeste aufgebluhet, zu einem Oppositionklub, wo sich 

20 alles, aber in einem hohern Sinne als Quaker und Kaufleute, 
Freund nannte. Die Drillinge hielten altbritische Reden, die nur 
freie Menschen verstehen konnten. Viktor wunderte sich uber die 
allgemeine Freimiitigkeit vor einer so gestachelten SchmeiB- 
Mouche, wie Matthieu war — aber die Englander fragten nach 
nichts. Der Pfarrer schickte Herzgebete ab und sagte : »er seines 
Orts nehme wenig Notiz davon und bitte nur leiser zu haran- 
guieren, damit er nicht in den Ruf kame, als ob er pietistische 
Konventikel in seiner Pfarre zulieBe; inzwischen steifer sich ganz 
auf den Herrn Hofmedikus und Herrn Hof junker, die ihn gegen 

30 Fiskalate gewiBlich decken wiirden; sonst wiird* er Frau und 
Sohn nicht mit dreinsprechen lassen.« Die Pfarrerin zog die Er- 
innerungen an ihr freies Vaterland den besten Verleumdungen 
und Moden vor. Viktor muBte heute sein Versprechen halten, 
seine republikanische Orthodoxie auBer Zweifel zu setzen; und da 
er solches vor unsern Ohren gab, wollen wir auch mit sehen, wie 
er es halt und ob er ein Alt-Brite ist. 



IOl6 HESPERUS 

Er ahmte meistens den Stil nach, den er zuletzt gelesen oder - 
wie heute - gehort hatte; daher sprach er in Sentenzen wie der 
eine brennend-kalte Englander. 

»Kein Staat ist frei, als der sich liebt; das MaB der Vaterland- 
liebe ist das MaB der Freiheit. Was ist denn nun diese Freiheit? 
Die Geschichte ist der La Morgue-Platz 1 , wo jeder die toten Ver- 
wandten seines Herzens sucht: fragt die groBen Toten aus Sparta, 
Athen und Rom, was Freiheit ist! Ihre ewigen Festtage - ihre 
Spiele - ihre ewigen Kriege - ihre steten Opfer des Vermogens 
und Lebens - ihre Verachtung des Reichtums, des Handels und 10 
der Handwerker konnen den kameralistischen Landesflor nicht 
zum Ziel der Freiheit machen. Aber der konsequente Despot muB 
cfen sinnlichen Wohlstand seiner Neger-Pflanzung betreiben. Der 
Druck und die Milde, die Ungerechtigkeit und die Tugend eines 
Einzelnen machen so wenig den Unterschied zwischen sklavischer 
und freier Regierform aus, daB Rom eine Sklavin war unter den 
Antoninen, und eine Freie unter dem Sulla*. - Nicht jeder Bund, 
sondern der Zweck des Bundes, nicht das Vereinigen unter ge- 
meinschaftliche Gesetze, sondern der Inhalt derselben geben der 
Seele die Fliigel des Patriotismus; denn sonst ware jede Hansa, 20 
jeder Handelsbund ein pythagorischer und zeugte Sparter. Das, 
wofur der Mensch Blut und Guter gibt, muB etwas Hoheres als 
beides sein ; - eignes Leben und Vermogen zu beschiitzen, hat der 
Gute nicht so viel Tapferkeit, als er hat, wenn er fur fremdes 
kampft; - die Mutter wagt nichts fur sich und alles fiir das Kind - 
kurz nur fiir das Edlere in sich, fiir die Tugend, offnet der Mensch 
seine Adern und opfert seinen Geist; nur nennt der christliche 
Martyrer diese Tugend Glauben, der wilde Ehre y der republika- 
nische Freiheit. - Nehmt zehn Menschen, sperrt sie in zehn ver- 
schiedene Inseln: keiner wird den andern (ich habe keine Welt- 30 
burger genommen), wenn er ihm auf seinem Kahn begegnet, 
lieben oder beschiitzen, sondern ihn bloB wie ein unschuldiges un- 

1 Ein vergitterter Platz in Paris, wo man die in derNachtgefundenenToten 
ausstellet, damit Jeder Verwandte den seinigen aussuche. 

1 GroB ist die Seele, die wie er unter lauter Feinden aller Gewalt entsagt - 
groCer ist das Volk, vor dem mans tun durfte. Ein anderes ware den Lausen 
Sullas zuvorgekommen. 



32. HUNDPOSTTAG IO17 

gebildetes Tier unbeschadigt voruberfahren Iassen. Werft sie aber 
samtlich auf eine Insel 1 : so werden sie gegenseitige Bedingungen 
des Beisammenlebens, des Unterstiitzens u.s.w., d.h. Gesetze 
machen - jetzo haben sie oftern GenuB und Gebrauch des Rechts, 
folglich ihrer Personlichkeit, die sie von bloBen Mitteln unter- 
scheidet, folglich ihrer Freiheit. Vorher auf ihren zehn Inseln 
waren sie mehr ungebunden ahfreu Je mehr die Gegenstande ihrer 
Gesetze sich veredeln, desto mehr sehen sie, daB das Gesetz den 
innern Menschen mehr angehe als der Schutthaufen, den es be- 

10 schirmt, das Recht mehr als das Eigentum, und daB der edle 
Mensch seine Guter, seine Gerechtsame, sein Leben verfechte, 
nicht wegen ihrer Wichtigkeit, sondern wegen seiner Wurde. - 
Ich will die Sache von einer andern Seite beschauen, urn den Satz 
zu verteidigen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk seine 
Verfassung hasset: so geht der Zweck seiner Verfassung, d.h. 
seine Vereinigung, verloren. Liebe der Verfassung und Liebe fur 
seine Mitbiirger als Mitburger ist eins. Ich hole so aus: waren alle 
Menschen weise und gut, so waren sie alle einander ahnlich, folg- 
lich gewogen. Da das nicht ist: so ersetzt die Natur diese Gute 

*° durch Ahnlichkeiten der Triebe, durch Gemeinschaft des Z weeks, 
durch Beisammenleben u.s.w. und halt durch diese Bander - der 
ehelichen, der Geschwister- und der Freundesliebe - unsere 
glatten schlupferigen Herzen zusammen in verschiedenen Entfer- 
nungen. So erzieht sie unser Herz zur hohern Warme. Der Staat 
gibt ihm eine noch groBere, denn der Burger liebt schon mehr 
den Menschen im Burger als der Bruder ihn im Bruder, der Vater 
im Sohn. Vaterlandliebe ist nichts als eine eingeschrankte Welt- 
biirgerliebe; und die hohere Menschenliebe ist des Weisen groBe 
Vaterlandliebe fiir die ganze Erde. In meinen jiingern Jahren war 

30 mir oft die Menge der Menschen schmerzlich, weil ich mich un- 
vermogend fiihlte, iooo Millionen auf einmal zu Heben; aber das 
Herz des Menschen nimmt mehr in sich als sein Kopf, und der 
bessere Mensch muBte sich verachten, dessen Arme nur um einen 
einzigen Planeten reichten.«... 

1 Viktor nahm zu seinem Bunde zehn Personen, vielleicht weil gerade so 
viele zu einem Tumulte gehoren. Hommel rhapsod. observat. CCXXV. 



1 01 8 HESPERUS 

- Jetzo setz* ich wie in einer Komodie nur die Namen der Spie- 
ler vor die Anmerkungen. Der kalt-philosophische BaltJiasar: 
»Daher muB die ganze Erde einmal ein einziger Staat werden, eine 
Universalrepublik; die Philosophic muB Kriege, MenschenhaB, 
kurz alle mogliche Widerspriiche mit der Moral so lange guthei Ben, 
als es noch zwei Staaten gibt. Es muB einmal einen Nationalkon- 
vent der Menschheit geben; die Reiche sind die Munizipalitaten.« 

Matthieu: »Jetzt leben wir also erst im men Oktober und ein 
wenig im 4ten August.« 

Viktor*. »Wir sehen, gleich dem David, den salomonischen 10 
Tempel nur in Traumen und die Stifthutte im Wachen; aber die 
Philosophic ware jammerlich, die von den Menschen nichts fo- 
derte, als was diese bisher ohne Philosophic leisteten. Wir miissen 
die Wirklichkeit dem Ideal, aber nicht dieses jener anpassen.« 

Der heiB-philosophische Melchior: »Die meisten jetzigen 
Bewegungen sind nur Griffe, die ein unter dem Gehirnbohrer 
Schlafender nach der blutigen Gehirnhaut tut. - Aber die fallende 
Stalaktite der Regentschaft tropfet endlich mit der steigenden 
Stalagmite des Volkes zur Saule zusammen.« 

Flamin: »Setzen aber nicht Sparter Heloten voraus, Romer 20 
und Deutsche Sklaven, und Europaer Neger? - MuB sich nicht 
immer das Gluck des Ganzen auf einzelne Opfer griinden, so wie 
ein Stand sich dem Ackerbau widmen muB, damit ein anderer 
dem Wissen obliege?« 

Kato der Altere : »Dann spei* ich aufs Ganze, wenn ich das Opfer 
bin, und verachte mich, wenn ich das Ganze bin.« 

Balthasari »Besser ists, das Ganze leidet freiwillig eines einzi- 
gen Gliedes wegen, als daB dieses wider seine gerechte Stimme 
fur das Ganze leide.« 

Matthieu: »Fiat justitia et pereat mundus.« 30 

Viktor: »Auf deutsch; das groBte physische Obel muB man vor- 
ziehen dem kleinsten moralischen, der kleinsten Ungerechtigkeit.« 

Melchior 1 »Durch die physische, von der Natur gemachte Un- 
gleichheit der Menschen wird irgendeine politische so wenig 
entschuldigt als durch Pest der Mord, durch MiBwachs das Korn- 
judentum. Sondern umgekehrt muB eben die politische Gleich- 



1019 

heit das Ersatzmittel der physischen sein. Im despotischen Staat 
kann die Aufklarung wie das Wohlleben an InnengehaltgroBer 
sein, aber im freien ist sie an AuBengehalt groBer und unter alle 
verteilt. Denn Freiheit und Aufklarung erzeugen einander wech- 
selseitig.« 

Viktor: »Wie Unglaube und Despotic Ihre Behauptung zeigt 
den Volkern zwei Wege, einen langsamern, aber gerechtern, und 
einen, der beides nicht ist. - Die wilden Eingrifle ins Zifferblatt- 
rad der Zeit, das tausend kleine Rader drehen, verriicken es mehr, 

io als sie es beschleunigen, oft breehen sie ihm Zahne ab*: hange 
dich ans Gewicht des Uhrwerks, das alle Rader treibt; d.h. sei 
weise und tugendhaft, dann bist du groB und unschuldig zugleich 
und bauest an der Stadt Gottes, ohne den Mortel des Bluts und 
ohne die Quader der Totenkopfe.« — 

Hier wird diese politische Predigt ausgelautet, unter welcher 
Viktor seiner sokratischen Haltung,und MaBigung ungeachtet 
doch diese wilden Kopfe zu Freunden des seinigen machte. Dem 
einzigen Matthieu war nur um Spott zu tun, auf den er jeden 
Ernst zuruckfiihrte, anstatt es umzukehren. Er hatte in einem 

20 eigentumlichen Grade jene Unverschamtheit von Stand, gewisse 
Torheiten zugleich zu begehen und zu verspotten, gewisse Toren 
zugleich zu suchen und zu verachten und gewisse Weise zugleich 
zu meiden und zu loben. Wo er nur konnte, bewarf er den gut- 
mutigen Fursten von Flachsenfingen mit satirischen Distelkopfen 
und zeigte eine Feindseligkeit gegen den Ehemann, die sonst das 
Zeichen einer zu groBen Freundschaft gegen die Frau ist. - So 
sagte er heute in Beziehung auf Jenners oder Januars Neigungen, 
die mit seinem Monats- und Heiligen-Namen abstechen : »Fiir den 
heiligen Januarius in Puzzolo 8 war ein Fisch der Doktor Kuhl- 

;° pepper.« - 

1 Denn es gibt keine groBen Begebenheiten aus kleinen Ursachen, sondern 
nur groBe aus i oooooo kleinen Ursachen, wovon man immer die letzte fur 
die Mutter der groBen Geburt ausgibt. Ist denn das Ziindpulver die Ladung 
des Geschosses? 

" Fur diese Statue konnte namlich kein Bildhauer eine zweite Nase machen, 
die paftte - denn die erste war abgebrochen -; endlich nach 400 Jahren fand 
ein Kind in einern groBen Fische die marmorne, welche anlag. Labats Reisen 
jter Teil. 



1020 HESPERUS 

Ich gesteh' es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den nar- 
rischen Gedanken gehabt, den ich mir schon oft, so toll er ist, 
nicht aus dem Kopfe schlagen konnte - denn er wird freilich ein 
wenig dadurch bestatigt, daB ich wie ein Atheist nicht weiB, wo 
ich her bin, und daB ich mit meinem franzosischen Namen Jean 
Paul durch die wunderbarsten Zufalle an ein deutsches Schreibe- 
pult getrieben wurde, auf dem ich einmal der Welt jene weit- 
lauftig berichten will - wie gesagt, ich halt' es selber fur eine 
Narrheit, wenn ich mir zuweilen einbilde, es sei moglich, daB ich 
etwan — da in der orientalischen Geschichte die Beispiele davon 10 
tausendweise da sind - gar ein unbenannter Knasensohn oder 
Schachsohn oder etwas Ahnliches ware, das fur den Thron ge- 
bildet werde und dem man nur seine edle Geburt verstecke, um 
es besser zu erziehen. So etwas nur zu iiberlegen, ist schon Toll- 
heit; aber so viel ist doch richtig, daB aus der Universarlhistorie 
die Beispiele nicht auszukratzen sind, wo mancher bis in sein 
2£stes Jahr — ich bin um zwei Jahr alter - nicht ein Wort davon 
wuBte, daB ein asiatischer oder anderer Thron auf ihn warte, wo- 
von er nachher, wenn er darauf kam, prachtig herunter regierte. 
Setze man aber, ich wurde aus einem Jean ohne Land ein Johann 20 
mit Land, so ging* ich sofort aufs Billard und sagte jedem, wen er 
vor sich hatte. Ware einer von meinen Landskindern mit da und 
stieBe : so wiird' ich ihn dort sofort regieren - und eine Lands- 
tochter ohne Bedenken - Ich wurde mit Bedacht verfahren und 
nur mit Subjekten aus meiner Billard-Gespannschaft die wichti- 
gern Amter besetzen, weil der Regent den kennen muB, den er 
voziert, welches er beim Spiel bekanntlich am ersten vermag. - 
Ich wiirde meinen Landsassen und alien durch ein Generalregle- 
ment auf alle Zeiten strenge befehlen, gliicklich und wohlhabend 
zu sein, und wer arm wiirde, den setzte ich zur Strafe auf halben 50 
Sold; denn ich denke, wenn ich die Armut so nachdriicklich 
untersagte, so wiird' es zuletzt so viel sein, als regierten Saturn 
und ich miteinander. - Ich wiirde in meinem Staate nicht, wie ein 
Sultan in seinem Harem, physische Stumme und Zwerge begeh- 
ren, sondern nach Gelegenheit moralische - Ich gesteh* es, ich 
hatte eine eigne Vorliebe fiir Genies und stellte bei alien, sogar 



32. HUNDPOSTTAG 1021 

beim elendesten Posten die groBten Kopfe an. - Ich wurde mich 
vor nichts furchten (Feinde ausgenommen) als vor der Kopf- 
wassersucht, vor der ein gekrontes Haupt oder ein infuliertes in 
Angsten sein muB, wenn es wie ich in dem Doktor Ludwig oder 
auch in Tissot von den Nerven gelesen hat, daBdergleichen durch 
starke Binden um den Kopf am ersten entstehe, welches ich noch 
mehr von meiner Krone befahre, zumal wenn der Kopf, der hin- 
eingetrieben wird, dick ist und sie eng. . . 

Wir kommen wieder zur Geschichte. Den andern Tag kehrten 

10 Viktor und Flamin, in den schonen, neu angezognen Schlingen 
des freundschaftlichen Bundes, nach Flachsenfingen zuruck. Jetzo 
konnte Viktor durch Maienthals Himmelpforte eingehen, wenn 
Klotilde sie nicht verriegelte. Alles kam auf Emanuels Antwort 
an. Die Mailufte wehten, die Maiblumen dufteten, die Maibaume 
rauschten. O wie fachte dieses Wehen die Sehnsucht an, alle diese 
Seligkeiten in Maienthal zu genieBen und das Einlafiblatt zum 
schonsten Konzertsaal der Natur vom Freunde zu bekommen. 
Es kam keines; denn es war schon - gekommen durch den Zeidler 
Lind aus Kussewitz, der als Feudal-Postilion vom Grafen O an 

20 Matthieu gesendet worden und den Weg uber Maienthal genom- 
men hatte. Es war von Emanuel: 

»Horion! 

Komm eher, Geliebter! Eil in unser Edental, das ein Gartensaal 
der Natur mit griinenden Wanden zwischen lauter Gangen ist, 
die aus dem Himmel in den Himmel laufen..Die blumigen Hchten 
Stunden rucken vor dem Auge des Menschen voriiber wie die 
Sterne vor dem Sehrohre des Himmelmessers. Blutenschlingen 
aus Jelangerjelieber sind dir gelegt und mit Diiften zugedeckt; 
und wenn du darin gefangen bist, fassen die aufwallenden Diifte 
30 dich mit einer Wolke ein, und unbekannte Arme dringen durch 
die Wolke und ziehen dich an drei Herzen voll Liebe! Ich habe 
schon Maiblumen aus dem Walde ausgehoben und neben mich 
gepflanzt - deine Stadt ist ja auch ein Wald um dich stille Mai- 
blume. Ich habe schon zwei Balsaminen und funf Sommerlev- 



1022 HESPERUS 

kojen versetzt; aber meine erste versetzte Balsamine war Klotilde. 
Du siehst, der Fruhling streckt sich mit seinen iippigen treiben- 
den Saften aucja durch meine aufknospende Seele, und "der Mai 
spaltet an ihr, wie ich jetzt an den Nelken, alle Knospen auf. - 
Erscheine, erscheine, eh ich wieder triibe werde, und sage dann dei- 
nem Julius, wer der Engel war, der ihm den Brief an mich gereicht. 

Emanuel.« ^ 

Julius hatte wahrscheinlich dabei wieder an jenen anderh Brief 
gedacht, den ihm ein bis jetzt unbekannter Engel zum Aufsiegeln 
auf diese Pfingsten gegeben - Aber was gehen mich hier Engel « 
und Briefe an? Kurier-schreiben will ich jetzt, damit ich das 32ste 
Kapitel hinausgemacht habe, eh der Hund mit seinem 33sten 
Pfingstkapitel auftritt, das nicht bloB, weil es 32 Kapitel-Ahnen 
hat, sondern wegen der wahrscheinlichen AusgieBung eines freu- 
digen heiligen Geistes darin, oder wegen eines ganzen Tauben- 
flugs von heiligen Geistern, und wegen der historischen Gemalde 
darin — und wegen meiner eignen Anstrengung - ein Kapitel 
(glaubt man) werden muB, dergleichen in jeder dionysischen 
Periode kaum ein halbes und in jeder konstantinopolitanischen 
ein ganzes kann geschrieben werden - Der Pfingst-Hundtag kann « 
lang ausfallen, aber gut und gottlich - Philippine wird den Bruder 
rtitteln und sagen (sie schmeichelt gern) : »Paul ! Paulus war auch 
im dritten Himmel, aber so hat er ihn nicht beschrieben in seinen 
Briefen an die Romerk - Ich wollte selber, ich konnte meinen 
33Sten Hundtag Iesen, bevor ich ihn gemacht.. . 

Das Viele, was ich noch mit Wenigem und mit der bisherigen 
Eile herzuwerfen habe, 1st laut den Kiirbis-Akten das: Viktor 
freuete sich ebenso wie ich auf die Pfingst-Evangelien. Sein Ge- 
wissen setzte seinem Genusse nicht das dunnste Speisegelander, 
nicht den niedrigsten Weidstein weiter in den Weg, und er konnte 3° 
wie eine unschuldige Freude zur geliebten Klotilde gehen und 
sagen : nimm mich an. Er tat jetzt die Abschied- und Kranken- 
besuche bei Hofe regelmaBig ab und schor sich um kein Wort 
voll Hollenstein und um kein Auge voll Basiliskengift. Er ver- 
doppelte die schonern Besuche bei Flamin, um dessen edle Ver- 



32. HUNDPOSTTAG IO23 

sohnung mit einer warmern Freundschaft zu belohnen, und er 
druckte auf die vergangne Geschichte und auf den Gegenstand 
der Eifersucht das Sekretinsiegel des schonenden Schweigens. 
Seine Traume stellten zwar bei ihrem Theater voll Schattenspielen 
und Lufterscheinungen Klotildens Gestalt nicht an (gerade die 
geliebtesten Gesichter versaget der Traum), aber indem sie ihn 
in die alten dunkeln Regenmonate fuhrten, wo er wieder ungluck- 
lich und ohne Liebe und ohne die teuerste Seele war, so gaben sie 
ihm durch die niedergeregnete Nacht einen hellern Tag, und die 

10 verdoppelte Wehmut wurde zur verdoppelten Liebe - Und wenn 
er am Morgen nach solchen Traumen vom vergangnen Traum 
durch den Maien-Reif neben den xippigen Freudentropfen der 
Weinreben und unter dem Morgenwind, der ihn mehr trug als 
kiihlte, hinaustrat, um die festen westlichen Walder, die mit 
einem griinen Vorhang die Opernbiihne seiner Hoffnung ver- 
hingen, wie teure Reliquien mit den sehnenden Augen zu be- 
tasten — Ein Rezensent, der sich an meine Stelle setzt, kann mir 
unmoglich bei dieser Kiirze der Zeit und auf meiner Extrapost- 
kutsche des Phobuswagen (jetzt in den kiirzern Tagen) zumuten, 

20 dem langen Vorsatze seinen Nachsati zu geben. 

Sogar der steilrechte Klimax des Barometers und das waag- 
rechte Stromen des Ostwindes faBten die Segel seiner Hoffnung 
an und zogen ihn in das stille Meer der Pfmgst-Zukunft und in 
den Kalender von 1793, um zu sehen, ob der Mond zu Pfingsten 
voll ware — Beim Himmel, er wirds wenigstens halb, welches noch 
viel besser ist, weil man ihn sogleich bei der Hand mitten am Him- 
mel hat, wenn man seinen Abend anfangen will. . . 

Ich hab's doch durch auBerordentliches Rennen dahin ge- 
bracht, daO ich mit dem 32Sten Hundposttage fertig bin, eh Spitz 

30 mit seinem Freudenpokal am Halse iiber das indische Meer ge- 
setzt ist - Und da ich ohnehin nach der capitulatio perpetua mit 
dem Leser (bei der bekanntlich die Fursten- und Stadtebank ins 
Gras beiBet) jetzt einen Schalttag machen mufi : so will ich dazu 
, die Vakanz des Hundes verwenden; aber ich flehe alle meine Tag- 
wdhler und Kunden, die bisher am Springstabe des Zeigefingers 
iiber die Schalttage weggesetzt sind, ernsthaft an, es bei diesem 



1024 HESPERUS 

nicht zu tun, erstlich weil ich erbotig bin, mich erschieBen zu 
lassen, wenn ich in diesem Schalttage mein obwohl unter mehren 
Regierungen bestatigtes Schalttags-Privilegium, die witzigsten 
und tiefsinnigsten Sachen vortragen zu diirfen, nur im get ingsten 
exerziere - und zweitens weil der Hund schon am Schalttage in 
den Hafen laufen und mir Fakta bringen kann, die ich nicht im 
33sten Hundtage auftische, sondern schon am - VIII. Schalttage 
oder an der VIII. Sansculotide. 

~- Der Inhalt davon ist, gleich der Gegehwart, ein toller Vor- 
bericht von der Zukunft. - 10 

Ich muB sagen, wenn erstlich Bellarmin (der katholische Vor- 
fechter und Kontradiktor) behauptet, jeder Mensch sei sein eigner 
Erloser - woraus meines Erachtens folgt, daB er auch seine eigne 
Eva und Schlange fur seinen antiken Adam ist - wenn zweitens 
die Feder eines auBerordentlich guten Autors eine Lichtputze der 
Wahrheit ist, so wie umgekehrt dem Herrn von Moser im Gefang- , 
nis die Lichtputze die Feder war - wenn drittens der Despotismus 
statt der lebendigen Baumstamme zuletzt (denn er sagt in die Welt 
hinein wie blind) den Thron-Sagebock selber zersagen kann - 
ferner muB ich sagen, wenn viertens jede Handlung (sogar die 20 
schlimmsten) wie Christus zwei unahnliche Geschlechtregister 
hat — wenn vollends funftens ein und der andere Rezensent sein 
kritisches Auge, womit er alles besieht, nicht auf dem Scheitel- 
Wirbel tragt (wie etwan Muhammeds Selige, um die Schonheiten 
nicht zu sehen), noch wie Argus hinten und vornen, sondern 
wirklich vornen gleich unter dem Magen iiber dem Gedarm mitten 
im Nabel, wenn dieser Mann noch dazu kein anderes Herz besitzt 
als das leinene, das die Nahterin unten im Winkel des Hemdjabots 
einflickt und das auf der Herzgrube aufliegt, die man gescheuter 
die Magengrube nennen sollte - endlich muB ich sagen (wenig- 3<= 
stens kann ichs), wenn sechstens wahrer Zusammenhang, strenge 
Paragraphen- Verkettung vielleicht die groBte Zierde und Seele 
der ungebundnen Rede ist, die aber einem gebundnen Klaviere 
gleicht, und wenn daher der Verstand, wie eine epische Hand- 
lung, am Ende der (rhetorischen und der Zeit-) Periode anfangen 
muB, weil sonst gar keiner daware : . . 



32. HUNDPOSTTAG IO25 

- Es wird aber auch keiner mehr kommen. - Aber jene vler 
Punkte sehen wie die Hasenfdkrte im Schnee aus. - Kurz: der 
Spitzhund, unser biographischer Handlanger und Spediteur, liegt 
schon unter demTische und hat einige elysische Felder und Him- 
melreiche abgeladen. - Da ich ohnehin im obigen nicht ganz 
wuBte, was ich haben wollte (ich will nicht gesund vor dem Publi- 
kum sitzen, wenn ichs gewuBt): so erwies mir der Hund einen 
wahren Liebedienst, daB er dem Perioden den Nachsatz-Schwanz 
sozusagen gar abbiB. Es war ohnehin metn Plan, blbB so lahge 

10 Hasenspriinge zu machen in einem ellenlangen Perioden, bis der 
Hund mir die Angst uber die Zweifelhaftigkeit der Pfingstreise 
benommen hatte. - Oberhaupt wollt* ich nie Worte und Gedanken 
miteinander aufwenden, sondern diese sparen, wenn ich jene ver^ 
tat; Peuzer schrieb langst an die Regensburger und Wetzlarer: 
viele Gedanken brauchen einen kleinen WortfluB, aber je groBer 
der Bach ist, desto kleiner kann das Miihlrad sein. - Einen recht- 
schaffenen Rezensenten krankt ein lakonisches Buch auch schon 
darum (nicht bloB weil das Publikum es nicht versteht), weil ein 
Deutscher ja an den Juristen und Theologen die besten Muster 

20 vor sich hat, weitschweifig zu schreiben, und zwar mit einer Weit- 
lauftigkeit, die vielleicht - denn der Gedanke ist die Seele, das 
Wort der Leib - unter den Worten jene hohere Freundschaft der 
Menschen stiftet, die nach Aristoteles darin besteht, daB eine Seele 
{ein Gedanke) in mehrern Korpern (Worten) zugleich wohnet. - 

- Ich hebe Viktors Vigilie, den heiligen Abend vor Pfingsten, 
jetzt an. Es war schon Sonnabend - der Wind ging (wie die Wis- 
senschaften) von Morgen - das Quecksilber sprang in der Baro- 
meterrohre (wie heute in meinen Nervenrohren) fast oben hin- 
aus. - Flamin war friedlich von seinem Freunde am Freitage 

jo geschieden und kehrte vor fiinfTagen nicht zuruck.- Viktor will 
morgen, am ersten Pfingsttag, vor der Sonne aufbrechen, um am 
dritten wieder zuriickzukommen, wenn sie in Amenka aussteigt. - 
(Ich wollt', er bliebe langer.) - Es ist ein schoner blatter Montag 
in der Seele (jeder blaue Tag ist einer) und eine schone Dispen- 
sation von der Trauerzeit des Lebens, wenn man (wie mein Held) 
das Gluck hat, an einem heiligen Abend, unter dem Gebetlauten, 



1026 HESPERUS 

und wenn der Mond schon iiber die Hauser herauf ist, vor den 
Aussichten in die schonsten Pfingsttage und in die schonsten 
Pfingstgesichter, ruhig und schuldlos in Zeusels Erker zu sitzen, 
alle Voressen der Hoffnung anzuschneiden, alle Vorsteckrosen 
und Anzeigen des schonsten Morgens zu sammeln und unter den 
larmenden Budenvorspielen des Festes den zweiten Teil der Mu- 
mien gerade in den Freudensektoren zu lesen, wo ich meinen und 
Gustavs Einzug in das himmlische Jerusalem zu Lilienbad ab- 
zeichne. — Alles das hatte, wie gesagt, der Held,... 

Aber als er, der zwischen seiner Pfingstreise und jener Badreise ic 
im Buche so viele Verwandtschaft ausfand, endlich mit seiner be- 
wegten Seele an die Zerstorung jenes Jerusalems kam : so sagte 
er mit dem ersten traurigen Seufzer fur heute : »0 du gutes Schick- 
sal, ein solches Schlachtmesser lege nie am Herzen meiner Klo- 
tilde an : ach ich stiirbe, wenn sie so ungliicklich wiirde wie Beate.« 
— Und er dachte weiter nach, wie die roten Morgenwolken der 
Hoffnung nur schwebender erhohter Regen sind und wie oft der 
Schmerz der bittere Kern der Entzuckung ist, gleich dem goldnen 
Reichsapfel des deutschen Kaisers, der zwar 3 Mark und 3 Lot 
schwer ist, aber innen mit Erde ausgefiillet... *< 

Beim Himmel! wir versalzen uns da alle mit Nachtgedanken 
den heiligen Abend ohne Not, und es weiB keiner von uns, warum 
er so seufzet. - Ich habe ja das ganze Pfingstfest schon kopeilich 
vor mir, und es steht kein einziges Ungliick darin, es miiBte denn 
Viktor noch einen vierten Pfingsttag als Nachsommer anstoBen, 
und in diesem miiBte es etwas absetzen. Ich gestehe es, ich bin 
gern asthetischer frere terrible und setze der Welt, die in meine 
unsichtbare Mutter-Loge sich hineinlieset, gern den Degen auf 
die Brust und dergleichen Streiche mehr - das kommt aber davon, 
weil man in der Jugend Werthers Leiden Heset und besitzt, von 3 
welchen man, wie ein MeBpriester, ein unblutiges Opfer veran- 
staltet, ehe man die Akademie bezieht. Ja wenn ich noch heute 
eiruen Roman verfaBte : so wurd' ich - da der blaurockige Werther 
an jedem jungen Amoroso und Autor einen Quasichristus hat, 
der am Karfreitage eine ahnliche Dornenkrone aufsetzt und an 
ein Kreuz steigt - es auch wieder so machen .... 



32. HUNDPOSTTAG IO27 

- Aber es ist Zeit, da 6 ich mein Maienthal offne und jeden ein- 
lasse. Ich will nur nicht langer verheimlichen, daB ich gesonnen 
bin, dieses ganze Paphos und Rittergut an den Leser gar zu ver- 
schenken, wie Ludwig XI. die Grafschaft Boulogne der hei- 
ligen Maria zuwarf. Ich gedenke dadurch vielleicht iiber andere 
Schriftsteller, die ihren Lesern nur ihre Kiele bescheren, ebenso 
weit vorzustechen als der Konig iiber den alten Lipsius, der der 
Maria nur seine silberne Feder vermachte. Anfangs wollt' ich 
dieses Elysium mit seinen dreimahtigen Wiesen und Nadelholr 

10 zern selber behalten, weil ich im Grunde ein armer Teufel bin und 
wirklich nicht mehr einzunehmen habe als ein Prinz von Wurt- 
temberg sonst, namlich 90 fl. rhn. Apanage und 10 fl. zu einem 
Ehrenkleide, und weil ich mir auf die mir von Gott und Rechts 
wegen zustandigen zwei Quadratmeilen Landes - dehn soviel 
wirft die ganze Erde bei ihrer gleichen Zerschlagung nach einem 
guten Teilplane auf den Mann aus - wahrlich so wenig Rechnung 
mache, daB ich die zwei Meilen an jeden gern urn einen elenden 
Schaf-Pferch hingeben will. - Und was mich am meisten zuruck- 
zog, diese Schenkung unter den Lebendigen mit meinem Maien- 

10 thai zu machen, war die Sorge, daB ich ein Feudum Leuten, 
Lesern, Landboten, Knasen zuwende, die tausendmal groBere 
Woiwodschaften und Schatullgiiter innenhaben und die man 
aufbringt, wenn man sie der Maria ahnlich macht, die aus einer 
Himmels-Konigin eine Grafin von Boulogne wurde, oder dem 
romischen Kaiser, der zugleich am Krontage ein Mitglied des 
Marienstifts zu Aachen werden muB. - 

Aber was konnen denn alle ihre Majorate - ihre Deutschmeiste- 
reien-ihre Afterlehn-und ihre patrimonia Petri (eine Anspielung 
au£mein patrimonium Pault) - und ihre gro Bvaterlichen Giiter und 

alles ihr auf das Erdenschiff geladne Schiffgut, kurz ihre europa- 
ischen Beskzungen auf der Erde, was konnen, sag* ich, diese Hol- 
landereien Fur Produkte liefern, die vor den maienthalischen nur 
von weitem bestanden? Und wachsen auf ihren Kronengutern 
himmelblaue Tage, Abende voll seliger Tranen, Nachte voll 
groBer Gedanken? - Nein, Maienthal tragt hohere Blumen, als 
die das Vieh abreiBet, schonere Hesperiden-Apfel, als die Obst- 



1028 HESPERUS 

kammern bewahren, iiberirdische Schatze auf unterirdischen, 
Eden-Kompetenzstiicke, wie Klotilde und Emanuel sind, und 
alles, was unsre Traume malen und unsre Freudentranen be- 
gieBen. — 

- Und eben dies entschuldigt mich, wenn ich das maienthalische 
Freuden-Tafelgut tausend Mitwerbern abschlage, wenn ich als 
dessen Lehnprobst mit diesem schwabischen Schupflehn nicht 
belehnen kann solche Leute, die auch zu keinem eigentlichen Feu- 
dum taugen, moralische Blinde, Lahme, Minderjahrige, Ver- 
schnittene etc. - Und hier muB ich mir viele Feinde machen, wenn 10 
ich aus den Vasallen und Mitbelehnten, denen man das Maienthal 
mit alien seinen poetischen NutznieBungen zu Lehn gibt, nament- 
Hch alte Salbader ausstoBe, die den Rittersprung der Phantasie 
nicht mehr tun konnen - 47 Scheerauer und 103 Flachsenfinger, 
deren Herzen so kalt sind wie ihre Kniescheiben oder wie Hund- 
schnauzen - die groBten Minister und andere GroBe, an denen 
wie an grofien gebratnen Fleischklumpen bloB die Mitte noch roh 
ist, namlich das Herz - V« Billion Okonomen, Juristen, Kammer- 
und Finanzrate und Plus-, d. h. Minusmacher, in denen die Seele, 
wie an Adam der Leib, aus einem ErdenkloBe geknetet worden, 2c 
die einen Herzbeutel haben, aber kein Herz, Gehirnhaute ohne 
Gehirn, Pfifflgkeit ohne Philosophic, die statt des Buchs der Na- 
tur nur ihre Manualakten und Steuerbucher lesen - endlich die, 
die nicht Feuer genug haben, um vor dem Feuer der Liebe, der 
Dichtkunst, der Religion zu entbrennen, die statt weinen greinen 
sagen, statt dichten reimen, statt empfinden rasen.... 

Bin ich denn toll, dafi ich mich hier so erbose, als wenn ich 
nicht auf der andern Seite das schonste Leser-Kollegium, das ich 
zum primus adquirens des maienthalischen Manner- und Kunkel- 
lehns erhebe, vor mir hatte; eine mystische moralische Person, 3 < 
die es einsieht, daB der Nutzen nur eine niedrigere Schonheit und 
die Schonheit ein hoherer Nutzen 1st? - Es ist alien Empfindungen 
eigen (aber nicht den Einsichten), daB man sie nur allein zu haben 
glaubt. So halt jeder Jiingling seine Liebe fiir eine auBerordent- 
liche Himmelerscheinung, die nur einmal in der Welt sei, wie der 
Stern der Liebe, der Abendstern, oft einem Kometen gleichsieht. 



33- HUNDPOSTTAG IO29 

Aber es wird nicht lauter Flachsenfinger und Hollander geben, 
die auf die Alpen steigen, weniger um groBe Gedanken und Er- 
hebungeriy als um Sedes 1 zu haben, oder zu SchifFe gehen, nicht um 
auf das erhabne Meer den Blick des Dkhters zu werfen, sondern 
um die Schwindsucht zu verfahren . . . Sondern es wird uberall in 
jedem Marktfleck, auf jeder Insel schone Seelen geben, die der 
Natur am Busen ruhen - die die Traume der Liebe achten, wenn 
auch sie selber aus ihren eignen wach geworden - die mit rauhen 
Menschen umpanzert sind, vor denen sie ihre Idyll en phantasien 
10 iiber das zweite Leben und ihre Tranen iiber das erste verhiillen 
miissen - die schonere Tage geben, als sie empfangen - diesem 
ganzen schonen Bunde mach' ich das verschenkte Feudum von 
Maienthal, wovon schon so viel Redens war, endlich auf und gehe 
als beleihender Lehnhof mit einigen Freunden und Freundinnen 
und meiner Schwester vorn an der Spitze voran hinein. 

Nachschrift oder eigenhandige Dispensationbulle. Der Berg- 
hauptmann kann nicht leugnen, daB der S. T. Verfasser dieser 
Lebensbeschreibung dadurch,daB derHundfaulist,und daB diese 
Posttage voluminoser sind, und daB er in diesem Kapitel gar zwei 
20 in eines zusammengeschmolzen hat, hinlanglich bei denen ent- 
schuldigt ist, die das Recht haben, ihn zu fragen, warum er erst in 
der Mitte des Septembers oder Fruktidors den 32sten Posttag hin- 
ausgebracht. Vier Monate weit sitzet er noch mit seiner Beschrei- 
bung von der Geschichte ab. 1793. 

J. p. 



Erster Pfingsttag 
(3 3 . Hundposttag) 

Polizeiordnung der Freude - Kirche - der Abend - die Bliitenhohle 

Viktor war am Pfingstmorgen kaum aus seinem Schlafe, obwohl 
nicht aus seinen Traumen erwacht: so sagte ihm das Leisereden 
30 aller seiner Gedanken, die elysische Stille durch sein ganzes Herz, 
1 Nach Scheuchzer sind Alpen die beste Arznei gegen Verstopfung. 



IO30 HESPERUS 

daB heute seine Sabbatwochen angehen. Ohne Vorwiirfe und Vor- 
satie eines Fehltritts, ohne einen Seufzer seines Gewissens ging er 
unschuldig der Freude und der Liebe entgegen. Je zarter und 
weicher eine Blume der Freude ist, desto reiner muB die Hand 
sein, die sie abbricht, und nur tierische Weide vertragt den 
Schmutz; so wie diejenigen, die den Kaisertee abpfliicken, sieh 
vorher alle grobe Kost versagen, um das gewiirzhafte Laub unbe- 
sudelt abzunehmen. - Viktor hatte drauBen kaum Morgenrote 
genug, um auf seiner breiten Stundenuhr vom Zeidler Lind die 
erste Stunde seines Sabbats zu sehen; aber diese Uhr, der Schritt- 
zahler auf dem so schonen Lebenswege des Bienenvaters, und der 
Friihgottesdienst der Natur, der in Stille besteht, machten seinen 
Vorsatz fester, sein jetziges Leben dem zweiten nach dem Tode 
als einen stillen, kiihlen, gestirnten Friihlingmorgen vorauszu- 
schicken. 

»Bei euch schwor' ich«- sagt* er, als nach und nach immer mehr 
Lerchen aus ihrem Tau mit Singen in die Morgen-Hora stiegen - 
»ich will, sogar in der Freude, gelassen bleiben ganze dreiBig 
Jahre lang in einem fort, wenigstens drei ganze Pfingsttage - ich 
will ein Universitat- und Hausfreund, aber nicht ein Werther- : 
scher Liebhaber der Freude sein - Handelt nicht der Mensch, als 
miiBte sein Lebensteigeine Brticke zusammengeschobener Honig- 
waben sein, durch die er mottenartig sich durchzukauen habe, als 
waren seine Hande nur zwei Zuckerzangen der Lust? - Ich will 
wieder meinen Freuden und meinen Schmerzen den Scherz als 
einen Zaum anlegen. Die warmen Tranen der Melancholie, be- 
sonders die der Entziickung, eine Art heiBer Dampfe, die starker 
treiben und zersetzen als SchieBpulver und papinische Maschinen, 
will ich wohl noch vergieBen, aber vorher ein wenig kiihlen. - 
Und wenn ich Klotilde nicht jeden Vormittag ansichtig werde: = 
so will ich bloB sagen : ein Mensch kann nicht immer im dritten 
Himmel sein, er muB auch zuweilen im ersten ubernachten.« — 
Er hat vielleicht mehr Recht als Kraft; aber es ist wahr, die Ge- 
sundheit des Herzens entfernet sich gleich weit von hysterischen 
Zuckungen und von phlegmatischer Erstarrung, und die Ent- 
ziickung grenzet naher an den Schmerz als die Ruhe. Aber keine 



33- HUNDPOSTTAG IO31 

' Ruhe und Kalte ist>etwas wert als die erworbene - der Mensch muB 
der Leidenschaften zugleich fdkig und mdchtig sein. Die Ober- 
stromungen des Willens gleichen denen der Flusse, die alle Brun- 
nen eine Zeitlang verunreinigen; nehmet ihr aber die Fliisse weg, 
so sind die Brunnen auch fort. - 

Das Morgenrot deckte eine feme Sonne nach der andern zu; 
und als endlich die nahe aufgegangen war oder vielmehr die Na- 
tur : so konnte Viktor - sehen und lesen und mein Werk (die be- 
kannten Mumien) aus der Tasche ziehen. Ein Buch war fur ihn in 

10 der treibenden freien Natur eine Gartenschere seiner uppig auf- 
schieBenden Traume und Freuden, Dieser mit einem ganzen 
Friihling prangende Morgen, dieses Schimmern auf alien Bachen, 
dieses Summen aus Bluten in Bliiten, dieses hangende blaue Meer, 
wortiber die Sonne wie ein Bucentauro schifTte, um auf den Meer- 
grurid der Erde den Vermahlungring zu werfen, eine solche Ge- 
genwart wurde neben einer solchen Zukunft schon in der dritten 
Stunde ihm die Kraft genomnien haben, seiner neuen Staatver- 
fassung zufolge iiber seine Wonne zu regieren und immer soviel 
Ruhe zu bewahren, als zur Mittettinte zwischen einem entziickten 

20 und einem truben Tage notig ist - ich sage, er wiirde das nicht 
vermocht haben ohne seinen Lebensbeschreiber, ich meine, wenn 
er nicht mein Buch vorgenommen hatte, in dessen zweiten Teile 
er noch den Schulmeister Wut^ zu lesen hatte. Aber dieses ge- 
lehrte Werk setzte — getrau* ich mir ohne Eigendunkel zu schmei- 
cheln - seiner Entziickung die ordentlichen Grenzen. Denn so - 
indem er lesend ging (wie andere, z. B. Rousseau und ich, lesend 
essen und bald aus dem Teller, bald aus dem Buche einen Bissen 
nehmen) - indem er dem Leben des Schulmeisters so lange zu- 
schauete, bis ein neues Tal aufging oder ein neues Waldchen - 

30 indem er bald diesem abgedruckten Kantoi*, bald einem lebenden 
zuhorchte, vor dessen Pflngstliedern er vorbeiging: so konnte er 
seine Ideen bei alien ihren Rondos und Rosselsprungen in einer 
solchen schonen Ballordnung und Kirchenzucht erhalten, daB er 
so gliicklich war als der gelesene Wutz. Ich schrie ihm noch dazu 
in einem fort aus meinen Mumien zu, gescheit zu sein und auf 
mein Schulmeisterlein als einen Flugelmann der Freudenhand- 



IO32 HESPERUS 

griffe achtzugeben und jeden Tag, jede Stunde aus^ukernen. »Ich 
bin ohnehin verdammt,« (sagt* er) »wenn ichs nichttue: ist denn 
nicht, du guter Gott, schon das Gefiihl des Daseins ein stehendes 
Vergniigen und der erste siiBe ImbiB nach jedem Erwachen?« - 
Er dachte zwar daran, daB die Kultur uns Brillen gebe und dafiir 
die Zungenwarzchen nehme und uns die Freuden durch bessere 
Definitionen derselben vergiite (so wie der Seidenwurm als Raupe 
Geschmack, aber keine Augen, und als Schmetterling Augen ohne 
jenen hat), er gestand sich zwar zu, er habe zu viel Verstand, um 
soviel Vergniigen zu haben wie der Auenthaler Schulmann Wutz, 10 
und er philosophiere dazu zu tief; aber er bestand auch darauf : 
»eine hohere Weisheit miisse doch (weil sonst der Allweise der 
Allungliickliche sein miiBte) wieder aus dem schwiilen Horsaal- 
Parterre den Weg in ein Blumenparterre finden. Hohe Menschen 
tragen wie die Berge den siiBesten Honig.«... 

Ob er gleich schon im letzten Dorfe, gleichsam der Vorstadt 
von Maienthal, auslauten horte: so erziirnte er sich doch nicht 
iiber die Verspatung des Eintritts. Ja um sich selber zu zeigen, er 
sei der Philosoph Sokrates, schritt er mit FleiB trager fort und 
libierte nicht wie der Athener den Freudenbecher, sondern fiillte 20 
ihn gar noch nicht. »Werde immer«, sagt' er zu einem aus Lilien- 
Samenstaub zusammengelaufenen Wolkchen, »vor mir friiher 
iiber die Guten geweht, du Wolkensaule vor dem gelobten Land! 
— Und dein kleiner Schatten silhouettiere ihnen den festern, der 
trager nachkdmmt und den das Himmelblau spater einsaugt!« - 
Und eh' ihn der herumgekrummte FuBsteig vor das mit Blumen 
behangne Tor des Tals stellte, worin die geliebte Wiege und 
Baumschule seiner schonen dreitagigen Zukunft stand; so hielt 
ihn noch eine zugeknopfte Distel auf, um deren versiegelte Honig- 
gefaBe ein weiBer Schmetterling seine dritte Parallele zog - und 3c 
die musivischen Disteln auf Le Bauts Diele traten vor ihm ins 
Leben und zeigten ihm die Stacheln der Vergangenheit; da fand 
er es jetzt unbegreif lich, wie er seine Schmerzen ertragen konnen, 
und leichter, den Freudenhimmel zu tragen 

Er zog Linds Uhr heraus, um die Geburtstunde seiner Honig- 
und Flitterzeit zu wissen - gerade um 1 1 Uhr trat er vor das nette 



33- HUNDPOSTTAG IO33 

Dorf, vor das Treibhaus seines Himmels, vor die Pflanzstadt sei- 
ner HofFnung, vor Eden .... Ach das sauselnde, in Lauben ver- 
wachsene Dorfchen schien alle seine bliihenden Zweige als Arme 
um ihn zu legen und ihn an sich zu stricken ; es war grim und weiB 
und rot - nicht angestrichen, sondern uberlaubt und uberbliiht. 
Und als er unter dem Auslauten - um sich die Umarmung seines 
Emanuels geizig aufzusparen, und um den maienthalischen Kir- 
chengesang mit einem von der Natur geoffneten Herzen zu be- 
schleichen - in das lange saubere Dorfchen sich stahl und den 

10 Freundschaftzoll auf eine Minute bei Emanuels Hause umfuhr: 
so war ihm, als wenn sein stillfrohes Herz sich in den stillen Gassen 
mit den Vogeln auf den die Fensterscheiben vergitternden Kir- 
schenzweigen wiegte und mit den Bienen in den Kirschenbliiten 
schwankte. »Komm nur herein, « (schien alles zu sagen) »du guter 
Mensch, wir sind alle gliicklich, und du sollst es auch werden.« - 
Er trat an die blanke Kirche, deren blendende Obertunchung dem 
Himmelblau durch den Abstich ein erhabenes Dunkel zuwarf, 
und sein pochendes Herz zitterte gliicklich mit der wogenden 
Orgel darin und mit der vor dem Kirchtore raschelnden einge- 

20 rammten Birke und mit dem trocknen, vom Morgenwind gebeug- 
ten Maienbaum mitten im Dorfe.... 

»Aber«, sagt mein Leser, »konnte denn sein Auge so lange die 
schonern Prospekte und sein Herz die geliebtere Schonheit ent- 
raten und statt der Abtei nur die Kirche aufsuchen?« - O er sah zu 
allererst nach jener, und sein Auge lief zitternd um alle Fenster 
seines Sonnentempels; aber da er daran alle offen und leer und 
alle Vorhange aufgezogen antraf: so vermutete er, daB die scho- 
nen Konklavistinnen desselben und darunter die Konklavistin 
seiner Brust da waren, wo er sie suchte — und fand : im Tempel. 

30 Er stieg unter dem Heruntertraben der Kirchganger ungehort 
hinauf in die auBen leer scheinende adelige Frontloge, dieses 
Blumengestell der Stift-Nonnen. Es war heute nichts darin als 
entfallne Birkenblatter; denn die samtlichen Nonnen und die 
Abtissin und Klotilde standen - unten in der Kirche und faBten 
den Altar mit einem Chor von singenden Engeln ein und emp- 
fingen daran das AbendmahL - Mit einem Freudenschauer blickte 



1034 HESPERUS 

er die Konigin seines Himmels an, die so teuer Geliebte und so 
Unverdiente, den glanzenden Engel, der seine Hiille aus Erden- 
schnee mit der himmlischen Warme zu Tranen zerschmilzt, urn 
bald unsichtbar zu werden. — Sein Geist bog sich, als sie kniete: 
»Himmelfrieden trinke« (sagt* er) »aus dem Ordenkelch des gro- 
Ben Menschen, unter dessen Gedanken keine Wolke und kein 
Seufzer war — o der Gedanke, den du jetzo mit so fester Andacht 
anschauestj musse immer leuchtender und unbeweglich wie eine 
Sonne werden -und immer ein warmes Abendlicht iiber die nriide 
Seele werfen!« - Dieser Engel im Trauerkleide zog in seinem In- 10 
nern durch eine Totenauferweckung alle Tugenden seines Le- 
bens und alle Fehle.r desselben herauf und gab jenen einen Him- 
mel und diesen ihre Holle; daher war ef jetzt zu heilig, um eine 
Heilige zu storen durch seine Erscheinung, wenn anders ihr 
ruhendes, nur in fromme Riihrungen eingesenktes Auge, das 
nicht einmal auf die nahern frommen Schonheiten zur Hohen- 
messung der Taille fiel, sich bis zu ihm hatte versteigen konnen. 
Die Birke am ersten Fenster der Empor nahm er als belaubten 
Facher vor; - dieser griine, an seinen Wangen spielende Schleier 
bedeckte seine Aufmerksamkeit und seine Freudentranen vor der 20 
ganzen Kirche. Der Ort, wo er so gliicklich war, schien, nach 
einer Glas-Inschrift zu urteilen, sonst der gewohnliche Stand Klo- 
tildens gewesen zu sein; denn Giulias ihrer war darneben, wie ich 
gewiB weiB, weil auf dem Logenfenster ein von einem Kranz um- 
fafites Gund K eingeschnitten war mit denWorten von Giulia: 
»So vereinen uns die Blumen des Lebens und der Zirkel der Ewig- 
keit.«... 

Viktor schlich ungesehen und fruh sich aus dieser Bilderblinde 
weggestellter Gottinnen fort und trug das von der Liebe gefiillte 
Herz an die offne Brust der Freundschaft - an Emanuel. Er sah 30 
schon dessen Stifthutte im Tempel der Natur - als seine Ent- 
ziickung aufgeschoben wurde durch eine friihere. Julius lag im 
bliihenden Grase, von dessen Wellen bespiilt, und hielt einen Kir- 
schenzweig voll offner Honigkelche in der Hand, um die Bienen 
an sich zu Ziehen und sich an ihrem summenden Schweben iiber 
den Bliiten zu belustigen. Viktor umschlang ihn und vergaB in 



33- HUNDPOSTTAG IO35 

der Entziickung, seinen Namen zu nennen -»Bist du mein Engel?« 
sagte er. - »Ich bin nur dein Viktor !« - »0 komm, o komm!« 
sagte der Blinde, wie ein Wohllaut bebend, und zog den Freund 
zu Emanuels Haus; aber er fuhrte ihn, hinter der Wolke seiner 
Augen, den langern Weg und drehte sich noch dazu bei jedem 
vierten Schritte um zu einer erneuerten Umschlingung. 

Als sie ans Wasserrad kamen, das seine GieBkannen laut auf 
die Blumensaaten ausschuttete und dessen zersplitterte BHtze an 
den Fenstern und an der Stubendecke Emanuels flatterten: so 

10 sagte der Blinde: »Umfasse mich noch einmal recht sehr.« - Aber 
unter dem Getose der Regengiisse und unter der Betaubung der 
Liebe wurden sie von andern Armen als den ihrigen zusammen- 
gedriickt, und die zwei jungen Herzen wurden an ein drittes an- 
gereiht, und der Indier schauete wie ein Gott der Liebe zwischen 
sie und sagte : »0 ihr guten Jiinglinge, bleibet immer so und wei- 
net fort in eurer seligen Liebe! - Sei gesegnet, mein Horion, sei 
willkommen im groBen Fruhling um uns her !« - Und als Emanuel 
und Viktor aneinandersanken, so war es, als ob alle Blumenbeete 
sich vor Wonne niederbogen, als ob alle Wogen Hchter flammten 

20 unter dariiberfliegenden iiberirdischen Blitzen, als ob die Zephyre 
von Seufzern der Liebe anschwollen, als ob hohere Wesen im 
freudigen UbermaBe fliistern muBten: o, ihr guten Menschen, ihr 
liebet ja wie wir! - 

Ein Arm aus einem Paradiesesflusse trug diese Hebende Drei- 
einigkeit hebend in die iibergriinten Zimmer, und hier sah erst 
Viktor, daB der Fruhling auf Dahores Wangen war und der Som- 
mer in seinen Augen, so wie zwolf Wonnemonate in seinem Her- 
zen. Die weifien Trauerrosen auf seinen Wangen, die immer als 
Mauerkronen des Todes dem Johannistage entgegenzubliihen 

30 schienen, waren den roten gewichen — kurz Emanuels Gestalt gab 
die Hoffnung, daB er iiber seinen Tod ein falscher Prophet ge- 
wesen sei. — 

In diesem wehenden Zimmer, dessen goldne Wandleisten Lin- 
denaste und dessen Prachttapeten Lindenblattern waren, und iiber 
dessen Tiir als Turgemalde der Widerschein und die Nebenson- 
nen des schimmernden Wasserrades zitterten, in diesem vom 



IO36 HESPERUS 

Freudenmeere der Natur umbrauseten Eiland von Zimmer, durch 
dessen offne Fenster die Zephyre Schmetterlinge und Bienen iiber 
die Fensterblumen in die Linden warfen, gingen meinem Helden, 
dem noch dazu das Mittaggelaute wie ein Gelaute zu einem Frie- 
denfeste der Erde vorkam, die Blumen der Freude, worin er wa- 
tete, bis an das Herz. - Emanuels Poesie klang ihm in dieser epi- 
schen Berauschung wie Prose; er war gleichsam eingesunken in 
ein Blumengebusch und erblickte oben daruber einen genesenen 
Unsterblichen, der die Blutenuberhiillung auseinanderbog - und 
noch hoher eine ewige Pfingstsonne im endlosen Blau - und naher i 
das SprieBen des Blumenlaubes und das Bienengewimmel dar- 
uber - und eine goldne Morgenrote als Einfassunggewachs rund 
um die ganze bunte rauchende Waldung geschlungen — 

— Beim Himmel! nur in einer unfigur lichen solchen Blumen- 
holzung zu liegen, ware schon etwas — geschweige gar in einer 
metaphorischenl — Viktor war fromm aus Freude, aus Oberful- 
lung still, aus Dankbarkeit geniigsam. Der Anblick des gemein- 
schaftlichen Lehrers gab zwar Klotildens Bilde warmere Farben 
und seiner Seele hohere Flammen, aber seinen Wunschen keine 
Unersattlichkeit und keine Ungeduld. 20 

Emanuel sprach sogleich von dieser geliebten Schulerin; gar 
nicht als ob Klotilde ihm den dritten Osterfeiertag klar erzahlt 
oder als ob Emanuel ihn erraten hatte, sondern dieser unschuldige 
Mensch wuBte nur den Unterschied zwischen Liebe und Freund- 
schaft nicht, und er hatte so gut von sich als von Viktor gesagt, er 
liebe sie. Und eben diese kindliche Unbefangenheit, die einer off- 
nen weiblichen Herzenskammer keine Durchganggerechtigkeit, 
keine Breschen ablauerte, sondern die eignen entbloBte, und die 
keine Gestandnisse erangelte, keine verargte, keine benutzte, diese 
muBte mit dem gordischen Nervenknoten der Sympathie die 30 
scheueste weibliche Seele an eine so ofFne mannliche binden. Ja, 
ich glaube, Klotilde hatte ihre Liebe leichter ihrem Lehrer als 
ihrem Geliebten bekannt. - Da ihm dieser Emanuel nun erzahlte, 
wie er ihr alle Szenen seines vorigen Hierseins vorgemalet habe - 
und alle seine Entziickungen - und sein Gestandnis der Freund- 
schaft fur sie — wie er ihr seine Briefe vorgelesen und wie der 



33* HUNDPOSTTAG IO37 

zweite (jener trostlose in der Nacht des Stamitzischen Konzerts) 
so vieleTranen in ihre Augen getrieben -und da Viktor sah, wie 
sehr sein Freund ihre Liebe wie einen zugehenden Tulpenkelch 
auseinandergehaucht habe: so fachte dieses seine Liebe fur sie, 
seine Freundschaft fur'ihn bis zur Andacht an, und er kiiBte selig 
verlegen den Blinden. Aus dieser verdoppelten Liebe erklart' er 
sich jetzt Klotildens leichte Einwilligung in seine Piingstreise. 

Er hatt* es fiir einen Engels- und Petrus-Abfall von der Freund- 
schaft gehalten, bei Emanuel nicht geradezu anzufragen, wann er 

10 diese Geliebte - der Tugend sehen diirfe. »Jetzt!« sagte dieser, der 
ungeachtet seiner indischen achtenden Milde gegen die Weiber 
die Nasenringe, Bindeschlussel und Dampfer unserer Harams- 
Dezenz nicht kannte. Aber Viktor handelte anders und dachte 
doch ebenso. Er hatte schon im Auslande gefragt: »Warum laBt 
man die elende Reichspolizeiordnung fur Madchen stehen, dafi 
sie z. B. nicht einzeln, sondern immer wie Niirnberger Juden unter 
dem MeBgeleite einer Alten oder wie die Monche paarweise aus- 
wandeln miissen? Nicht etwan als ob mich dies beschwerte, wenn 
ich einen Roman spielte, aber doch, wenn ich einen schriebe, wo 

20 ich mich an das weibliche Marschreglement auf Kosten des kunst- 
richterlichen halten und ein Geleite von Auxiliar-Weibern durchs 
ganze Buch mit mir zum Verhack meiner Heldin herumschleppen 
wurde. MuBt' ich nicht, wenn ich sie nur iiber die Haustiire hin- 
aushaben wollte, mit einer Kronwache von Siegelbewahrerinnen 
neben ihr herziehen? War* ich nicht durch diese verdammte Mit- 
belehnschaft und Kompagniehandlung mit der Tugend - es fehlte 
an einer Proprehandlung - genotigt, meiner Heldin wider alle 
Wahrscheinlichkeit Freundinnen aufzuheften? Ich wiird' es zwar 
einem spanischen Madchen verdenken, wenn sie mir ihren FuB, 

30 und einem tiirkischen, wenn sie ihr Gesicht vorwiese, und einem 
deutschen, wenn es allein zum besten Jtingling ginge; aber eben 
weil die tollsten blauen Geset^ die doch blauer Dunst an blauen 
Montagen werden, zum wahren Sittengesetze fiir sie werden: so 
arger' ich mich iiber die jammerliche Kleinherzigkeit und wiinsche 
nichts verboten zu sehen als das - Walzen und Fallen.«. . . Er hat 
hier vielleicht Satire in petto; denn ernsthaft davon zu sprechen, 



IO38 HESPERUS 

hat diese Heils-Ordnung, da8 sich Madchen bei uns allemal wie 
Gesuche bei Fiirsten in Duplikaten einreichen mussen, offenbar 
die Absicht, sie alle aneinander zu gewohnen, weil sie ihre Freund- 
schaft haben miissen zu Besuchen - zweitens sollen Geschwister 
einander aus den Haaren kommen, weil sie nicht wissen, wenn sie 
einander bediirfen zu Ruckbiirgen ihrer Tugend und zu Sekunda- 
wechseln der Liebe - drittens geben diese Menschensatzungen der 
weiblkhen Tugend durch den kleinen Sitten-Dienst (weil groBe 
Versuchungen zu selten sind) tagliches Religion-Exerzitium und 
hohere Wichtigkeit und verhalten sich wie die Talmudischen Ar- 10 
tikel zur Bibel, wiewohl ein rechter Jude lieber gegen die Bibel als 
den Talmud verstoBt - viertes verdanken wir diesen symbolischen 
Biichern des Wohlstandes die fruhere Bildung des weiblichen 
Scharfsinns, dem wir leider keine andern Gelegenheiten der Auf- 
merksamkeit verschafTen, als die der Schwur auf jene Biicher gibt. 

Viktor tadelte und befolgte zugleich, wie ein gutes Madchen, 
die weiblichen Ordenregeln; der Hof hatte ihn beherzter, aber 
auch feiner gemacht, und unter den Weibern wurd* er wie jeder 
mit dem Linienblatt des Zeremoniells versohnt. Daher wollt' er 
erst am zweiten Pfingsttage sein ordentliches Gesandtenauffahren 20 
bei der Abtissin abtun, da heute alles zu spat war und er uberdies 
in die schonen frommen Bewegungen driiben nicht wie ein Haar- 
stern fahren wollte. Und seine Zufriedenheit sagte ihm ja auch, 
wie wenig die Nachbarschaft eines geliebten Herzens verschieden 
ist von der Gegenwart desselben, die ohnehin nichts ist als bloB 
eine nahere Nachbarschaft. 

Inzwischen uberwand er sich doch so weit, daB er mit seinen 
Zwillingbriidern des Herzens - hinausging ins Kolosseum der 
Natur, ob er gleich sich nicht verbarg, drauBen werd' er den 
Schrecken haben, Klotilden zu begegnen. Und Emanuel ver- 30 
ringerte diese Sorge schlecht, da er ihm gestand, sie sei bisher alle 
Tage mit ihrem verwundeten Leben um die Teiche wie um ma- 
gnetische Heil-Wannen und durch die Flur wie durch Feldapo- 
theken gegangen. - Eilet endlich hinaus,ihr drei guten Menschen, 
ins Jubilaum des Fruhlings, das die Erde jahrlich zum Andenken 
der Schopfung begeht. Eilet, eh* die Minuten auf eurem Leben, 



33- HUNDPOSTTAG IO39 

wie die breiten Wellen auf den zwei Bachen, jetzo noch fliehend 
und schillernd und tonend, zerspringen und ausloschen an einer 
Tranerweide - eilet, eh' die Blumen eurer Tage und die Blumen 
der Wiese von dem Abende iiberzogen werden, wo sie statt der 
Lebens- und Feuerluft nur giftige verhauchen - und genieBet den 
ersten Pflngsttag, eh' er verrinnt! 

- Und er ist verronnen, und ein Sommer liegt heute schon wie 
ein Grab auf ihm; aber die drei lieben Menschen haben geeilt und 
ihn genossen, eh' er sich entfarbte .... Sie wandelten unter die aus 

10 alien Gestrauchen fliegenden Zephyre hinein, welche die Sae- 
maschinen der Blumen sind - sie traten vor die fiinf Taschen- 
spiegel der Sonne, vor die Teiche, da die Fliisse Pfeilerspiegel 
sind und die bunten Ufer die Spiegeltische - sie sahen, wie die 
Natur gleich Christus ihre Wunder verbirgt, aber sie sahen auch 
die Brautfackel des vermahlenden Maies, die Sonne, und eine 
Hochzeitkammer in jedem singenden Gipfel und ein Brautbett in 
jedem Blumenkelch - sie, die Hochzeitgaste der Erde, schlugen die 
Biene nicht weg, die um sie honigtrunken taumelte, und trieben 
die atzende Mutter nicht auf, vor der der junge Vogel mit zittern- 

20 den Fliigeln zerfloB - und als sie auf alle Erdenstufen des ewigen 
Tempels, dessen Saulen MilchstraBen sind, gestiegen waren: so 
sank die Sonne, wie die Gedanken des Menschen, einer andern 
Welt entgegen .... 

Der Springbrunnen im Garten des Endes x y der mitten auf dem 
Abhange des sudlichen Berges sich emporrichtet und hoch uber 
den Berg wegschimmert, trug schon auf seiner kristallnen dunnen 
Saule einen von der Abendsonne zu einem Rubin umgegossenen 
Schaft, und diese glimmende aufgeblatterte Rose zog sich wie 
andere entschlafende Blumen schon zu einer roten Spitze ein - 

30 und die hangenden Marschsaulen der Miicken im letzten Strahle 
schienen zu sagen : morgen wird es wieder schon, geht zuriick, 
ach ihr spielt doch Ianger in der Sonne als wir. - 

1 So hiel5 der Park der Abtei,den der Lord Horion in seinem romantischen 
Geschmack anfangen, aber nicht vollehden lassen, weil er auf die Insel der 
Vereiniguhg fiel. Ich webe die Beschreibung davon nur stiickweise in die 
Begebenheiten ein. 



IO4O HESPERUS 

Sie gingen zuriick; aber als Viktor im Abend die funf hohen 
weiBeri Saulen am westlichen Ende des geliebten Gartens blinken 
sah : wurde sein erhohtes Herz sehnsiichtig und beklommen, und 
er wehrte ihm nicht, zu seufzen : »Gute Klotilde ! ach ich mochte 
wohl dich heute noch sehen, mein Herz ist voll Freudentranen 
iiber diesen heiligen Tag, und ich mochte es wohl ausschiitten vor 
dir.« - Und als der ganze Park der Abtei sich stolz neben den 
Abendhimmel stellte und in ihre Herzen trat: sagte auf einmal 
Emanuel — der sich immer gleich blieb, sogar in seinen Ent- 
ziickungen -: »Ich will es der Abtissin schon heute sagen, damit 10 
Klotilde sich auf morgen freut«, und er trennte sich.... Schoner 
Mensch! der du in vier Wochen aus diesem Blumenfruhling zu 
gehen hoffst in die Sterne iiber dir - du denkst mehr die Unsterb- 
lichkeit als den Tod, dich hat keine drohende Rechtglaubigkeit, 
sondern die indische Blumenlehre erzogen, darum bist du so 
selig; du bist ohne Zorn, wie jeder Sterbende, und ohne Gier und 
ohne Angst; in deiner Seele, wie am Pole, wenn jeden Morgen die 
schwiile Sonne ausbleibt, geht der Mond der iweiten Welt den 
ganzen Tag, die ganze Nacht nicht unter! - 

Viktor fiihrte allein den Blinden nach Haus, und beide schwie- 20 
gen und umarmten sich mit Brudertranen hinter jeder Verhiillung 
und fragten einander weder um die Ursachen der Umarmung 
noch der Tranen. Da sie durchs stille Dorf waren und dem Park 
der Abtei vorbeikamen : sah Viktor seinen Emanuel aus der letz- 
ten Laube in das blendende Kloster treten. Es war ihm, als kennte 
ihn schon jede darin, als miiBt' er sich verstecken. Der Garten der 
Begeisterung sollte in dem Tale nur das Blumenbeet in einer Wiese 
sein und nicht durch grelle Schranken an der Natur zuriickprallen, 
sondern sanft wie ein Traum insWachen durch bliihende, belaubte 
Grenzen in sieiiberhangen und iiberflieBen durch Hopfengarten, 5 o 
durch griine, dicht zusammengeriickte Zaune um Fruchtfelder und 
durch versaete Kindergartchen. Eine weite Kastanien-Saulenreihe, 
von zwei Bachen in Silber gefasset, schloB sich frei und weit 
gegen die funf von Bliiten durchbrochenen Teiche auf. Der nord- 
Hche Berg richtete sich dem Parke gegenxiber wie eine Terrasse 
empor und fiihrte das Eden scheinbar iiber ungesehene Taler fort. 



33" HUNDPOSTTAG 1041 

Viktor wich jedem aufgehenden Fenster des Klosters durch die 
Kastanien aus, unter die er seinen Blinden fiihrte und hinter denen 
er naher und doch unbeobachtet beobachten konnte. Auf dem aus 
griinenden Dachlatten verwachsenen Wetterdach der Allee lag der 
Abend, wie ein Herbst, mit rotem durchfallenden Schimmer. Er 
ging trotz der Gefahr der Ertappung bis in die Mitte, wo die 
Allee in zwei Arme zerspringt; aber hier wahlte er den rechten 
Arm der belaubten Halle, der sich mit ihm vom Kloster wegbog, 
so wie von einer Nachtigall, die mitten im Garten aus einer ge- 

10 heiligten Dornhecke ihre Jungen und ihre Tone aussandte. Der 
Baumgang.tat ihm durch die sanften Entfernungen von den Bra- 
vourarien der gefiederten Primadonna die Dienste einesDampfers 
und Lautenzugs - leise wurd' er von den Kriimmungen, die die 
allmahlkheVerdunkelung und Verengerung der Allee verbargen, 
fortgezogen zwischen den nachfliegenden Tonen der Nachtigall, 
zwischen den dunner durch die Blatter tropfenden Abend- 
strahlen, zwischen den zwei Bachen, die jetzt innerhalb der Kasta- 
niengasse dahinschliipften. - Die Bache gingen enger aneinander 
und lieBen nur fur die Liebe Raum, - Der Portikus senkte sich 

*° defer herein. - Die zerstreuten Blumen der zwei Ufer drangten 
sich zusammen und gingen in Gestrauche uber. - Die Gestrauche 
verwuchsen zur Gartenwand und beriihrten sich anfangs in lose 
und durchsichtig zuhangenden Gipfeln und endlich in finster zu- 
sammengestrickten. - Und die Allee und der unter ihr aufge- 
wachsene Laubengang grunten ineinander hinein, um mit ihren 
zusammenfallenden Blutenhiillen nur eine einzige Nacht zu 
machen. - Dann versperrte in der griinen Dammerung ein Je- 
langerjeliebergespinst und Blutengeniste die Laube, aber fiinf auf- 
steigende Stufen lockten zum ZerreiBen des bliihenden Vorhangs 

30 an. Und wenn man ihn zerteilte : sank man in ein Bliitengekluft, 
in eine enge durchwachsene Gruft, gleichsam in einen vergroBer- 
ten Blumenkelch. In dieser delphischen Hohle der Traume war 
der Polster aus hohem Grase gemacht und die Arme des Sitzes 
aus Bliitenzweigen und die Riickenlehne aus gedrangten Blumen 
und die Luft aus dem Hauche von staubendem Zwergobst. Dieses 
Blumen-Allerheiligste wurde nur von Bienen und Traumen be- 



I O42 HESPERUS 

wohnt, nur von weiBen Bliiten erhellt, es hatte statt des Abend- 
rots nur den Purpur der Nachtviole, statt des Himmelblaues nur 
den, Azur der Holunderbliite, und der Selige darin wurde nur von 
Bienenfliigeln und von den um ihn versammelten funf Miindun- 
gen der Bache in den Schlummer eingesungen, in welchem die 
feme Nachtigall die Harmonika- und Abendglocken des Traumes 
anschlug .... 

— Und da heute Viktor neben dem Blinden die funf Stufen be- 
trat und die aus Bliiten gewobene Tapetentur des Himmels aus- 
einandertat: siehe! da - o der Selige diesseits des Todes! - ruhte 10 
darin eine Heilige mit weinenden Augen, in Philomelens ver- 
klungne Klagen untergesunken . . . Du, Klotilde, warst es und 
dachtest an ihn mit weicherer Seele und mit groBerer Liebe - und 
er an dich mit der erwiderten ! O wenn zwei liebende Menschen 
einander in der namlichen Running begegnen : dann erst achten 
sie das menschliche Herz. und seine Liebe und sein Gliick! - 
Decke, Klotilde, mit keiner Bliite die Tranen zu, unter denen 
deine Wangen erroten, weil sie nur vor der Einsamkeit nieder- 
fallen sollten! Zittere, aber nur vor Freude, wie die Sonne zittert, 
wenn sie aus einer Wo Ike am Horizont herausriickt! Schlage dein 20 
von Blumen verhangnes Auge noch mcht nieder, das zum ersten- 
mal so ruhig geoffnet und mit einem solchen Strom der Liebe an 
den Menschen sinkt, der dein schones Herz verdient, und der alle 
deine Tugenden mit seinen belohnt! . . . . Viktor wurde vom Blitze 
der Freude getroffen und muBte im siiBen Lacheln der Entziik- 
kung erstarren, da die Geliebte hinter dem Blumengewolk wie ein 
Mond hinter einem in voller Bliite stehenden Eden aufging und 
in der weiblichen Verklarung der Liebe einem in ein Gebet zer- 
floBnen Engel glich. 

Der BHnde wuBte noch nichts vom dritten Begliickten. Sie be- 30 
wegte suBverwirrt die Hand nach einem zu diinnen Zweige, um 
sich von der tiefen Grasbank aufzuheben; dem Geliebten war, als 
reiche ihm aus den Wolken des zweiten Lebens diese Hand ein 
zweites Herz, und er zog die Hand zu sich an und sank mit seinem 
stummen iiberflieBenden Angesicht durch die Bliiten auf ihre 
klopfenden Adern nieder. Aber kaum hatte Klotilde beide stam- 



33* HUNDPOSTTAG IO43 

melnd willkommen geheiBen unter dem Heraustreten aus dem 
griinen Klosett: so erschien ihnen der Engel - Emanuel, der aus 
dem Kloster geeilet war, um die Freundin aufzusuchen. Er sagte 
nichts, aber er sah beide mit einer namenlosen Wonne an, um zu 
finden, ob sie sich recht' freueten, und gleichsam um zu fragen : 
»Seid ihr denn jetzt nicht recht gliicklich, ihr Guten, liebt ihr euch 
denn nicht unaussprechlich?« — O, zum Mitleiden gehort nur ein 
Mensch, aber zur Mitfreude ein Engel; es gibt nichts Schoneres 
als den glanzenden Christuskopf, auf welchem das Weglegen der 

io Mosisdecke den stillen frohen Anteil an fremden unbescholtenen 
Freuden, an fremder reiner Liebe zeigt; und es ist ebenso gottlich 
(oder noch mehr), einer fremden Liebe mit einem stumm-gluck- 
wunschenden Herzen zuzuschauen, als sie selber zu haben.... 
Emanuel, dein groBeres Lob wird in verwandten Seelen aufbe- 
halten, aber auf keinem Papier! - 

Auf dem Kreuzwege der Allee teilte sich der schone Bund aus- 
e.inander, und der linke Zweig derselben fiihrte Klotilde neben der 
Nachtigall vorbei in die Wohnung der sanften Herzen zuriick. 
Viktor kam, von der vergroBerten Liebe fur drei Menschen zu- 

20 gleich aufgeloset, in den dunkeln, nur von untergehenden Ster- 
nen erleuchteten Zimmern Emanuels an und fand da einen ge- 
deckten Tisch, den die feine Abtissin dem Gaste oder dem Wirte 
gesendet hatte (well Emanuel abends nur Obst genoB). Man will 
alles mit der Geliebten teilen, sogar die Kiiche. Emanuel ziindete 
nach Ostern kein Licht mehr an. Im Helldunkel, aus Mondsilber 
und Lindengrun zusammengegossen, bliihte das selige Kleeblatt 
unter dem Abendstern. Viktor machte heute durch seine arzt- 
lichen Schilderungen der Nachtkalte den siechen Freund abtriin- 
nig von den Nachtwandlungen und ging nur allein mit dem Blin- 

30 den noch hinaus an die Schlafstatte der verstummten Natur... 
Selig ist der Abend, der der Vorhof eines seligen Morgens ist. 
Der Maifrost hatte die Sterne vom warmen Dunsthauch gereinigt 
und das Blau des Halbhimmels vertieft, um eine schone Nacht 
zum Biirgen eines schonen Tages zu machen. .Alles schwieg urns 
Dorfchen, ausgenommen die Nachtigall im Garten und die rau- 
schenden Maikafer, diese Herolde eines hellen Tages. - Und als 



1044 HESPERUS 

Viktor nach Hause ging mit einem emporgeseufzeten Dank fur 
diese Pfingststunden, von denen jede der andern die Zuckerstreu- 
biichse gab, um die engen Minuten eines stillen Menschen zu ver- 
siiBen; als er vorbeiging vor den gedampften Beichtliedern, die 
hier ein zwolf jahriger Mensch, der morgen das Abendmahl nahm, 
dort einer neben seiner Mutter sang ; und als endlich ein verhauch- 
tes Abendlied aus der Abtei, das gleichsam auf einem einzigen 
Lautenton fortschwamm, den schonen Tag mit einem Schwanen- 
gesang zu Ende fiihrte, und da vom sanften Tage nichts mehr 
ubrig war als dessen Nachhall im Herzen des Glucklichen und im i° 
Abendliede des Klosters, als dessen Widerschein in der ziehenden 
Abendrote am Himmel und in dem befriedigten, noch lachelnden 
Angesicht des schlafenden Emanuels: so sahen in Viktor die 
stummen Freuden wie Gebete aus, die ungestorten Tranen wie 
iiberlaufende Tropfen aus dem Freudenkelch, seine Stille wie eine 
gute Tat und sein ganzes Herz wie die warme Freudenzahre eines 
hohern- Genius. 

Viktor fiihrte den blinden Geliebten Ieise an seine Lagerstelle, 
wo der Traum seine zerriitteten Augen herstellte und ihnen die 
kleinen Landschaften seiner Kindheit mit Morgenfarben heller um ao 
sie stellte. — Er selber legte sich unentkleidet, dem tief herabge- 
riickten Monde gegeniiber, auf die Baustelle unserer schonern 
Luftschlosser, auf den Resonanzboden der Kindheit, wo der 
Morgentraum den geheiligten Menschen aus der Wiiste des Tages 
auf den Berg Mosis fiihrt und ihn schauen laBt in das dunkle ge- 
lobte Land der Ewigkeit 

Der erste Pfingsttag, Heber Leser, hat in diesem Wonne-Drei- 
klang verhallt; aber in diesen drei hohen Festen von Freude wird, 
wie bei denen im Kalender, das zweite noch schoner, und das 
dritte am schonsten. Ich werde mit dem Steigen meiner Feder 3 o 
durch diese drei Himmel gar nicht eilen - ja wenn ich gewiB 
wissen konnte, daB die handelnden Personen in dieser Geschichte 
mein Werk nie zu sehen bekamen, ich wiirde (zur Grenzenver- 
ruckung dieses Edens) gar manches dazumachen, was, naher be- 
sehen, nicht historisch wahr ware. - 



34- HUNDPOSTTAG IO45 

ZWEITER PfINGSTTAG 

(34. Hundposttag) 

Der Morgen - die Abtissin - der Wasserspiegel - stummer InjurienprozeB - 
der Regen und der offne Himmel 

Um zwei Uhr zog der Morgenwind lauter und kiihler durch 
Viktors offnes Zimmer und riittelte schon Tautropfen von ge- 
glattetem Laub, das nahe Blatter-Gefiuster wirbelte sich durch 
seine Ohren in seine Traume. Die Lerche fuhr als Ouvertiire des 
Tages hoch ins Himmelgrau hinauf und lautete das Trommeten- 

10 fest des Morgens ein. Dieser Wecker wurde durch sein Traumen 
zum umherfliegenden Nachhall, das sich mit dem Morgen ver- 
mischte; unter dem sanften Einfallen des nachbarlichen Getones 
schloB er langsam die Augen auf und traumte weiter und tat sie 
wieder zu und erwachte mehr, und der Schlaf fuhr nicht wie ein 
dickes Leichentuch aus Nacht hinweg, sondern wallete wie ein 
Schleier aus Morgenduft empor, und seine Seele schloB sich, ohne 
eine einzige Bewegung mit dem Korper zu machen, mit dem stil- 
len Erwachen eines Blumenkelchs vor dem Morgen ausein- 
ander .... 

io — Jetzt bin ich schon wieder im Sieden und Flammen - und 
doch nehm* ich mir, sooft ich eintunke, vor, die Kunstrichter zu 
gewinnen und mit meiner Feder zu schreiben wie mit einem Eis- 
zapfen. Aber es ist mir unmoglich - erstlich weil ich in die Jahre 
komme. Bei den meisten Menschen hort zwar wie bei den Vogeln 
das Singen mit der Liebe auf; aber bei denen, die ihren Kopf zu 
einem Treibhaus ihrer Ideen machen, geben die Jahre, d.h. die 
Exerziertage darin, der Phantasie wie den Leidenschaften einen 
hohern Wuchs. Dichter gleichen dem Glase, das im Alter bei dem 
Zerfallen bunte Farben annnimmt. — Aber zweitens, wenn ich 

jo auch erst in meinem zwanzigsten Jahre bliihete: so konnt* ich 
doch jetzo nicht frostig schreiben, maBen der Winter vor der Tiir 
ist. Rousseau sagt, im Stockhause brachte er das beste Gedicht 
auf die Freiheit heraus - daher die staatsgefangenen Franzosen 
sonst bessere Prosa daruber schrieben als die freiern Briten - da- 



IO46 HESPERUS 

her dichtete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer meine 
Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieses Silhouettenbrett an- 
pressen und dann abschatten; aber die Phantasie kann nur Ver- 
gangenheit und Zukunft unter ihr Kopierpapier legen, und jede 
Gegenwart schrankt ihre Schopfung ein - so wie das von Rosen 
destillierte Wasser nach den alten Naturforschern gerade zur Zeit 
der Rosenbliite seine Kraft einbiiBet. Daher muBt' ich allemal 
warten, bis ich untreu wurde, eh' ich mit meinem ReiBzeug an die 
Liebe gehen konnte .... Hingegen ein Mensch, der jetzt auf einer 
molukkischen Insel gegen den Nachsommer hin den Fruhling 1 
grundiert und auszeichnet, muB ihn aus den vorigen Griinden und 
noch aus dem neuen, weil der fliegende Sommer der sehnen-er- 
regende Nachklang und die Silberhochzeit des Fruhlings ist, mit 
viel zu hellen Saftfarben den Galerleinspektoren einhandigen. — 

Die bunt ausgenahete Beschreibung von Viktors Aufenthalt 
in Maienthal kann so lang werden wie die von Voltairens seinem 
in Paris, mit deren Ehrensolde der magere SpaBvogel den Miet- 
zins seiner chambres garnies hatte bestreiten konnen. Denn eben 
hat der Hund gar einen vierten Pfingsttag abgeliefert und die tri- 
nomische Wurzel der Freudenpotenz zu einer quadrinomischen 2 
ausgebreitet. Da in dieser Freuden-Quadruplik wiederum kein 
Jammer stent, kein Mord, keine Landplage, sondern nichts als 
Gutes: so fang' ich freudig die ubrigen Bilder dieses Fruhlings in 
meiner dunkeln Kammer auf und schwebe nicht in der Angst, daB 
ich meinen Helden (Knef hat mir alle Pfingsttage ubermacht und 
sendet nur ein kleines Erganzblatt gar nach), wie etwan meinen 
Gustav y aus dem zusammengesturzten Schutt seines Lust- und 
Sommerhauses zu ziehen habe. - 

Emanuel tat vormittags sein Schreibtagwerk in seinen astro- 
nomischen Tabellen ab, um den ganzen Nachmittag mit seinem 3 
Gaste bei der Abtissin zu verbringen; auch trug er ihm eine kleine 
Mitarbeiterstelle bei seinen Blumen an, namlich die Rosmarin- 
bluten auszupflucken und uber das Nelkengestell den Sonnen- 
schirm zu spannen. Bei Emanuel hingen auch in der prosaischen 
Ruhe des Tages immer die Fliigel noch weit unter den Halb- 
flugeldecken hervor. Viktor hielt die Bitten seines Lehrers fur 



34* HUNDPOSTTAG IO47 

Geschenke. Da er draufien am Rosmarin abblattete: so offnete 
die aufgehende Sonne das Ventile des Windes, und dann fingen, 
von ihm angeweht, alle Register der groBen Wesen-Orgel zu 
gehen an, und vor seinem Ohre wogte der Tremulant der Bache, 
schrie das Flotenwerk der Vogel und brauste das zweiunddreiflig- 
fuBige Pedalregister der Waldungen. Ein eingepfarrter kleiner 
Kopf um den andern, der seine zwolf Jahre samt ebensoviel Her- 
kules-Arbeiten des Gedachtnisses zum heiligen Abendmahl trug, 
schlich hinter dem Vater mit einem Kranz-Knauf und iiberhaupt 

10 mit Goldflittern gestickt und aufgesteift vor ihm voriiber. Wel- 
chen schonen zweiten Pfingsttag, der sonst voll Regenwolken ist, 
habt ihr Kleinen jetzt! -Viktor gonnte recht gern der Grandezza 
des Dorfes, d. h. den Vollspannern und dem Schulmeisters-Sohne, 
den Haarformer und Zopfprediger Meuseler, der am zweiten 
Pfingsttag die benachbarten Dorfer frisierte, und der mit seinem 
Puder-Weihwedel die letzte PfingstausgieBung auf die kleinen 
Kopfe betrieb, die der Pfarrer schon sechs Wochen einge- 
feuchtet hatte. Viktors Herz schlug vor Freude, als wenn er ein 
Kind mit darunter hatte oder eins ware, als die bunte gepuderte 

20 Wesenkette mit hiipfenden Flittern, mit hochstammigen Blumen- 
strauBern, mit schwarzgleiBenden geistlichen Musenalmanachs, 
vor dem Kommando- und Hirtenstab ihrer zwei Konsuln, sin- 
gend und besungen und eingelautet und angeblasen durchs Kir- 
chen-Siegtor einzog. - Ach! Kindern steht die Freude noch scho- 
ner wie uns, so wie ein ungliickliches, ein bettelndes, dem das 
Schicksal das erste Kindergartchen zertritt, und vor dessen Augen 
beim ersten Aufschlagen ins Sein nichts hangt als schwarzes un- 
gestaltetes Morgengewolk, unser Herz betriibter macht als der 
Vater desselben neben ihm. - 

30 »Beeret jede Minute eures ersten Triumphtages ab, ihr guten 
Kinder, und ich wollte, die Predigt wiirde recht lang, damit ihr 
den schonen Anzug langer anbehieltet!« sagte Viktor und sah sich 
nach dem Kloster um, dessen Fenster voll unkenntlicher Zu- 
schauerinnen waren; er setzte sich vor, bei der Riickkehr der 
Kinder-Prozession sich unter den Fenstern das mit dem schon- 
sten Inhalt auszusuchen durch ein Taschenperspektiv. - Gehe 



IO48 HESPERUS 

nur, menschenfreundlicher Mensch, der die schonen Seelen liebt 
wie die schone Natur und die kalten ertragt wie die Winterge- 
gend, und der sich nie racht, gehe nur an den Bachen auf und ab, 
weil da der FuBsteig der Fischer ist, und weil du auf deinen dich- 
terischen Ringrennen keinem Bauern nur einen Zwieselwagen 
voll Heu, wie ihn die Kinder aus Haselruten flechten, niedertre- 
ten willst! Fiille den Zwischenraum zwischen dem ersten und dem 
dritten Himmel, wo du mittags nicht mit Abraham, sondern mit 
deiner Klotilde am Tische der Abtissin sitzest, mit einem zweiten, 
namlich mit dem Umarmen der ganzen Natur, die nie holder in " 
die Seele hineinschauet, als wenn auf ihr nicht weit von der Seele 
eine - Geliebte wohnt! - 

Ein Wandelgang zwischen zwei zusammenblitzenden Bachen 
und zwischen ihren Iackierten, von Schaumwurmern beschneieten 
Weiden iiberzog das ganze Innere bis auf jeden Winkel einer 
dunkeln Trane mit Morgenglanz. - Noch dazu schauete Viktor 
immer uber die Wiese hinauf zu Emanuels offnem Fenster und 
HeB sich ein Lacheln von ihm wie eine laufende Welle voll Licht 
herunterwehen. - Noch dazu blieb er nicht da, sondern ging zwei- 
mal hinauf und storte ihn mitten in seinem Schreiben durch ein 20 
kindliches Umfassen. - Noch dazu legt* er seinen Augen Meilen- 
stiefel an und lief uber die ganze, sich hier baumende, dort sich 
biickende, hier leuchtende, dort schattende Landschaft, um eine 
Post- und Reisekarte zu den schonsten Stellen fiir die Nachmittag- 
Spaziergange mit Klotilden schon hier voraus aufzunehmen und 
zu leimen, weil nachmittags die Entziickungen vielleicht die Wahl 
der Entziickungen verfalschen ! - Und so schuf die Natur in sei- 
nem Geiste ihren Morgen und ihren Fruhling noch einmal aus 
dem ErdenkloB des ersten Friihlings, d.h. aus der heiBen Sonne, 
aus dem kxihlen Bache, aus dem Schmetterling, den der Mai aus 30 
der Hiilse schalte, aus den bunten Miicken, welche die gebarende 
Erde aus dem Larvensamen wie fliegende Bliimchen hervortrieb. 
- Da schloB er unter dem Spatzen- und Schwalbengetobe im 
Dorfe und unter dem Feldgeschrei der Lerchen und vor den 
blendenden Wellen der Bache die Augen zu und HeB seine Seele 
in das klingende Meer und in das vom Augenlid gemalte Hell- 



34* HUNDPOSTTAG IO49 

dunkel untertauchen; aber dann ware sein Herz erdriickt worden 
von der Schopfungflut, die iiber dasselbe ging aus alien Rohren 
und Betten und Miindungen des Lebens urn ihn, aus dem ver- 
strickten Geader des Lebensstroms, der zugleich durch Blumen- 
rinnen, durch Baumgassen, durch weiBe Miickenadern, durch 
rote Blutrohren und durch Menschennerven schieBt . . . . er ware 
Freuden-ohnmachtig ertrunken im tiefen weiten Lebens- Ozean, 
den Lebensstrome durchkreuzen und nachfullen, hatt' er nicht 
wie jener Ertrunkne ein Glockengelaute in die Wellen hinunter 

10 gehort,... 

Kurz - die Kirche war aus, und er muBte hinter einen Blatter- 
Jagdschirm gehen, urn, wenn die kleinen Abendmahls-Panisten 
aus der nachorgelnden Kirche und unter dem nachtrompetenden 
Turm vorbeizogen, dann mit dem Taschenperspektiv zuzu- 
schauen, wer zuschaue aus dem Kloster. Klotildens Angesicht 
schwebte, wie durch Magie vorgerufen aus der zweiten Welt, 
dicht am Glase, und er konnte unvertrieben seine Schmetterling- 
flugel um diese Blume schlagen; er konnte frei in ihre groBen 
Augen wie in zwei mit Tauglanz gefullte Blumenkelche sinken. 

20 Er sah nie einen so reinen Schnee des Augapfels um die blaue 
Himmeloffnung, die weit in die schonere Seele ging; und wenn 
sie das Auge in den Garten niederschlug, stand das groBe ver- 
hiillende Augenlid mit seinen zitternden Wimpern ebenso schon 
dariiber wie eine Lilie tiber einer Quelle. Die Liebe fangt sich, wie 
das Zeichnen und der keimende Mensch, beim Auge an. - Da die 
Kinder voriiber waren: so wandte Klotilde ihr Angesicht lang- 
sam und frei gegen Emanuels Laubhutte und schauete mit dem 
weiten sehnsuchtigen Blicke der Liebe heruber.... 

Und mit einer solchen Liebe, die wie ein Herz in seinem Ich 

30 pochte, kam Viktor samt seinen zwei Freunden droben im Kloster 
an. Die Abtissin (ihr Name wird mir gar nicht berichtet, nicht 
einmal ein falscher) empfing ihn mit einem hohen Air, das ihr 
Stand nicht gegeben, sondern gemildert hatte. Ihre Seele wurde 
gekront geboren. Die ** Fiirstin, deren Oberhofmeisterin sie war, 
spielte zuweilen gern das Kind (Kinder erwidern es umgekehrt 
und reprasentieren ihre Reprasentanten) : aber ob sie gleich einen 



IO5O HESPERUS 

dreiBigjahrigen Stolz besaB, so fiel sie doch ihrem Steckenpferd 
in den Zugel, sobald die monarchische Oberhofmeisterin erschien, 
die im ganzen Lande (die Schwanen ausgenommen) den Kopf am 
meisten zuriickbog. Eine Frau wie diese, deren BHcke Thronin- 
signien und deren Worte mandata sacrae caesareae majestatis pro- 
pria waren, hatte aus den Handen der Natur selber die Huldigung- 
miinze und das Throngeruste, um ihren Reichsapfel gegen die 
Schbnheitapfel junger Madchen abzuwagen - eine solche konnte 
die Klotilden beherrschen und formen. Ihre Seele war von drei 
Meistern gemalt: der Hintergrund von der Welt - der Vor- : 
grund von der Kirche - der Mittelgrund von der Tugend. Ihre 
aszetischen Bestandteile setzten sie auf eine sonderbare Weise in 
einige Wahl-Verwandtschaft mit Emanuels indischen. - 

Ich kenne nichts Riihrenders und Schdneres als die weibliche 
Verbeugung aus jener tiefen Achtung, mit der gute Madchen ihre 
Liebe allein zu sagen wagen. - Gliicklicher Viktor ! deine Klotilde 
empfing dich mit so vieler Achtung wie ihren Lehrer. Nur die 
Kokette wird durch die Liebe befehlhaberischer (ein kieselstei- 
nernes Juristenwort!); aber die Stolze wird dadurch bescheiden 
und sanft. - Nie aB er froher als in diesem hellen LustschloB, vor : 
dessen offnen Fenstern ein blauer Horizont und naher brausende 
und mit Musik besetzte Alleen ruhten, als in dieser geputzten 
Orangerie aufbliihender Madchen, anstatt daB ein Gymnasium 
eine Menagerie ist, und ein Schwesternhaus eine Voliere. - Vik- 
tor, der Weiber noch besser zu lenken verstand als Manner, war 
im arbeitenden Ameisenhaufen dieser lebhaften Madchen so ge- 
sund wie in einem Ameisenbad und war ein zweiter Bienenvater 
Wildau, der sich aus dem Immenschwarm bald einen Bart zu- 
sammensetzte, bald einen Muff. Es gehort mehr mannlicher Ver- 
stand zu einef gewissen feinen Galanterie, als die haben, die sie in - : 
ihren Satiren mit der faden vermengen; so wie nur Gebirge den 
suBesten Honig darbieten. Der Ernst muB den Scherz grundieren, 
die Achtung und das Wohlwollen das Lob. Viktor konnte leichter 
vor zwei als vor 32 weiblichen Augen in Verlegenheit geraten, 
welche letzte iibrigens der grobste Donatschnitzer und Germanis- 
mus in der weiblichen Grammatik ist. Er hatt* es langst gelernt, 



34-HUNDPOSTTAG IO51 

die flilchtigen Sake des weiblichen Witzes mit denjixen des mann- 
Hchen zu binden, so wie die- Kunst, in grofien Zirkeln jede Seele, 
jede Raiipe auf das rechte Nahrblatt zu setzen. 

Fur ihn, der einmal gesagt: »Ich wollte, ich hatte wenigstens 
viermal des Jahrs mit Damen zu konversieren, bei denen man so 
viel Tournure anbringen miiBte, daB man gar nicht wiiBte, was 
man wollte, und die fein bis zum Unsinn waren« - fur ihn war 
eine hohe Dame wie die Abtissin, die man seit dem Niederlegen 
ihres Oberhofmeistertums ein klein, klein wenig mit einer Prezi- 

10 osen verwechseln konnte, ein wahres Labsal; denn er konnte ihr 
doch die physiognomischen Fragmente vom Hofe mit tausend 
Wendungen, d.h. ein Vollgesicht durch/wn/Punkte vorzeichnen. 
Aber er hatte dabei die noch edlere Absicht, seine anbetende Auf- 
merksamkeit, sein zuweilen in Gestalt einer Trane ins Auge tre- 
tendes Herz von seiner geliebten Klotilde wegzurufen, um ihr 
eine ganz andere Aufmerksairrkeit zu ersparen als die seinige. Auf 
eine sonderbare Weise zog immer gerade sein satirisches Gefuhl 
seinen ernsten Gefiihlen, seiner erweichten Seele die Mosis-Decke 
ab - er schamte sich namlich keiner Trane, bloB weil er wuBte, 

20 daB ihn seine Laune gegen den Verdacht der Obertreibung und 
gegen den Spotter beschiitzen konnte; so wie wieder umgekehrt 
sein schillernder Witz unter Tranen, wie Phosphor unter Wasser, 
sein Licht aufbehielt und nahrte. - 

Zum Gluck machte jetzt Emanuel, der mitten unter dem Essen 
in den Garten gegangen war, da er wiederkam, den Antrag eines 
Spazierganges. Denn in seiner Seele standen nur groBe Ideen noch 
vom Leben iibrig, wie vom alten Agypten nur Tempel, keine 
Hauser nachblieben; und seine Unwissenheit in kleinen Dingen 
muB kleinen Dtngern lacherlich sein. — Die Abtissin hatte Klotilde 

30 als Unterkonigin der feurigen Nonnen neben sich auf den Thron 
genommen. Viktor stellte mit seiner einzigen Person das kurmar- 
kische Pupillenkollegium unter diesen flatternden Grazien vor. 
Klotilde ubergab den Blinden gerade einem ganzen Tauben- 
Fluge der lebhaftesten Wegweiserinnen, weil sie alle um das 
Bootmanns- und Zeigefinger-Amt beim Blinden warben; sie lieb- 
ten ihn alle wegen seiner himmlischen Schonheit, aber (da er 



IO52 HESPERUS 

die ihrige nicht sah) nur so, wie sie einen schonen Knaben von 
funf Jahren herzen.... Zu einer andern Zeit wiirde Viktor sich 
gewiB umgesehen und fein angespielet haben, daB die Schonhett 
die Blindheit ftihre; aber heute sah er sich nur um aus andern 
Grunden. 

— Endlich war die Insel der Seligen, die schon durch den Nebel 
seiner Kindertraume weit, weit vorgeschimmert hatte, jetzo der 
Boden unter seinen FiiBen, und er machte die Entdeckreisen 
durch seinen Himmel - er und Klotilde schwiegen einige Minuten, 
weil ihre Herzen sanft vor Freude zu wallen anfingen, daB sie end- » 
lich allein nebeneinander und vor der groBen Esplanade des 
Fruhlings standen. Unter dem seligen Lacheln, dem stummen 
Buchstaben der Wonne, und unter zitternden Atemziigen, dieser 
heiligen Sankritsprache der Liebe, waren sie schon am ersten Tei- 
che, iiber dessen Kristallspiegel sich eine Briicke wie vergoldetes 
Laubwerk schlangelt. - Sie stockten in der Mitte dieser glatten 
Mond- und Spiegelscheibe geblendet, weil der Sonnenschirm nicht 
gegen zwei Sonnen auf einmal, die imWasser dazu gerechnet, dek- 
ken konnte; sie kehrten sich halb um und suchten mit den Blicken 
im malenden Wasser das tiefere Himmelblau und zwei stille be- 30 
gliickte Gestalten auf, dieeinander mit ihren feuchten Augen an- 
blickten. O sein Auge ruhte warm in ihrem widergestrahlten, wie 
die Sonne in der unterirdischen Sonne, und sein zitternder Blick 
wurde das lange Beben und Aushalten eines einzigen Tons; denn 
die im Wasser wohnende Gottin sank mit ihren Augen seiner 
Seele entgegen, weil sie die verdoppelte Entfernung seiner Ge- 
stalt benutzen wollte, die sich auf 10 FuB belief. - Um endlich 
das ubermachtige Entzucken zu schliefien, fiihrt' er seine Augen 
weg von dieser Glasmalerei und richtete sie (d.h. er verdoppelte 
es bloB) an das Urbild selber; und das Ineinanderrinnen der 30 
Blicke, das Zusammenzittern der Seelen warf in den engen Augen- 
blick die Gefilde eines langen Himmels. - Und sie sahen, daB sie 
sich gefunden hatten und daB sie sich geliebt hatten und daB sie 
sich verdienten. Unter dem Weitergehen konnte Viktor nur sa- 
gen: »0 mochten Sie so unaussprechlich gliicklich sein wie ich 
heute.« - Und sie antwortete leise, wie ein unter weiche blatter- 



34« HUNDPOSTTAG IO53 

lose Bliiten verhauchter Zephyr so leise: »Ich bin es wohl.«.... 
Ach ich habe mir oft es vorgemalt, wenn wir uns alle einander so 
liebten wie zwei Liebende, wenn die Bewegungen aller Seelen, 
wie bei diesen, gebundne Noten waren, wenn die Natur uns alien 
zugleich den Nachklang ihres bis uber die Sterne reichenden 
Saitenbezuges ablockte, anstatt daB sie nur ein liebendes Paar wie 
ein Doppelklavier bewegt - dann wiirden wir sehen, daB ein 
Menschenherz voll Liebe ein unermeBliches Eden einschlosse, 
und daB die Gottheit selber eine Welt erschuf, um eine zu lieben.- 

10 Aber ich will wieder so schreiben, wie Klotilde sprach, die den 
dichterischen Geist nur durch Taten, nicht durch Worte ofFen- 
barte, gleich Schauspielern, die den Reim und das SilbenmaB 
ihres Dichters im Sprechen zu umgehen wissen. 

Das Dorf oder das Wirtshaus vielmehr gab ihrer Himmelleiter 
eine vierte Sprosse, den vierten Pfingsttag. - Der Englander Kato 
der Altere fuhr heraus, der aus Kussewitz mit einem wandernden 
Orchester Prager Virtuosen von seiner Gesellschaft weggelaufen 
war, urn das Maienthal auch zu sehen. Er konnte nie in seinem 
Leben auf etwas warteh. Er sagte zu Viktor, morgen komm* er 

20 zu ihm, heute beschau* er die besaeten Prospekte, und er passe mit 
der Ouverture der Prager nur auf das Auslauten der Vesperpre- 
digt. Endlich sagt' er ihm, daB Flamin und Matthieu ubermorgen 
verreiseten und wieder zuriickgingen nach Kussewitz und folg- 
Hch da langer verweilten, als sie gewollt. Diese Gegenwart des 
Englandes und die spatere Zuriickkehr des Eifersiichtigen machte 
auf einmal den letzten Willen in Viktor fest, auch den vierten 
Pfingsttag als die vierte Saite auf dieses Freuden-Tetrachord auf- 
zuziehen. Und da an diesem vierten Tage gerade das durch alle 
Heftlein dieses Buchs laufende Ratsel mit dem Engel in die Ent- 

30 zifferkanzlei der Zeit getragen wird, weil Julius den Brief desselben 
Klotilden zum Vorlesen xibergibt: so konnt* er sich weis- 
machen, er bleibe bloB deshalb, und zu sich sagen: »Wunders- 
halber sollte mans doch abwarten, was es mit dem Engel fur eine 
Bewandtnis habe.« - Guter Held! du vermengst jeden Engel mit 
deinem, und ich wuBte nicht, warum nicht!... 

Jetzo lief ein Wolkenschatten liber sie, gleichsam als Vorlaufer 



1054 HESPERUS 

eines dunklern, der ihre Seelen suchte. Denn Viktor, der vor ei- 
nem schonen Herzen niemals seines versperren konnte, der in der 
Heiligung der Liebe alle Verstellung verschmahte, erzahlte Klo- 
tilden mit jener Herzlichkeit, die sich so leicht mit Feinheit ver- 
mahlen laBt, die Ursachen von Matthieus Reise, namlich seine 
eigne kleine Torheit in Kussewitz, wo er der Furstin das ge- 
schriebene billet doux mitgab. Er hatt' ihr auch ohnedas diese Er- 
ofTnung machen miissen, um der fremden eines Anklagers vorzu- 
bauen. Aber er setzte bei Klotilde voreilig die Zeitrechnung seiner 
kleinen Jahrbiicher voraus und merkte nicht an, daB er das Billet 10 
geschrieben, eK er wuBte, daB Klotilde nicht Flamins Geliebte^ 
sondern nur dessen Schwester sei 1 . Sie schwieg lange. Er befurch- 
tete diese Pantomime des Zurnens; und wagt* es nicht, sich davon 
zu uberzeugen durch einen BHck in ihr Angesicht. Endlich bat sie 
ihn an ihrem Lieblings-Grunplatz, wo in der groBten Vertiefung 
des Tals gruner Schatten seine gemalten Zweige im Sonnen- und 
Wasserscheine wiegt, da bat sie ihn weder mit kalter noch stolzer 
Stimme, sondern mit einer fast geriihrten, sie ein wenig auf ihrer 
Lieblings-Grasbank, deren Seitenlehnen groBe Blumen waren, 
ausruhen zu lassen. Als er vor ihr stand : so erblickte er erschrocken zo 
in ihrem beseelten Angesicht - nicht einen mit der Hoflichkeit 
ringenden Groll, sondern - den riihrenden Kampf gegen das 
Schicksal, das ihr den Liebling ihrer Seele verdunkelte, den un- 
eigenniitzigen Schmerz iiber die geschlossene Narbe, die sie aus 
seiner Tugend wegwiinschte. Ihr war, ihm war, als wenn das 
vorige Jahr sich wieder erhobe von seinem Totenkissen aus Freu- 
denblumen, die es beiden ertreten hatte; sie waren recht traurig, 
Klotilde war kaum ihrer Augen machtig und Viktor kaum seiner 
Zunge - bis diesem endlich das MiBverstandnis einleuchtete. Er 
sagte ihr daher leise und auf englisch: »hatte sein Vater ihm alle 30 
seine Eroffnungen friiher gemacht, so hatt* er ihm mehr als einen 
Kampf, mehr als eine triibe Stunde und zuerst die vorige Torheit 
erspart.« 

In der hohern Liebe ist der Zorn nur Trauer iiber den Gegen- 

1 Denn erst als er von Kussewitz zuriickkam, erfuhr er auf der Insel von 
seinem Vater die Verwandtschaft Klotildens. 



34- HUNDPOSTTAG IO55 

stand. Klotilde setzte gleichwohl die Sonnenfinsternis ihrer scho- 
nen Mienen fort - aber es kam nicht von Fortdauer des vorigen 
Seufzers, noch von dem gewohnlichen Unvermogen, eine aus- 
gesohnte Seele sogleich in ein ziirnendes Gesicht zu ubertragen, 
sondern die Unzufriedenheit mit ihrer eignen Voreiligkeit sah 
allemal wie eine mit einer fremden aus. Daher stand sie auf, um 
ihm ihren Arm und gleichsam das nahe liegende Herz wieder zu 
geberi. Viktor erlaubte sich den Bruch des doppelstimmigen 
Schweigens nicht. - Emanuel kam nach, und da sagte Klotilde be- 

10 wegt, als wenn sie erst aufs vorige antwortete: »Ach ich bin mei- 
nem Bruder nur zu sehr verwandt von der Seite meiner Fehler.« - 
Meinte sie Flamins Eifersucht oder Argwohn oder wahrschein- 
Hcher sein Temperament? - Viktor wandte sich zu ihr, um sie 
gleichsam fur das um Verzeihung zu bitten, was sie gesagt - und 
ihre Augen sagten: »o ich hatte dich nicht verkennen sollen« - 
und seine sagten : »ich hatte dich, auch ungekannt, nie verleugnen 
sol!en« - und ihre Herzen machten Frieden, und der Olzweig wand 
zwischen den alten Blumen der Freude ihre Seelen aneinander. 
Emanuel fuhrte sie, als ihr leitendes Gestirn, auf seine lieben 

ao Berge, diese Frontlogen der Erde - nur von seinem Berg mit der 
Trauerbirke wehrte er sie aus unbekannten Griinden freundlich 
ab -; und sein leichtes Aufsteigen gab ihnen die Freude iiber die 
Genesung seines Atems. Endlich kamen sie auf den Thron der 
Gegend, auf den Berg, wo Viktor am Morgen nach der durch- 
reisten Nacht iiber Maienthal geschauet hatte. O wie zog sich die 
lebendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines 
Edens, in so unbandigen, griinenden, atmenden, wehenden Mas- 
sen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eis- 
felder aus Licht! Und sein sanfter Morgenwind schlich sich aus 

30 dem mit Wolkenflor verhangnen Morgentor und spielte mit Him- 
' mel und Erde, mit dem gelben Blumchen und mit der breiten 
Wolke dariiber, mit der Augenwimper unter einer Trane und mit 
durchwuhlten Kornfluren! - Wie wird das Auge so groB, wenn 
gejagte Nachtstucke der Wolkenschatten den hellen Sonnenschein 
der Erde durchschneiden, wie wird das Herz so groB, wenn der 
Morgenwind die geflugelten Schatten bald iiber Berge schleudert, 



IO56 HESPERUS 

bald in Glanzteiche, bald in gebiickte Saaten! - Aber rund auf die 
Walder hatten sich stille Eisberge aus Wolken gelagert. — Ach 
dieses mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieser Wall aus Ne- 
belgletschern stellte ja Viktors Herz in den alten Traum zuruck, 
wo er Klotilde auf einem Eisberg mit ausgebreiteten Armen sah! 
— Ach auf dieser iiber den sudlichen Berg reichenden Felsenspitze 
konnte er die Insel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und 
mit ihrem weiBen Tempel liegen sehen, und das trinkende Herz 
taumelte voll vom gemischten Trank aus Sehnsucht und Weh- 
mut und Liebe. - 10 

Dann sagt' er es ihr gern, daB er an jenem Morgen sie hier ge- 
sehen habe, wo er dem Blinden das Blattchen an Emanuel ge- 
geben, und daB er sich doch ihren Besuch versaget — gib ihm 
nur, Klotilde, den groBen warmen Blick voll Dank fur sein Scho- 
nen deines Bruders, fur sein edles Lieben und fur sein Ober- 
schleiern dieses Liebens! Sie sah ihn an, und als ihr Auge warm 
von einer Trane wurde, neigte sich der Himmel auf einem Son- 
nenwolkchen zu ihnen nieder und beriihrte die verwandten Men- 
schen mit heiBen herunterflatternden Tropfen. — O du gute Erde, 
du gute Natur! Du sympathisierst ofter (und allemal) mit guten 20 
Menschen als oft gute Menschen selber ! - Vor ihn trat der Traum, 
wo Klotildens Tranen den FuBboden in ein hebendes Wolkchen 
zerteilten .... 

Aber der heranziehende Abend und die kleinen herunterrollen- 
den zerrissenen Perlenschnure von Regentropfen riefen die scho- 
nen Menschen in die Zimmer zuruck. Die Madchen, die mit dem 
Blinden nicht einmal den Berg ganz erklettert hatten, kehrten 
schon um und gingen voraus. Emanuel entfernte sich auf seinen 
Trauerberg, um dort seine Blumen dem Regen aufzudecken. Als 
unsere zwei Hebenden Menschen unten im rauchenden Tale an- 50 
kamen: wie himmlisch wurde der Abend und die Erde! - Am 
groBen Abendhimmel iiber ihnen bewegten sichTulpenbeete von 
rotem Gewolke, zwischen denen blaue Streifen wie dunkle Bache 
liefen. — Hinter ihnen standen unter der Sonne Berge wie Vesuve 
in Flammen und die Waldung wie ein feuriger Busch, und das iiber 
die Blumen laufende Steppenfeuer ergriffdie Wolkenschatten. - 



34* HUNDPOSTTAG IO57 

Und alle Lerchen hingen mit ihren Ripienstimmen der Natur nahe 
am roten Deckenstiicke des Abends, und jeder tiefere Sonnen- 
strahl hielt eine summende Wesenkette von Miicken. - Und in der 
Schaferei am Berge liefen rufend hundert Mutter an hundert Kin- 
der zusammen, und jedes Schaf eilte larmend an sein durstiges 
niederkniendes Lamm. — 

GroBer Abend! nur im Tal Tempe bliihest du noch und ver- 
welkest nicht; aber in wenig Minuten, Leser, brechen erst alle 
seine Bluten prachtig auf ! - 

10 Klotilde und Viktor gingen enger und warmer aneinander- 
gedriickt unter dem schmalen Sonnenschirm, der beide gegen den 
fliichtigen Regen einbauete. Und mit Herzen, die immer starker 
schlugen und statt des Blutes gleichsam andachtige Freuden-Tra- 
nen umtrieben, erreichten sie den Park; die warmen Tone der 
Nachtigall zogen ihnen daraus entgegen; die abgewehten Tone 
des musikalischen Gefolges, womit der Englander jetzt uber die 
Berge ging, flossen ihnen wie Blumendiifte nach. — Aber siehe, 
als die Erde noch die Vergoldung im Feuer der Sonne trug, als 
noch der Abendspringbrunnen wie eine Fackel oben brannte, als 

20 in einem groBen Eichenbaum des Gartens, in welchem bunte 
Glaskugeln statt der Friichte eingeimpfet waren, zwanzig rote 
Sonnen aus den Blattern funkelten - da floB eine erwarmte Wolke 
auseinander und tropfte ganz in das Abendfeuer und auf die glim- 
mende Wassersaule .... 

Die den Baumen naheren Nonnen flogen unter das Laub; aber 
Klotilde, die den langsamen Gang schoner und tugendhafter fiir 
eine weibliche Seele fand, ging ohne Eil der nachbarlichen »Abend- 
laube« zu, die uber den Garten erhoben, ihr dichtes Blatterwerk 
nirgends auftut als vor der untergehenden Sonne. - Nein, es war 

30 ein Engel, es war Klotildens Schwester, Giulia, die auf der zarten 
Wolke ruhte und durch sie ihre Freudentranen fallen lieB, um 
ihre Freundin, deren Arm in des Geliebten seinem wie in einem 
Verbande lag, in die glimmende Laube zu drangen, wo zwei selige 
Herzen am seligsten werden sollten. Klotilde verweilte noch unter 
dem Perlen- und Goldsand-Regen und glich den stillen Tauben 
um sie her, die auf alien Dachern ihre reinen Flugel wie bunte 



IO58 HESPERUS 

Regenschirme auseinanderschlugen und dem Bade unterhielten - 
und vor dem Eintritte zog Viktor sie zuriick, der wonnebeklom- 
men sagte: »Du Allgutiger!« und auf Emanuels Laube hinblickte, 
auf welcher die Paradieses-Pforte, aus musivischen Steinen auf- 
gefiihrt, der Regenbogen, sich anfing und sich durch den Himmel 
hiniiberwolbte iiber die Abendlaube und mit dem himmlischen 
Zauberkreis die drei liebenden Seelen einfaBte. 

Und als sie in die dunkle Laube traten, die nur eine kleine OrT- 
nung gegen die durch den Regen hereinbrennende Sonne hatte : 
lag vor der Offnung das Abendgefilde mit den wankenden Feuer- 10 
saulen, zwischen denen der goldne FluB der zerschmolzenen 
Sonne schlug, und mit den Auen, die bis an die Blumen in einem 
Meer von Lichtkiigelchen standen. — Und herabgefallene Regen- 
bogen lagen mit ihren Triimmern auf den Bliitenbaumen. - Und 
kleine Liiftchen wehten das Lauffeuer in den Wiesenblumen an 
und warfen Funken aus den Bliiten. - Und das Menschenherz 
wurde von den Wonnestromen fortgezogen und schwamm bren- 
nend in seinen eignen Tranen. — 

Wie eine Verklarte schauete Klotilde in die Sonne, und ihr An- 
gesicht wurde erhaben zugleich von der Sonne und von ihrer 20 
Seele. Und ihr Freund storte die schone Seele nicht; aber er nahm 
das weiBe Tuch aus ihrer Hand und trocknete die aus der Laube 
tropfenden Farbenkorner, mit Blumenstaub umzogen, sanft hin- 
weg, und sie gab ihm freiwillig ihre Hand. Als sie ihre Augen voll 
Tranen auf ihn wandte: lieB er die Tranen stehen; aber sie nahm 
sie selber hinweg und schauete ihn mit einer Liebe an, iiber welche 
bald die alten zogen, und sagte mit einem Lacheln, das selig 
weiterfloB: »Mein ganzes Herz ist unaussprechlich geruhrt; ver- 
geben Sie ihm, teuerster Freund, heute alles, worin es bisher dem 
Hirigen nicht ahnlich war !« . . . 30 

- Siehe da wurde die warme Wolke in den Garten gleichsam 
wie ein ganzer ParadiesesfluB niedergeschiittet, und auf den Stro- 
men flossen spielende Engel herab .... und als die Wonne nicht 
mehr weinen und die Liebe nicht mehr stammeln konnte, und 
als die Vogel jauchzeten und die Nachtigall durch den Regen 
schmetterte, und als der Himmel freudig-weinend mit Wolken- 



34* HUNDPOSTTAG IO59 

armen an die Erde fiel : ja, dann zitterten zwei begeisterte Seelen 
zusammen und ruheten ohne Atem aneinander mit den zuckenden 
Lippen und Wange an Wange gepresset im gluhenden zitternden 
Schauer - dann quollen endlich, wie Lebensblut aus dem ge- 
schwollnen Herzen, groBe Wonnetranen aus den liebenden Augen 
in die geliebten iiber. - Das Herz maB die Ewigkeit seines Him- 
mels mit groBen wonne-schweren Schlagen - die ganze Sichtbar- 
keit, die Sonne selber war dahingesunken, und nur zwei Seelen 
schlugen aneinander einsam in der ausgeleerten dammernden Un- 

10 ermeBlichkeit, geblendet vom Tranenschimmer und vom Son- 
nenglanz, iibertaubt vom Himmelbrausen und vom Echo der 
Philomele und erhalten von Gott im Ersterben aus Wonne. 

Klotilde bog sich ab, um die Augen abzutrocknen; und ihr 
stummer Liebling sank um und kniete vor ihr und driickte sein 
Angesicht auf ihre Hand und stammelte: »0 du Herz aus meinem 
Herzen, o du ewig, ewig Geliebte - ach konnt' ich fur dich bluten, 
fur dich untergehen -« Plotzlich stand er, wie von einer unermeB- 
Hchen Begeisterung gehoben, auf und sagte Ieiser, sie anschauend : 
»KIotilde! dich, Gott und die Tugend lieb* ich ewig.« 

ao Sie driickte seine Hand und sagte leise: »0 wie konnten die 
Menschen und das Schicksal ein solches Herz verwunden? Aber 
meines, Viktor,« (sagte sie noch Ieiser) »wird ihm nie mehr unrecht 
tun.« — Sie traten aus der Laube - der Himmel hatte sich wie ihr 
Herz erschopft in Freudentranen und war bloB heiter - die Sonne 
war zugleich mit der groBen Minute untergegangen. Viktor ging 
langsanty als wenn er vor einem weiten Elysium vorbeiginge, das 
empfangne Eden auf seinem Herzen tragend, heim in Dahores 
stille Wohnung. Dahore sank, sitzend eingeschlummert, sanft 
hiniiber und heriiber, und Viktor, ob er gleich gern sein Herz an 

30 einer zweiten ahnlichen Brust auspochen lassen wollte, versagte 
sich es doch - und lehnte sich langsam an den wankenden Lehrer. 
Er hielt recht Iange das schlummernde Haupt an seiner brausen- 
den Brust. Sein Freudengewitter kiihlte sich ab zum heitern Him- 
mel, und die erquickten Freudenblumen schlossen die Duft- 
Kelche der Erinnerung auf. Dahore schlug die Arme um seinen 
Liebling, und dann erst wurde er wach: denn es hatte ihm ge- 



IO<5o HESPERUS 

traumt, er umarme ihn, und als er aufwachte, war er froh, da8 es 
lhm nicht bloB getraumt hatte. 

Genug! - Und ihr, ihr Menschen, die ich Hebe, ruht aus an der 
Erinnerung oder an der Hoffnung, wenn ihr wie ich diese kleinen 
Blatter aus den Handen legt! 



Dritter Pfingsttag 
oder 35.hundposttag 
oder Burgunder-Kapitel 

Der Englander - Wiesenball - selige Nacht - die Bliitenhohle 

Bei den Menschen wie bei den Geizigen schlagt es immer nur 10 
Viertel zur frohen Stunde, aber gleich einer schlechten Uhr 
schlagt es die Schaferstunde unserer Hoffnung nie aus. Aber in 
Rucksicht der Pfingsttage ist das grundfalsch - sie sind prachtig, 
und wie man sonst die AusgieBung des Heiligen Geistes in alten 
/ Kirchen durch das Herunterwerfen der Blumen vorstellte: so bil- 
den wir sie in Maienthal durch das Auswerfen figurlicher ab. Ich 
habe daher gar eine Flasche Burgunder aufgesiegelt und neben 
die Dintenflasche gestellt, um erstlich durch mein groBeres Feuer 
in diesem Kapitel die Natur- und Kunstrichter auf meine Seite zu 
bringen, die leichter den Stab uber Autoren als eine Lanze mit 20 
Autoren brechen - und um zweitens iiberhaupt den Wein zu 
trinken, welches schon an sich Endzwecks und Teleologie genug 
ist. Ein wahres Schlaraffenland und Himmelreich hatten wir, wenn 
auch der Leser bei solchen Kapiteln etwas Spirituoses zu sich 
nahme. Betrinkt sich der Autor allein, so geht der halbe Eindruck 
zum Henker; und es ist ein Ungluck, daB die Rezensenten nichts 
zu leben und zu trinken haben; sie konnten sonst mir als einem 
Stern zur Brechung durch ihren Dunstkreis dienen und mich hoher 
und breiter zeigen, als ich stande. 

Viktor war kaum ins nasse Gras des Morgens gelaufen, als er 30 
den Englander mit dem Kopfe unter den GieBkannen des Wasser- 
rades auf jagte. Er vergab diesem Kato dem Altern gern alle seine 
Sonderbarkeiten und das Idiotikon seiner tollen Natur und seinen 



35- HUNDPOSTTAG I06l 

Kometen-Gang; denn er war in seinem achtzehnten Jahr selber 
ein solcher Schwanzstern gewesen und sah diesen fiir eine auf sich 
geschlagene Kometenmedaille an. Obgleich der Brite Sonderbar- 
keit suchtei so wuBte Viktor aus eigner Erfahrung, da6 es nicht 
aus Eitelkeit (man kann, wenn man will, aus alien Handlungen, 
sogar aus den unschuldigsten, Eitelkeit ausziehen, wie aus alien 
Korpern Luft) y sondern aus Laune geschah, fiir welche der GenuB 
einer exzentrischen Rolle, man mag sie lesen oder splelen, ebenso 
viele Reize hat wie fiir das Gefuhl der Freiheit und der innern Kraft. 

10 Eitle erliegen dem Lacherlichen, dem der Sonderling trotzt; und 
jene hassen, diese suchen ihre Ebenbilder. Das einzige, was Viktor 
ihm veriibelte, war, daB er andern kleine Schonungen bloB darum 
nicht erwies, well er auch keine begehrte; und eben dieser vom 
Humor unzertrennliche Krieg mit alien kleinen Schwachen und 
Erwartungen der Menschen hatte dem menschenliebenden Vik- 
tor diese exzentrische Bahn verleidet. Das Ungliick macht daher 
leichter Sonderlinge als das Gliick. 

Ihm gab die Freude iiber die Schilderungen, die ihm Kato von 
Flamins ahnlichen Himmelfahrten und Freudenfeuern machte, 

io den Gedanken ein, seine Quaterne schoner Tage durch etwas 
anders zu verdienen als durch seine vorigen triiben - namlich da- 
durch, daB er auch fremde seinen ahnlich machte. Kurz er redete 
es mit dem altern Kato ab - dems recht lieb war -, die Prager zu 
etwas zu verwenden, namlich abends in der Kuhle damit den 
maienthalischen Kindern einen Wiesen-Ball zu geben. Was hat- 
ten beide dazu notig, als - was sie sogleich taten - in die Tasche 
und in die Borse zu greifen und dem Nachtwachter loci mehr zu 
geben, als das Heu seiner groBen Wiese zu Johannis wert sein 
konnte, die heute zu einem Tanzsaal ausgemahet werden muBte? 

to Der Mann gab sie ohnehin mit tausend Freuden her, weil sein 
Sohn heute - Hochzeit hatte. Die zwanzig Maienbaume, die Kato 
in den Saal pflanzen wollte, standen schon als Autochthonen ein- 
verleibt darin. Und als sie noch bei den Eltern des saubern Dorfes 
- sonst aber gleicht der arme Ackerbauer dem Schweine, das nach 
Alian dessen Ackern erfand - die jungen Tanz-Halften mit der 
grofiten Ernsthaftigkeit - denn Bauern und Damen finden sich 



I06Z HESPERUS 

nicht in Sonderbarkeiten - zusammengebettelt und gepresset hat- 
ten ; so war alles richtig. 

Das befreundete Trio fand am Mittagtische der Abtissin den 
gestrigen Tag. Viktor war iiberall sogleich zu Hause, er blieb 
nicht Gast, damit der andre nicht Wirt bliebe. Man findet sonst 
Madchen selten so wieder, als man sie verlieB, so wie ihr Empfang 
allemal warmer oder kalter ist als ihr Briefchen vorher; aber in 
Klotildens zergehenden Ziigen kiindigte ein unendlicher Zauber 
die Erinnerung von gestern an, wo sie aus zwei Griinden ihr Herz 
alien seinen auf dem Altar der Natur und der Tugend geheiligten ic 
Flammen uberlassen hatte. Erstlich war sie gestern warmer, weil 
sie vorher kalter gewesen im kleinen Zank, den bloB ihr Gesicht 
iiber die Kussewitzer Uhr-Sacjie gehabt; nichts macht die Liebe 
suBer und zarter als ein kleines Keifen und Frieren vorher, so wie 
die Weintrauben durch einen Frost vor der Lese diinnere Schalen 
und bessern Most gewinnen. Zweitens betragen sich in einem 
hohen Grade der Riihrung und Liebe die besten Madchen gerade 
so wie die - guten. 

Ich habe erst drei Kaffeetassen Burgunder zu mir genommen, 
Weil ich zur Karnation und Rotelzeichnung des Nachmittags viel- 20 
leicht nicht mehr brauche - aber o Himmel, die Nacht! - Meine 
Schuld ists nicht, wenn es der Nachwelt nicht zu Ohren kommt, 
daB die meisten nachmittags der Hitze wegen aus dem Garten 
blieben. Aber sie sahen aus den Zimmern die Wiese, den Zimmer- 
platz eines schonen Abends, wo die Kinder schon im voraus her- 
umliefen, das Gras hinaustrugen und mit Hornisten auf Bier- 
hebern das Trommetenfest eroffneten. Es wiirde zu geringfugig 
sein, wenn ichs anmerken wollte, daB mehre Jungen durch ge- 
schossene rote Kappen oder Kronen tot hingestreckt wurden, weil 
sie Hasen vorstellten, der Mutzen-Schiitze Jager und die ubrigen 30 
Windhunde; man kanns aber metaphorisch nehmen, und dann 
wirds satirisch und erheblich genug. 

Die Freude zarter Menschen ist verschamt, sie zeigen lieber ihre 
Wunden als ihre Entziickungen, weil sie beide nicht zu verdienen 
glauben, oder sie zeigen beide hinter dem Schleier einer Trane. 
Viktor war so und sah in jeder Freude seufzend nach Wester^ ich 



35» HUNDPOSTTAG IO63 

weiB nicht, ob er an den Untergang der Sterne und der Menschen 
dachte oder an die Schwarzen, deren Ketten bis in unsere Halb- 
kugel heraufklirren, oder an nahere Wei Be, fur die man die zer- 

sprengten wieder Iotet mit Blur Aber dieses Schauen nach 

seiner Kiblah zwang ihn, seine Entziickung zu verdienen. Die gest- 
rige und heutige war so groB, daB er geriihrt zum Genius der 
Erde sagte: »So groB kann meine schwache Tugend nicht wer- 
den.« - Es half ihm nichts, daB er sich selber vor seinem Gewissen 
herauszustreichen suchte und diesem vorstellte, wie viel schone 

to Minuten und frohe Pulsschlage er hier in diesem Seifersdorfer Tal 
austeile an seine Freunde und an seine Freundin, die durch ihn 
genese, und an die Kinder, die er jetzt schon springen sehe und 
abends noch mehr - es fruchtete beim Gewissen etwas, aber doch 
nicht genug, als er es fragte, ob er denn vor der Spharenmusik 
dieser Tage die Ohren zuhalten sollte; ob er nicht seine Leiden- 
schaften uberwunden habe und ob nicht der groBere Spielraum 
und die groBere Tatigkeit eines Menschen bloB in der groBern 
Zahl besiegter Leidenschaften bestehe, so daB also eine Hof- 
dame, ja sogar ein Konig keinen kleinern Wirkkreis innenhabe 

*o als der nutzlichste Burger; und ob nicht der Mensch wie sehr 
kleine Kinder bloB in die Erdenschule gesendet worden, um 
stille sein zu lernen - aber der eucharistische Religionkrieg des 
alten und neuen Adams. horte bloB durch eine Entziickung auf, 
namlich durch die EntschlieBung, sobald ihm sein Vater die 
Hand- und Beinschellen des Hofes abnehme, mehr zu kurieren 
als der Stadt- und Landphysikus und alles umsonst und meistens 
beiArmen. — 

Nur auf ein Wort, Leser! Tugend kann nicht der Gliickselig- 
keit wiirdig machen, sondern nur wurdiger, weil schon das Dasein 

so uns wie bei den nicht-moralischen Tieren ein Recht an Freude 
gibt - weil Tugend und Freude inkommensurable Grofien sind 
und man nicht weiB, wird ein seliges Jahrhundert durch ein tu- 
gendhaftes Jahrzehend oder dieses durch jenes verdient - weil 
die Jahre der Freude vor den Jahren der Tugend laufen, so daB 
der Tugendhafte statt der Zukunft erst die Vergangenheit, statt 
des Himmels erst die Erde zu verdienen hatte. 



IO64 HESPERUS 

Der Nachmittag lief wie eine lichte Quelle iiber bunte Kleinig- 
keiten wie iiber Goldsand hinuber, iiber kleine Freuden und iiber 
groBe HofFnungen, iiber zarte Aufmerksamkeiten und iiber den 
Blumenstaub wohlwollender Feinheiten, der das beste Heftpulver 
der Herzen ist. Viktor fiihlte, da6 eine Geliebte, die viel Verstand 
hat, der Liebe einen eignen pikanten Geschmack mitteile; sie sel- 
ber fiihlte, daB das llerz, das man mit weichen bekleideten Han- 
den und nicht mit rohen Griffen abgepfluckt, sich besser erhalte, 
so wie sich Borsdorfer Apfel langer halten, die man nur mit Hand- 
schuhen abgenommen. Obgleich nach meinen Tabellen die Liebe * 
gerade am Tage nach dem ersten Kusse am hochsten, namlich auf 
112 Fahrenheit oder io° de Tlsle steht: so war doch mit Viktors 
Liebe zugleich seine Ehrfurcht gestiegen - o die Liebe erhebt, wor- 
in die Gunstbezeugungen nicht kiihner, sondern bidder machen ! - 

Unser Freund fiihlte, wie glucklich in der Freude das Arisich- 
halten mache, und wie sehr der schaumende Freuden-Pokal durch 
einige Messerspitzen hineingeworfnes Temperierpulver sich auf- 
helle und veredle. Nach einem Nachmittag, wo die ganzen Stunden 
reizend waren, ohne daB man einzelne aufierordentliche Minuten 
hatte herausheben konnen - wie die Fasanenfedern nicht einzeln, * 
sondern in ganzen Biischen glanzen — , nach diesem Nachmittag 
zog alles in den Garten, aber Emanuel zuerst. Der Indier vertrug 
wie Grasmiicken keine Zimmer und schwieg darin oder las nur, 
und zwar bloB — was mich nicht wundert - die Trauerspiele 
Shakespeares.... 

Unter dem groBen Abendhimmel, den keine Wolke ein- 
schrankte, taten sich die Seelen wie Nachtviolen auf. Emanuel war 
der Cicerone und Galerieinspektor dieses malerischen Gartens. Er 
fiihrte seinen Freund und die andern zu seinem kleinen Blumen- 
gartchen, das am hochsten im Park lag. Der Park lief namlich den 31 
Berghinab mit/wn/gleichsam aus diesem schubladenweise heraus- 
gezognen Absatzen und Stockwerken. Diese fiinf Ebenen, diese 
eingehauenen griinenden Stufen, hielten ebensoviel verschiedene 
Gartep, Baum- und Staudengarten etc., empor - daher wurde 
durch jeden neuen Standpunkt, wie durch einen Umwandel- 
Spiegel, aus dem alten Garten ein neuer zusammengeruckt. Den 



35' HUNDPOSTTAG IO65 

abschiissigen Park faBten auf beiden Seiten zwei Schlangengange 
hoher, wankender,brennender Blumen wie zwei hinunterwehende 
Treppengelander ein, und hinter jeder Blumen-Schlangenlinie 
ringelte sich oben vom Berge silbernes Geader mit hellem, diin- 
nen, auf- und niederspringenden Gewasser herab 1 , das in der 
Abendsonne eine in aufrechten Windungen daliegende Gold- 
schlange oder Ichor-Schlagader wurde. Auf der obersten letzten 
Terrasse standen einander die Abend- und die Morgenlaube als die 
Pole des Gartens gegenuber, und der Abendspringbrunnen glimmte 

to tiber jener und der Morgenspringbrunnen iiber dieser empor, und 
beide sahen zu einander wie Mond und Sonne heriiber. 

Und gerade an dem Abendbrunnen hatte Emanuel seinen Zwi- 
schengarten. Denn er liebte als Indier physische Blumen wie poe- 
tische, und ihm war im Dezember ein Blumenbuch eine gewiegte 
Blumenau, und ein Nelkenblatterkatalog war fur ihn die Hulse 
und Chrysalide des Sommers. Er fuhrte seine Geliebten auf der 
blumigen Region des Berges durch die unschuldigen Blumen 
hindurch, die wie gute Madchen weder Sonne noch Erdreich 
zum eignen Leben dem fremden nehmen - vor der Goldquaste 

10 der Tulpe vorbei - vor den Miniaturfarben des VergiBmein- 
nicht - vor den bun ten Glocken, die auch wie die lauten in den 
GieBlochern der Erde gegossen werden - vor den Ohrrosen 
des Augusts, namlich den Rosen - vor dem Kato, der nicht 
der lustige Englander, sondern eine ungeflammte Aurikel ist, 
die bei Herrn Klefeker in Hamburg zu haben - vor der ge- 
liebten Agathe, die an die andere in St. Liine erinnerte und die 
eine schone Schlusselblume ist.... 

Endlich kamen sie an die Abendlaube und an Emanuel s Blu- 
men, namlich an schneeweiBe Hyazinthen, in deren Verschattung 

jo der durchstrahlte Abendspringbrunnen eine bleiche Rote tuschte. 
O wie schon, wie schon wehte da die Warme der Abendsonne 
heriiber und die Kiahle des Abendwindes ! - Aber warum sinket, 

1 Man hielt den in Bogen auf- und niedergehenden Silberfaden fur eine 
herunterrieselnde Quelle; aber die Bogen mehrer schief-springender Spring- 
brunnen waren in solche Entfernungen gestellt, daB der eine den andern fort- 
setzte. 



1066 HESPERUS 

Klotilde, dein Auge und dein Haupt hier so traurig gegen die 
Blumen zu? Ists, weil die Wassersaule erlischt, weil die Sonne 
untergeht? - Nein, sondern weil die weiBen Hyazinthen in der 
Blumistenspracheyifc/Kz heiBen - o weil der Gottesacker heriiber- 
sieht, dessen hohe wankende Grasblumen mit ihren Wurzeln iiber 
zwei geliebten Augen stehen, iiber den Augen der blassen Hya- 
zinthe Giulia, die das heutige Fest nicht erlebt. -- Aber Klotilde 
verbarg sich, um nichts zu storen. 

Das ausfunkelnde Gold der Wassersaule und die zuriickschla- 
gende Abendlohe an alien Fenstern zogen die Augen zur Sonne, 10 
die unter ihre Buhne sank. - Aber ein rollendes Feuerrad des Alle- 
gro, womit die Harmonisten auf der Wiese die weichende Sonne 
begleiteten, nahm die Augen zu den Ohren herab, und unten auf 
der eingehiillten Wiese stieg ein neues Theater der Freude mit 
neuen Schauspielern empor .... Zwei Rosen waren in den Himmel 
gepflanzt, die rote, die Sonne, die iiber der zweiten Halbkugel 
ihre Bliiten auftat, und die weiBe, der Mond, der in unsere nieder- 
hing; aber Sonnengold und Lunasilber und Abendschlacken wur- 
den noch von einem rauchenden Zauberdufte eingesogen, und 
man konnte noch nicht die Schatten vom silbernen Grunde des 20 
Mondlichts absondern, und niederflatternde Bliiten wurden noch 
mit Nachtschmetterlingen vermengt. 

Die Gliicklichen gingen durch die Kastanienallee hinab zu den 
jungern Gliicklichen, zu den Kindern, die, kiihner durch die 
Gegenwart ihrer Mutter, zwanzig Freiheitbaume in verander- 
lichen Gruppen umzingelten und umkreiseten und nur auf tiefere 
Schatten warteten, um schneller zu tanzen. Der Englander wurde 
von Klotilde wie ein Freund ihrer zwei Freunde empfangen. Das 
Brautpaar, dem die Wiese als Erbschaft gehorte, hatte die eigne 
Musik gegen diese vertauscht, und das Bundfest desselben riickte 50 
in seiner Feier unserem Helden den heitern Tag naher, wo er, er 
auch seine Klotilde Braut nennen durfte; aber er hatte nicht den 
Mut, sein errotendes Gesicht gegen diese zu wenden, weil er 
dachte, sie denke dasselbe und sei auch rot. Nur ein Liebender 
kann mit der Begeisterung eines Brautpaars sympathisieren ; und 
nie stiegen schonere Wiinsche fur eines auf als fur dieses in zwei 



35- HUNDPOSTTAG I067 

Seelen voll Liebe. Eine vierjahrige Schwester der Braut driickte 
sich an Klotilden an - jene war die kleine Luna dieser Venus bei 
ihren Spaziergangen - und diese entlud gern ihre Liebe in die 
kleine Hand, die der ihrigen den Vorzug vor einem Mittanzer 
lieB. 

Der Mond gab jetzo durch den Widerschein der Sonne, womit 
er dieses Kinderparadies versilberte, der Freude hellere Farben, 
und unter dem vertieften Schatten der Maienbaume wuchs der 
kindliche Mut. Alles war begluckt - alles fesselnlos - alles fried- 

10 lich - kein giftiges Auge warf Blitze - keine einzige Harte storte 
das metrische Leben - in melodischer Fortschreitung klangen die 
Minuten im Silbertone voriiber und verfingen und hielten sich in 
dem ausschlagenden Rosendickicht der Abendrote auf. - Der 
laue flatternde Ather des Friihlings sog an den Bluten sich voll 
Dufte und trug sie wie Honig in die Brust des Menschen. - Und 
als die Pulse voller schlugen, spielten stumme kiihlende Blitze um 
die Nebel des Horizonts, und der Mond zog Lebenluft 1 aus den 
Blattern, um auf ihr den abgezognen Geist ihrer Kelche gesunder 
zuzufuhren. 

20 Viktor und der Englander und Emanuel und Klotilde nebst 
einigen von ihren Freundinnen standen unten wie gebende Gotter 
der Freude neben den Kindern und wurden durch den GenuB der 
fremden Labung trunken. Unser Freund hatte eine zu heilige 
Liebe, um sie (zumal so vielen Fremden und dem Englander) zu 
zeigen, und legte dem unbandigen tanzenden Herzen Ziigel an. In 
der edeln Liebe ist das Opfer - und ware sie es selber - so an- 
genehm wie der GenuB; aber noch leichter wird es neben einem 
Emanuel, der - das ist das schimmernde Ordenkreuz der hohern 
Menschen - gerade in der Freude seine Augen zu dem hohern 

30 Leben auf hebt und zur Wahrheit. Diesesmal verdoppelte noch da- 
zu das Gefuhl seiner steigenden Gesundheit sein Schmachten 
nach dem geweissagten Verscheiden. Sein verherrlichtes An- 
gesicht, seine uberirdischen Wiinsche und sein stilles Ergeben 
waren gleichsam der zweite hohere Mondenschein, der in den 
dunklern fiel; und er storte das wachsende Elysium gar nicht, da 
1 Im Mondschein sondern die Pflanzen Feuer- oder Lebenluft ab. 



1068 HESPERUS 

er z.B. sagte: »Der Sterbliche halt sich hier fur ewig, weil das 
Menschen geschlecht ewig ist ; aber der fortgestoBene Tropfe wird 
mit dem unversiegenden Strome verwechselt; und keimten nicht 
immer neue Menschen nach, so wiirde jeder die Fliichtigkeit sei- 
ner Lebenterzie tiefer emprlnden« - oder da er sagte: »Wenn der 
Mensch nicht unsterblich wird, so wird es auch kein hoheres 
Wesen j und die Schlusse sind dieselben ; dann brennte der s tehende 
Gott aus dem kampfenden und erloschenden Sein einsam heraus, 
gleich der Sonne, die, wenn es keinen Erdendunstkreis gabe, aus 
einem schwarzen Himmel lodern und die gewolbte Nacht durch- 10 
schneiden, aber nicht erhellen wiirde« - oder da er sagte: »Der 
Gang des Menschengeschlechts zur heiligen Stadt Gottes gleicht 
dem Gange einiger Pilgrime, die nach Jerusalem wallfahrten 
und allemal nach drei Schritten vorwarts wieder einen ruckwarts 
tun.« — Oder endlich da er auf seines Viktors Bemerkung, daB 
die Besserung nur die grobe'n Fehler, nicht die feinen Gewissen- 
bisse aufhebe, und daB ein Heiliger so viel Klagen von seinem 
Gewissen erhalte als der Schlimme, da er darauf sagte : »Unsere 
Entfernung von der Tugend findet man, wie die von der Sonne, 
durch genauere Berechnungen bloB grofier; aber die Sonne flieBet 20 
doch, aller veranderlichen Rechnungen ungeachtet, immer mit 
derselben Warme in unser Angesicht.« - 

Plotzlich lief der Englander zu den Spielern und foderte - um 
die Sprunge und Laufer seiner Ideen in Musik gesetzt zu sehen - 
von ihnen das beste Adagio und eilte in das »Florgezett« oben hin- 
auf, das der Lord Horion aus eisernen Bogen und einem dariiber 
gespannten schwarzen Doppelfior erbauen IieB, um fur seine da- 
mals erkrankenden Augen den Sonnenschein in Mondschein um- 
zusetzen. Da jedes Herz bei der ersten Beriihrung vom Adagio 
in selige Tranen zergehen muBte : so zerlegte die Wonne, die sich 30 
zu verhiillen suchte, den ruhenden Kreis, und alle flossen ausein- 
ander, um (jeder unter seiner eignen Oberlaubung) ungesehen zu 
lacheln und ungehort zu seufzen - wie Kurgaste eines Gesund- 
brunnen zerteilte, begegnete, entfernte man. sich in zufalligen 
Richtungen. 

Der schone Blinde ruhte oben nicht weit von der Nachtigall 



35. HUNDPOSTTAG 1069 

gleichsam an der Quelle der harmonischen Strome, und Klotilde 
blickt* ihn trauernd an, sooft sie an ihm voriiberging, und dachte : 
»Arme verschattete Seele, die Seufzer der Musik dehnen dein sehn- 
siichtiges Herz aus, und du siehst nie, wen du liebst und wer dich 
liebt.« - Emanuel ging einsam den langen Weg zu seinem Berge 
mit der Trauerbirke hinauf und zuriick. - Viktor irrte den ganzen 
Garten hindurch: er kam vor verhiillten Obelisken, Saulen und 
Wurfeln voruber, die den Platz steinerner Faunen besser besetz- 
ten; - er trat in die dunkle, nur von der Abendrote schattierte 

10 Abendlaube, wo er gestern zu glucklich war fur einen Sterblichen 
und zu weich fur einen Unsterblichen; - er drangte sich durch 
einen Ring von Buschen, aus denen ein strahlendes Springwasser 
vorragte, und schloB geblendet die Augen zu, als er darin in 
kunstlich belaubten Pfeilerspiegeln einen mit Mondsilber gesat- 
tigten Wasserbogen in zuruckweichenden Erbleichungen millio- 
nenmal aufgewolbt und aus weiBen Regenbogen in Mondsicheln 
und endlich in Schatten zuruckgefuhrt erblickte. — 

O wie oft hart* er nicht in seinen Kindertraumen, in seinen 
Landschaftgemalden, die er sich von den Tagen des Paradieses 

20 entwarf, diese Nacht gesehen und kaum gewiinscht, weil er sie auf 
der rauhenErde nie zu erleben hoffte; und jetzo stand diese Eden- 
Nacht mit alien um sie hangenden Bliiten und Sternen ausge- 
schaffen vor ihm! - Und wer von uns hat nicht in irgendeiner 
zauberisch beleuchteten Stelle seiner Phantasie und seiner HofF- 
nung ein ebenso groBes Nachtstiick einer kiinftigen Lenznacht 
aufgestellt, wo er wie in dieser mit alien Freunden auf einmal (nicht 
immer allein) glucklich ist - wo wie in dieser die Nacht nur als 
ein Schleier durchsichtig iiber den Tag geworfen ist - wo der 
rote Giirtel, den die Sonne beim Einsteigen ins Meer abgelegt, 

30 bis an den Morgen auf dem Rand der Erde schimmernd liegen 
bleibt - wo die langen Seelentone der Nachtigall laut durch das 
auseinanderrinnende Adagio ziehen und sich aus dem Echo er- 
heben - wo wir lauter befreundeten Seelen begegnen und sie 
trunken anblicken und durch das Lacheln fragen : o du bist doch 
auch so glucklich wie ich? und wo das fremde Lacheln es bejahet- 
eine Nacht, o Gott, wo du unser Herz vol! und doch ruhig ge- 



1070 HESPERUS 

macht, wo wir weder iweifeln noch oilmen noch furchten, wo alle 
deine Kinder an deiner Brust in deinen Armen ruhen und die 
Hande ihrer Geschwister halten und nur mit halb geschlossenen 
Augen schlurnmern, um sich anzulacheln? - - Ach da der Seufzer, 
womit ich dieses schreibe und ihr es leset, uns daran erinnert, wie 
selten solche Fruhlingnachte auf unsere Erde fallen: so verubelt 
es mir nicht, daB ich das schwelgerische Gemalde dieser Nacht 
nur langsam vollfuhre, damit ich einmal in meinen alten Tagen 
mich an der gemalten Stunde der jetzigen Begeisterung erquicke 
und etwan sagen konne: ach du wuBtest es damals wohl, daB du 10 
niemals eine solche Nacht erleben wurdest, darum warst du so 
weitlauftig. Und was anders als versteinerte Bliiten eines Klima, 
das auf dieser Erde nicht ist, graben wir aus unserer Phantasie aus, 
so wie man in unserm Norden versteinerte Palmbaume aus der 
Erde holt 

Viktor ging zum stillen Julius an der Nachtigallenhecke und legte 
ihm Nachtviolen in die Hand und kiiBte ihn auf das verhangne 
Auge, das nicht sehen, aber doch weinen konnte vor Freude - 
und die benachbarte Nachtigall hielt nicht innen unter dem KuB. 
Er kam den Garten hinauf, als Emanuel herunterkam; neben dem ao 
Morgenspringbrunnen sahen sie einander an, und Emanuels An- 
gesicht leuchtete im Widerschein der Wellen, als wenn er vor dem 
Engel des Todes stande und zerfldsse, um zu sterben, und er sagte : 
»Der Unendlkhe driickt uns heute an sich - warum kann ich nicht 
weinen, da ich so gliicklich bin?« - Und als sie wieder auseinander 
waren, riefer seinen Viktor zuriick und sagte : »Schau, wie bliihend- 
rot der Abend gegen Morgen zieht wie ein Sterbender, als wenn 
ihn die Tone fortriickten - schau, die Sterne hangea wie Bliiten 
aus der Ewigkeit in unsere Erde herein - schau die groBe Tiefe - 
wie viel Friihlinge griinen heute auf so viel tausend darin ziehen- 50 
den Erden.<< - 

Die Madchen hatten sich nach kurzen Gangen bald auf die 
Grasbanke der Terrassen paarweise oder in der Zahl der Grazien 
niedergesetzt. Klotilde, die allein gewandelt war, tat es endlich auch 
und setzte sich zu einer einsamen Freundin auf der vierten Ter- 
rasse, neben den bunten Sonnen-Regenbogen aus Blumen, hinter 



35* HUNDPOSTTAG IO7I 

welchem derMond-Regenbogen aus Wasser blinkte. Diese Freun- 
din rief den kommenden Viktor zum Schiedrichter eines tugend- 
haften Zwistes herbei : »Wir haben gestritten,« sagte die Freundin, 
»was siiBer fur gute Menschen sei, wenn sie vergeben, oder wenn 
ihnen vergeben wird. Ich behaupte durchaus, vergeben ist siiBer.« 
- »Und mir kommt es vor,« (sagte Klotilde mit einer geruhrten 
Stimme, die alle liebreiche Gedanken ihres schonenden Herzens, 
alle ihre dankenden Erinnerungen an ihre letzte Entzweiung mit 
Viktor und an sein schones Vergeben entdeckte) »es sei schoner, 

10 Vergebung zu erhalten, weil die Liebe gegen die verzeihende 
Seele du xh die eigne Demut reiner und durch die fremde Gute 
grofler wird.« Etwas Lieblicheres wurde wohl unserm Viktor nie 
gesagt. Seine Running und sein Dank machten ihm das Ent- 
scheiden schwer; aber Klotilde half seinen Traumen durch die 
Wendung ein oder ab : »Ich habe meine gute Charlotte schon an 
vorgestern erinnert, aber sie bleibt dabei.« Sie meinte den Beicht- 
und Abendmahltag, wo die schonen Herzen alle von einander 
Vergebung baten und bekamen. Viktor antwortete endlich zu- 
gleich wahr und beziehend und fein: »Sie setzen beide, glaub' ich, 

20 unmogliche Falle: kein Mensch hat ganz unrecht und keiner ganz 

recht; und wer vergibt, dem wird zugleich vergeben, und umge- 

. kehrt - so teilen zwei Menschen, die sich versohnen, immer die 

Freude der Verzeihung und die Freude der reinern und grqftern 

Liebe miteinander.« - 

Viktor gingj um eine Riihrung zu verbergen, durch die er eine 
fremde zu sehr erhohte^ Aber auf seinen nahen und fernen Wegen 
zwischen Tonen und Bliiten hielten in ihm Gefuhle an, die seine 
Liebe verdoppelten und verherrlichten : er fiihlte, daB der stdrkste 
Ausdruck der Liebe nicht so fest und innig in die Seele greife als 

30 der feinste. Allein als er vor der Sonnenuhr voruberging, die mit 
einem MaBstabe aus Schatten uns andern Schatten ihre en gen 
gliicklichen Inseln zuzahlte, und als ihm der Mond auf der Waage 
mit seiner innenstehenden Schattenzunge die letzten Miriuten die- 
ser frohen Stunde vorwog, weil er nach Mitternacht hin zeigte, 
gleichsam als wenn er schriebe: es ist sogleich voriiber: so trat 
der Englander allein langsam und niederblickend aus dem Flor- 



1072 HESPERUS 

gewebe und ging unter die Tone, um sie wegzufuhren mit dem 
ganzen Himmel um sie- Viktor, der im stillen Meer der tiefsten 
Freude nicht mehr nach Gegenden steuerte, sondern zufneden 
darauf taumelte und ruhte und in der Zukunft nichts begehrte als 
die Gegenwart, wandelte jetzo nur auf den langen Terrassen hin 
und her, anstatt den Garten auf- und abzusteigen - er stand ge- 
rade auf der obersten, auf der Blurnenterrasse, an dem Morgen- 
springbrunnen, und sah den dammernden Weg hinuber zum 
blinkenden Abendbrunnen, und der Schnee des Mondes lag tiefer 
und weiBer gefallen die gluckselige Ebene hinab, und dieses 10 
bliihende Zuckerfeld kam seinem traumenden Herzen wie 
eine in diese Erde hineinreichende Landspitze der Insel der 
Seligen vor, und er sah ja lauter selige Menschen auf diesem 
Zaubergefilde gehen, ruhen, tanzen, hier einsam, dort in Paaren, 
dort in Gruppen, und unschuldige Menschen, stille Kinder, 
sanfte tugendhafte Madchen, und er schauete zum gestirnten 
Himmel auf, und sein Auge voll Tranen sagte zum Allgiitigen : 
o gib auch meinem guten Vater und meinem guten Flamin eine 
solche Nacht — als er plotzlich die Tone wie abgewehet ver- 
nahm und den Briten mit den Kindern ziehen sah, und das 20 
Schwanenlied eines Maestoso wurde vorausgetragen vor der 
entfliehenden Jugend .... 

Viktor ging oben mit den wegschwimmenden Tonen, und die 
Sterne schienen mitzuschwimmen und die Gegend mitzugehen — 
auf einmal stockt er am Ende der Blurnenterrasse vor den Eben- 
bildern Giulias,den weifien Hyazinthen, vor der Freundin Giulias, 
vor - Klotilde.... Augenblick! der nur in der Ewigkeit wieder- 
holt wird, schimmere nicht zu stark, damit ich es ertragen kann, 
bewege mein Herz nicht zu sehr, damit es dich beschreiben kann! 
— Ach beweg' es nur wie die zwei Herzen, denen du erschienst; 3 o 
du begegnest uns alien nicht mehr.... Und Klotilde und Viktor 
standen unschuldig vor Gott, und Gott sagte : weint und liebt wie 
in der zweiten Welt bei mir! - Und sie schaueten sich spraehlos 
an in der Verklarung der Nacht, in der Verklarung der Liebe, in 
der Verklarung der Running, und Wonnezahren deckten die 
Augen zu und hinter den erleuchteten Tranen stiegen um sie ver- 



35- HUNDPOSTTAG IO73 

klarte Welten aus der dunkeln Erde auf und der Abendspring- 
brunnen legte sich glimmend wie eine MilchstraGe uber sie her- 
iiber und der Sternenhimmel schlug funkelnd uber sie zusammen 
und das entweichende Vertonen spiilte die aufgehobnen See- 
len vom Erdenufer los — Siehe ! da trieb ein kieines Wehen die 
entfliegenden Laute heiBer und naher an ihr Herz, und sie nahmen 
ihre Tranen von den Augen; und als sie umherschaueten in der 
Gegenwart: so bewegte das melodische Wehen alle Bluten im 
Garten, und die groBe Nacht, die mit Riesengliedern im Mond- 

o schein auf der Erde schlief, regte vor Wonne ihre Kranze aus ab- 
geschatteten Gipfeln und die zwei Menschen lachelten zitternd 
zugleich und schlugen miteinander die Augen nieder und hoben 
sie miteinander auf und wuBtens nicht. Und Viktor konnte end- 
Hch sagen: »0 ! moge das edelste Herz, das ich kenne, so unaus- 
sprechlich selig sein wie ich und noch seliger! So viel hab' ich 
nicht verdient.« - Und Koltilde sagte in einem sanften Tone: »Ich 
bin den ganzen Abend meistens allein geblieben, bloB um vor 
Freude zu weinen, aber er ist zu schon fur mich und die Zukunft.« 
... Die umkehrenden Gespielinnen kamen den Garten herauf, 

o und beide muBten auseinander scheiden; und als Viktor noch mit 
erstickten Lauten sagte: »Ruhe wohl, du edle Seele — solche 
Freudentranen miissen immer in deinen Augen stehen, solches 
melodische Getone miisse immer um deine Tage rinnen - Ruhe 
wohl, du himmlische Seele«; und als ein Blick voll neuer Liebe und 
ein Auge voll neuer Tranen ihm dankte; und als er sich tief, tief 
biickte vor der Heiligen, Stillen, Bescheidnen und aus Ehrfurcht 
nicht einmal ihre Hand kuBte : so umarmte in der Unsichtbarkeit 
ihr Genius seinen Genius vor Entziicken, daB ihre zwei Kinder 
so gliicklich waren und so tugendhaft. — 

° O wie wohl tat jetzt seiner uberschiitteten Seele sein geliebter 
Dahore, dem er unter den lauten Kastanien nachkam, und an 
den er mit alien seinen Tranen der Wonne, mit alien seinen 
Liebkosungen des trunknen Herzens fallen durfte: »Mein 
Emanuel, ruhe sanft! Ich bleibe heute Nacht unter diesem 
guten warmen Himmei um uns her.« — »BIeibe nur, Guter,« 
(sagte Emanuel) »eine solche Nacht zieht durch keinen Friihling 



1074 HESPERUS 

mehr — Horst du,« (fuhr er fort, als die in die UnermeBlich- 
keit entriickten Tone gleichsam wie Abendsterne des unterge- 
gangnen Glanzes, wie Herbststimmen des wegziehenden Sommer- 
gesangs in die sehnsiichtige Seele hineinriefen) »horst du das 
schdne Vertonen? Siehe, ebenso tone am Iangsten Tage meine 
Seele aus, ebenso liege dein Herz an meinem, und so sage wie 
heute : ruhe wohl I« . . . 

Dem letzten Geliebten entsunken, schwankte Viktor im ge- 
mischten Zwielicht der wehmiitigen Begeisterung zuriick durch 
die vom Mondlicht durchbrochne, gleichsam von Strahlen trop- i 
fende Allee, um in der Bliitenhohle, wo er zuerst Klotilde hier 
gefunden, das traumende Haupt an ein Kopfkissen von Bltitenkel- 
chen anzulehnen . . . Und als er langsam und allein und mit elysi- 
schen Erinnerungen und Hoffnungen durch den in die Allee 
gewachsenen Laubengang zwischen den einwiegenden Bachen 
hinwankte: so schwammen noch niedrige Wogen des weggetrag- 
nen Getones in die Phantasie mehr als in die Ohren, und nur die 
Nachtigall regierte laut uber die beseelte Nacht. Da sank unnenn- 
bar begliickt und wonneschwer der letzte Mensch dieser Nacht 
von den funf Stufen seines himmlischen Bettes durch die Zweig- * 
Vergitterung in das dunkle Bliiten-Dickicht hinein. — Betauete 
Sprossen fielen kiihlend an seine entziindete Stirne, er legte die 
zwei Arme ausges-reckt auf zwei Armlehnen von Zwergbaumen 
und schloB entziickt die heiBen Augenlider zu, und das Forttonen 
der Nachtigall und der fiinf Quellen um ihn wehten ihn einige 
Strecken weit in den dammernden Wahnsinn des Traumes hin- 
iiber - aber die in Freuden-Jubel hinausschreieride Nachtigall 
schlug durch seinen Traum, und als er die Augen, in halbe Traume 
verschlagen, auftat, schoB der Blitz des Mondes durch das weiBe 

Gestrauch dennoch, von den vorigen Szenen befriedigt, 3 

lachelte er nur halb auBer sich und uberhullte das Auge wieder 
und HeB sich ganz in den harmonischen Schlummer hinunter... 
nur einige gebrochne Laute sang er noch in sich . . . nur einigemal 
regte er noch die Iiegenden Arme zu Umfassungen . . . und nur im 
Ersterben des Schlummers und der Wonne stammelte er einmal 
noch dunkel : Geliebte ! . . . 



36. HUNDPOSTTAG IO75 

Und so schon, grofier Allgiitiger, laB uns andere Menschen in 
der letzten Nacht entschlafen wie Viktor in dieser, und laB es auch 
unser letztes Wort sein: Geliebte! - 



VlERTER UND LETZTER PfINGSTTAG 

(36. Hundposttag) 

Hyazinthe - die Stimme vom Vater Emanuels - Brief vom Engel - Fldte 
auf dem Grab - zweite Nachtigall - Abschied - Geistererscheinung 

Eben ist der Anhang zum vierten Freudentage eingelaufen. - 
Ich komme nach dem Seufzer, womit man gewohnlich am Tage 

10 nach den Festtagen sagt, daB man sie begrabe, wieder vor das 
bliihende Bette meines Freundes und offne den griinenden Vor- 
hang; gegen neun Uhr erst zog ihn eine nah an seinen Handen 
schlagende Grasmiicke miihsam aus einem tiefen Traummeer. 
Aber die Schattenfiguren, die der Hohlspiegel des Traums in der 
Luft aufgerichtet hatte, waren alle vergessen; nur die Tranen, die 
sie ihm ausgepresset, standen noch in seinen Augen, und er ent- 
sann sich nicht mehr, warum er sie vergossen hatte. Es war heme 
Quatember, der wie andere Wetter- und Mondveranderungen 
unser Traum-Echo lauter und vielsilbiger macht. - In einer son- 

20 derbaren Erweichung schlug er die Augen auf vor der weiBen 
Dammerung des Apfelbluten-Oberhangs, vor dem Wirrwarr des 
griinen Gespinstes - seine Hand jagte die Grasmiicke durch das 
Gebusch - es war schwxil urn diesen Schatten, die Baumgipfel 
waren stumm und alle Blumen gerade - Bienen bogen sich von 
Sandkornchen herab in die Quellen um ihn und schlurften Was- 
ser - von den Weiden tropften weiBe Flocken, und alle Riech- 
flaschchen der Bliiten und die RauchgefaBe der Blumen iiber- 
gossen seine Schlafstatte mit einem sxiBen schwiilen Dunst... 
Er fiihrt seine rechte Hand ans nasse Auge und erblickt darin 

50 mit Erstaunen eine weifie Hyazinthe, die ihm jemand heute muBte 
hineingelegt haben... Er verfiel auf Klotilde; und sie wars auch 
gewesen. Vor einer halben Stunde trat sie an dieses Blumen-Bette 
- lieB sogleich das Gestrauch leise wieder zusammenschlagen - 



IO76 HESPERUS 

zog es aber doch wieder auseinander, weil sie die Tranen des ver- 
gessenen Traums iiber das Angesicht des gliihenden Schlafers 
rinnen sah - ihre ganze Seele wurde nun ein weicher segnender 
Blick der Liebe, und sie konnte sich nicht enthalten, das Denkmal 
ihres Morgenbesuchs, die Blume, in die Hand zu legen - und eilte 
dann leise in ihr Zimmer zurtick. 

Er trat eilig in den leuchtenden Tag, um die Geberin einzu- 
holen, deren Morgengabe er leider aus Besorgnis der Zerstorung 
so wenig wie sie ans Herz anpressen durfte. O wie tat es ihm wehe, 
als er im Freien vor dem herrnhutischen Gottesacker der heim- ■, 
gegangnen Himmelnacht, vor dem ruhenden Garten, stand und 
als er auf die kahlen ausgemahten eingetretenen Tanztennen und 
auf die verstummte Nachtigallenstaude blickte und auf die Berge, 
woran die Kinder weideten, vom gestrigen Schmucke entkleidetl 
Da erschien der vergessene Traum wieder und sagte : weine noch 
einmal, denn das Rosenfest deines Lebens beschlie Bet sich heute, 
und der letzte von den vier Fliissen des Paradieses trocknet in 
wenig Stunden ganzlich aus ! - »0 ihr schonen Tage,« sagte Vik- 
tor, »ihr verdient es, daB ich euch verlasse mit einer Erweichung 
ohne MaB und mit Tranen ohne Zahl!« - Er floh aus dem zu har- ; 
ten Taglicht in die Zelle aus Flor, damit sie den hellen Vorgrund 
des Tages zu einem dammernden Hintergrund ummalte, mit dem 
gestrigen Mondschein iiberdeckt; und unter diesem Leichen- 
schleier der erblichenen Nacht setzte er sich vor, dem verarmenden 
Herzen heute seine letzte Freude ganz im ObermaB zu gonnen, 
namlich sein Sehnen. Er trat aus dem Flor, aber der nacht- 
Hche Mondschein wich nicht von der Flur; er schaute auf in den 
blauen Himmel, der uns mit einer langen Flamme betastet, aber 
die verhullten Sterne der Winternacht schickten herausquellende 
kleine Strahlen an die verdunkelte Seele; er sagte sich zwar: »Der > 
Eisberg, auf dem bisher meine Vernunft halbe Bergpredigten ab- 
gelegt, ist unter der Freudenglut zu einem Maulwurfhiigel ein- 
gelaufen«, aber er setzte hinzu: »Heute frag* ich nach nichts.« 

Er kam zu Emanuel mit nassen Augen. Dieser sagte ihm, daB 
sich das erste Glied der gestrigen Blumenkette, namlich der Brite 
mit seinen Leuten, schon in der Nacht abgeloset habe. Aber je 



36. HUNDPOSTTAG IO77 

langer er Emanuel ansah und an morgen dachte - denn morgen 
lehnt auch er vor tags die Gartentiire dieses Paradieses leise hinter 
sich zu, und heute nachmittags nimmt er von der Abtissin und 
abends von der Geliebten Abschied, um diese nicht im Ablesen 
der bekannten Engels-Epistel zu hemmen -, desto druckender 
waren seine Augen gespannt, und er ging lieber mit einem sich 
selber vollblutenden Herzen hinaus ins Freie und fiihrte den 
Blinden mit, der nichts erriet, nichts erblickte und vor dem man 
ohnehin wie vor einem Kinde gern sein Innerstes entkleidete. 

io Aber diesesmal war Julius in derselben Erweichung, weil er 
den ganzen Morgen den Engel in seiner dammernden Seele spie- 
len und fliegen sehen. Die Sehnsucht nach dem Engel brutete sein 
ruhendes Herz zum Pochen an, und er sagte mit einem ungewohn- 
lichen Schmerz : »Wenn ich nur sehen konnte, nur etwas, nur mei- 
nen Vater oder dich!« Die uberstaubten Erinnerungen an seine 
Kindheit wurden aufgeschiittelt; und aus dieser in Wolken ste- 
henden Zeit trat besonders ein Tag heraus vor ihn, morgenhell, 
blau und voll Gesang, und trug drei Gestalten auf seinem Nebel- 
boden, Julius' eigne und die der zwei Kinder, von denen er sich 

20 vor ihrer Einschiffung nach Deutschland geschieden hatte - es 
entflossen ihm Tropfen, ohne daB er es merkte, da er gerade die- 
sem Viktor, der das Folgende getan hatte, das Kussen und Um- 
hangen und Nachrufen des einen Kindes make, das ihn am mei- 
sten liebte und immer trug. »Und ich denke,« fuhr er fort, »jeder, 
den ich gern hore, habe das Gesicht dieses guten Kindes und auch 
du. Oft wenn ich einsam diese Gestalt in meinem Dunkeln an- 
schaue und warme Tropfen auf den Lippen spiire und in eine 
schmachtende schlummernde Wonne falle: mein' ich, es quelle 
Blut aus meinen Lippen, und mein Herz siedet - aber mein Vater 

30 sagt, wenn dann meine Augen plotzlich aufgetan wurden und ich 
sahe meinen Engel an oder das gute Kind oder einen schonen 

Menschen, dann wiirde ich sterben miissen vor Liebe.« »0 

Julius, Julius,« (rief sein Viktor) »wie edel ist dein Herz! Das gute 
Kind, das du so liebst, wird bald mein Vater an dich legen, es wird 
:h so kussen, so lieben, so drucken wie ich jetzt.« - 
Er fiihrte ihn zum Essen zuriick; er selber aber blieb bis nach- 



I078 HESPERUS 

mittags unter dem Himmel, und sein Herz legte stille Trauer an 
unter Baumen voll Bienen, neben Gestrauchen voll atzenden Vo- 
geln, auf alien bisherigen Spaziergangen und Sonnenwegen dieses 
sterbenden Festes - und es standen alle Kinderstunden aus dem 
Wintersclilafe des Gedachtnisses auf und beriihrten sein Herz, aber 
es zerfioB. - O wenn uns weit entlegne Minuten mit ihrem Glok- 
kenspiel antonen, so fallen groBe Tropfen aus der weichen Seele, 
wie das nahere Heriiberklingen ferner Glocken Regen bedeutet. . 
Ich verdenke dir nichts, Viktor - du bist doch nur weich, aber nicht 
weichlick — so gut dir dein Biograph deine Erweichung nachzu- 10 
schreiben und dein Leser sie nachzufuhlen vermag, ohne die festen 
Muskeln des Herzens abzuspannen, ebensogut vermagst du es 
auch, und nur ein Mann, der bittere Tranen erpressen kann, wird 
siiBe verhohnen und keine selber vergieBen. 

Endlich ging Viktor zur letzten Freude, in den Garten des En- 
des, um mit sanften Tranen in der Abtei von alien Freundinnen 
abzuscheiden. Ein sonderbarer Vorfall verschob es ein wenig; 
denn indem er von Emanuel wegging, stieB ihm Julius auf, der 
aus dem Garten kam und ihm sagte : »wenn er zu Emanuel wolle, 
er sei im Garten.« - Sie erhoben einen freundschaftlichen Streit, 20 
weil jeder ihn gerade jetzo gesprochen haben wollte. Viktor ging 
mit ihm zu Emanuel zuriick, und hier erzahlte Julius seinem Leh- 
rer jedes Wort des vorgeblichen Gartengesprachs mit ihm: »z.B. 
liber Viktor, iiber Klotilde, iiber seinen heutigen Abschied, iiber 
die bisherigen frohen Tage.« 

Wahrend der Erzahlung wurde Emanuels Angesicht glanzend, 
als wenn Mondschimmer davon niederflosse - und anstatt dem 
geliebten Kinde die Unmoglichkeit seiner Erscheinung im Garten 
vorzustellen, raumte er ihm die Erscheinung ein und sagte ent- 
ziickt : »Ich werde sterben! - Es war mein abgeschiedener Vater - ?c 
seine Stimme klingt wie meine - er verhieB mir in seinem Ster- 
ben, aus der zweiten Welt in diese zu kommen, eh' ich von hin- 
nen ginge. - Ach ihr Geliebten driiben iiber den Grabern, ihr 
denkt also noch an mich - o! du guter Vater, dringe jetzt mit dei- 
nem todlichen Glanze vor mich heran und lose mich an deinem 
Munde auf !« - 



$6. HUNDPOSTTAG IO79 

Er wurde noch mehr darin befestigt, weil Julius dazu erzahlte, 
die Gestalt habe sich von ihm den Brief des Engels reichen lassen, 
ihn aber nach einem kleinen Lispeln wieder zuriickgegeben. Das 
Siegel war unbeschadigt. Emanuels freudiger Enthusiasmus iiber 
diese Telegraphen des Todes setzte unzufriedene Schliisse aus sei- 
ner bisherigen Gesundheit voraus. Viktor lehnte sich nie gegen 
die erhabnen Irrtiimer seines Lehrers auf; so stellte er z. B. nie- 
mals die Grunde, die er hatte und die ich im nachsten Schalttage 
anzeigen will, dem unschuldigen Wahn entgegen: »aus dem 

10 Traume und aus der Unabhangigkeit des Ich vom Korper konne 
man auf die kunftige nach dem Tode schlieBen - im Traume 
staube sich der innere Demant ab und sauge Licht aus einer scho- 
nern Sonne ein.« - Viktor erschrak dariiber, aber aus andern 
Griinden: Julius nahm beide an den Ort der Unterredung mit, 
der in der verfinsterten Allee neben der Blutenhohle war. Nie- 
mand war da, nichts erschien, Blatter lispelten, aber keine Geister, 
es war der Ort der Seligkeit, aber der irdischen. - 

Viktor ging in den andern, in die Abtei. Klotilde war nicht 
droben, sondern im verschlungnen Labyrinth des Parks, wahr- 

10 scheinlich um dem Inhaber vom Engels-Briefe, Julius, die Ge- 
legenheit des Vorlesens zu erleichtern. Er nahm, als die Sonne 
gerade den Fensterscheiben gegeniiber brannte, von der guten 
Abtissin mit jener feinen geriihrten Hoflichkeit Abschied, auf die 
sich in ihrem Stande der hochste Enthusiasmus einschrankt. Die 
feine Abtissin sagte ihm: »der Besuch sei so kurz, daB er unver- 
zeihlich ware, wenn nicht Viktor es dadurch gutmachte, daB er 
ihren zweiten Friihling-Gast (Klotilden) uberredete, den ihrigen 
zu verlangern; denn auch diese verlasse sie bald.« - Er schied mit 
einer geriihrten Achtung von ihr: denn sein weiches Herz wuBte 

30 ebensogut hinter der Spitzenmaske der Feinheit und Welt als hin- 
ter der Leder-Kruste der Roheit das fremde weiche auszufiihlen. 
Als er freilich in den Garten eilte: stiegen die Tranen seines 
Herzens hoher und warmer - und ihm war, als miiBte er den im 
Angesichte der Sonne aufgehenden Mond umschlieBen, da er 
dachte: »Ach wenn deine bleiche Flocke heute lichter droben 
hangt, wenn du allein niederschauest, bin ich geschieden von mei- 



1080 HESPERUS 

ner Schaferwelt oder scheide noch.<< - Und unten ruhte neben der 
Nachtigallenhecke sein Julius, der helle Tranenstrome vergoB - 
denn dieser ganze Abend wimmelt von immer groBern Meer- 
wundern des Zufalls - er eilt zu ihm herab, der Brief des soge- 
nannten Engels ist geoffnet in seiner Hand, Viktor sagt leise: 
. »Julius, warum weinest du so?« - »0 Gott,« sagte dieser gebro- 
chen, »fuhre mich unter eine Laube!« - Er leitete ihn zur uber- 
fiorten. Julius sagte darin: »Recht, hier brennt die Sonne nicht!« 
und schlug den rechten Arm um Viktor und gab ihm den Brief 
und legte den Arm herum bis an sein Herz und sagte: »Du guter « 
Mensch! sage mir, wenn die Sonne nieder ist, und lies mir noch 
einmal den Brief des Engels vor!« 

Viktor ring an; »Klotilde!« - »An wen ist er?« sagt' er. - »An 
mich!« (sagte Julius) »und Klotilde hat mir ihn schon vorgelesen; 
aber ich konnte sie wegen ihrem Weinen nicht verstehen, und ich 
war auch zu betrubt. - Ich werde vor Kummer sterben, du gute 
Giulia, warum hast du mir es nicht vor deinem Tode gesagt? - 
Die Tote hat ihn geschrieben, lies nur!« - Er las: 

»Klotilde! 

Ich hiille meine errotenden Wangen in den Leichenschleier. Mein ao 
Geheimnis ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm 
unter den Leichenstein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus 
dem zerfallenen Herzen dringen - o dann bleib' es ewig in deinem, 
Klotilde! - und ewig in deinem, Julius! - Julius, war nicht oft 
eine schweigende Gestalt um dich, die sichdeinen Engel nannte? 
Legte sie nicht einmal, als die Totenglocke ein bluhendes Mad- 
chen einlautete, eine weiBe Hyazinthe in deine Hand und sagte: 
>Engel pflucken solche weifie Blumem? Nahm nicht einmal eine 
stumme Gestalt deine Hand und trocknete sich damit ihre Tranen 
ab und konnt' es nicht sagen, warum sie weine? Sagte nicht ein- 30 
mal eine leise Stimme : >Lebe wohl, ich werde dir nicht mehr er- 
scheinen, ich gehe in den Himmel zuruck<? Diese Gestalt war ich, 
o Julius; denn ich habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe! 
hier steh' ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich schaue nicht hin- 



$6, HUNDPOSTTAG IO81 

iiber in ihre unendlichen Gefilde, sondern ich kehre mein Ange- 
sicht noch sinkend nach dir zuriick, nach dir, und mein Auge 
bricht an deinem Bilde. - Jetzo nab' ich dir alles gesagt. - Nun 
komm, stillender Tod, driicke langsam die weiBe Hyazinthe nie- 
der und teile bald das Herz auseinander, damit Julius darin die 
verschlossene Liebe sehe. - Ach wirst denn du eine Tote in deine 
Seele nehmen? Wirst du weinen, wenn du dieses Iesen horest? 
Ach wenn mein zugedeckter, eingesunkner Staub dich nicht mehr 
beruhren kann, wird mein entfernter Geist von deinem geliebt 

10 werden? — Aber ich beschwore dich, o UnvergeBHcher, geh an 
dem Tage, wo dir dieses Tranenblatt vorgelesen wird, da gehe, 
wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem Grabe und bringe 
dem bleichen Angesicht darunter, das der alte Huge! schon ent- 
zweidriickt, und dem zerronnenen Herzen, das fiir nichts mehr 
schlagen kann, da bringe der Armen, die dich so sehr geliebt und 
die deinetwegen sich unter die Erde gehiillet, dein Totenopfer - 
bring ihr auf deiner Flote die Tone meines geliebten Liedes: >Das 
Grab ist tief und stille.< - Sing es leise nach, Klotilde, und besuch 
mich auch. - Ach arme Giulia, richte deine Seele auf und erliege 

20 jetzt nicht, da du deinen Julius dir an deinem Grabe denkest! - 
Wenn du da das Totenopfer bringst, so wird zwar mein Geist 
schon hoher stehen; ich werde ein Jahr jenseits der Erde gelebet 
haben, ich werde die Erde schon vergessen haben - aber doch, 
aber o Gott, wenn du die Tone iiber meinem Grabe ins Elysium 
dringen lie Best, dann wiird' ich niedersinken und heiBe Tranen 
vergieBen und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der 
Ewigkeit lieb* ich ihn noch - es geh' ihm woKl auf der Erde, sein 
weiches Herz ruhe weich und lange auf dem Leben drunten. - 
Nein, nicht lange! Komm herauf, Sterblicher, zu den Unsterb- 

30 lichen, damit dein Auge genese und die Freundin erblicke, die fur 
dich gestorben ist! 

Giulia.« 

»Ich will gehen,« - sagte Julius stockend, aber mit Zuckungen 
im Gesicht - »wenn auch die Sonne nicht hinab ist: mein Vater 
soil mich bis zum Untergange trosten, damit mein Herz nicht so 



1082 HESPERUS 

heftig an die Brust anschlagt, wenn ich am Grabe stehe und das 

Totenopfer bringe.« LaB mich nichts sagen, Leser, von der 

Beklemmung, womit ich weitergehe — noch von dieser zu weichen 
Giulia, die wie eine Morgensonnenuhr vor dem Mittage im Schat- 
ten und Kuhlen war, die wie eine Taube die Fliigel dem Regen 
und Weinen auseinanderfaltete - noch von ihren Seelen-Schwe- 
stern, die im zweiten Lebens-Jahrzehend das Gerippe des Todes 
ganz mit Blumen iiberhangen, daB sie seine Glieder nicht sehen 
konnen, und die ihren weiBen Arm bloB auf einen Myrtenzweig 
der Liebe stutzen wie auf einen AderlaBstock und ruhig dem Ver- 10 
bluten seiner zerschnittenen Adern zuschauen ! - 

Ich hatte nicht einmal dieses gesagt, wenn nicht Viktor es ge- 
dacht hatte, dessen Herz ein unendlicher Gram und eine unend- 
liche Liebe todlich auseinanderzogen ; denn ach wie weit war nicht 
seine unersetzliche Klotilde schon auf dem Wege, ihrer-Freundin 
nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verber- 
gen, wie man im Froste Nelken niederlegt! 

Die Sonne stieg defer - der Mond stieg hoher - Viktor sah 
Klotilden wie eine Heilige, wie einen atherisch verkorperten Engel 
in einer gegen Abend gedffneten Nische ruhen-das kleine, gestern 2 o 
genannte Madchen spielte auf ihrem SchoB mit einer neuen Puppe 
- ihm war, als sen* er sie gen Himmel schweben - und als sie ihre 
groBen Augenlider aus den Tranen fur die geschiedne Freundin, 
deren Geheimnis sie langst erraten und verborgen hatte, gegen 
den aufhob, der sie heute durch seinen Abschied vermehrte; und 
als sie auch sein Angeskht in Riihrung zerschmolzen sah : so er- 
druckten die gleichen Trauergedanken in beiden sogar die ersten 
Laute des Empfangs, und beide wandten ihr Gesicht ab, weil sie 

iiber die Trennung weinten. »Haben Sie« (sagte Klotilde, 

wenigstens mit einer gefaBten Stimme) »eben mit Julius gespro- 3 o 
chen?« - Viktor antwortete nicht, aber seine Augen sagten Ja, 
indem sie bloB heftiger stromten und sie unverwandt anschaueten. 
Sie sehlug sie tief nieder, mit einem kleinen Erroten fur Giulia. Das 
kleine* Kind hielt die iiber die grofien Tropfen heruberfallenden 
Augenlider fur schlafrig und zog der Puppe das schmale, mit Heu 
gepolsterte Kopfkissen weg, breitete es Klotilden hin und sagte 



36. HUNDPOSTTAG IO83 

unschuldig: »Da leg dich drauf und schlaf ein!<( Es schauerte ihren 
Freund, da sie antwortete: »Heute nicht, Liebe, auf Kissen mit 
Heu schlafen nur die Toten.« Es schauerte ihn, da er auf ihrem 
bewegten Herzen eine schneeweiBe Federnelke, in deren Mitte 
ein grofier dunkelroter Punkt wie ein blutiger Tropfen ist, erzit- 
tern sah. Die furchterliche Nelke schien ihm die Lilie zu sein, die 
der Aberglaube sonst im Chorstuhle des Priesters antraf, dessen 
Sterben prophezeiet werden sollte. 

Sie heftete schmerzlich ihren Blick auf die tiefe Sonne und den 

10 Gottesacker, hinter dem diese in den Maitagen wie ein Mensch 
unterging. »Verlassen Sie diese Aussicht, Teuerste,« (sagt* er, wie- 
wohl ohne HofFnung des Gehorsams) - »eine zarte Hiille wird von 
einer zarten Seele am leichtesten zerstort. - Ihre Tranen tun Ihnen 
zu wehe.« Aber sie erwiderte: »Schon lange nicht mehr — nur in 
friihern Jahren brannten mir davon die Augenhohlen, und der 
Kopf wurde betaubt.« - Plotzlich als der Gedanke an die bewolkte 
Perspektive ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Busen 
wand, erstarb das Sonnenlicht auf ihren Wangen - Tranenstrome 
brachen gewaltsam aus ihren Augen - er wandte sich um - drtiben 

ao auf dem Gottesacker sank der Verhullte auf dem Hugel der Ver- 
hullten nieder - die Sonne war schon unter die Erde, aber die 
Flote hatte noch keine Stimme, der Schmerz hatte nur Seufzer 
und keine Tone. ... Endlich richtete der schone BHnde sich unter 
zuckenden Schmerzen empor zum Totenopfer, und die Floten- 
klagen stiegen von dem festen Grabe auf in das Abendrot - drei 
Herzen zergingen wie die Tone, wie das vierte eingesunkne. Aber 
Klotilde riB sich gewaltsam aus dem stummen Jammer auf und 
sang zu dem Totenopfer leise das himmlische Lied, um das 
die Verstorbne sie gebeten hatte und das ich mit unaussprechlicher 

jo Running gebe: 

Das Grab ist tief und stille 
Und schauderhaft sein Rand ; 
Es deckt mit schwarzer Hiille 
Ein unbekanntes Land. 

Das Lied der Nachtigallen 
Tont nicht in seinen SchoB; 



1084 HESPERUS 

Der Freundschaft Rosen fallen 
Nur auf des Hugels Moos. 

VerlaBne Braute ringen 
Umsonst die Hande wund; 
Der Waisen Klagen dringen 
Nicht in der Tiefe Grund. 

Dock sonst an keinem Orte 

Wohnt die ersehnte Ruh*; 

Nur durch die dunkle Pforte 

Geht man der Heimat zu. 10 

O Salts/ in diesem Dock sind alle unsere verwehten Seufzer, 
alle unsere vertrockneten Tranen und heben das steigende Herz 
aus seinen Wurzeln und Adern, und es will sterben! 

Die Stimme der edeln Sanger in unterlag der Wehmut, aber sie 
sang doch die letzte der Strophen dieses Spharen-Liedes, obwohl 
leiser in der schmerzhaften Oberwaltigung: 

Das arme Herz, hienieden 

Von manchem Sturm bewegt, 

Erlangt den wahren Frieden 

Nur, wo es nicht mehr schlagt. « 

Ihre Stimme brach, wie ein Auge bricht oder ein Herz .... Ihr 
Freund hiillte sein Haupt in die Blatter der Laube - das ganze 
Erdenleben zog wie eine Klage voriiber. - Klotildens schwere 
Vergangenheit, Klotildens diistere Zukunft riackten zusammen 
vor seinem Auge und warfen im Dunkeln den Leichenschleier 
tiber diesen Engel und zogen sie verhiillet in das Grab zur Schwe- 
ster.... Er hatte sogar den Abschied vergessen . . . er hatte nicht 
den Mut, die groBe Szene um sich anzuschauen und die Gebeugte 
neben sich .... 

Er horte die Kleine gehen und sagen : »Ich hole dir ein groBeres 30 
Kissen unter den Kopf.« 

Klotilde stand auf und faBte seine Hand - er kehrte sich wieder 
um in die Erde - und sie schauete ihn an mit einem verweinten, 
aber zartlichen Auge, dessen Tropfen zu rein waren fur diese 



36. HUNDPOSTTAG IO85 

schmutzige Welt; aber in diesem groBen Auge stand etwas 
gleichsam wie die furchterliche Frage: »Lieben wir uns nicht ver- 
geblich fur diese Welt?« - Und ihr schlagendes Herz erschiitterte 
die blutige Nelke. — Der Mond und der Abendstern glimmten 
einsam wie eine Vergangenheit im Himmel. — Julius ruhte stumm 
und niedergedruckt mit umschlieBenden Armen auf dem einge- 
sunknen Hiigel, der auf den Staub seines zersplkterten Paradieses 
gewalzet war. - 

Die Tone der Nachtigall schlugen jetzo gleich hohen Wellen 

o an die Nacht - da ermannte er sich, um ihr Lebewohl zu sagen .... 

Leser! erhebe deinen Geist zii keiner Entziickung, denn sie 

wird bald in einem Krampf erstarren - aber ich erhebe meine 

Seele dazu, weil sogar das tddliche Niederstiirzen an der Pforte 

des Paradieses schon ist unter dem Weggehen daraus ! 

Dem ersten Rufe der vertrauten Nachtigall antwortete plotz- 
Hch noch hoher eine neue hergeflatterte, von dicken Bliiten ge- 
dampfte Nachtigall, die immer unter dem Singen flog und jetzt 
aus der Bliitenhohle ihr melodisches Schmachten ziehen IieB. Die 
beiden Menschen, die das Scheiden verschoben und fiirchteten, 

so irrten betaubt der gehenden Nachtigall nach und waren auf dem 
Wege zur seligen Bliitenhohle; sie wuBten nicht, daB sie allein 
waren; denn in ihrem Herzen war Gott; vor ihrem Auge schim- 
merte die ganze zweite Welt voll auferstandner Seelen. Endlich 
erholte sich Klotilde, kehrte um vor der Nachtigall und gab das 
traurige Zeichen der Trennung. - Viktor stand am Ufer seiner 
bisherigen gluckseligen Insel - alles, alles war nun voruber - er 
blieb stehen, nahm ihre zwei Hande, konnte sie noch nicht an- 
schauen vor Schmerz, bog sich mit Tranen nieder, richtete sich 
auf, als er leise reden konnte: »Lebe wohl - mehr kann mein 

.0 schweres Herz nicht - recht wohl lebe, viel besser als ich - weine 
nicht so oft wie sonst, damit du mich nicht etwan verlassen muBt. 
- Denn ich ginge dann auch.« - Lauter und feierlicher fuhr er 
fort: »Denn wir konnen nicht mehr geschieden werden - hier 
unter der Ewigkeit reich' ich dir mein Herz - und wenn es dich 
vergisset: so zerquetsch' es ein Schmerz, der uber die zwei Wei- 
ten reicht«. . . (Leiser und zardicher) »Weine morgen nicht, Engel 



I086 HESPERUS 

- und die Vorsehung gebe dir Ruhe.« - Wie ein Verklarter an 
eine Verklarte neigte er sich zuriickgezogen an ihren heiligen 
Mund und nahm in einem leisen andachtigen Kusse, in dem die 
schwebenden Seelen nur von feme mit aufgeschlagnen Flugeln 
zitternd einander entgegenwehen, mit leiser Beruhrung von den 
zerflossenen weichenden Lippen die Versieglung ihrer reinen 
Liebe, die Wiederholung seines bisherigen Edens und ihr Herz 

und sein Alles 

- Aber hier wende die sanftere Seele, die die Donnerschlage 
des Schicksals zu sehr erschiittern, ihr Auge von dem gelben i< 
groBen Blitze weg, der plotzlich durch das stille Eden fahrt! - 



»Schurke!« - schrie der heraussturzende Flamin mit spriihenden 
Blicken, mit schneeweifien Wangen, mit wie Mahnen herunter- 
hangenden Locken, mit zwei Taschenpistolen in den Handen - 
»Da nimm, nimm, Blut will ich« und stieB ihm das Mordgewehr 
entgegen — Viktor drangte Klotilden weg und sagte : »Unschul- 
dige! vermehre deine Schmerzen nkbt!« - Flamin rief in neuer 
Entflammung: »BIut! - Treuloser, nimm, schieBk Matthieu fiel 
ihm in den rechten Arm, aber der linke drang bebend dem Viktor 
das GeschoB auf. - Viktor riB es zu sich, weil die Miindung um . 
Klotilden herumwankte. - »Du bist ja mein Bruder«, rief die Ge- 
marterte, bloB durch Todesangst vom Tode der Ohnmacht weg- 
gequalt. - Flamin warf mit beiden Armen alles von sich und sagte 
graBlich-leise langgedehnt in wiitender Erschopfung: »Blut! - 
Tod !« - Klotilde sank um - Viktor blickte auf sie und sprach 
gegen ihn: »Feuer' nur, hier ist mein Leben!« - Flamin schrie 
laut: »Du zuerst!« - Viktor schoB, hob den Arm weit empor, um 
in die Luft zu schieBen, und der zersplitterte Gipfel wurde von 
seiner Kugel heruntergesturzt. - Klotilde wachte auf - Emanuel 
flog her - warf sich an seines Schulers Herz - seiner seit Jahren , 
zum ersten Male von Leidenschaft auseinandergerissenen Brust 
quoll das sieche Blut aus - Flamin schleuderte stolz seine Pistole 
weg und sagte zu Matthieu: »Komm! es ist der Mtihe nicht wert« 
und ging mit ihm davon. 



36. HUNDPOSTTAG 1087 

Als Klotilde Emanuels Blut auf ihres Geliebten Kleidern sah, 
hielt sie ihn fiir getroffen und legte ihr Tuch auf das Blut und 
sagte : »Ach das haben Sie nicht um mich verdient.« - Emanuel 
atmete wieder durch sein Blut hindurch, niemand konnte weiter 
sprechen, niemand iiberlegen, jeder fiirchtete sich, zu trosten, die 
todlich zermalmten Herzen schieden mit verbissenem Weh aus- 
einander; bio 6 Viktor, den das graBliche Wort »Schurke« bei 
jeder Erinnerung wie ein Dolch durchstieB, sagte noch zur 
Schwester: »Ich lieb' ihn nicht mehr, aber er ist unglucklicher 

o als wir, ach er hat alles verloren und nichts behalten als einen 
TeufeU 

Namlich Matthieu. Dieser hatte heute die Stimme Emanuels, 
die mit Julius gesprochen und die Dahore fiir des Vaters seine 
gehalten, und nachher die Stimme der Nachtigall, der Viktor 
nachgegangen, nachgemacht, um den Regierungrat durch seine 
eigne Ohren und Augen von Viktors Liebe gegen Klotilden zu 
uberfiihren. 

Viktor fuhrte den schwachen Lehrer in die indische Hikte. Er 
fuhlte jetzo nach so vielen auf losenden Tagen seine Nerven durch 

o dieses Ungewitter gekiihlt und gestahlt; der Seclenschmerz und 
die Aufopferung hatten sein Blut, wie engere versperrende Wege 
die Strome, schneller und heftiger gemacht, und die Liebe zu Klo- 
tilden war mannlicher und kiihner durch den Gedanken geworden, 
da8 er sie nun ganz verdiene. Nichts gibts auBer GroBmut und 
Sanftmut Schoneres als das Biindnis derselben. 

Emanuel war nichts weiter als matt und setzte sich, da der 
Abend schwiil auf alien briitete, mit Viktor auf die Grasbank sei- 
nes Hauses, um mit der zuckenden Brust aufrecht zu bleiben, und 
eine sanfte Freude glanzte in seinen Mienen iiber jeden gefallnen 

10 Bluttropfen, weil jeder ein rotes Siegel auf seine Hoffnung zu 
sterben war. Aber als Viktor das mude Haupt des guten Mannes 
an seinen Busen nahm und ihn darauf entschlummern lieB : so 
wurde ihm im stillen Abend wieder weh, und sein Herz schmerzte 
ihn erst. Er dachte sich es einsam, wie sich driiben heiBe Schwerter 
durch die schuldlose blutende Seele zischend ziehen wiirden — er 
fuhlte, wie nun das zweisilbige, zweischneidige Zornwort Flamins 



1088 HESPERUS 

durch das ganze Band ihrer Freundschaft geschnitten - er stellte 
sich das neben ihm bliihende Theater der schonen Tage verodet 
vor und das Voruberwehen der Freuden, die uns nur wie Schmet- 
terlinge in weiten Kreisen umspielen, indes der Nervenwurm des 
Grams sich tief in unsere Nerven einbeiBet. Endlich lehnt' er sich 
weinend an den schlummernden Vater und driickte ihn leise und 
sagte: »Ach ohne Freundschaft und Liebe konnt' ich die Erde 
nicht ertragen.« - Und endlich wurde auch seine zersetzte und 
versiegte Seele vom schweren Korper in den dicken Schlaf ge- 
driickt und hinabgezogen. i 

Leser! der letzte Augenblick in Maienthal ist der groBte - erhebe 
deine Seele durch Schauder und steige auf Graber wie auf hohe 
Gebirge, um hinuberzusehen in die andere Welt! 

Um Mitternacht, wo die Phantasie die verhullten Toten aus 
den Sargen zieht und sie aufgerichtet in die Nacht um sich stellt 
und aus der zweiten Welt unbekannte Gestalten zu uns verschlagt 
— so wie unkenntliche Leichname aus Amerika an die Kiisten der 
alten Welt antrieben und ihr die neue verkundigten -, in der 
Geisterstunde schlug Viktor die Augen auf, aber unaussprechlich 
heiter. Ein vergessener Traum hatte die heutige Vergangenheit 2 
mit allem ihrem Getose und Gewolke weit hinabgesenkt; - der 
lichte Mond stand oben in der blauen Verfinsterung wie die sil- 
berne Spalte und quellenhelle Miindung, aus der der Lichtstrom 
der andern Welt in unsere bricht und in atherischem Dufte nieder- 
sinkt. - »Wie ist alles so still und so licht!« sagte Viktor. »Ist diese 
dammernde Gegend nicht aus meinem Traume iibrig geblieben, 
ist das nicht die magische Vorstadt der tiberirdischen Stadt Got- 
tes?« - Eine voriibereilende Stimme sagte: »Tod! ich bin schon 
begraben.« 

Emanuel offnete dariiber die Augen, warf sie durch das Laub- 3 
werk in den iiber das Dorfchen erhohten Kirchhof und sagte mit 
einer Zuckung seines ganzen Wesens : »Horion, wach auf, Giulia 
hat die Ewigkeit veriassen und steht auf ihrem Grabe.« - Viktor 
blickte fieberhaft hinauf; und in einem schneidenden Eisschauer 
wurden alle warmen Gedanken und Nerven des Lebens hart und 



36. HUNDPOSTTAG 1089 

starr, da er oben am Grabe eine weiBe verschleierte Gestalt ruhen 
sah. Emanuel riB sich und seinen Schuler auf und sagte: »Wir 
wollen hinauf auf das Theater der Geister: vielleicht ergreift die 
Tote meine Seele und nimmt sie mit.«... Furchterlich schwiegen 
die Gegenden um ihren Weg... die Menschen fahren aus dem 
FuBboden wie stumme Knechte, wie Maschinen zur Bedienung, 
und fallen wieder hinunter, wenn sie abgeleeret sind.... Das 
Menschengeschlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den 
Sonnenschein, und das betauete Gewebe hangt sich flatternd an 

10 zwei Welten an, und in der Nacht vergehts — So dachten beide 
Menschen auf der Wallfahrt zur Toten, sie wunderten sich uber 
ihre eigne schwere Verkorperung und iiber das Gerausch ihrer 
Tritte. - Emanuel knupfte seinen Blick auf die verschleierte Ge- 
stalt, die jetzt niederkniete ; er dachte, sie hore seine Gedanken und 
fliege zu seinem Herzen durch das Mondlicht heriiber .... 

Die Brust der zwei Menschen hob sich gleichsam unter zwei 
Leichensteinen auf und nieder, da sie die ubergrasten langen Stu- 
fen zum Kirchhof aufstiegen und das schwere Tor, das mit ver- 
witterten, weggewaschenen Auferstandenen angemalet war, be- 

20 ruhrten und aufdrehten. Das warme Erdenblut friert ein und das 
weiche Gehirn gerinnt zu einem einzigen Schreckenbilde, wenn 
von der Ewigkeit und von der Pforte der Geisterwelt die groBe 
Wolke wegriickt; Emanuel rief auf der Biihne der Toten wie auBer 
sich: »Schauderhafter Geist, ich bin ein Geist wie du, du stehst 
auch unter Gott, willst du mich toten : so tote mich durch keinen 
Schauer, durch keine zermalmende Gestalt, sondern lachle wie 
die Menschen und drehe still mein Herz ab.« - Da stand die ver- 
hiillte Gestalt auf und kam - Emanuel griff wild nach seinem 
Freund, hiillte sich in das Angesicht desselben und sagte ange- 

30 druckt: »An dir sterb* ich, an deinem warmen Herzen - o lebe 
glucklich, wenn du nicht mit mir erkaltest, ach! ziehe mit!«... 

»Ach, Klotilde!« - sagte Viktor; denn sie war die Gestalt. Sie 
war stumm wie das Geisterreich, denn die besuchte Tote um- 
klammerte noch ihr Herz; aber sie war groB wie ein Geist daraus: 
denn der atherische Lichtnebel des Mondes, der Stand auf Toten, 
der Blick in die Ewigkeit, die hohe Nacht und die Trauer erhoben 



IO9O HESPERUS 

ihre Seek, und man vergaB fast, daB sie weinte. - Emanuel hielt 
seine Fliigel noch" ausgebreitet iiber die Szene und schauete er- 
haben iiber die Graber : »Wie alles hier schlaft und ruht auf dem 
groBen griinen Totenbette! Ich mochte darauf erliegen - Sprach 
jetzo nichts? - Die Gedanken der Menschen sind Worte der Gei- 
ster. - Wir sind schleichende Nachtvogel im dammernden Dunst- 
kreis, wir sind stumme Nachtwandler, die in diese Hohlen fallen, 
wenn sie erwachen — Ihr Toten! verstaubet nicht so stumm, ihr 
Geister, die ihr aus euren begrabnen Herzen zieht, flattert nicht 
so durchsichtig um uns ! — O der Mensch ware auf der Erde eitel 1 ° 
und Asche und Spielwerk und Dunst, wenn er nicht fiihlte, daB 
ers ware — o Gott, dieses Gef iihl ist unsere Unsterblichkeit !« — 
Klotilde, um ihn von dieser verheerenden Begeisterung herab- 
zuziehen, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Leben Sie wohl, 
Verehrungswiirdiger, ich nehme heute noch Abschied, weil ich 
morgen aus Maienthal gehe - leben Sie gliicklich - gliicklich, bis 
wir uns wiedersehen; mein Herz vergisset Ihre GroBe nie, aber 
ich sehe Sie bald wieder.«... Ihre Wehmut iiber den Gedanken 
an sein geweissagtes Sterben, ihre Furcht eines ewigen Abschieds 
erdriickten die andern Worte, denn sie wollte mehr sagen und 20 
warmer danken. Emanuel sagte: »Wir sehen uns nicht wieder, 
Klotilde; denn ich sterb' in vier Wochen.« - »0 Gott! nein!<t 
sagte Klotilde nut dem innigsten heifiesten Tone. - »Mein guter 
Emanuel,* sagte Viktor, »quale diese Gequalte nicht. - Fasse dich, 
Gemarterte! unser Freund bleibt gewiB bei uns.«- Hier hob Ema- 
nuel sein Auge in den Himmel und sagte mit einem Blick, in dem 
eine Welt war: »Ewiger! konntest du mich bisher so getauscht 
haben? - Nein, nein, am l^ngsten Tage ziehen mich deine Sterne 
auf, und deine Erde kuhlt mein Herz. - Und dich, du gute Klo- 
tilde, du Seele vom Himmel, dich sen' ich also heute gewiB, bei 3° 
Gott! zum letztenmal mit deinen schonen Wangen und in deiner 
Erdengestalt - ich segne dich und sage dir Lebewohl, aber schwer 
und triibe, weil ich noch so viele Tage leben soil ohne dich. Ziehe 
sanft umweht durchs Leben, halte dein Herz hoch iiber den bun- 
ten Dunst der Erde und iiber ihre Wetterwolken - du horst mich 
ja nicht, du bitter-weinendes Angesicht, Gott gieBe Trost in deine 



36. HUNDPOSTTAG IO9I 

Seele, scheide froher! - Dein Freund ist bei mir, wann ich von 
hinnen gehe.« - Hier faBte Viktor die Hande derwankenden ver- 
weinten Gestalt, die sich vergeblich die Tranen abstreifte, um den 
Lehrer noch einmal zu sehen und in die Seele zu driicken; und als 
Viktor ohne Besinnung rief: »Giulia! Selige! mildere das Weh 
deiner Freundin in dieser Stunde, halte dieses brechende Herz«, 
so sagte Emanuel, unbeschreiblich zartlich beide anblickend : »Ich 
segne euch ein wie ein Vater, heiliges Seelen-Paar! Nie verlasset, 
nie vergesset einander! - O ihr seligen Geister hier uber dem 

10 glimmenden Moder der zerstxickten Sarge, gebet diesen zwei 
Herzen Frieden und Gluck, und wenn ich einmal gestorben bin, 
will ich um eure Seelen schweben und sie beruhigen. Und du, 
Ewiger unter deinen Sternen, mache diese zwei Menschen so 
gliicklich wie mich - o nimm ihnen nichts, nichts auf der Erde als 

das Leben. - Gute Nacht, Klotilde!« 

- Die Pfingsttage sind voriiber! - 

Und dir, gutes Schicksal, dank* ich, daB du mir die Gesundheit 
zur Freude gereicht, ein solches fluchtiges goldnes Zeitalter abzu- 
schatten, da mein schwaches, so ungleich schlagendes Herz nicht 

20 verdient, solche Entziickungen nachzumalen. - Und dir, mein 
lieber Leser, moge das Pfingstfest irgendeinen Brandsonntag oder 
eine Marterwoche deines Lebens versiiBet haben! - 

Ende des dritten Heftleins 



VlERTES HEFTLEIN 



VlERTE VORREDE 

oder abgedrungene Antikritik gegen eine oder die andere Rezension, die mir 
etwan nicht ge fallen sollte 

Gute Romanenschreiber erschafFen aus Dinten- und Drucker- 
schwarze einen neuen entsetzlichen Tyrannen, geben ihm ent- 
weder in Italien oder im Orient einen Thron — und danh treten sie 
(ungleich den Kindern, die vor der Gestalt entlaufen, die sie ge- 
zeichnet haben) beherzt vor den gemalten gekronten Wiiterich 
und sagen ihm die herrlichsten, aber die kiihnsten Wahrheiten in 

io das Angesicht, die den freien Mann verraten, und die wohl kein 
gebiickter Dikasteriant vor seinem Regenten wiederholt. Solche 
Waghalse erinnern mich so oft an zwei Abcschutzen, als ich bei 
einem Tore im HabergaBchen in Hof vorbeigehe, auf dem ein ge- 
malter Lowe sich und seine Mahne aufbaumt und den Schwanz 
und die Zunge ringelt und hebt. Denn einer der gedachten Abc- 
schiitzen sagte unter meinem Voriiberlaufen zum andern : »H6r, 
ich fass* ihn doch am Schwanz an, ich furchte mich gar nicht.« 
Aber der andere Schiitz, der yiel dreister dachte, bestieg kalt einen 
Eckstein und sagte : »Ich erst, Herr, ich fahr' ihm gleich so in den 

20 Rachen!« - 

Es ist dieselbe Kuhnheit, womit oft ein Autor auf dem Papier, 
auBer dem gedachten grausamen Konig der Tiere, auch das kri- 
tische Katiengeschlecht angreift - das Linne zur koniglichen Linie 
der Lowen zahlt -, indem er Richterstiihle so kalt und kuhn, als 
warens gemalte Thronen, erschiittert und so im Allgemeinen 
Journale durch seine Vorreden schilt und fallt. Das kann ein 
Schriftsteller von Kraft. Ich meines Orts bin hierin vielleicht so ver- 
messen wie einer und male mir ausdrucklich folgende Rezensen- 
ten-Katze hin, um frei und ungebunden mit ihr anzubinden und 

5° an ihr zu zeigen, was Mut tut. 

Erstlich mufi der Rezensent, der mir vorwerfen wird, ich ware 
zwei ganze Schalttage schuldig - den nach dem 40sten und den 



IO96 HESPERUS 

nach dem 44sten Hundposttag -, diese zweite Ausgabe gar nicht 
angesehen haben; die beiden Vorreden, womit ich sie bereichert 
habe, die erste und diese, gelten bei alien Verstandigen fur wahre 
Schalttage. 

Zweitens halt mein Rezensent sich (kiinftig) iiber meine Scho- 
rmng meiner Manier auf. Er hore aber jetzt den Philosophen (nam- 
lich mich) ; Manier ist an und fur sich weiter nichts als folgendes: 
das asthetische Ideal und Intregal wird, wie jedes, nur von einer 
unendlichen Kraft erreicht, wir aber mit unserer endlichen kom- 
men ihm unaufhorlich ndker> nicht einmal nah; Manier ist also, 10 
wie es der Philosoph nimmt, ein endlicher Spiegel der Unendlich- 
keit, oder der Ausdruck des Verhaltnisses, in welchem jede Tem- 
peratur und Saitenzahi irgendeiner gegebenen Aolsharfe mit der 
Partitur der unendlichen Spharenmusik steht, der sie nachzu- 
klingen hat. Jedes Gewebe menschlicher Krafte gibt nur eine Ma- 
nier, und hohere Geister wurden in Homer und Goethe wenig- 
stens die menschliche finden; ja die hohere Engel-Hierarchie fande 
die niedere manieriert, der Seraph den Engel der Gemeine. Daich 
aber nicht einmal ein gewohnlicher Engel bin - geschweige ein 
Seraph -: so wiirde ein anderer Rezensent als der, der mich be- 20 
urteilen wird, sogleich von vorne vorausgesetzt haben, daB ich 
eine Manier haben wiirde. - Und diese hah* ich offenbar. - Aber 
noch mehr: da der Grad und das Verhdltnis unserer Krafte sich 
von Jahr zu Jahr verwandelt - und mithin auch die Frucht und 
der Ertrag derselben, die Manier-: so wirft leider gewohnlich die 
Manier des funfzigsten Jahrs sich zum Korrektor der Manier des 
fiinfundzwanzigsten auf; oder vielmehr, es geht eine heterogene 
Einkindschaft von Kindern zweier Ehen vor, bei welcher beide 
verlieren. Ein solches Simultan-Hysteronproteron ist noch arger, 
als wenn man die griechischen Statuen aus dem einen Winkel- 30 
mannschen Kunstzeitalter nach den Statuen aus einem andern 
behacken und zuschleifen wollte. GieBe lieber ein reines fliissiges 
Werk in deine jetzige Form, und treibe nicht erst das gegossene 
erhartete darein! - Gesetzt auch, ich wiirde kiinftig kliiger und 
anders, niemals wiird' ich den Greis auf den JiingHng pfropfen. 
Der Mensch halt sich im Konzertsaal des Universums, wenn 



VIERTE VORREDE IO97 

nicht fur den Solospieler, doch fiir ein Instrument darin - anstatt 
fur einen einzigen Ton -, wie denn der Fiirst sich fiir ein Obe- 
rons- oder doch Parforcehorn ansieht - der Poet fur ein Haber- 
rohr - der Autor fiir ein Setzinstrument 1 - der Papst fiir das Orgel- 
werk - die Schone fiir Bestelmeiers Handstahlharmonika oder fiir 
eine Wachtelpfeife - mein Rezensent fiir eine Stimmpfeife - und 
ich mich selber fiir Malzels groBes Panharmonikon. Aber wir alle 
sind nur Tone, wie in Potemkins Orchester jede der 60 metallenen 
Floten nur einen Ton angab. Daher bin ich iiber jede Individuali- 

10 tat, iiber jede Manier als iiber einen neuen Halbton in der Kirchen- 
musik der Wesen froh. 

Drittens weiB ich nichts, woraus ich meines kiinftigen Rezen- 
senten Verlegenheit um siindige Materie zum Tadeln besser sehen 
kann, als dieses, daB er sich an solche jammerliche Kleinigkeiten 
halt - in Zukunft -, wie folgende augenscheinlich sind, daB ich 
z. B. diese Vorrede beigefugt, daB ich das Werklein in vier Hefte 
auseinandergebunden und durch dieses vierte Heft einem friihern 
Besitzer und Biicherwurm den Bogenwurm' der alten Ausgabe 
ganz unbrauchbar gemacht. Aus dergleichen Proben und Sprii- 

20 chen, womit mir ein solcher spartischer Ephorus Emerepes die 
vierte und hochste Saite nehmen will, die ich auf meiner Geige 
voll steigender Quinten aufziehe, mache sich der geneigte Leser 
einen BegrifT, wie es mit dem Ganzen der Rezension aussehen 
mag. Ich schame mich fortzufahren. 

Viertens find' ich iiberall, wenn ein Autor sich in der Vorrede 
mit einem leichten Tadel, den er doch selber kaum glaubt, belegt, 
daB alsdann die Kritiker diesen Tadel sogleich akzepderen und 
verdoppeln, wie die Romer einen Selberfnorder, dem die Tat ver- 
ungluckte, nachher ordentlich hinrichteten. Schlagt der gewitzigte 

30 Autor die Sache in ein anderes Fach und belegt sich vornen mit 
einigem Lob - und nicht mit scheinbarem -: so wird dieses gar 
nicht akzeptiert, geschweige verdoppelt. Da mag der Teufel Vor- 
redner sein! - 

1 So heifiet ein Klavier, das alles aufnotiert, was es vortont. 
* So heiOet der unten auf jedem Bogen abgekiirzt wiederkommende Titel 
des Buchs. 



IO98 HESPERUS 

Inzwischen scheint er auch nur Rezensent zu sein und weniger 
ein schlauer als ein grober Gast. Viele und wirklich auffallende 
Unhof Iichkeiten vergeb' ich aber meinem kiinftigen Rezensenten 
gern, indes ich einem gallischen oder britischen nichts verziehe, 
weil er weiB, wie man mit Leuten umgeht. - Ich spiele ihm selber 
in der Antikritik nicht sonderlich hof Iich mit und ziehe nicht, wie 
der Landmann vor hohern Blitzen, die Miitze vor seinen ab. Die 
Richter sagen nach der Spezial-Rezension ohnehin zum Inkul- 
paten Du. Ein gelinder (kritischer) Winter ist ungesund fur den, 
den er betrifft. Obrigens lauer* ich bloB darauf, daB ich bertihmt 10 
werde und Lorbeerblatter aufhabe : dann werd' ich so gut wie andre 
Zeitgenossen, die jetzt Lorbeerbaume aufgesetzt, nicht leiden, daB 
man mich tadelt; und wenige werden sichs unterfangen, so wie 
auch auf Gemalde, die mit Lorbeerol bestrichen worden, keine 
Fliegen fallen. 

Fiinftens und letztens. Es ist bekannt, daB die verstorbene 
Schriftstellerin Ehrmann den Advokaten Ehrmann, als er eines 
lhrer Werke in der StraBburger Zeitung mit vielen Beifall aufge- 
nommen undangezeigt, der Rezension wegen geheiratet hat. Will 
es der Redakteur eines Journals heimlich so karten, daB eine Mit- 20 
arbeiterin desselben meine zweite Auflage des Hesperus (oder 
Venussterns) mit dem Beifalle aufnimmt und bekannt macht, den 
die erste ihrer Reize wegen allgemein erhalt; und will er mir nur 
einen Wink uber das Geschlecht meines Rezensenten zuspielen - 
wobei aber darauf gesehen werden muB, daB die kritische Person 
sich noch im besten bliihenden Alter eines Rezensenten iiberhaupt 
befinde, worin man das Feuer des Abend- oder Venussternes noch 
leicht empfinden und mitteilen und gunstig rezensieren kann, 
um so mehr, da schon in der Physik nur grimes Holz ein Leiter 
der elektrischen Flamme ist, diirres aber ein Nichtleiter — , will der 50 
Redakteur alles dieses besorgen und abtun : so macht sich der Ver- 
fasser dieser Antikritik mit seiner Namenunterschrift anheischig, 
der Mitarbeiterin sogleich nach Empfang der Rezension aufzu- 
warten und solche mit den gewohnlichen Zeremonien zu heiraten. 

Hof im Voigtland, den 8.Jun. 1797. 

Jean Paul Fr. Richter. 



Neunter Schalttag 
Viktors Aufsatz tiber das Verhaltnis des Ich zu den Organen 

Viktor war ebensosehr dem ausschlieBenden Geschmack in der 
Philosophic als in der Dichtkunst feind. In alien Systemen - sel- 
ber der Ketzer des Epiphanius und Walchs - driickt sich die Ge- 
stalt der Wahrheit, wie im Tierreich die menschliche, wiewohl in 
immer kiihnern Zugen ab. Kein Mensch kann eigentlichen Unsinn 
glauben, obwohl ihn sagen. Sonderbar ists, daB gerade die konse- 
quenten Systeme, ohne das Atomen-Klinamen des Gefuhls, am 

10 weitesten auseinanderlaufen. Die Systeme werfen, wie die Leiden- 
schaften, nur im Fokalabstande den hellsten Lichtpunkt auf den 
Gegenstand; — wie jammerlich lauft z.B. die groBe Theorie von 
der Selberbeherrschung aus dem Christentum in den Stoiiismus - 
dann in den Mystiiismus - dann in den Monachismus uber, und 
der Strom sickert endlich ausgedehnt im Fohismus ein, wie der 
Rhein im Sand ! - Die kantische Theorie hat mit alien folgerechten 
Systemen diese Versandung, und mit den unkonsequenten jenes 
Gefuhls-KHnamen 1 gemein, das die vertrocknenden Arme wieder 
zu einer labenden Quelle zusammenfuhrt. Die zwei Hande der 

20 reinen Vernunft, die einander in der Antinomie zerkratzten und 
schlugen, legt die praktische friedlich zusammen und driickt sie 
gefaltet ans Herz und sagt: hier ist ein Gott, ein Ich und eine Un- 
sterblichkeit! — 

Viktor befruchtete seine Seele vorher durch die groBe Natur 
oder durch Dichter, und dann erst erwartete er das Aufgehen 
eines Systems. Er fand (nicht erfand) die Wahrheit durch Auf- 
flug, Umherschauen und Oberschauen, nicht durch Eindringen, 
mikroskopisches Besichtigen und syllogistisches Herumkriechen 
von einer Silbe des Buchs der Natur zur andern, wodurch man 

30 1 Das Orientieren durch die praktische Vernunft. 



\war dessert Worter, aber nicht den Sinn derselben bekommu Jenes 
Kriechen und Betasten gehort, sagt' er, nicht zum Finden, sondern 
zum Prilfen und Bestatigen der Wahrheit; wozu er sich allezeit 
von Bayle Schulstunden geben HeB : denn niemand lehrt die Wahr- 
heit weniger finden und besser priifen als Scharfsinn oder Bayle, 
der ihr Miinzwardein, aber nicht ihr Bergmann ist. 



Der Aufsatz 

Schrieb' ich ihn in Gottingen: so konnt' ich ihn in Paragraphen 
und grundlicher machen, weil mich die Flachsenfinger nicht stor- 
ten. Indessen muB er doch hier geschrieben werden, damit ich an 10 
mir selber einen Schirmherrn und Anwalt gegen die Hof junker 
habe, die meinen Geist in meinen Korper verwandeln wollen. 

Das Gehirn und die Nerven sind der wahre Leib unsers Ich; 
die iibrige Einfassung ist nur der Leib jenes Leibes, die nahrende 
und schirmende Borke jenes zarten Marks. - Und da alle Ver- 
anderungen der Welt uns nur als Veranderungen jenes Markes 
erscheinen : so ist die Mark- und Bleikugel mit ihren Streifen die 
eigentliche Weltkugel der Seele. Der umgekehrte Nervenbaum 
entsprieBet aus dem geschwollnen Fotus-Gehirn wie aus einem 
Kerne, dem es auch ahnlich sieht, und steigt mit Sinnen-Asten als 20 
Ruckenmarkstamm empor bis zum zergliederten Gipfel des 
Pferdeschweifs. Dieses markige Gewachs ist auf den Adernbaum 
wie eine zehrende parasitische Pflanze geimpft. Und wie jeder Zweig 
ein kleinerer Baum ist, so sind - denn das alles ist nicht Ahnlich- 
keit des Witzes, sondern der Natur- die Nervenknoten vierte Ge- 
hirnkammern im kleinen. Die Nerven-^rt^n blattern sich aus- 
gebildet auf der Netzhaut, auf der Schneiderischen Haut, in der 
Geschmackknospe etc. zu Bluten auf. Daher wird z. B. nicht mit 
dem Fortsatze des Sehnervens gesehen, sondern mit seiner zarten 
Staubfaden-Zerfaserung; denn die groBe wankende Gemalde- 30 
galerie auf der Netzhaut kann unmoglich durch eine Bewegung 
des Nervengeists (oder was man nehmen will - denn auf Bewe- 



NEUNTER SCHALTTAG 1 10 1 

gung lauft es doch hinaus) sich zuriickschieben ins Gehirn, wobei 
noch dazu die zwei Galerien der zwei Augen durch die zwei Zin- 
ken des Sehenervens durchriicken und in dessen Stiel zu einem 
Gemalde zusammenfallen miiBten. 

Folglich muB das Bild im Auge, Ohre etc., wenn es zu etwas 
dienen soil, vorn an der Spitze des Nervens empfunden werden - 
mit einem Wort, es ist noch narrischer, die Seele in den Zwinger 
der vierten Gehirnkammer, d.h. in einen Porus dieses Knollen- 
gewachses zu sperren, als es ware, wenn einer, der, wie ich, ein 

10 beseelendes Ich in die Blume setzt, dasselbe ins Erdstockwerk des 
dumpfen Kerns heftete. Lieber wollt* ich die Seele doch in das 
feinste HoniggefaB der Sinnen, in die Augen, verlegen als ins un- 
empfindlichere Gehirn, wenn ich nicht iiberhaupt glaubte, daB 
sie wie eine Hamadryade jedes Nervenastchen dieser Tierpflanze 
bewohne und warme und rege. Der unterbundene oder durch- 
schnittene Nerve bringt zwar keine Empfindung mehr zu, aber 
nicht wegen unterbrochenem Zusammenhang mit der Seele und 
ihrer Wohn-Gehirnkammer, sondern weil ihm der nahrende 
Lebensgeist abgeschnitten ist; denn die Nerven brauchen wie alle 

20 feinere Organisationen so sehr for tdauernden Kost-ZuguB, daB der 
stockende Herz- und Arterienschlag in einer Minute alle ihre 
Krafte aufhebt. 

Ich gehe weiter und sage - um zwei Irrtumern zu wider- 
sprechen - vorher heraus: die Organe empfinden nicht, sondern 
werden empfunden; zweitens die Organe sind nicht die Bedingung 
alle Empfindung iiberhaupt, sondern nur einer gewissen. 

Das letzte zuerst: da das Organ (d.h. seine Veranderung), das 
so gut ein Korper ist als irgendein grober Gegenstand, dessen 
seine jenes an die Seele legt, dennoch von dem geistigen Wesen 

30 unmittelbar und ohne ein ^weites Organ empfunden wird : so 
miissen alle korperliche Wesen dem geistigen so gut Empfin- 
dungen geben als die Nerven, und eine unverkorperte Seele ist 
nur darum nicht moglich, weil sie im Falle des abgeloseten Kor- 
pers alsdann das ganze materielle Universum als einen plumpern 
truge. 

Meine erste Behauptung war : man sollte nicht sagen empfin- 



II02 HESPERUS 

dende Organisation, sondern empfundene. Die Nerven empfinden 
nicht den Gegenstand, sondern verandern nur den Ort, wo ef 
empfunden wird, und ihre Veranderungen und die des Gehirns 
sind nur Gegenstande des Empfindens, nicht Werh[euge desselben 
oder gar es selber. Aber warum? - 

Ich habe mehr als ein Darum. Ein Korper ist nurderBewegung 
fahig, ob sie gleich freilich nur der Schein der gedachten Zusam- 
mensetzung und das Resultat der in einfache Teile verhullten 
Krafte ist. Die Saite, die Luft, die Gehorknochelchen, die Gehor- 
nerven erzittern ; aber die Erzitterung der letzten erklaret so wenig io 
das Empfinden eines Tons, als das Erzittern der Saite es konnte, 
wenn die Seele an diese gekettet ware. So ist trotz aller Bilder 
im Auge und Gehirn das Ersehen derselben doch noch ungetan 
und unerklart; oder ist wohl darum, weil die Sinne Spiegel vo\\ 
Bilder sind, etwan das geistige Auge entbehrlich oder ersetzt? Und 
setzt die Veranderung des Nervens nicht eine zweite in einemzwei- 
ten Wesen voraus, wenn sie soil bemerkt werden? Oder stellet 
sich in diesem Wesen wieder eine Bewegung die Bewegung vor? 

Dieses bringt mich aufs Gehirn. Dieser groBte und grobste 
Nerve - der Resonanzboden aller andern - halt der Seele die 20 
Schattenrisse derer Bilder vor, die von den andern zugefuhrt 
wurden. Im ganzen, glaub' ich, dient das Gehirn mehr den 
Muskelnerven, den Glieder-Ziigeln, die da in der Hand der Seele 
zusammenlaufen, und mehr alien iiberhaupt als nahrende Wurzel; 
aber weniger dient es als ReiBzeug der malenden Seele. Da unsere 
meisten Vorstellungen auf grundierende Gesichtbilder aufgetra- 
gen sind : so denken wir wahrscheinlich mehr mit dem Sehnerven 
als mit dem Gehirn. Warum bemerkte Bonnet, daB tiefes Denken 
die Augen und scharfes Sehen das Gehirn ermiide? Warum stump- 
fen gewisse Ausschweifungen zugleich das Gedachtnis und die 3 o 
Augen ab? Die auBerhalb des Auges gaukelnden Fieberbilder der 
Kranken und der lebhaften Menschen wie Kardan, der im Dunkeln 
sah, was er feurig dachte, erklaren sich aus meiner Vermutung. 

Ober das Gehirn hat man zwei Irrtumer; aber der Himmel be- 
wahre meine Freunde nur vor dem einen. Denn vor dem andern 
kann sie Reimarus bewahren, der recht erwiesen hat, daB das Ge- 



NEUNTER SCHALTTAG I IO3 

hirn keine Aolsharfe mit zitternden Fibern, noch eine dunkle 
Kammer mit geschobnen Bildern ist, noch eine Spielwelle mit 
Stiften fur jede Idee, die der Geist umdrehr, urn an sich seine 
Ideen ab- und vorzuorgeln. 1st nun nicht einmal die vorherbe- 
stimmte Harmonte des Gehirns und des Geistes oder das Akkom- 
pagnement beider begreif Iich : so ist die Identitat derselben gar un* 
moglich; und eben vor diesem Irrtum hat eben der oben gedachte 
Himmel meine Freunde zu bewahren. Der Materialist muB erst- 
lich alles das aufstellen, was Reimarus umgestoBen hat; er muB 

10 im Gehirnbrei die Millionen Bilderkabinetter von 70 Jahren ver- 
steinern und doch wdeder wie Eidophysika beweglich machen und 
die gemischten Karten-Bilder an jede Terzie austeilen; er muB 
darauf sehen, daB diese beseelten tanzenden Bilder in Reih und 
GHed gezwungen werden. Und dann geht doch seine Not erst 
recht an ; denn nun muB er - wenn wir ihm auch zugeben, daB die 
Bilder sich selber sehen, die Gedanken sich selber denken, daB 
jede Vorstellung alle andere und sogar das Ich, wie eine Monade 
das All, dunkel nachspiegle, und daB sonach jede Idee eine ganze 
Seek sei - nun muB er (sagen wir) erst einen Generalissimus her- 

20 schaffen, der dieses unermeBliche fluchtige Ideenheer komman- 
diere und stelle, einen Setzer, der das Ideen-Buch nach einem 
unbekannten Manuskripte setze und, wenn Traume, Fieber, Lei- 
denschaften alle Schriftkasten ineinandergeschuttet haben, alle 
Buchstaben wieder alphabetisch lege. Diese regelnde Einheit und 
Kraft - ohne welche die Symmetrie des Mikrokosmus so wenig wie 
desMakrokosmuS) dervorgestellten Welt so wenig wie der wirklichen 
zu erklaren steht - nennen wir eben einen Geist. Freilich ist durch 
diese unbekannte Kraft weder die Entstehung noch die Folge der 
Ideen vermittelt und erklart; aber bei der bekannten der Materie, 

30 bei der Bewegkraft> ists nicht bloB unbegreif lich, sondern gar un- 
moglich; und Leibniz kann leichter die Bewegung aus dunkeln 
Vorstellungen erklaren, als der Materialist Vorstellungen aus Be- 
wegungen. Don ist die Bewegung nur Schein und existiert nur im 
zweiten betrachtenden Wesen, aber hier ware die Vorstellung 
Schein und existierte im zweiten - vorstellenden Wesen. 

Ich habe oft mit Weltleuten, die gut beobachten und elend 



II04 HESPERUS 

schlieBen, mich gezankt, weil sie bei der kleinsten Abhangigkeit 
der Seek vom Korper — z. B. im Alter, Trunke etc. - die eine zum 
bloBen Repetierwerk des andern machten; ja ich habe sogar ge- 
sagt, kein Tanzmeister sei so dumm, daB er so schlosse: »Weil 
ich in bleiernen Schuhen plump, in holzernen flinker und in seid- 
nen am bestetv tanze: so seh' ich wohlj daB die Schuhe mich mit 
besondern Springfedern aufschnellen; und da ich kaum mit bleier- 
nen Schuhen aufkann, so bracht* ichs barfuB nicht zu einem ein- 
zigen Pas.« Die Seele ist der Tanzmeister, der Korper der Schuh. 

Wir fassen keine Einwirkung weder von Korpern auf Korper 10 
noch von Monaden auf Monaden; mithin eine von Organen auf 
das Ich noch minder. Dieses wissen wir, daB die Kohasion und 
Gutergemeinschaft zwischen Leib und Seele immer einerlei oder 
hochstens in den Zeiten groBer ist, wo sie andere kleiner vermu- 
ten; denn der groBte Tiefsinn, die heiligsten Empfindungen, der 
hochste Aufschwung der Phantasie bediirfen gerade das wach- 
serne Flugwerk des Korpers am meisten, wie auch seine darauf 
kommende Ermattung es verburgt; je unkorperlicher der Gegen- 
stand der Ideen ist, desto mehr korperliche Hand- und Spann- 
dienste sind zu dessen Festhaltung vonnoten, und hochstens in 20 
die Zeiten der dummen Sinnlichkeit, der geistigen Abspannung, 
des dunkeln Blodsinns miiBte man die Zeiten der Loskettung vom 
Korper fallen lassen. Sogar die moralische Kraft, womit wir auf- 
schieBende tippige Triebe des Leibes niedertreten, arbeitet mit 
korper lichem Brech- und Handwerkzeug; und die Seele bietet 
hier bloB das Gehirn gegen den Magen auf. - Dazu kommt, daB 
die Grenzen und die Hindernisse einer solchen Losfesselung und 
Ankettung ebensowenig anzugeben waren als die Ursachen der- 
selben. Noch weniger konnen, wie einige meinen, im Traume die 
Bande der Seele schlafTer und langer werden. Der Schlaf ist die 30 
Ruhe der Nerven, nicht des ganzen Korpers. Die unwillkurlichen 
Muskeln, der Magen, das Herz arbeiten darin fort, nicht viel we- 
niger als im wachenden Liegen. Nur die Nerven und das Gehirn, 
d.h. das Denken und Empfinden stocken. Daher erquickt der 
Schlummer reitende und fahrende Menschen, die also mit nichts 
als den Nerven ruhen. Daher werden Nervenschwache, die jede 



37- HUNDPOSTTAG IIO5 

Ruhe abmattet, vom traumlosen Schlaf erfrischt. Beilaufig: 
ohne die Theorie der Desorganisation, die negative und positive 
Nerven-Elektrizitat annimmt, sind die Meteore des Schlafes un- 
erklarlich -z.B. unerklarlich ist dann, warum gerade Opium, 
Wein, Manipulieren, Tierheit, Kindheit, Plethora, nahrhafte Kost, 
Geriiche auf der einen Seite Schlaf befordern; uhd doch Tortur, 
Ermattung, Alter, MaBigkeit, Gehirndruck, Winter, Blutverlust, 
Furcht, Gram, Phlegma, Fett, geistige Abspannung ihn auf der 
andern auch erregen. Hochstens im tiefen Schlafe, wo der 

10 Nervenkorper ruht, konnte man die Seele vom Irdischen los- 
gekettet denken; im Traum hingegen eher enger angeschlossen, 
weil der Traum so gut wie das tiefe Denken, das wie er die fiinf 
Sinnenpforten abschlieBt, ja kein Schlafen ist. Daher zehren 
Traume die Nerven aus, zu deren innern Oberspannungen jene 
noch auBere Eindriicke gesellen. Daher verleiht der Morgen dem 
Gehirn und dem Traum gleiche Belebung. Daher geht dem schla- 
fende Tiere - ausgenommen dem weichlichen zahmen Hund - 
das.ungesunde Traumen ab. Daher gibt schon Aristoteles unge- 
wohnliche Traume fur Vorlaufer des Krankenwarters aus. Daher 

20 hab* ich jetzt getraumt genug und der Leser geschlafen genug. - 



37. HUNDPOSTTAG 

Der Amoroso am Hofe - Praliminarrezesse der Hochzeit - Rettung des 
hoflichen Kriimmens 



Am Morgen nach jener groBen Nacht nahm Viktor von dieser 
geweihten Graberde seiner schonsten Tage mit unverhullten Tra- 
nen Abschied. Er sah sich oft um nach diesen Ruinen seines Pal- 
myra, bis nichts davon ubrig stand als der Bergriicken als Brand- 
mauer. »Wenn du nach vier Wochen wieder hieher gehest,« dachte 
er, »so ists nur, um dem Todesengel zuzusehen, wie er deinen 
30 Emanuel auf den Altar und unter das Opfermesser legt.« Er sagte 
sichs, wie teuer er dieses Laubhiittenfest durch den Tod eines 
Freundes bezahle; und wie dieser ohne einen solchen Ersatz einen 



IIp6 HESPERUS 

ebenso groBen Verlust erleide. Denn er fuhlte, daB das furchter- 
liche Wort »Schurke« als eine ewige Felsenwand zwischen ihre 
auseinandergeteilten Seelen nun getreten sei. - Er stellte sichzwar 
vor und recht gern, was den vergangnen Fjreund lossprach, be- 
sonders die Verhetzung durch Matthieu und Flamins Zuhorchen, 
als er Klotilden ewige Liebe zuschwor; ja er verfiel sogar darauf, 
daB der Evangelist den armen Flamin vielleicht besondere (die 
vom Apotheker vorgeschlagnen) Beweggriinde einer Liebe, durch 
deren Gegenstand die Gunst des Fursten festzumachen war, weit 
im Hintergrunde sehen lassen - aber sein Gefiiht sagte ihm unauf- 10 
horlich: »Er hjitte doch nicht glauben sollenl - Ach hattest du 
mich doch« (sagte er geruhrt bei der Erblickung der Stadt) »mit 
Kugeln oder mit andern Schmahungen durchbohrt, damit ich dir 
hatte leicht vergeben konnen! - Aber^gerade mit diesem fort- 
fressenden Giftlautek - Er hat recht; die Beleidigung der Ehre 
wird darum nicht kleiner, weil sie der andere aus voller Oberzeu- 
gung des Rechts begeht. Denn die Uberzeugung ist eben die Be- 
leidigung; und die Ehre eines Freundes ist etwas so GroBes, daB 
die Zweifel an ihr fast nur durch eigenes Gestandnis entstehen 
diirfen. Aber so werden aus kleinen Verhehlungen leicht Tren- 20 
nungen, wie aus Nebeln im Marz Gewitter im Julius. Nur eine 
vollendete edle Seele vermag es, den gepruften Freund nicht mehr 
zu prufen - zu glauben, wenn die Feinde des Freundes leugnen — 
zu err6ten wie uber einen unreinen Gedanken, wenn ein stummer 
verfliegender Argwohn das holde Bild beschmutzt - und wenn 
endlich die Zweifel nicht mehr zu bezwingen sind, diese noch 
lange aus den Handlungen fortzuweisen, um lieber in eine kame- 
ralistische Unvorsichtigkeit zu fallen als in die schwere Siinde 
gegen den heiligen Geist im Menschen. Dieses feste Vertrauen ist 
Ieichter zu verdienen als zu haben. 5 o 

Im larmenden Hammer- und Miihlenwerk der Stadt war ihm 
wie in einer oden Waldung. An zarte Seelen verwohnt, kamen 
ihm die stadtischen alle so stachlicht und ungeschliffen vor; denn 
die Liebe hatte wie die Tragodie seine Leidenschaften gereinigt, 
indem sie solche erregte. Alles hing so verfallen, so verraset zum 
Einbrechen heriiber, indes die reinen Spiegelwande in Maienthal 



37* HUNDPOSTTAG "07 

fest und glanzend aufstiegen. Denn die Liebe ist das einzige, was 
das Herz des Menschen bis an den Rand vollgieBet, wiewohl mit 
einem bald einsinkenden Nektar-Schaume; sie allein fasset ein 
Gedicht von etlichen tausend Minuten ab ohne den klirrenden 
R-Buchstaben, wie der Dominikaner Cardone iiber sie ein eben- 
so groBes Gedicht unter dem Namen: L'R sbandita ohne ein ein- 
ziges R verfertigte - daher ist sie wie die Krebse in den Monaten 
ohne R am schonsten. 

Das erste, was er in Flachsenfingen zu machen hatte, war ein 

10 Brief an Klotilde. Denn da nun der Evangelist Matthieu aller 
Wahrscheinlichkeit nach in alle Welt ausgehen und das Evange- 
lium vom SchuB-Zweikampf der beiden Freunde alien Volkern* 
predigen wird : so war nichts anders fur den heiligen Ruf seiner 
Geliebten zu tun, als sie in eine Braut zu verwandeln durch eine 
offentlich erklarte Verlobung. Flamins neues Ereifern konnte 
gegen Klotildens Rechtfertigung in keine Betrachtung kommen. 
Der Ausruf »Du bist mein Bruder«, den die Konvulsionen der 
Angst Klotilden entrissen hatten, war natiirlich fiir Flamin unbe- 
greiflich und ohne Wirkung geblieben; fiir den lauernden Matz 

20 aber war er ein herrlicher Kernspruch und ein dictum probans 
seines Lehrgebaudes von ihrer Verschwisterung geworden. - Im 
Briefe also ging Viktor seine Freundin urn die stumme Erlaubnis 
zu seinem Werben an; er iiberlieB es ihr schweigend, die uneigen- 
nutzigsten Beweggriinde seiner Bitte zu erraten. - 

Er erschien jetzt auf dem Kriegschauplatz der Seelen, von dem 
man selten eine genaue Karte erwischt, am Hofe: - seinem mit 
Paradiesen angefiillten Herzen kamen sogar die Zimmer Vor wie 
Glaskasten einer ausgebalgten Voliere, die man mit Streuglanz, 
Konchylien und Blumen iibersaet, und die lebendigen Stiicke der 

30 Zimmer wie getrocknetes, mit Arsenik oder Holz ausgestopftes 
Gevogel; durch die Schlangen war Draht gefiihrt, wie durch die 
Schwanze der groBen Tiere, und die Baumlaufer am Thron stan- 
den auf Draht. — So sehr wurde er bloB durch das Pfingstfest 
der GegenfuBler von uns, die wir bei kalterm Blute das Erhabene 
und Edle eines Hofs leicht bemerken. - Das Neueste, was er da 
horte, war, daB der Fiirst in Gesellschaft der Fiirstin zum Ge- 



IIO& HESPERUS 

sundbrunnen in St. Lune abreise, urn die gichtbriichigen Fiifie, 
wie jene die Augen, heil zu baden. Viktor war wirklich nicht ganz 
tolerant, da er bei sich dachte: »Wenn ihrs nicht besser haben 
wollt, so gent meinetwegen zum T-A Das Paulinum war fur ihn 
ein Schlachthaus und jedes Vorzimmer eine Marterkammer; der 
Fiirst behandelte ihn nicht hofisch-hof lich, sondern kalt, welches 
ihm desto weher tat, da es bewies, er habe ihn geliebt - die Fur- 
stin stolzer - bio 8 Matthieu, der mit Leuten am liebsten sprach, 
die ihn todlich hafiten, hatte ein Gesicht voll Sonnenschein. Von 
diesem und von seiner Schwester und einigen Ungenannten hatt* 10 
er leichtes Schlangengift der Persiflage uber seinen Zweikampf 
einzunehmen und zu verwinden, das wohl der Magen wie anderes 
Schlangengift verdaut, das aber, in Wunden gespriitzt, das Le- 

bensblut auf loset. Gerat denn nicht sogar mein Korrespon- 

dent in Eifer und schickt mir seinen Eifer durch meinen capsarius 1 , 
den Spitzhund, zu und sagt: »Es bleibe doch einer einmal kalt, der 
warm ist, namlich verliebt, und den noch nicht der Tod kalt ge- 
macht, er verbleib* es, sag* ich, vor dem stechenden Lacheln einer 
Hof-Schwesterschaft uber seine empfindsame Liebe, zumal vor 
solchen hohern Damen, die Gottheiten sind, auf deren cyprischem 20 
Altar allemal (wie bei den Sky then) der Fremde geopfert wird, 
und denen (wie die Gallier von ihren Gottern glaubten) t)bel- 
tater, Roues, Orleans die Hebsten Opfer sind! - Oder er hore 
sich, wenn er auch das hinnimmt, gelassen von einem Evange- 
listen iiber seine Liebe persiflieren, der darin folgende Grundsatze 
erfindet und einkleidet: >La d^cence ajoute aux plaisirs de l'ind£- 
cence: la vertu est le sel de Tamour; mais n'en prenez pas trop. - 
J'aime dans les femmes les acces de col ere, de douleur, de joie, de 
peur: il y a toujours dans leur sang bouillant quelque chose qui est 
favorable aux hommes. - C'est la ou la finesse demeure courte, 30 
qu'il faut de Tenthousiasme. - Les femmes s'etonnent rarement 
d'etre crues faibles; c'est du contraire qu'elles s'etonnent un peu. 
- L'amour pardonne toujours a Tamour, rarement a la raison.< - 
Gliicklich sind« (seufzet Knef) »Widersacher, die einander prii- 
geln durfen.« 

1 So hieC der romische Sklave, der den Kindern die Schulbiicher nachtrug. 



37- HUNDPOSTTAG IIO9 

Der Evangelist warf einen beizenden Tropfen auf Viktors Herz- 
nerven, da er, trotz seiner Wissenschaft um Flamins adelige Ab- 
stammung, ihn damit aufzog, »daB er wie ein neufranzosischer 
Aquilibrist der Freiheit sich mit Biirgerlichen - zwar nicht ver- 
mahle, aber doch - schieBe«. Und es ging ihm durch die Seele, 
seinen ausgestohlnen Freund so sehr an Freunden verarmt zu 
sehen, daB dieser Matthieu der letzte und der Stammhalter war, der 
sich nicht einmal vor Viktor die Muhe gab, in den hohern Zirkeln 
die Rolleeines Freundes von Flamin zu nehmen und fortzuspielen. 

I0 Einem guten Menschen wird das weiche Herz gleichsam in eine 
Quetschform eingeschraubt, wenn er vor Leuten stehen muB (wie 
hier Viktor vor so vielen), die ihn hassen und beleidigen - an- 
fangs ist er heiter und kalt und freuet sich, daB er sich nichts darum 
schiert - aber er riistet sich unwissend mit immer mehr Verach- 
tung, um der Beleidigung etwas entgegenzustellen - endlich meldet 
sich der Anwachs der Verachtung durch das unbehagliche Gefuhl 
der entfliehenden Liebe und des eindringenden Hasses an, und 
das bittere Scheidewasser ergreift und zerfriBt sein eignes GefaB, 
das Herz. - Dann werden die Schmerzen so groB, daB er die alte 

20 Menschenliebe, die das warme Element seiner Seele war, wieder 
in Stromen in den Busen rinnen laBt. Bei Viktor kam noch etwas 
zur Erbitterung — seine Erweichung; man ist nie kalter als nach 
groBer Warme, so wie Wasser nach dem Kochen eine groBere 
Kalre annimmt, als es vorher hatte. Liebe, Rausch und zuweilen 
die aus dem Anblick der Natur getrunkne Begeisterung machen 
uns gegen unsere Lieblinge zu gut, und gegen unsere GegenfiiB- 
ler zu hart. Als nun Viktor in dieser bittern Laune neben einem 
Spieltisch zusah und iiber die ganze Assemblee sich innerliche 
Vorlesungen hielt, lectures upon heads 1 , wo er sich statt der Kopfe 

30 aus Pappendeckel bloB mit dickern behalf: so fiel durch die Er- 
innerung an die stille Menschenbildung, womit Klotilde sich in 
eben diese Menschen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der 
ganze Eispanzer, der sich um sein Herz wie um eine Blume gelegt 
hatte, zerflossen herab, und sein erwarmtes Herz sagte mit der 

1 So nannte Steevens sein satirisches Kollegienlesen iiber Kopfeaus Pap- 
pendeckel, dem halb London zulief. 



I IIO HESPERUS 

ersten heurigen Freude: »Warum hass' ich denn diese ebenso ge- 
qualten als qualenden Gestalten so hart? Sind sie nur meinetwegen? 
Haben sie nicht auch ihr Ich? Mussen sie sich mit diesem mangel- 
haften, gepeinigten Selbst nicht durch die ganze Ewigkeit schlep- 
pen? Wird nicht jeder von irgendeiner fremden Seele noch ge- 
Iiebt? Warum willst denn du nur Stoff zum Abscheu an ihnen 
sehen und aus jeder Miene, aus jedem Laute Saure ziehen? - Nein, 
ich will die Menschen hlofi lieben, weil sie Menschen sindA — Jawohl 1 
die Freundschaft kann Vorzuge begehren, aber die Menschen- 
liebe bloB Menschengestalt. Daher haben wir eben alle eine so 10 
kalte, eine so wechselnde Menschenliebe, weil wir den Wert der 
Menschen mit ihrem Recht vermengen und nichts an ihnen Heben 
wollen als Tugenden. 

Unserm Viktor wurde so leicht wie nach einem Gewitter; das 
Bitterste, womit uns Beleidigungen angreifen, ist, daB sie uns zu 
hassen notigen. Auf der andern Seite fuhlte er jetzo, wie unrein 
unser fur Tugend ausgegebener Widerstand gegen Schlimme sei, 
und wie sauer es selber einer edeln Seele werde, Feinde zu be- 
kampfen, ohne sie anzufeinden; denn dieses ist noch schwerer, als 
sie zu begliicken und zu beschiitzen, ohne sie zu lieben. 20 

So strichen einige Wochen unter seinen erzwungnen Landun- 
gen am feindlichen Hofe voruber - denn die Bitte seines Vaters be- 
herrschte sein Herz - und unter vergeblichen Hoffnungen auf 
Klotildens Entscheidung und unter tranendem Zuriicksehnen in 
die innehaltenden Tage der Liebe und in die verheerten Tage der 
Freundschaft. Klotildens Schweigen willigte aber eben in seine 
<Ankunft ein; doch meldete er ihr durch einen zweiten Brief noch 
zum OberfluB den Tag derselben. Obrigens wurde ihm - so an 
den Thron wie an eine Saule zum GeiBeln gebunden, so aus alien 
Gegenstanden seiner Liebe herausgeschleudert, so auf nichts ge- 30 
heftet als auf eine von weitem donnernde Zukunft, in der sein 
Emanuel nach vierzehn Tagen unter die Erde einsihkt und seine 
Klotilde in tausend Schmerzen - die Gegenwart schwiil und eng. 
Um ihn ging ein unreifes Gewitter herum, und wie an den Tag- 
und Nachtgleichen ruhten die Wolken unbeweglich wie ein gro- 
Ber Nebel iiber ihm, und das verborgne Arbeiten im hohen Ge- 



37« HUNDPOSTTAG 1 1 1 1 

wolke des Schicksals hatte noch nicht das ZusammenflieBen in 
Tranen entschieden oder das Zerteilen in Blau. 

Endlich ging er nach St. Liine... Wahrlich nur wehmiitig- 
begliickt! OI konnt' er auf den Luner FuBsteig blicken oder auf 
das Pfarrhaus, das die Buhnen der begrabnen Freundschaft be- 
deckte, ohne das Auge iiberflieBend abzuwenden, ohne daran zu 
denken, wie viel eitler das Lieben als das Leben der Menschen sei, 
wie das Schicksal gerade die warmsten Herzen zur Zerstorung der 
besten anwende (so wie man nur Brennspiegel zum Einaschern der 

ro Edelsteine gebraucht), und wie manche stille Brust nichts ist als 
der gesunkne Sarg eines erblaBten geliebten Bildes? - Es ist ein 
namenloses Geftihl, einen Freund lieben zu wollen aus Erinne- 
rung und ihn fliehen zu miissen aus Ehre: Viktor wunschte, er 
diirfte seinem betorten Liebling vergeben; aber vergeblkh: das 
arsenikalische Wort, das mich in seinem Namen schmerzt, blieb 
trotz aller, aller versiiBenden Safte, mit denen ers einwickelte, 
doch unaufgeloset und fressend und todlich in seiner Seele liegen. 
Guter Flamin! ein Fremder konnte dich lieben, ich z.B., aber 
dein Jugendfreund nicht mehr! 

20 Viktor schritt zogernd vor dem Bilder- und Musiksaal seiner 
nachgespielten und nachgetonten Kindheit vorbei, vor dem Pfarr- 
haus, desgleichen vor der scheuernden Apollonia, die er gern de- 
fer griiBte, als sein Stand zulieB, und vor dem alten Mops, der 
sich in keinen Familienzwist einmengte, sondern ihn freimiitig 
mit dem Schwanz invitierte. - Nicht sein Stolz hielt ihn ab, die 
(vorgeblichen) Eltern seines Widersachers zu besuchen, sondern 
die Angstlichkeit tats, die ihn besorgen HeB, die guten Menschen 
wiirden sich vielleicht vor ihm im verlegenen Kampfe zwischen 
Hof lichkeit, zwischen alter Liebe und neuem Groll abqualen. Aber 

30 er beschloB, durch einen Brief an die edelmutige Pfarrfrau seine 
Liebe zu befriedigen und ihre Empfindlichkeit. 

Dann trat er vor seine Geliebte I - Ich nab* es vor-vorgestern 
unter dem Lesen der deutsch-franzosischen Geschichte, wo be- 
kanntlich auch der gekronte Name Klotilde regiert, an den ver- 
doppelten Schlagen meines Herzens gemerkt, wie mir erst sein 
wiirde, wenn ich diese Klotilde, die ich seit drei Vierteljahren ge- 



lobt habe, vollends gar sahe ; denn daB Knef so wie der Hund keine 
Spitz buben sind, und daB die ganze Historie nicht bloB vor- 
gefallen ist, sondern auch noch vorfallt, erseh' ich aus hundert 
Zugen, die wohl keine Phantasie erfinden kann. Wiirde der Bio- 
graph der Heldin ansichtig: dann entstande nichts als ein neues 
Heft und ein neuer - Held, welcher ich ware — 

Sie war krank; jener Abend war wie ein StoBvogel auf ihr Herz 
gefahren und hatte die blutigen Krallen noch nicht herausgezogen. 
Ihre Seele schien nur der Engel zu sein, der die entseelte Hiille 
eines Frommen hutet. Der Kammerherr begegnete dem Hof- 10 
medikus, als ob er von keinem Duellieren wisse. Was sonst Mut- 
ter tun, tat der Vater; er vergab jedem, der von Stande war und 
der die Tochter wollte. Der Antrag, den ihm Viktor endlich 
machte, frappierte ihn nur, weil er bisher gedacht hatte, dieser 
verschieb' ihn bloB wegen der UngewiBheit iiber Klotildens Erb- 
schaft und Verwandtschaft. Seine Antwort bestand in unend- 
Hchem Vergniigen, in unendlicher Ehre etc. und andern Unend- 
lichkeiten; denn bei ihm war alles eine; daher auch Platner mit 
Recht behauptet, der Mensch konne im Grunde bloB das End- 
liche nicht denken. Le Baut hatte die Tochter hergegeben, wenn 2t > 
er auch nicht gewollt hatte; er konnte ins Gesicht nichts abschla- 
gen, nicht einmal eine Tochter. Auch konnte keiner kommen und 
um Klotilden ansuchen, der nicht in irgendeines seiner Projekte 
(seine vier Gehirnkammern lagen bis an die Decke davon voll) 
hineingepasset hatte. Naturlicherweise war ihm also ein Schwie- 
gersohn jetzt am meisten erwiinscht, da ihm etwan die Tochter 
gar mit Tod abgehen konnte, ohne daB er sie noch zu einem 
Springstab und Hebebaum seines Leibes gebraucht hatte - und 
da ihm zweitens das Duell-Gerede das Herz anfraB; nicht als ob 
er nicht durch gesunde wurmformige Bewegungen die hartesten 30 
Dinge verdauet hatte, sondern weil er, wie gebildete Menschen 
ohne Ehre, bei kleinen Beleidigungen gern mit Larmkanonen und 
Feuertrommeln erschien, um sich das Recht zu erschleichen, bei 
vollstandigen, aber ergiebigen und mit Silberadern durchzognen 
Entehrungen mausestill dazuliegen. Das einzige, was der Kam- 
merherr nicht gern sah, was er aber sogleich dadurch hob, daB er 



37- HUNDPOSTTAG IT IJ 

dem Hofmedikus das Wort (uber die Tochter) gab, das war, daB 
er vorher das namliche Wort (ingeheim) unserem Matz gegeben 
hatte. Da ihm der bald wiederkommende Lord mehr schaden und 
helfen konnte als der Minister: so brach er gern das alte Wort, 
urn das neueste zu hajten; denn nicht bloB den letiten Willen, 
sondern audi /Wen kann der Mensch andern, wie er will, und 
wenn er ein Mann von Wort ist, so wird er gern ganz entgegen- 
gesetzte Versprechungen tun, um sich zum Halten zu notigen. 
Wenn das lugende Betragen des Kammerherrn nach solchen Ent- 

io schuldigungen noch eine braucht: so hat er die fur sich, daB er 
gewiB hoffte, Klotilde werde, wenn er sein Ja gegeben, Nein ant- 
worten und statt seiner wagen und - biiflen. Wenigstens schtitzte 
er diese Hoffnung bei seiner zornigen Gemahlin vor und verwies 
sie auf Klotildens ehemaliges Nein, das unserem Viktor so 
schwere Stunden aufgelegt, und auf ihre Unveranderlichkeit. Ich 
wiinschte, man hatte nachher sein Gesicht in der Verfassung ver- 
steinern oder in Gips abgieBen konnen, in die es durch die Nach- 
richt von Klotildens Ja geriet. Was konnte die Schwiegermutter, 
die Kammerherrin, die immer die Waffentragerin und Liguistin 

20 des Evangelisten war, weiter dabei machen als ein freundliches 
Gesicht und die Bemerkung: niemand ist schwerer zu regieren 
als ein Ehemann, den jeder regiert. 

Die Formalien der Verlobung selber warteten auf die Zurtick- 
kehr des Lords und auf andere Verhaltnisse. - Lasset mich nichts 
sagen von der durch so viele Leiden veredelten Liebe dieses Paars. 
Wenn mit der Liebe sich gar die Menschenliebe noch vermahlt 
(welches mancher gar nicht verstehen wird); - wenn im Atem der 
Liebe alle andere Reize des Herzens schoner werden, alle feine 
Gefuhle noch feiner, jede Flamme fur das Erhabne noch hoher, 

3 o wie in der Feuer- und Lebenluft jeder Funke ein Blitz und jedes 
Johanniswurmchen eine Flamme wird; - wenn beide Menschen 
einander selten mit den Augen, und oft mit den Gedanken begeg- 
nen; - wenn Viktor ein Herz fast zu behalten scheuet, dem er so- 
viel kostet, soviel dunkle Tage, soviel Sorgen Und fast einen 
Bruder; - und wenn Klotilde eben dieses zarte Scheuen errat und 
ikn fiir ihre Leiden belohnt: dann ists unmoglich, vielen Menschen 



1 1 14 HESPERUS 

den UmriB einer solchen Atherflamme, geschweige die Farben 
derselben zu geben; fur wertige ists unnotig. 

Gegen eine geliebte Person fangt in jedem neuen Verhaltnis, 
worein sie kommt, die Liebe wieder von vornen und mit neuen 
Flammen an, z. B. wenn wir sie in einem andern Hause - oder 
unter neuen Personen finden - oder als Reisende - oder als 
Hauswirtin — oder als Blumengartnerin - oder als Tanzerin - 
oder (das wirkt am meisten) als Verlobte. Das war Viktors Fall; 
denn von der Stunde an, wo der Wunsch der Neigung sich zu 
einem Gebot der Pflicht erhebt, und wo die teuere Seele sich und 10 
alle ihre Hoffnungen und den Ziigel ihrer ganzen Zukunft in die 
geliebten Hande liefert, muB es in jedem guten Mannerherzen 
rufen : »Nun hat sie niemand auf der Erde mehr als dich - nun sei 
sie dir heilig, o ! nun schone und bewahre und belohne die liebe 
Seele, die an dich glaubt!« - Viktor wurde von diesem Verhaltnis 
noch durch den Nebenumstand unaussprechlich geruhrt, daB eben 
diese Klotilde, diese feste stolze Ball- und Himmelkonigin, die mit 
so vielen Kraften und so unabhangig uber die mannlichen Schlin- 
gen und unter den mannlichen Lorbeerkranzen wegging, nun 
durch die Verlobung ihre Independenzakte mit sanftem Lacheln 20 
in Viktors Hande gibt und jetzo nichts mehr wunscht, als zu lie- 
ben und geliebt zu werden; fiir dieses holde Beugen einer so gro- 
Ben Gestalt wuBte Viktor kein Opfer, keine Wunde, keine Gabe, 
die ihm groB genug geschienen hatte, es zu bezahlen. — So muB 
man lieben; und jedes neue Recht und Opfer, das den gemeinen 
Menschen erkaltet, macht den guten warmer und zarter. 

Obgleich Viktor durch die Rechte seiner neuen Verwandt- 
schaft ein mehr einheimisches und bequemes Leben unter seinen 
Schwiegereltern fand: so tat es ihm doch wehe, daB er taglich die 
un verge Blichen Pfarrleute in ihrem Garten sehen mufite, und 3 o 
doch durch das eiserne Stabgelander des vorigen Duells und der 
jetzigen Verlobung von ihren Herzen abgeloset blieb. Daher 
muBt' er auch die Briten und ihren fortwahrenden Klub entbeh- 
ren. Le Baut fand es aber vorsichtig : »denn man wisse von sicherer 
Hand, es seien Jakobiner und verkappte Franzosen.<( — 

Aber Klotildens Seele konnte den erratenen tiefen Schmerz 



37* HUNDPOSTTAG II 1 5 

ihrer Freundin, der Pfarrerin, nicht langer tragen; sie bestellte sie 
durch ein Blattchen zu einem Spaziergange. An der Warte trafen 
sich beide; und Viktor sah mit innerster Riihrung, wie Klotilde 
sogleich die Hand seiner altesten Freundin nahm und sie auf dem 
ganzen Weg nicht mehr aus ihrer gab. 

Klotilde kam wieder mit einem froh erhelleten Angesicht und 
mit Augen, die sehr geweinet hatten, und mit himmlischen Ziigen, 
in denen eine unnennbare, nicht sowohl heiBere als weichere Liebe 
glanzte. Erst spat war sie ihrer Riihrungen machtig genug, urn 

10 Viktor etwas von der Unterredung mitzuteilen; denn ich glaube 
zu erraten, daB es nicht alles war. Die Pfarrerin - erzahlte Klotilde 
- empfing sie mit einer Miene voll driickender Schmerzen, aber 
weder mit Kalte noch Verdacht. Beide konnten anfangs gar nichts 
als weinen und sprachen nicht; Klotilde war noch mehr erweicht, 
und ihre Tranen flossen noch fort, als sie anting, ihre Verlobung 
zu erzahlen. Sie legte die Hand ihrer Freundin auf ihr Herz und 
sagte: »Jetzo wird unsere Freundschaft hart gepruft. Ich glaube 
an die Ihrige fort - glauben Sie an meine. - O bleibe, teure Freun- 
din, nur diesesmal fest! Schwere Geheimnisse, iiber die ich kein 

10 Recht und wenig AufschluB habe, bringen uns alle diesen grau- 
samen MiBverstandnissen so nahe. Nur diesesmal vertrauen Sie 
fest, daB ich und Sie so wenig wiser Verhdltnis gegeneinander 
andern wie unsern Charakter.« - Hier sah die Pfarrerin sie mit 
einem groBen Blicke, in dem noch die alte Liebe fur Viktor nach- 
glimmte, an und umarmte sie denn auf einmal mit trocknen 
Augen und mit diesen Worten: »Ja, ich vertraue auf Sie, tun Sie, 
was Sie wolien, und blieb* ich zuletzt die einzige Seele.« - Der 
letzte Zusatz hatte zu einer andern Zeit Klotilden beleidigt; ach 
jetzt konnt'ers nicht; o sie war froh, daB sie etwas zu verzeihen 

30 hatte. 

Nach der Erzahlung sagte sie ihrem Freunde, sie unternehme 
vielleicht, falls die Unsichtbarkeit und das Schweigen des Lords 
noch langer dauere, lieber die muhsame Reise zu ihrer und Fla- 
mins Mutter nach London^, um diese als die Auf losung aller dieser 
gefahrlichen Ratsel nach Deutschland zu bereden. - Ach konnte 
Viktors aufopferndes Herz eine Einwendung gegen fremde Auf- 



IIl6 HESPERUS 

opferungen machen? - Nein! sein Kummer wurde verdoppelt, 
aber auch seine Achtung und Liebe. 

In dieser Lage kam an Klotilde ein kleiner Brief von Emanuel: 

»Gestern abends kam mein Julius mit einem Korb voll Garten- 
erde zu mir und bat mich um Blumentopfe und um Hyazinthen, 
weil er fur beide die Erde bringe. Er hatte den Boden fur seine 

Blumen von dem Hiigel deiner Giulia geholt. Ich nahm sein 

weiB- und rotbliihendes Angesicht, das der Federnelke mit dem 
roten Punkte gleicht, an meine Brust und sagte : >Ach, wer wartet 
die Blumen des Menschen, wenn er voriiber ist?< Und ich meinte 10 
auch ihn mit seiner zarten Bliite, in welche der Schmerz nie seinen 
schweren Regen werfe! - O Viktor und Klotilde, wenn mich die 
Lilien der Erde betauben und in den letzten Schlummer legen, 
so nehmet meinen blinden Julius auf, und diese Seele voll Liebe 
werde durch liebende Seelen behutet! 

Klotilde! ich bitte oder wunsche jetzo von dir etwas, was du 
mir wohl schwerlich geben kannst. Ach komme am tangsten Tage 
nach Maienthal, du schone Seele! Kann es dein Herz nicht ertra- 
gen? Hast du nicht deine Giulia bis an das blinde Tor des Grabes 
begleitet und da ihre Seele auffliegen sehen und ihren Korper *o 
niederfallen ! O wenn du und dein Freund in der letzten Stunde, 
wo das Leben seine schillernden Pfauenspiegel zusammenfaltet 
und sie farbenlos und schwer in das Grab einsenkt, bei mir blieben 
als die zwei ersten Engelder kunftigen Welt! - Denn in der Mi- 
nute, wo die ganze Erde wie eine Rinde vom Herzen abbricht, 
hangt das nackte Herz fester an Herzen und will sich erw3rmen 
gegen den Tod, und wenn alle Bande der Erde abreiBen, so blu- 
hen die Blumenketten der Liebe fort. O Klotilde ! wie himmlisch 
schlosse sich vor deiner elysischen Gestalt mein Leben ! Ich wiirde 
schon entfesselt auf den Flligeln der Ewigkeit um dich schweben, 3 o 
um dich anzublicken, und ich wiirde, wenn ich mit der atherischen 
Hand nicht deine Tranen nehmen konnte, dein schweres Herz 
mit einer fremden Entziickung trosten! Ja, und wenn der Mensch 
im Vorhof der zweiten Welt erblindete, so wiirde deine Gestalt 
wie ein nachleuchtendes Sonnenbild vor meinen geschlossenen 



37- HUNDPOSTTAG H 17 

Augen bleiben! - O Klotilde, wenn du kamest! Ach, du kommst 
wohl nicht; und nur der Ewige, der die Stunden des zweiten Le- 
bens zahlet, weifi, wenn ich dich wiedersehe auf der zweiten Erde 
und wie groB auf ihr die Schmerzen der Sehnsucht sind. Und so 
lebe denn wohl und ziehe, hohe Seele, deine Bahn unter den Wol- 
ken hindurch - wenn ich deinen Freund erblicke, wirst du ruh- 
rend vor mir stehen - und wenn ich an seinem Herzen sterbe, 
werd* ich fur dich beten und zu Gott sagen : gib mir sie wieder, 
wenn auf ihrem Haupte der Blumenkranz der Erde groB genug 
IO ist - oder die Dornenkrone zu groB ! - Klotilde, andre dich nie, 
und dann frag' ich das Verhangnis nicht: wie lange wird sie drun- 
ten lacheln, wie lange wird sie drunten weinen? Andre dich nie! 

* Emanuel.« 

Sie fielen beide einander sanft ans Herz und schwiegen iiber ihre 
Gedanken; Emanuels Liebe verherrlichte die ihrige, und Viktor 
achtete seinen Freund und seine Freundin zu groB, um diese zu 
trosten. Er fragte sie gar nicht, wie sie Emanuels Bitten beant- 
worte; er wuBte, daB sie es versagen rmisse, weil sonst ihr Herz 
neben dem geliebten brache. 

zo Da er endlich von ihr und St. Liine schied, und da sie daran 
denken muBte, daB er in wenigen Tagen nach Maienthal gehe - 
und da in ihren und seinen Augen Tranen standen, die mehr als 
einen Schmerz bezeichneten, und die nicht der Mensch abtrocknet, 
sondern der Tod oder Gott: - so schauete Viktor sie unter dem 
Abschiede mit der stummen Frage an: »Sag* ich unserem Gelieb- 
ten nichts?« - Klotildens Seele blieb unter Lasten am meisten auf- 
recht, und sie erschien nie groBer als hinter Tranen, wie die Sterne 
am Himmel voll Regen lichter und groBer herankommen; sie sah 
gen Himmel, gleichsam fragend: »Konntest du, Allgiitiger, uns so 

30 tief zerschlagen?« - dann wog sie gepresset den schweren Schmerz 
- dann fand sie ihn zu groB fur die Sprache - und zu groB fiir ihre 
Kraft - und sie glaubt* ihn nicht mehr und sagte doppelsinnig mit 
nassen Augen und mit doppelsinnigem Lacheln: »Nein, Viktor, 
wir sehen uns ja alle einmal wieder !« 

Viktor ging nicht lange vorher fort, eh* die zwei gekronten 



IIl8 HESPERUS 

Badgaste mit einigem Gefolge ankamen. - Ich bemerk* es mit 
ebenso wenigem Groll, als Viktor dabei empfand, daB Agathe, 
ungeachtet des mutterlichen Beispiels, ganz, erstlich von Viktor, 
d.h. vom Antipoden und Antichrist ihres geliebten Bruders, ab- 
fiel; zweitens von Klotilden noch mehr. 

- Es kann kund werden, daB ich den vorigen Brief Emanuels 
bloB darum in der ersten Auf lage unterdrtickte - denn in meinen 
Handen hatt* ich ihn friihe genug, so gut wie viele andere Doku- 
mente dieser Historie, die gleichwohl (aus Griinden) niemals pu- 
blizieret werden — , weil ich besorgte, er riihre; eine weiche Seele 10 
findet ohnehin zu viele Schmerzen in diesem Band ! - Allein eben 
darum wollen wir nichts aus der ersten Ausgabe weggeben, was 
scherzt, und ich fahre demnach fort: 

Wir Leser wollen wie Viktor uns vom Kammerherrn beurlau- 
ben, der mit seinen halbaufrechten Augenbraunen - bei der Nasen- 
wurzel neigen sie einander sich in Gestalt des mathematischen 
Wurzelzeichens zu — mit wahrer verbindlicher Hoflichkeit sich 
von uns trennt. Ich weiB, wenn wir fort sind, laBt er uns Ge- 
rechtigkeit widerfahren und macht zuviel aus uns; denn er 
verleumdet nie, weder aus Bosheit noch Leichtsinn, und wen er *o 
verleumdet, den hat er die ernsthafte Absicht zu sturzen, weil er 
lieber unglucklich als schwarz macht. -Als ich ihn sich so bucken 
sah gegen uns: verfertigte ich in Gedanken eine halbe Satire auf 
ihn, wovon das Wahre und Ernsthafte das sein mag: daB die 
Menschen wirklich dazu erschaffen sind , sich so krumm zu machen, 
wie der spiritus asper ist. Ich baue eben nicht darauf viel, daB 
Geometer geschrieben haben, wenn die Gotter eine Gestalt an- 
nahmen, so mufit* es die vollkommenste, die eines Zirkels sein; 
ich konnte zwar daraus folgern, ein krummer Riicken sei wenig- 
stens eine Annaherung zur Gottergestalt, weils ein Bogen aus 3° 
einem Zirkel sei - aber ich mag nicht; denn das Physische ist Kin- 
derei dabei und nur insofern von Belang, als es das innere Kriim- 
men und Kriechen der Seele teils anzeigt, teils (z. B. durch Ver- 
engerung der Brust) befordert. Sogar am Hofe wxirde man das 
auBere Krummen erlassen, wenn man gewiB wissen konnte, daB 
das edlere, innere der Denkart da ware, ohne das Zeichen; denn 



37- HUNDPOSTTAG III9 

da nach Kant Unterwiirfigkeit und Niederschlagung unsers Eigen- 
diinkels die Foderung der reinern und der christlichen Moral ist: 
so mu6 einer, der gar keine moralischen Vorziige hat, mit dem 
SelberbewuBtsein davon noch defer nieder als zur Demut, die 
schon der Tugendhafte hat, er muB zu dem sinken, was ich ein 
edles Kriechen nenne. Ich gestehe, ich verachte die Obung nicht, 
die darin die kleinen Regeln der Lebensart gewahren, die ja ohne- 
hin nichts sein soil als die Tugend in Kleinigkeiten, die Regeln 
namlich, daB man sich biickt, wenn man widerspricht — wenn 

10 man lobt - wenn man eine Beleidigung erfahrt - wenn man eine 
antut - wenn man den andern biickt - wenn man gerade eben des 
Teufels werden mochte. Aber gut ists, daB eine solche Tugend 
der Kriimmung ihre eigenen Exerzierplatze hat und nicht vom 
Zufall abhangt. Am Hofe wiirde ein Mensch mit geradem Leibe 
und Geiste als hofisch-tot ausgeschossen werden, wie ein Krebs 
mit einem geraden Schwanze, den nur ein krepierter fuhret. Wenn 
sonst die Einsiedler niedrige Zellen erwahlten, um nicht aufrecht 
zu stehen : so braucht der Weltmann dies nicht; ihn driicken die 
hohen Speisesale, die Lusttempel, die Tanzsale desto tiefer nieder, 

20 je hoher sie sind. - Es ware schlimm, wenn diese so wichtige 
Tugend der Niederbuckung erst eine besondere geistige oder 
korperliche Starke, die sich ja niemand geben kann, voraussetzte; 
aber gerade umgekehrt will sie nur Schwache haben, welches bei 
Pferden nicht so ist, die den Schwanz nicht mehr niederbringen, 
wenn dessen Sehnen abgeschnitten sind. Wenn die Pharisaer Blei 
in den Mutzen fiihrten, um sich das Bucken zu erleichtern 1 : so tut 
das Blei, das man auf die Welt bringt und das im Kopfe liegt, 
vielleicht noch groBere Dienste. Daher ists eine schone Einrich- 
tung, daB aus groBen Seelen, denen wie langen Staturen das 

50 Bucken sauer fallt, zum Gluck (aber zu ihrer Strafe) nichts wird, 
anstatt daB mittelmaBige, die sich nichts daraus machen, gedeihen 
und eine schone Krone treiben; so sah ich oft beim Brotbacken, 
daB jeder maBige Laib im Backofen sich schon erhob und wolbte, 

1 Die Pharisaer taten es - wie gewisse Juden, die auch immer gekriimmt 
einherzogen und darum Kriimmlinge hiefien — , um Gott, der die ganze Erde 
ausfullt, ein wenig Platz zu machen. Altes und neues Juden turn. 2. B. S . 47. 



der grofle aber blieb platt und miserabel sitzen. - Wir waren aber 
bedauernswiirdig, wenn eine Tugend, die den Wert des burger- 
lichen Menschen ausmacht, die Tugend, nicht bloB wie Kinder 
zu werden, sondern wie Fotus, die sich im Mutterleibe zusammen- 
stiilpen, wenn diese nur an dem hochsten Orte gediehe, wie man 
fast denken sollte, da der Hofmann nack dem Falle auf seinem 
Landgute schon wieder aufrecht geht - anstatt daB die Schlange 
vor dem Falle und unter dem Verfuhren nicht kroch. - Allein in 
alien biirgerlichen Verhaltnissen sind Erziehanstalten zu Kriimm- 
tingen vorhanden; iiberall streckt sich in der Luft bald ein geist- 10 
licher, bald ein weltlicher Arm mit Handen aus, die uns ordentlich 
einkrempen, und noch hoher sind die allerlangsten angebracht, 
die iiber ganze Volker reichen. Der Gelehrte selber biickt sich am 
Schreibepult unter der Geburt der Zueignungen und Hofschriften 
und Urtel. Durch das bloBe graue Alter reift sowohl der Korper 
zum verknocherten Biicklinge als die Seele. Und die niedrige 
Geistlichkeit arbeitet sich, weil sie immer niederwarts ins Grab 
sieht, in die gekrummte Stellung hinein. - Ich schlieBe mit dem 
Troste, daB Bucken Aufgeblasenheit nicht ausschliefte, sondern 
ein; da eben der Zirkel, dessen Ausschnitt man wird, unzahlig um zo 
die geschwollne Kugelflache lauft 

Ich wiirde wahrhaftig dieses Extrablatt eines iiberschrieben 
haben - so daB es also der Leser hatte iiberspringen konnen -, 
wenn ich nicht gewollt hatte, daB ers lase, um sich zu zerstreueri 
und die triiben Stunden meines Viktors leichter mit ihm auszu- 
dauern. Denn jeder Glockenschlag ist der aus einer Totenglocke 
gehende Totenmarsch seiner schonern gescheiterten Stunden. 

Noch am Abend, da er in Flachsenfingen eintrat, kamen ihm 
ebenso fatale als wahrscheinliche Geschichten zu Ohren: Matz 
hatte dem Apotheker viel erzahlt; aber dasmal pflicht' ich seinen 30 
Sagen bei. 

Der Pfarrer hatte sich namlich, sobald er die Verlobung ver- 
nommen, auf den Weg in die Stadt gemacht, um Mordtaten und 
Duelle seines Sohnes zu hintertreiben. Da unter dem Ankleiden 
nicht augenblicklich seine ganze Reiseuniform um ihn lag, so 
warf er seiner Familie leichte Rotelzeichnungen von den blutigen 



37- HUNDPOSTTAG 1 1 2 1 

Auftritten und Blutgerusten hin, auf die er sich, sagt' er, Rech- 
nung mache, da er wahrscheinlich wegen des Anziehens zu spat 
ankomme. Der eingeschrumpfte Stiefel, den Appel am Feuer ein 
wenig abgetrocknet hatte, war nicht an das Bein zu bringen - 
Eymann keuchte - zerrete - »es ist moglich,« sagt' er, »daB sie 
jetzt schon einander zu Leibe gehen«; endlich lieB er die Arme 
kraftlos zuriickfallen und setzte sich ruhig und aufrecht fest und 
wartete schweigend auf Anfeuern und Anfragen. Da nichts kam, 
sagt' er ergrimmt: »Welcher Satan nun in meinem Hause mir den 

10 Stiefel so hat einlaufen lassen (in einen ledernen Zopf, durch ein 
Nadelohr wollt' ich den FuB treiben, aber darein nicht), der hat 
den Mord meines Kindes auf seiner Seele. - Ist denn kein Un- 
gluckkind da, das mir nur die Ferse mit ein wenig Schmierseife 
poIiert?« - Unter dem Einfahren sah er Appeln noch eifrig an sei- 
nem Halbhemd platten: »Genug, Appel, recht gut!« - sagt' er - 
»ich knopfe mich wahrlich nicht auf.« - Sie glitt auf der Platte, dem 
Schrittschuh ihrer Hand, leicht dahin. »Tochter, das Hemd! 
wiinscht dein Vater. Das Leben deines eignen Bruders wird von 
dir hasardiert - es ist so viel, als gibst du ihm noch einen Gnaden- 

20 stoB.« Sie fuhr auf ihrem Handschlitten nur noch einmal behend 
iiber das Ganze und reichte ihms dann gern. 

Unterweges entwarf sich der Kaplan einen haltbaren Geschaft- 
gang bei der Sache. Er wollt* ihm erstlich nichts von der Ver- 
lobung eroffnen - dann wollt 1 er ihm nur den BuBtext iiber den 
Maienthaler Zweikampf lesen - dann ihm die Urfehde oder den 
Eid, zu ruhen, abgewinnen - und erst zuletzt mit dem Bericht 
hervorbrechen. Unter dem Oberdenken des Geschaftganges und 
der Gefahr liefer sich in eine immer heiBere Angst hinein. So wie 
er sich und einen Patienten, der ein leichtes Ohrenbrausen hatte, 

30 einmal durch langes Folgern so weit hinauftrieb, daB sie beide in 
der nifchsten Minute auf SchlagfluB und halbseitige Lahmung 
aufsahen : so benahm er sich durch eine malerische Behandlung 
der einzelnen Umstande eines gedenklicken Zweikampfs zuletzt so 
sehr alle Zweifel iiber einen schon vorgegangnen, daB er mit der 
festen Meinung unter dem Stadttor ankam, der Regierrat liege 
entweder in Ketten oder auf der Bahre. »Gott sei Dank, daB ich 



dich ohne Wunden sehe und ohne Ketten!« entfuhr ihm beim 
Eintritte* und er hatte beinahe seinen ganzen Geschaftgang ver- 
dorben, oder doch umgekehrt. Flamin bezog es auf das erste 
Duell; Eymann konnte desto leichter der ProzeBordnung und 
AderlaBtafel seiner MaBregeln nachkommen und sich sozusagen 
mit dem Duelle duellieren. Der schweigende Sohn setzt* ihm 
nichts entgegen als -r- WeiBbier. Unter der Anschaffung hatte der 
Pfarrer an alien Stocken den Knopf gezogen, um zu sehen, ob es 
keine Stockdegen waren. Ein Pistolenfeuerzeug blieb ihm von 
weitem verdachtig. Eine nahe Doppelflinte an der Wand entzog 10 
ihm mit dem auf ihn gerichteten - Schafte viel von seinem Mut. 
Flamin entschuldigte seine Sprachlosigkeit mit der juristischen 
Oberfullung und Oberfracht seines Kopfs und zeigte auf den StoB 
Kriminalakten vor ihm. Als er ihm einen Erzahlauszug daraus 
geben muBte und als natiirlich die Schlachtworter Kerker, Blut- 
schuld, Richtschwert wie ein zischender Kugelregen um Eymanns 
Ohren schweiften: so streckte sich die Angst, die er durch die 
schnellere Dusche des WeiBbiers reizte, so gewaltig in ihm aus, 
daB die Doppelflinte in die Kammer gehangen werden muBte: 
»Ich habe«, sagt' er, »nichts davon, wenn sie losbrennt und zer- ™ 
springt und mir das FlintenschloB ins Gesicht sprengt, oder wenn 
der Schaft mich gar umbringt!« Jetzt fing er geruhrt und trunken 
zugleich zu weinen und zu ermahnen an : daB ein Mensch an die 
fiinfte Bitte im Vaterunser denken miisse - daB ein Landgeistlicher 
mit schlechtem Erfolge seinem geistlichen Schafstall Versohnung 
predige, wenn er seinen Sohn in der Stadt habe, der unter der 
Predigt sich schieBet - und daB Flamin nie sagen solle, er sei sein 
Sohn gewesen, wenn er in einem Duelle entweder umkomme oder 
umbringe. - Bei nichts fuhr in Flamin der Sturmwind seines Zorns 
so leicht aus der Hohle als bei einer klaglichen Stimme und bei 5° 
langen Religionedikten : »Um Gottes willen,« schrie Flamin, 
»lassen Sie es nun genug sein - Gott soil mich strafen, in alle 
Ewigkeit will ich verloren sein, ich schwor's Ihnen, riihr' ich ihn 
nur noch an.« Dieser entfahrne Eid war herrlicher Lederzucker 
und weiches Gefrornes fur den heiBen Hofkaplan, der aus Ver- 
gessen seines Geschaftganges jetzo in der Meinung stand, die Ver- 



37* HUNDPOSTTAG 1 1 23 

lobung sei dem Regierrate schon ganz gut bekannt: »Meinst du 
nicht, Sohn,« (sagt* er froh) »daB ein solcher Schwur einen besorg- 
ten Vater wie Spatregen erfrischt und letzt, zumal da ich mich 
seit ihrer Verlobung mit ihm gar nichts Bessers zu versehen hatte , 
als Mord und Totschlag? Hab* ich recht oder nicht?« - Flamin 
hob durch eine einzige Frage die Decke von diesem morderischen 
gewafFneten Gespenste seines Herzens ab - und nun horte er sei- 
nen Vater nicht mehr; bleich, voll Krampfe saB er still da - die 
Lehne des Stuhls knarrte unter seinem Druck - die Uhrkette 

10 wickelte und schniirte er um seine Finger und rifi sie ab und 
klemmte das Trumm wieder um den wunden Finger und zer- 

- brockelte es - in seinen glasernen Augen standen zwei dicke feste 
kalte Tropfen - sein Herz kroch leer und entkraftet vor einer 
nahen graBlichen Todeskalte zusammen, die allemal, wenn eine 
Freundschaft in unserer Brust gemordet wird, dem brennenden 
Grimme daruber vorausgeht. - Ach welchen von uns dauert die 
ungluckliche verlassene Seele nicht? - Eymann schied getauscht 
und hielt diese Ruhe fur bio Be Ruhe und die erstickte gebrochne 
Stimme fur Ruhrung. 

20 Und in dieser blutigen Lage fand ihn Matthieu, der eben ge- 
kommen war, um dem Regierrate (aus einem Handbriefchen der 
Kammerherrin) Viktors Sieg iiber sie alle, gleichsam mit 24 bla- 
senden Postilions, zu melden. Dieser setzte nun erst den Eisberg 
in einen Vulkan um und machte, dafl Flamin in eingesperrtem 
Grimm gern einen Weltteil an dem andern zersplittert hatte. 

Viktor horte jetzt einige Tage nichts. Flamin sperrte sich ein. 
Matthieu besuchte ihn oft, aber nicht des Apothekers Haus. Das 
gekronte Paar reisete endlich ins St. Liiner Bad. 

So blieb alles bis an den Morgen, wo Viktor vom Apotheker 

50 Abschied nahm, um nach Maienthal vor den Vorhahg einer schwe- 
ren Szene zu gehen. Hier konnte sich der Apotheker das Vergnii- 
gen nicht versagen, dem Hofmedikus seines zu nehmen, indem er 
die (wahrscheinlich falsche) Botschaft brachte, der Hof junker habe 
den Kammerherrh gefordert wegen des iiber Klotilden gebroch- 
nen Versprechens. Wenig oder nichts ist an der Botschaft schon 
darum, weil der Apotheker nur sein Eigenlob loshusten und in 



1 1 24 HESPERUS 

das Lob Viktors verkleiden wollte, daB dieser mit so unendlicher 
Feinheit seine neulichen Winke, den Evangelisten zu untergraben, 
zu vollfuhren gewuBt. Die Winke waren, wie man sich erinnert, 
die zwei Vorsehlage, der Liebhaber der Fiirstin und der Ehemann 
Klotildens zu werden, um den Fiirsten zu gewinnen und, wie ein 
Schwein die Klapperschlange, so Matzen ohne Schaden zu ver- 
schlucken. Man muB der von einem Wurmstock von Schmerzen 
angenagten Seele Viktors vergeben, daB er aufbrauste und mit 
einem Auge voll tiefster Verachtung Zeuseln anfuhr: »Ich weiB 
nicht, wer verdiente, solche Vorsehlage anzuhoren - wenns nicht 10 
einer ist, der sie machen kann.« 

Der Korrespondent hort traurig und kurz mit den Worten auf : ' 
»Abends kam Viktor spat und mit geschwollnen Augen in Maien- 
thal an, um zu sehen, ob am andern Tage der schonste Lehrer und 
der groBte Freund verwelke.« — Wir konnen uns alle denken, wie 
die Umarmung eines Geliebten wenige Schritte von seinem Grabe 
sein muBte. Der Freund, der uns sein Sterben drohet, greift 
gchmerzhaft unsere Seele an, auch wenn wir es bezweifeln. Wir 
konnen uns alle das nasse Auge denken, das Viktor iiber die noch 
bluhende Statte seines verwelkten Rosenfests geworfen. - Was 20 
ihn trostet, ist die Unwahrscheinlichkeit des prophezeiten Ster- 
bens, da Emanuel sich wie sonst beiindet, und da der Selbermord 
noch unmoglicher bei diesem frommen Geiste ist, der den Selber- 
morder schon langst mit dem Hummer verglich, der die eine 
Schere, die er selber mit der andern aus Stumpfsinn zerknirscht 
und kneipt, nicht herauszieht, sondern absprengt. - Moge mir der 
Leser zur Beschreibung des langsten Tages 1 , die ich einsam unter 
der erhebenden Stille der Nacht machen werde, ein Herz wie des 
Indiers mitbringen, das gleich alten Tempeln stumm und dunkel, 
aber weit und voll heiliger Bilder ist! 30 



* So nennte Emanuel immer den Johannistag, obwohl nicht ganz astrono- 
misch-richtig. 



38. HUNDPOSTTAG 112$ 

38. HUNDPOSTTAG 
Die erhabene Vormitternacht - die selige Nachmitternacht - der sanfte Abend 

Heute ubergeb* ich Emanuels langsten Tag, der nun erloschen 
und abgekiihlt unter den Tagen der Ewigkeit liegt, mit bleichen 
Abrissen den Phantasien der Menschen. Meine Hand zittert und 
mein Auge brennt vor den Szenen, die in Leichenschleiern um 

mich treten und so nahe an mir die Schleier aufheben. Ich 

schlieBe mich diese Nacht ein - ich hore nichts als meine Gedan- 
ken - ich sehe nichts als die Nachtsonnen, die iiber den Himmel 

10 ziehen - ich vergesse die Schwachen und die Flecken meines 
Herzens, damit ich den Mut erhalte, mich zu erheben, als war* ich 
gut, als wohnt* ich auf der Hohe, wo um den groBen Menschen 
wie Sternbilder nichts als Gott, Ewigkeit und Tugend liegen. 
Aber ich sage zu denen, die besser sind - zum stillen groBen Her- 
zen, das seine Pflichten vermehrt, indem es sie erfutlt, und das sich 
beim Wachstum seines Gewissens taglich bloB mit groBern Ver- 
diensten befriedigt - zu den hohen Menschen, welche die Hand 
des Todes warm gedriickt haben, die ihn, wenn er auf Morgen- 
auen herumgeht, friedlich fragen konnen : »Suchest du mich heute?« 

20 — zur lechzenden Seele, die sich unter dem Zypressenbaum ktihlet 
— zu den Menschen mit Tranen, mit Traumen, mit Fliigeln, zu 
alien diesen sag* ich: »Verwandte meines Emanuels, euer Bruder 
streckt nach euch seine Hand durch die kiirzeste Nacht aus, er- 
greifet sie, er will von euch Abschied nehmen !« 

Die erhabene Vormitternacht 

Viktor stand aus seinen Traumen, in denen er nichts als Graber 
und Trauergeriiste fur seinen Freund gesehen hatte, wehmutig 
auf; aber er faBte beim MorgengruB geheime Hoffnungen, da er 
ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Anderungen in sei- 
jo nen angeblichen Todesmorgen treten sah. Ihm war bloB vor dem 
Eindruck bange, den die getauschte Hoffnung des Scheidens auf 
das schon halb aus dem irdischen Boden gerissene und von Erde 



XI 26 HESPERUS 

entblofite Herz des Geliebten machen wtirde. Dieser hingegen 
hielt noch seine Traume fest, denen sogar seine nachtlichen Nah- 
rung gaben; und er sah sehnend in das ungestirnte Blau und be- 
rechnete den langen Weg bis zur zwolften Nachtstunde, wo aus 
dem Himmel die Sterne und der Tod mit seinem dunkeln uner- 
meBlichen Mantel, in dem er uns durch sein kaltes Reich tragt, 
vordringen wiirden. Sein Herz lag in einer suDen Mittagruhe, die 
zum Teil vom korperlichen Ermatten und vom schonen Tag her- 
kam. Eine innere Windstille, die nirgends so groB und so magisch 
ist als in Seelen, an denen Wiibelorkane hin und her gerissen haben, i o 
iiberdeckte sein ganzes Wesen mit einer sehnsuchtigen Wonne, 
die in andern Augen als seinen in Tranentropfen zerflossen ware. 

O Ruhe, du sanftes Wort! - Herbstflor aus Eden ! Mondschein 
des Geistes! Ruhe der Seele, wann haltst du unser Haupt, daB es 
still liege, und unser Herz, dafi es nicht klopfe? Ach eh' jenes bleich 
und dieses starr ist, so kommst du oft und gehst du oft, und nur 
unten bei dem Schlafe und bei dem Tode bleibest du, indes oben 
die Sturme die Menschen mit den grofiten Flugeln gleich Paradies- 
vogeln am meisten umherwerfen! 

Emanuels Ruhe, womit er die Gastrolle des Lebens bis aufs *> 
letzte Merkwort ausspielte, womit er alles einpackte - zurecht- 
stellte — anbefahl — verabschiedete, trieb im gequalten Freunde 
Tranen und Sturme zusammen. Sein Herz war zwar vom Schick- 
sal iiber einem steinichten Weg wund geschleift, aber die Entziin- 
dungen desselben kiihlte jetzt der Gedanke des Todes sanft ab; 
doch konnt* er es - beim groBten Unglauben an Emanuels Tod - 
nicht aushalten, es zu horen, wie ihm Emanuel den blinden Julius, 
dem man diesen Tod verbarg, von weitem mit den leisen Worten 
iibergab : »Hab' ihn lieb wie ich, versorge, beschirme den Armen, 
bis du ihn dem Lord Horion ubergeben kannst.<( Seine bebenden 30 
Hande konnten kaum ein Paket an diesen Lord annehmen, das ihm 
der Freund mit zartlichen Augen und mit den Worten reichte: 
)>Wenn diese Siegel geoffnet werden, so haben meine Eide auf- 
gehort, und du erfahrst alles.« Denn sein zartes Gewissen ver- 
stattete ihm nur den Inkalt, nicht das Dasein von Geheimnissen 
zu verbergen. - Es wird uns nicht wundern, da Viktors Adern 



38. HUNDPOSTTAG I I 2Tf 

eine Wunde urn die andere empfingen, daB er, um nicht durch 
Wallungen ihr Bluten zu vermehren, den Flotenspieler bat, heute 
nicht zu spielen; Musik hatte an diesem Tag uber sein zerflossenes 
Herz zu viele Gewalt gehabt. 

Den Morgen verbrachten sie in Abschiedbesuchen bei alten 
Steigen, Lauben und Anhohen; aber Emanuel machte hier nicht 
die grelle, tobende Gewaltrolle des funften Akts; er schlug auf 
einer Erde, wo der Tod graset, keinen unphilosophischen Larmen 
daruber auf, daB er die Blumen und die Saaten nicht mahen und 

10 das griine Obst nicht gelben werde sehen; sondern mit einem 
hohern Entzticken, das sich jenseits des Erden-Lenzes noch scho- 
nere versprach, machte er sich von jeder Blume los, ging er durch 
jedes Laub-Gewinde und Schatten-Nachtstuck hindurch, zog er 
seine gleichsam in der Erde liegende verklarte Gestalt aus jedem 
Spiegelteiche, und eine liebevollere Aufmerksamkeit auf die Natur 
zeigte an, daB er heute nachts dem naher zu kommen hofTte, der 
sie geschaffen. Er versuchte und Viktor vermied von allem diesen 
zu reden. »Nur nicht zum letzten Male!« sagte dieser. »Nicht?« 
(sagte Emanuel) - »Geschieht nicht alles nur einmal und zum 

20 letzten Male? - Scheidet uns nicht der Herbst und die Zeit so gut 
wie der Tod von allem? - Trennt sich nicht alles von uns, wenn 
wir uns auch nicht von ihm trennen? - Die Zeit ist nichts als ein 
Tod mit sanftern dunnern Sicheln; jede Minute ist der Herbst der 
vergangenen, und die jweite Welt wird der Friihling einer dritten 
sein. - - Ach wenn ich einmal wieder aus der Blumenflache einer 
zweiten weiche, und wenn ich am himmlischen Sterbetag das 
Zwielicht von der Erinnerung zweier Leben sehe — o in der Zu- 
kunft ruht eine Anlage zur unendlichen Wonne so gut wie zur 
Qual; warum schauert der Mensch nur vor dieser?« - Viktor be- 

30 stritt die kiinftige Erinnerung. »Ohne Erinnerung« (sagte Emanuel) 
»gibts kein Leben, nur Dasein, keine Jahre, nur Terzien - kein 
Ich, nur Vorstellungen desselben - Ein Wesen zerfahrt in so viel 
Millionen Wesen, als es Gedanken hat - Erinnerung ist bloB Be- 
wuBtsein der gegenwartigen Existenz.« - Auch der Dichter philo- 
sophies, wenigstens fur Dichtung und gegen Philosophic - Vik- 
tor dachte : »Du Guter ! mir, nicht dir macht' ich diese Einwurfe.« 



1 128 HESPERUS 

Es war gegen Mittag: der Himmel war rein, aber schwiil; die 
Blumen meldeten das Zusammenziehen der Blitze durch ihr Ver- 
schlieBen an;alle Auen waren Rauchaltare, und Diifte gingen als 
Propheten der Gewitterwolken voraus. Mit der physischen Ge- 
wittermaterie haufte sich in Viktor die morallsche an - er dachte 
daran, daB oft ein heiBer Tag den Schwindsiichtigen das Leben 
nehme; - er verwechselte zuweilen die Bitterkeit des Abschieds 
mit der Wahrscheinlichkeit desselben; denn der von der Luftper- 
spektive der Furcht betrogne Mensch flndet ein Schreckenbild 
desto nether, je grofier es ist; — er weinte, wenn er bloB daran 10 
dachte, daB er weinen konnte; aber gleichwohl wiirde die Ver- 
nunft die Oberhand uber die Gefiihle behalten haben, hatte nicht 
beide folgender Zufall betaubt. 

In Maienthal wohnte ein Wahnsinniger, den man bloB das tolle 
Totengebein hieB. Aus drei Griinden wurd' er so genannt: erst- 
lich weil er ein Knochenpraparat von Magerheit war; zweitens 
weil er die fixe Idee herumtrug, der Tod setze ihm nach und woll' 
ihn an der linken Hand, die er deswegen verdeckte, ergreifen und 
wegziehen; drittens weil er vorgab, er sen' es denen, die bald 
sterben wurden, am Gesichte an, iiber welches sich alsdann schon 20 
dieEinschnitte und Abszesse der Verwesungausbreiteten. In Mo- 
ritz* Erfahrungseelenkunde 1 ist ein ahnlicher Mensch beschrieben, 
der auch imstande sein soil, die Vorposten des Todes und seine 
zerreibende Hand auf Gesichtern vorauszusehen, die andern glatt 
und rot vorkommen, indes er sie mit dem Hollenstein der Ver- 
wesung ausgestrichen erblicket. - Dieses Totengebein wars, das 
in der Nacht des vierten Pfingsttages, als Klotilde auf dem Kirch- 
hof war, ausrief : »Tod ! ich bin schon begraben.« - Viktor und 
Emanuel gingen unter dem Gelaute der zwolften Stunde nach 
Hause und vor einem Hiigel voruber, woran das Totengebein be- 30 
klemmt saB; es bohrte sich die linke Hand, wornach der Tod 
griff, tief unter die Achsel: »Brrr!« (sagt* es schuttelnd zu Ema- 
nuel) »Er hat dich, aber nicht mich! Lauter Moder hangt an dir 
'runter! Die Augen sind weg! Brr!« 

Die Worte der Wahnsinnigen sind dem Menschen, der an der 

1 Im zweiten Stuck des 2ten Bandes. 



38. HUNDPOSTTAG II29 

Pforte der unsichtbaren Welt horcht, merkwiirdiger als die des 
Weisen, so wie er aufmerksamer den Schlafenden als den Wachen- 
den, den Kranken als den Gesunden zuhort. Viktors Blut erstarrte 
unter dem eiskalten Griffin sein warmes Leben. Das tolle Gebein 
rannte fort, die linke Hand mit der rechten verbauend. Viktor 
nahm seines Freundes linke^ blickte zur war men Sonne auf und 
suchte sich zu verbergen und zu erwSrmen und konnte nichts 
sagen. Unten am tiefblauen Himmel rauchten kleine Nebel auf, 
die Keime eines Abendgewitters; und in der schwiilen Luft flog 

io nichts als Gewiirm. 

Emanuel war stiller und fast angstlich, aber es war nicht die 
Bangigkeit der Furcht, sondern jene Bangigkeit der Erwartung, 
mit der wir allemal auf die Fatten und Bewegungen des Vorhangs 
groBer Szenen blicken. Die stechende Sonne erhielt das Paar zu 
Hause. Dem vom schwiilen Dunstkreis gedriickten Emanuel 
wurde fast der letzte Nachmktag zu lange. Aber sein Freund sah in 
diesem Dunstgewolbe immer ein moderndes Angesicht hangen, 
das sich in das geliebte frische einzuarbeiten schien, und immer 
hort* er das tolle Totengebein in seine Ohren sagen : »Seine Augen 

20 sind , raus!« 

In der schwiilen Stille, wo die Sonne die Miniergange des Don- 
ners grub und lud, und wo die zwei Freunde vor den Ohren des 
blinden Julius nur mit Blicken von der heutigen Zukunft reden 
durften, stand gegen 4 Uhr ein fachelnder Abendwind auf, der 
alle hangende Flugel und Haupter erfrischte. Emanuel lieB diese 
kiihlen Wogen herein, die einwiegend und beruhigend iiber die 
gebiickten Blumen am Fenster liefen und an den schwankenden 
Falten der Vorhange mederflossen und verirrt durch das duftende 
Laubwerk des Zimmers platscherten. Da kam eine unendliche 

30 Stille, eine auflosende Wonne, ein unaussprechliches Sehnen in 
Emanuels Herz. Seine Kindheitfreuden - die Ziige seiner Mutter 

- die Bilder indischer Gefilde - alle geliebte verstaubte Gestalten 

- der ganze gleitende Widerschein des Jugendmorgens floB vor 
ihm glimmend voriiber - eine wehmiitige Sehnsucht nach seinem 
Vaterland, nach seinen gestorbnen Menschen dehnte seinen Busen 
mit suBen Beklemmungen aus. Dieses immergriine Palmenlaub 



1 130 HESPERUS 

der Jugenderinnerung legte er als kuhlendes Kraut um seine und 
Horions Stirne, und den ganzen ersten Kreis seines Daseins trug 
er aus dem indischen Eden in dieses enge Gehause vor seine zwei 
letzten Geliebten heruber. Aber da er so die Asche der Freuden- 
Phonixe auf dem Altar der Abendsonne aufhaufte - da er so am 
Ausgange tiber alle hintereinander liegende elysische Felder seines 
Lebens hintibersah - da vor ihm die ganze Erde und das Leben, 
mit Morgentau und Morgenrot iiberzogen, sich in den dammern- 
den Spielplatz des Menschen verwandelten: so war er seiner Riih- 
rung und seines zerschmolznen Herzens nicht mehr machtig, son- 10 
dern im seligen Zittern, im bebenden Dank gegen den Ewigen 
bat er den Blinden, die Flote zu nehmen und ihm das Lied der 
Ent^iickung^ das er sich allemal am Morgen des neuen Jahrs und 
seines Geburttages spielen X\e&^ als Echo des austonenden Lebens 
nachzusenden. 

Julius nahm die Flote. Horion ging hinaus unter einen laut 
rauschenden Baum und sah in die tiefere Abendsonne. Ema- 
nuel stellte sich am wehenden Fenster dem Purpurstrom des 
Abendlichtes entgegen, und das Lied der Entzuckung fing an 
und floB in Stromen in sein Herz und um die eingesunkne 20 
Sonne. 

Und da die Spharen-Laute von der Sonne auszuwallen schie- 
nen, die in der Abendrote wie ein Schwan, in Melodien aufgeloset, 
in Goldrauch und in Freudentau vor Gott aus Entziicken starb — 
und da vor Emanuel alle Blumen, womit die ewige Giite unser 
Herz bedeckt, und alle Wonnegefilde, durch die ihre sanfte Hand 
den ungewissen Menschen fuhrt, wie Engel voruberfiogen - und 
da er die kiinftigen Himmel naherrucken sah, in die der Weg des 
Lebens geht - und da er sah diese unendlichen Arme alle wunde 
Herzen decken, uber alle Jahrtausende reichen, alle Welten tra- 30 
gen und ihn, ihn kleinen Erdensohn doch auch: o da konnte er 
unmoglich das voile Herz mehr halten, es brach ihm vor Dank, 
und aus seinen Augen fielen wieder die ersten - Tranen nach lan- 
gen langen Jahren. Diese heilige Tropfen verwischte er nicht; in 
ihnen zerlief die Abendrote in ein loderndes Meer; die Flote ver- 
hallete; Viktor fand die schimmernden Augen noch; Emanuel 



38. HUNDPOSTTAG 1 1 _*} I 

sagte: »0 sieh, ich weine vor Freude iiber meinen Schopfer.« — 
Dann gab es unter den erhobnen Menschen, an dieser heiligen 
Statte keine Worte mehr - der Tod hatte seine Gestalt verloren - 
eine erhabne Trauer betaubte die Schmerzen der Trennung - die 
Sonne, mit Erde bedeckt, beruhrte mit ihren aufgerichteten Strah- 
len den Himmel und die Nacht und den Boden der Wolken - die 
Erde schimmerte magisch wie eine Traum-Landschaft, und doch 
war es leicht, aus ihr zu weichen, denn den Himmel bedeckten die 
andern Traum-Landschaften. 

io Die Erden der Nacht (die Planeten) traten schon auf, die Son- 
nen der Nacht (die Fixsterne) gingen schon nach ihnen hervor, 
der Mond hatte schon das sudostliche Gewitter um sich gehullt: 
als Emanuel sah, da8 es Zeit sei, die Szenen des Tals zu endigen 
und auf sein Tabor zu gehen, um dem Tod das Fliigelkleid seiner 
Seele zu geben. Stockend bat er seinen Viktor, ein wenig voraus- 
zugehen, damit er nicht das Trennen vom Blinden sahe und sich 
etwan durch eine Teilnahme verriete ; denn bei dem Blinden hatte 
Viktor die Reise in die andre Welt nur fur eine auf dieser ausge- 
geben. Er stellte sich unglucklich hinaus vor die verstummten 

20 schwulen Gefilde, in denen einmal die Paradieses-Strdme seiner 
Liebe gegangen waren, auf denen er einmal an Klotildens Seite 
schonere Abende geseheri hatte; auf der Erde war Totenstille wie 
in einer Kirche nachts, bloB den Himmel umbrausete ein auf die 
Erde gekrummtes Bleigewolk, und der Tod schien von Wolke zu 
Wolke zu gehen und sie zur Schlacht zu ordnen. 

Endlich hdrt' er Julius* Weinen. Emanuel floh heraus, aber in 
seinen Augen hingen schwerere Tropfen, als seine vorigen waren. 
Und da der verlassene Blmde sein dunkles Haupt unter der Haus- 
tiir von seinen Freunden wegdrehte, entweder weil er ihren Weg 

30 nicht wuBte oder weil er horchen wolke, welchen sie nahmen, so 
konnte Viktor dem Gebeugten, der in einer doppelten Nacht 
wohnte, kaum vor inniger Wehmut zuriickrufen : er komme nach 
zwolf Uhr wieder. 

In dem kahlen AbendgruB: »Gute Nacht, schlaft wohl«, den 
Emanuel gab und bekam, war mehr Tranenstoff als in ganzen 
Elegien und Abschiedreden: so sehr sind die Worte nur die In- 



1 132 HESPERUS 

schriften auf unsern Stunden und die Ripienstimmen und die Be- 
zifferung unserer Grundnoten. 

Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den daran ange- 
ketteten Orkan und vor seinen Totenberg trat: so hoben Engel 
seine erweichte Seele wieder - er sah den Tod vom Himmel stei- 
gen und auf seinem Grabe den Freiheitbaum aufrichten - er sah 
die freundlichen Sterne naherkommen, und es waren die himm- 
lischen Augen seiner Freunde und aller seligen Wesen. Viktor 
durfte seine dichterischen HofFnungen durch keine Griinde sto- 
ren; vielmehr wurd* er selber von Stunde zu Stunde defer in den :o 
Glauben an seinen Tod hineingezogen ; wenigstens fiirchtete er, 
daB der heutige Entzuckung-Srurm die miirbe Wohnung dieses 
schonen Herzens und seiner Seufzer zertrennen und dafi der Tod 
so lange um die edle Seele schleichen wiirde, bis er sie an ihren 
Fliigtln, wenn sie in Wonne sie aufrichtete, vom Leben pflucken 
konnte, wie Kinder den Schmetterling so lang umgehen, bis er 
auf seiner Blume die Schwingen aneinandergefaltet in die raube- 
rischen Finger erhebt. 

Emanuel verschob durch Umwege das Ersteigen des Berges, 
um seinen gebrochnen Freund, dessen Augen nicht mehr trocken 2 o 
wurden, von einer Sonne in die andre zu heben, damit er in dieser 
hohen Stellung aus Lichtern herunterblickte auf diese Schatten- 
erde und darauf den befreundeten Leichnam vor Kleinheit kaum 
bemerkte. »Darum« (sagt* er) »wird ja diese Erde alle Tage ver- 
finstert, wie Kafige der Vogel, damit wir im Dunkeln leichter die 
hoheren Melodien fassen. - Gedanken, die der Tag zu einem dun- 
keln Rauch und Nebel macht, stehen in der Nacht als Flammen 
und Lichter um uns, wie die Saule, die iaber dem Vesuv schwebt, 
am Tage eine Wolkensaule scheint und in der Nacht eine Feuer- 
saule ist.« Viktor merkte die Absicht zu trosten und wurde desto jo 
untrostlicher und schwieg immer. 

Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur Trauerbirke hinauf, 
sondern an seinem langsam aufsteigenden Rucken. Sie ubersahen 
das Theater der Nacht, uber welches der Mond und das Gewitter 
verhullet heraufruckten. Emanuel stand still und sagte: »0 blick 
hinauf und sieh die ewig funkelnden Morgenauen, die um den 



38. HUNDPOSTTAG 1 133 

Thron des Ewigen liegen! - Hatte aus dem Himmel nie ein Stern 
geschienen, nur dann wiirde sich der Mensch angstlich in den letz- 
ten Schlaf auf einer wie ein Leichengewolbe Uberbauten dunkeln 
Erde ohne Offnung legen.« Vor den Augen, die sich an Sonnen 
hefteten, schweiften blinkende Johanniswurmchen, und eine Fle- 
dermaus zischte nach einem grauen Nachtschmetterling - drei 
Johannisfeuer, vom Aberglauben angeschiirt, zogen drei feme 
Hugel aus der Nacht - alles Leben schlief unter seinem Blatt, unter 
seinem Zweig, naher an seiner Mutter, und in den herumgestreue- 

io ten Traumen waren Gewitter - Fische taumelten wie Leichen auf 
der Wasserflache als Vorboten des Donners. 

Plotzlich fing Emanuel mit einer unpassenden, nicht genug be- 
zwungnen Stimme an : »Wahrlich wir wurden gefaBter neben dem 
Genius stehen, der die letzten Schlummerkorner auf die Augen 
unsrer Lieben fallen laBt, wenn sie nachher nicbt in Kirchenge- 
wolben, in Kirchhofen, sondern auf Auen ausschliefen, unter dem 
Himmel, oder als Mumien in Zimmern .... Jetzt, mein Geliebter,« 
(sie horten schon das Wehen der Trauerbirke) »herrsche also iiber 
deine Phantasie; du wirst neben der Birke meine Ruhehohle ofFen 

20 sehen - ich habe sie seit vier Wochen mit Blumen ausgesaet und 
iiberkleidet, die jetzt meistens bliihen - du legst mich morgen 
ohne alles andre so in meinem Schlaf kleide unter die Blumen - und 
deck es morgen zu - gib aber nicht, du Guter, meinem kleinen 
Blumenstiick solche harte Namen wie andre Menschen - morgen, 
sag' ich; heute geh sogleich heim zu deinem Julius, wenn ich....« 
(gestorben bin, wollt' er sagen, konnt' aber die weiche Umschrei- 
bung vor Ruhrung nicht finden.) - 

Ach das gebrochne Auge riB Horion mit einem Seufzer heraus 
aus der kalten ofFnen Grotte seines Geliebten, und er konnte nicht 

jo hinabsehn zu dem Blumenflor darin. Er schluchzete laut und sah 
aus Tranen zergangen in Emanuels Angesicht, um zu sehen, ob er 
lebeodersterbe. Zwei Johanniswurmchen durchkreuzteneinander 
in glimmendem Bogen iiber dem Grabe, sie senkten sich daneben 
hin und loschten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Bewegung. 
In Viktors Wunden griff jetzt der Donner mit seinem ersten 
Schlag - den ostlichen Horizont deckte ein zerflieBender Blitz, 



1 1 34 HESPERUS 

und die Flamme lief iiber die Alpengebirge - die Gewitterstange 
auf dem Pulverturm schimmerte, seine Gewitterstiirmer erklan- 
gen, die Irrwische spielten urn den Turm, und mitten in der Luft 
riickte ein schwebender Lichtpunkt furchterlich auf ihn zu. 

In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen - um zwolf Uhr glaubte 
Emanuel dahin zu sein. - Endlich fiel Emanuel, selber vom frem- 
den Kummer iibermannt, an seinen Freund und sagte: »Was hast 
du mir noch zu sagen, mein Geliebter, mein unaussprechlich teu- 
rer Freund? - Meine Stunden sind dahin - unser Lebewohl kommt 
- sage deines und store dann mein Sterben nicht. - Sei still, wenn 10 
der Tod den Berg heraufsteigt, und jammere nicht nach, wenn er 
mich erhebt. - Was hast du mir noch zu sagen, mein ewig Gelieb- 
ter?« - »Nichts mehr, du Engel des Himmels! ich kann auch nicht«, 
sagte der verblutete Mensch und legte das gedriickte Haupt mit 
Tranenstromen auf Emanuels Schulter. 

»Nun so brich dein Herz von meinem ab und lebe wohl - sei 
gliicklich, sei gut, sei groB - ich habe dich sehr geliebt, ich werde 
dich noch einmal lieben und dann unendlich - Guter! Treuer! 
Sterblicher wie ich! Unsterblicher wie ich!« 

Die Gewitterstiirmer lauteten heftiger - der schwebende Licht- *o 
punkt trat an den Pulverturm - alle eingehiillten Wolken-Vul- 
kane tobten nebeneinander und warfen ihre Flammen zusammen, 
und die Donner gingen wie Sturmglocken zwischen ihnen - die 
beiden Menschen lagen aneinander dicht, stumm, keuchend, drtik- 
kend, zitternd vor dem Ietzten Wort. 

»0 sprich noch einmal, mein Horion, und nimm Abschied von 
deinem Freund - sage nur zu mir: Ruhe wohl! und lasse den 
Sterbenden.« 

Horion sagte : »Ruhe wohl !« und liefi ihn. Seine Tranen horten 
auf, und seine Seufzer verstummten. Der Donner schwieg fiirch- 3° 
terlich. Die Natur ordnete stumm ihr Chaos im Gewitter. Kein 
Blitz schimmerte durch das Trauergeruste am Himmel. BloB das 
Totengelaute der Gewittersturmer sprach noch fort, und der 
Lichtpunkt riickte noch fort. 

Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Traume und eines 
Freundes trostloses Herz. 



38. HUNDPOSTTAG 1135 

In dieser Ewigkeit-Stille trat Emanuel ohne eine fremde Hand 
an die hohe P forte, die schwarz hinaufsteigt iiber die Zeit. 

Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel 
ihr Sprachgitter - aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt 
kein Geist, und Gott nicht. 

Es kam die Minute, wo der Mensch seinen Korper ansieht und 

dann sein Ich und dann schaudert. - Das Ich steht allein neben 

seinem Schatten - ein Schaumglobus von Wesen zittert, knistert 

und wird niedriger, und man hort die Blaschen verschwinden und 

10 ist eines. 

Emanuel schaute hinein in die Ewigkeit, sie sah wie eine lange 
Nacht aus. 

Er sah urn sich, ob er keinen Schatten werfe - ein Schatten 
wirft keinen Schatten. 

Ach ein Stummer legt den Menschen in die Wiege, ein Stum- 
mer driickt ihn ins Grab. - Wenn er eine Freude hat, sieht es aus, 
als lachte ein Schlafender — wenn er jammert und weint, sieht es 
wie das Weinen im Schlafe. - Wir blicken alle zum Himmel auf 
und bitten um Trost; aber droben im unendlichen Blau ist keine 
so Stimme fur unser Herz - nichts erscheint, nichts trostet uns, nichts 
antwortet uns. - 

Und so sterben wir .... 

- O Allgiitiger! wir sterben froher; allein der arme Emanuel 
kampfte in der stillen Finsternis mit grimmigen Gedanken, die er 
so lange nicht gesehen hatte und die nach seinem erbleichenden 
Angesicht krallten. Aber diese Larven rennen davon, wenn ein 
freundliches Bruderangesicht vor dich tritt und dich umarmt. - 
Horion richtete sich auf und erwarmte den Gebeugten durch 
einen stummen Abschied wieder. Ein Sturmwind stiirzte sich aus 
50 dem klaren Westen in die stumme arbeitende Holle und jagte alle 
Blitze und alle Donner heraus. Siehe da flog aus dem zuriickge- 
wehten Gewolke der lichte Mond wie ein Engel des Friedens in 
das unbesudelte Blaue heraus - da untersckied sich im Lichte Ema- 
nuel von seinem Schatten - da beschien der Mond einen Regenbo- 
gen aus blassen Farbenkornern, der in Sildosten (der Pforte nach 
Ostindien) durch die dunklen Flutsaulen drang und sich iiber die 



1 136 HESPERUS 

Alpen bog - da sah Emanuel die vorige Himmelleiter wieder iiber 
die Erdennacht gelehnt - da kam die Entziickung ohne MaB, 
und er rief mit ausgebreiteten Armen: »Ach dort in Morgen, in 
Morgen, iiber die StraBe nach dem Valerianic da schimmert der 
Triumphbogen, da offnet sich die Ehrenpforte, da ziehen die 
Sterbenden hindurch« . . . 

Und da es jetzt zwolf Uhr schlug: so breitete er seine Hande 
verziickt gegen den Himmel, der blau war iiber dem Berge, und 
gegen den Mond, der heiter neben dem Gewitter ruhte, und rief 
brechend mit seligen Tranen: »Habe Dank, Ewiger, fur mein 10 
erstes Leben, fur alle meine Freuden, fiir diese schone Erde.« - 

Um Maienthal zogen Julius' Flotentone, und er sah auf die Erde 
nieder. 

»Und bleibe du gesegnet, du gute Erde, du gutes Mutterland, 
bliihet, ihr Gefilde Hindostans, lebe wohl, du schimmerndes 
Maienthal mit deinen Blumen und mit deinen Menschen — und ihr 
Briider alle, kommt mir nach einem Iangen Lacheln selig nach. 
Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf und troste die %wei Bleiben- 
den.<( 

Die Todesengel standen auf alien Wolken und zogen ihre blit- 20 
zenden Schwerter aus den Nachten - ein Donner schlug hinter 
dem andern, wie wenn aufgeworfen wiirde eine Gefangnistiir des 
Erdenlebens nach der andern. 

Der schreckliche Lichtpunkt hatte sich verkrochen aus der Mitte 
der Luft in den Pulverturm. 

Die Todesstunde war schon voriiber und doch das Leben noch 
nicht. 

Emanuel zitterte sehnend und bange, weil er noch kein Sterben 
fiihlte - bewegte die Hande, als wenn er sie jemand geben wollte 
- starrte in die BHtze, als wenn er sie auf sich ziehen wollte.... 30 

»Tod ! fasse mich,« rief er auBer sich - »ihr gestorbnen Freunde! 
o Vater ! o Mutter! brecht ab mein Herz, nehmet mich - ich kann, 
ich kann nicht mehr leben.« — 

Da fuhr ins Gewitter eine lodernde rasselnde Weltkugel hin- 
auf, und der Pulverturm zerschoB wie eine auseinandergesprengte 
Holle. - 



38. HUNDPOSTTAG H}7 

Der Knall warf den flammenden Emanuel erblafit in sein Blu- 
mengrab; der ganze donnernde Osten zitterte; der Mond und der 
Regenbogen wurden zugehullt .... 

Die selige Nachrnitternacht 

Viktor regte, sinnlos darniedergeworfen, endlich den Arm und 
tastete damit an das kalte Angesicht, aus dem heute das tolle To- 
tengebein diese Nacht gelesen hatte und das aus dem Grabe ragte, 
gen Himmel gekehrt. Er warf sich daruber und druckte seins an 
das bleiche. Eh' noch seine Tranen durch den harten Schmerz sich 

10 durchgerissen hatten: trugen die Wolken ihre Sturmfasser und 
ihre Leichenfackeln zuriick, und durchsichtige Schaumflocken 
iiberflossen weichend den Mond und senkten sich endlich uber 
das ganze Tal und liber das stille Paar in tausend warmen Tropfen 
nieder, die den Menschen so leicht an seine erinnern. Der von 
einem der drei Englander aufgesprengte Pulverturm hatte das 
Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt. 

Das zerstiickte Gewitter hatte sich in kleinen Wolken herum- 
gezogen und stand uber der Mitternachtrote in Nordosten, als die 
kalte Betaubung die beiden Menschen noch zusammenheftete; 

20 endlich kam von oben herab eine heiBe Hand zwischen ihre An- 
gesichter, und eine furchtsame Stimme fragte: »Schlafet ihr?« 

»0 Julius,« (sagte Horion) »komm ins Grab, dein Emanuel ist 
gestorben«.... 

Ich mag die grausamen Minuten nicht zahlen, die zwei Un- 
gliickliche Hegen lie Ben mit dem Stachelgiirtel des Jammers an 
einen ErblaBten gebunden. Abef schonere kamen, die vorher je- 
des Wolkchen aus dem Himmel druckten und den angelaufnen 
Mond abwischten und dann die heiBen Augen orTneten vor der 
gereinigten abgekuhlten Silbernacht. 

30 »Ach er ist wohl nur ohnmachtig?« sagte Viktor sehr spat. Sie 
richteten sich seufzend auf. Sie zogen miide den Geliebten aus dem 
Grabe. Sie wollten ihn in seine Wohnung hinuntertragen, um da 
die Sormenwende dieser schonen Seele wie der Johannissonne wie- 
der zu erzwingen. Mit den dunnen Kraften, die ihnen der Gram 



1 138 HESPERUS 

noch iibrig gelassen, und mit dem wenigen Licht, das noch in 
zwei nasse Augen kam, ran gen sie sich mit dem zerknickten Engel, 
indes zwei arbeitende Schatten neben ihnen fiirchterlich einen 
dritten im Schimmer trugen, vom Berge in die Wiesen herunter. 
Hier ging Viktor allein ins Dorf, um vielleicht einen trostlichern 
als einen Leichenwagen zu besorgen. Der Blinde hielt sich an 
einen Birkenbaiim, Emanuel schlief wie die andern B lumen, und 
auf ihnen, vor dem Monde . . . Aber Julius horte plotzlich den 
Toten reden und ihn durch das Gras streifen; und er rannte, von 
Entsetzen verfolget, davon .... 10 

- Genius der Traumel der du durch den neblichten Schlaf der 
Sterblichen trittst und vor der einsamen, in einen Leichnam ge- 
sperrten Seele die gliicklichen Inseln der Kindheit heraufziehest, 
o der du darin unsern verwesten Freunden wieder Wangenbliite 
gibst und unserm armen wahnsinnigen Herzen vergangne Himmel 
zeigst und Eden-Widerschein und rinnende Auen auf Wolken! - 
Magischer Genius! tritt in diese heilige Nacht vor einen Men- 
schen, der nicht schlaft, und wende deinen iiberflorten Spiegel auf 
mein offnes Auge, damit ich darin die elysische Lichtwelt, die mit 
unserm Erdschatten kampfet, in der doppelten Verfinsterung als 20 
eine blasse Luna sehe 1 und male! — • 

Die entziickte Stimme des Toten rief : »Sei gegriiBet, du stilles 
Elysium! o du schimmerndes Land der Ruhe! nimm den neuen 
Schatten auf- ach wie glimmst du sanft - wie wehest du sanft - 
wie ruhest du sanft« 

Emanuels Augen waren aufgegangen ; aber in seinem Gehirn 
brannte der elysische Wahnsinn, er sei gestorben und erwache in 
der zweiten Welt. O du tJberseliger! dich umfing ja auch ein blin- 
kendes Eden - ach dieses Schimmern, dieses Wehen, dieses Duf- 
ten, dieses Ruhen war zu schon fur eine Erde. Der Mond iiber- 30 
webte mit Silberfaden wie mit fliegendem Sommergespinste das 
Nacht-Grun - von Blatt zu Blatt, von Baumen zu Baumen reichte 
die Funkendecke des iiberstrahlten Regens - iiber alien Wassern 
wankten flimmernde Nebelbanke - ein leises Wehen warf trop- 

1 Die Sonne wird in ihrer Verfinsterung durch den Mond von uns im be- 
fiorten Spiegel angeschaut. 



38. HUNDPOSTTAG II39 

fende Edelsteine von den Zweigen in die Silberflusse - die Baume 
und die Berge stiegen wie Riesen in die Nacht- der ewige Himmel 
stand iiber den fallenden Funken, iiber den eilenden Diiften, iiber 
den spielenden Blattern, er allein unveranderlich, mit festen Son- 
nen, mit dem ewigen Welten-Bogen, groB, kiihl, licht und blau. - 
So glimmte, so duftete, so lispelte, so zauberte niemals ein Tal .... 
Emanuel umarmte den funkelnden Boden und rief aus der bren- 
nenden, der Wonne erliegenden, stockenden Brust: »Ach ist es 
denn wahr? halt* ich dich wirklich, mein Vaterland? - Ja, in sol- 

10 chen Gefilden der Ruhe werden die Wunden geheilt, die Tranen 
gestillt, keine Seufzer gefodert, keine Siinden begangen, da zer- 
fliefiet ja das kleine Menschenherz vor zu voller Wonne und er- 

schafft sich wieder, um wieder zu zerflieBen So nab* ich dich 

langst gedacht, seliges, magisches, blendendes Land, das an meine 
Erde grenzt... O! liebe Erde, wo bist du wohI?« 

Er hob das trunkne Auge in den mit Sternen betaueten Himmel 
und sah den erniedrigten Mond gelb und matt in Suden hangen; 
diesen hielt er fur die Erde, aus der ihn der Tod in dieses Elysium 
getragen habe. Hier zerging seine Stimme in Running iiber den 

20 geliebten ersten Garten seines Lebens, und er redete die oben iiber 
die Sterne fliehende Erde an : 

»Kugel der Tranen ! Wohnung der Traume ! Land voll Schatten 
und Flecken! - Ach auf deinen breiten Schattenflecken 1 werden 
jetzt die guten Menschen beben und untersinken ! i . . Ein Ring aus 

Nebeln 8 umkreiset dich, und sie sehen das Elysium nicht Ach 

wie still tragst du durch den seligen stillen Himmel dein Schlacht- 
geschrei - deine Stiirme - deine Graber; deine Dunstkugel schlie- 
Bet wie ein Sarg alle Klagstimmen um dich ein, und du rinnest mit 
iiberdeckten Gebeugten bloB als eine blasse stille Kugel iiber das 

30 Elysium hiniiber ! . . . 

- Ach ihr Teuern, mein Horion! mein Julius! ihr seid noch 
droben im Gewitter, ihr deckt meinen Leichnam zu, ihr blickt 
weinend gen Himmel und konnt das Elysium nicht sehen . . . O ! 
daB ihr durch das nasse Gewolk des Lebens schon durch waret - 

1 Unsere Erdmeere sehen in der Feme wie die Flecken des Mondes aus. 

2 Der Mondhof. 



I 140 HESPERUS 

aber vielleicht nab' ich schon lange geschlafen und gewacht, viel- 
leicht geht die Zeit auf der Erde anders als in der Ewigkeit - Ach 
daB ihr hernieder kamet in die stillen Gefilde!« Er sah im magi- 
schen vergroBernden Schimmer zwei Gestalten gehen. »0 wer 
ists?« rief er, entgegenfliegend. »0 Vater! o Mutter! seid ihr 
hier?« - Aber da er naher kam: sank er in vier andre Arme und 
stammelte: »Selig, selig sind wir jetzt, meinHorion! mein Ju- 
lius !« — Endlich sagt' er: »Wo sind meine Eltern und meine 
Briider und Klotilde und die drei Brahminen? Wissen sie nicht, 
daB ihr Dahore in Elysium ist?« 10 

Viktor sah trostlos dem wahnsinnigen Entzucken seines Ge- 
liebten zu und sagte weder Ja noch Nein. Dieser schauete himm- 
Iisch-lachelnd und liebe-stromend in Julius' Angesicht und sagte: 
»Blick mich an, du hast mich auf der Erde nicht gesehen.« — »Du 
weiBt ja, daB ich blind bin, mein Emanuel !« sagte der Blinde. Hier 
floh der Wahnsinnige mit wegzuckenden Augen und mit einem 
Seufzer gegen den Mond von den Freunden hinweg und sagte 
leise zu sich : »Die zwei Gestalten sind nur Schattentraume aus der 
Erde - ich will sie nicht ansehen, damit sie zerflieBen. - So reichet 
also der Schatten- und der Traumkummer der Erde bis ins Eden 20 
heriiber. Ich bin wohl noch im Totentraum, denn die Gegend hier 
sieht wie die Gegenden in meinen Lebenstraumen aus - oder ist 
dieses nur der Vorhof des Himmels, weil ich meine Eltern nicht 
rlnde« . . . . Er sah gegen die hohen Sterne : »Wo steh' ich jetzt unter 
euch? Neue Himmel liegen an neuen Himmeln. — Ach sehnet 
man sich hier denn auch?« 

Er seufzete, und wunderte sich, daB er seufzete. Er lehnte sich 
an den perlenden Blumenhugel, gekehrt mit dem Rucken gegen 
die geliebten Schatten, und mit den Augen gegen das anglimmende 
Morgenrot, -und suchte und traumte - aber endlich deckte die 30 
Morgenkiihle die suchenden, geblendeten, brennenden Augen, die 
heute bald auf Schreckgestalten, bald in Wonnemeere gefallen 

waren, mit leisem Schlummer und mit ahnlichen Traumen zu 

»Ruke sanfi, du rmider Mensch!« sagte sein Freund; aber der 
Schlafer ergluhte mit dem Horizont, und der alte Wahnsinn 
spielte in ihm weiter — 



38. HUNDPOSTTAG 1 141 

Em Traum und der Morgen legten fiir ihn ein noch hoheres 
Elysium an. 

Ihm traumte, Gott werde von seinem Sonnenthrone steigen 
und in Gestalt eines unsichtbaren unendlichen Zephyr- Wehens 
uber das Elysium gehen. 

Der erste Morgen des Sommers haufte um ihn den Braut- 
schmuck der Erde - er durchzog die Gefilde mit Perlenbanken 
von Tau und warf uber die wuhlenden Bache das Zitter- und 
Glanzgold des herabgeschwommenen Morgenrots und legte den 

10 Biischen das Armgeschmeide von brennenden Tropfen an. - 
Aber erst als er alle Blumen auseinandergespalten - alle freudig- 
zitternde Vogel in den Glanzhimmel gestreuet - in alle Gipfel 
Singstimmen gehiillt - als er den verwelkten Mond unter die Erde 
versenkt und die Sonne wie einen Gotterthron uber aufgebluhte 
Wolkenkranze aufgerichtet und uber alle Garten und um alle 
Walder ineinandergewundne Regenbogen von Tau gehangen 
hatte - und als der Selige traumend stammelte : »Allgutiger, All- 
gutiger, erscheine im Elysium !« - da weckte ihn der langsam 
fliefiende Morgenwind und fuhrte ihn in die tausendstimmigen 

20 Jubelchore der Schopfung hinein und lieB ihn erblindend ins 

brausende flammende Elysium taumeln. 

O siehe! jetzo iiberfloB ein unermeBliches Atmen kiihlend, 
regend, lispelnd das ganze entbrannte Paradies und die kleinen 
Blumen bogen sich schweigend nieder und die grunen Ahren wal- 
leten sauselnd zusammen und die erhabnen Baume zitterten und 
brausten - aber nur die groBe Brust des Menschen trank den un- 
endlichen Atem in Stromen ein, und Emanuels Herz zerfloB, eh' 
es sagen konnte : »Das bist du, Alliebender !« 

- Du, der du mich hier liesest, leugne Gott nicht, wenn du in 
30 den Morgen trittst oder unter den Sternenhimmel, oder wenn du 

gut oder wenn du gliicklich bist! - 

- Aber, ungliicklicher Emanuel ! 

Du sahest funf spielenden Trauermanteln zu und hieltest die 
schonen Schmetterlinge fiir selige Psychen. - Du hortest hinter 
deinem Hugel in die Erde hauen, als mache man ein Grab. - Du 
sahest deinen guten Blinden an und sagtest doch: »Schatten! 



1 142 HESPERUS 

weiche Fiirchte dich vor Gott, der voruberging, und ver- 

schwinde!« - Aber du sagtest vorher noch etwas, was ich heute 
nicht enthiille - 

- Mein Herz zittert vor der kiinftigen Zeile! - 

Heulend vor Schmerz, grinsend vor freudiger Wut, sprang das 
tolle Totengebein in die selige Ebene hinter dem Hiigel hervor 
und trug in seiner Rechten eine abgehauene blutige Hand und 
schuttelte aus dem linken Stumpfe, dem sein Wahnsinn sie abge- 
hacket hatte, rieselnde Blutbogen und druckte mit dem rechten 
Arme ein Grabscheit an sich, um die Hand zu begraben, und 10 
schrie jubelnd und greinend : »Der Tod erschnappte mich daran, 
ich nab' sie aber abgezwickt - und wenn er das Grab der Faust 
sieht, ist er so dumm und denkt, ich lieg' drin. . . Ach! du da! Leg 
dich doch in den Sarg zu Bett; er hat dir die Augen ausgebohrt 
und das Maul mit Moder beklebt.* Brr!« 

»0 Allgutiger, du hast mich verdammt!« stammelte Emanuel; 
aus seiner zermalmten Lunge riB sich das gejagte Blut, und der 
Trostlose schwankte sterbend auf die vollgebluteten Blumen sei- 
nes verlornen Himmels nieder .... 

So nimmt ein Tag dem andern den Himmel, und eh' der be- 20 
raubte Mensch dort in das letzte Paradies eintritt, hat er hier zu 
viele verloren! - Ach eine von Wunden geoffnete Brust tragen 
wir in jede Fruhlingluft dieses Lebens und in den Ather des zwei- 
ten; und sie muB erst zugeschlossen werden, eh' sie sich fullen 
kann ! . . . 

Der sanfte Abend 

Gegen Mittag macht* er die muden Augen auf, aber bloB um sie 
ins Grab fallen zu lassen, das der Tod neben ihm unter seinem 
Schlafe aufgeschlossen hatte. Jedoch der eine Wahnsinnige war 
der Arzneigott des andern gewesen; sein Traum vom Elysium 30 
war ausgetraumt, kurz vorher ■, eh' er erfiillet zu werden schien, 
und er war wieder verniinftig. Viktor sah aus alien Zeichen, daB 
wenigstens gegen Sonnenuntergang der Tod mit seinem Obst- 
pfiucker diese weiBe Frucht von ihrem Gipfel brechen werde; 
aber er sah es ruhiger als gestern. Da er schon die Proberolle der 



38. HUNDPOSTTAG 1 143 

Trostlosigkeit gemacht hatte, so sagten die Werkzeuge des Grams 
keinen neuen RiB ins Herz, sondern gingen nur im alten blutig 
hin und her. Wer einen im Sarg Erwachten nach Jahren zum zwei- 
tenmal hineintragt, trauert schwerlich so heftig wie das erstemal. 
Mit welchen veranderten Augen erwachte Emanuel in der 
Abendstube, wo er gestern die ersten Tranen vor Freude vergos- 
sen hatte ! Seine Seele hatte, wie der traurige Baum von Goa, am 
Tage das nachtliche Gedrange von Bliiten fallen lassen; seinem 
erkalteten Haupte kehrte die Erde nicht mehr die Auen-Seite der 

10 Dichtkunst zu, sondern die lichte der kalten Vernunft. Er gestand 
jetzt, daB er die edlern Teile seines innern Menschen auf Kosten 
der niedern vollblutig gemacht - daB seine Todes-HofTnung zu 
groB gewesen, wie seine dichterischen Fliagelfedern - daB er die 
Erde nicht aus der Erde, sondern zu sehr aus dem Jupiter be- 
trachtet, auf dessen Sternwarte sie zu einem Feuerfunken ein- 
kriechen muBte, und daB er also die Erde verloren, ohne doch den 
Jupiter dafiir zu bekommen. Vergeblich widersprach ihm Viktor 
mit dem wahren Satze, daB der hohere Mensch, gleich den Malern 
mit Wasserfarben, allezeit sein Lebensstuck mit dem Hintergrunde 

20 und mit dem Himmel anfange, welchen Olmaler und niedere 
Menschen zuletzt machen; seine Antwort war die Klage, daB er 
leider nicht fortgemalet bis zum Vorgrunde. Endlich warf er sich 
auch vor, daB er zu viele Umstande bei einer so kleinen Trennung 
gemacht, als der Tod wenigstens fur den, der gehe, sei, da die 
andern Trennungen auf der Erde doch langer, kerber und doppel- 
seitig waren. 

Sie kamen dadurch auf die Erkennungen jenseits dieses Theaters. 
Viktor sagte, er konne Verm utun gen iiber die Erde hinaus nicht 
so verschreien wie mancher Weise; denn wir muBten doch iiber 

jo die Erde hinaus vermuten und denken, wir mochten bejahen oder 
verneinen.»Ohne die Fortdauer der Erinnerung« (sagte er) »ist mir 
die Fortdauer meines Ich so viel wie die eines fremden, d. h. keine; 
sobald ich mein jetziges Ich vergesse, so konnte ja jedes fremde 
statt meiner unsterblich sein . Auch folgt der Untergang meiner Er- 
innerung nicht aus der irdischen Abhangigkeit von meinem Kor- 
per; denn diese Abhangigkeit haben alle geistige Krafte mit ihr 



1144 HESPERUS 

gemein, und es miiBte dann aus dieser Abhangigkeit auch der 
Untergang der andern folgen; und was bliebe denn noch zur Un- 
sterblichkeit ubrig?« - Emanuel sagte: der Gedanke der Wieder- 
erkennung, so viel er auch Sinnli.ches voraussetze, sei so suB und 
hinreiBend, daB, wenn sich die Menschen gewifi davon machen 
konnten, keiner eine Stunde hier wiirde zogern wollen, besonders 
wenn man den Himmels-Gedanken ausmalte, alle groBe und edle 
Menschen auf einmal zu finden. »Ich habe mir oft« (sagt* er) »die 
kiinftige Erinnerung nach Ahnlichkeit der jetzigen ausgebildet 
und muBte immer vor Entzuckung auf horen, wenn ich mir dachte, 10 
wie in jener Erinnerung die Erde zu einer dunkeln Morgen-Aue 
und unser Leben zu einem weit entriickten, mit Mondschein er- 
hellten Tag eingehen werde. - O wenn wir schon vor dem Bilde 
einiger Kinderjahre zerrlieBen, wie sanft wird uns einmal das Bild 
alter Kinderjahre anblicken.« -Viktor wehrte diese todlichen Ent- 
ziickungen ab, und nachdem er zum Ubergange gesagt: »Eine 
Verbindung muB in jedem Fall diese Erde mit der zweiten haben«, 
kam er auf etwas anders, das ihm in dieser Nacht so aufgefallen 

war 

20 

Ich verhiiir es heute noch, was Viktor fragte und was Emanuel 
entdeckte; die neue Perspektive wiirde unser Auge zu lange vom 
groBen Kranken abziehen. 

Der Blinde hielt angstlich die heiBe Hand desselben in einem 
fort, um den geliebten Vater nicht zu verlieren; und wenn ihm 
Emanuel lange sanften Trost iiber seinen Tod, gleichsam kuhle 
Blatter um die entziindeten Schlafe herumgelegt hatte: so sagte 
er nichts als innigst flehend; »Ach Vater, wenn ich dich nur ge- 
sehen hatte, nur einmalh — 

Emanuel schien gefaBt zu sein; aber er tauschte sich; seine jet- $0 
zige Gleichgultigkeit gegen die Erde war im Grunde schneiden- 
der als die nachtliche, die bloB ein anderer, mit den Zaubertranken 
der Phantasie vermischter GenuB des Lebens war. In seine Reue 
iiber seinen dichterischen Selbermord schien sich fast Freude iiber 
die Folgen zu mengen. Daher sagte er mit einem riihrend-gewis- 
sen Blicke: »heute gegen Abend werd' er gewiB gehen und seine 



38. HUNDPOSTTAG 1 145 

zwei letzten unci besten Freunde nicht mehr mit diesen Verzoge- 
rungen des Abschiedes qualen. - Der Genius der Welten werde 
ihm seine letzten Fehler vergeben und auf die kiesige Entfernung 
von ihm, die ihm zu lange wurde, dort keine zweite folgen lassen.« 
Je langer er sprach, desto mehr rtickte das alte Bluten-Eden 
wieder in seine matte Seele ein. - Jetzt tat er eine sonderbare herz- 
zerschneidende Bitte an seine Freunde. Da bekanntlich das Gehor 
den Sterbenden am langsten bleibt, indes schon alle andere Sinnen 
sich gegen die Erde zugeschlossen haben: so sagte Emanuel zu 

10 Viktor: »Sobald du siehest, daB es sich mit mir andern will, so gib 
deinem Julius die Flote, und du! spiele mir dann das alte Lied 
der Entiuckung, damit ich an den Tonen sterbe, wie ich schon oft 
wtinschte, und spiele es auch noch einige Minuten nach dem Ende 
fort.« 

Er dachte nun dariiber nach, wie schon um seine letzten Ge- 
danken Tone ziehen wiirden, wie Vogelgesang um die unter- 
gehende Sonne; und in seinem erloschenen Geiste flogen wieder 
die alten Funken auf: »Ach ich werde selig von hinnen ziehen. - 
O meine Seele konnte in dieser Nacht schon diesem Erdboden 

20 einen iiberirdischen Schmuck anlegcn und ihn fur Eden halten: 
ach erst wenn der Boden schoner und die Seele groBer ist — « 

Er wurde wieder ohnmachtig, aber der Puis schlug noch leise* 
- Und hier in diesem Hinbriiten war es, wo er von der Erde als 
letzte Gabe den schauderhaft-siiBen Traum empfing, in welchen 
der Korper die Gefuhle seiner Kranklichkeit mischte und den er 
nach seiner Wiederbelebung mit einem neuen Nachtraumen er- 
zahlte. Es ist der letzte sanfte Dreiklang unsers Korpers mit unse- 
rer weichenden Seele, daB er ihr noch in seiner Auf losung (wie 
wir von Ohnmachtigen, von Scheintoten unter dem Wasser etc. 

30 wissen) siiBe Spiele und Traume zufiihrt. - 

Traum Emanuels, daB alle Seelen eine Wonne vernichte 

Er ruhte verklart in einem durchsichtigen farbicht-dunkeln Tul- 
penkelch, der ihn hin- und herwiegte, weil ein sanftes Erdbeben 
die Tulpenlaube auf der gebognen Stiitze zu taumeln zwang. Die 



1 146 HESPERUS 

Blume stand in einem magnetischen Meer, das den Seligen immer 
starker zog; endlich driickte er, hinausgesogen, sie nieder und 
sank als eine Tauperle aus dem umgebognen Kelche heraus . . . 

Welch eine Farben-Welt! Ein Flockengewimmel von Ather- 
gestalten wie seine stand schwebend iiber einer* weiten Insel, urn 
welche ein rundes Gelander von groBen Blumen aufgeblattert 
spielte - mitten iiber den Himmel der Insel flogen Abendsonnen 
hinter Abendsonnen - tiefer neben ihnen liefen weiBe Monde - 
nahe am Horizont kreiseten Sterne - und sooft eine Sonne oder 
ein Mond hinunterflog, schaueten sie himmlisch wie Engelaugen 10 
durch die groBen Blumen am Ufer hindurch. Die Sonnen wurden 
von den Monden durch Regenbogen geschieden, und alle Sterne 
liefen zwischen zwei Regenbogen und stickten silbern die bunte 
Ringkugel des Himmels. Obereinartder stiegen hinauf bunte Wol- 
ken, in denen ein Kern von Gold, von Silber, von Edelsteinen 
brannte - von Schmetterlingflugeln waren Staubwolken abge- 
streift, die wie fliegende Farben den Boden iiberhiillten, und aus 
aem Gewolke blitzten reiBende Lichtfliisse, die sich alle inein- 
ander verschlangen ... 

Und in diesem Farben-Getiimmel ging eine siiBe Stimme umher 20 
und sagte uberall : Vergehet siifier am Lichte. 

Aber die Seelen erblindeten nur und vergingen noch nicht. 

Da iiberfielen Abendwinde und Morgenwinde und Mittag- 
winde miteinander die Aue und wehten die hell-blauen und gold- 
griinen Wolken nieder, die aus Blumenduft entstanden waren, 
und falteten den Blumenring am Horizonte auf und trieben den 
siiBen Rauch an die Herzen der Seligen. Der Bliitennebel schlang 
sie in sich ein, das Herz wurde in die dunkeln Diifte wie in ein Ge- 
fiihl aus der tiefsten Kindheit eingetaucht und wollte, Yom heiBen 
Blumendunste iiberfiossen, darin auseinandertropfen. - Jetzo kam 30 
die unbekannte Stimme naher und \\$$z\x.Qsar\hi 'Vergehet siifier 
am Duft. 

Aber die Seelen taumelten nur und vergingen noch nicht. 

Tief in der Ewigkeit aus der Mitternacht bog sich auf und nie- 
der ein einziger Ton - ein zweiter stand in Morgen auf- ein drit- 
ter in Abend - endlich tonte aus der Feme der ganze Himmel, und 



38. HUNDPOSTTAG II47 

die Tone uberstrdmten die Insel und ergriffen die erweichten 
Seelen . . . Als die Tone auf der Insel waren, weinten alle Men- 
schen vor Wonne und Sehnsucht... Dann liefen plotzlich die 
Sonnen noch schneller, dann stiegen die Tone noch hoher und 
verloren sich wirbelnd in eine schneidende, unendliche Hohe - 
ach dann gingen alle Wunden der Menschen wieder auf und warm- 
ten sanft mit dem rinnenden Blute jede Brust, die in ihrer Weh- 
mut erstarb - ach dann kam ja alles fliehend vor uns, was wir hier 
geliebet haben, alles, was wir hier verloren haben, jede teure 

10 Stunde, jedes beweinte Gefild*, jeder geliebte Mensch, jede Trane 
und jeder Wunsch. — Und als die hochsten Tone verstummten 
und wieder einschnitten und langer verstummten und defer ein- 
schnitten: so zitterten Harmonikaglocken unter den Menschen, 
die auf ihnen standen, damit das einschneidende Schwirren jeden 
Bebenden zerlegte. - Und eine hohe Gestalt, um die ein dunkles 
Wolkchen zog, trat auf in einem weiBen Schleier und sagte me- 
lodisch: Vergeket sufier an Tonen. 

Ach! sie waren vergangen und gern vergangen an der Wehmut 
der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es schmachtete, 

20 an seiner Brust gehalten hatte; aber jeder weinte noch einsam ohne 
seinen Geliebten fort. 

Endlich schlug die Gestalt den weiBen Schleier auf, und der 
Engeldes EnJes stand vor den Menschen. Das Wolkchen, das um 
ihn ging, war die Zelt - sobald er das Wolkchen ergriffe, so wiirde 
ers zerdriicken, und die Zeit und die Menschen waren vernichtet. 
Als der Engel des Endes sich entschleiert hatte: Iachelte er die 
Menschen unbeschreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne 
und durch das Lacheln zu zertreiben. Und ein sanftes Licht fiel 
aus seinen Augen auf alle Gestalten, und jeder sah die Seele vor 

30 sich stehen, die er am meisten Iiebte - und als sie einander vor 
Liebe sterbend anschaueten und aufgeloset dem Engel nachlachel- 
ten : griff er nach dem nahen Wolkchen - aber er erreichte es 
nicht. 

Plotzlich sah jeder neben sich noch einmal Sich - das zweite 
Ich zitterte durchsichtig neben dem ersten, und beide Iachelten 
sich zerstorend an und wurden miteinander hoher - das Herz, das 



I I 48 HESPERUS 

im Menschen beble, hing noch einmal bebend im zweiten Ich und 
sah sich darin sterben. — 

O da muBte jeder von seinem Ich zu seinem Geliebten weg- 
fliehen und, ergriffen von Schauder und Liebe, die Arme um 
fremde teure Menschen winden. - Und der Engel des Endes off- 
nete die Arme weit und driickte das ganze Menschengeschlecht 
in eine Umarmung zusammen. - Da glimmt, duftet, tont die ganze 
Au - da stocken die Sonnen, aber die Insel wirbelt sich selber um 
die Sonnen - die zwei gespaltnen Ich rinnen ineinander ein - die 
liebenden Seelen fallen aneinander wie Schneeflocken — die 
Flocken.werden zur Wolke - die Wolke schmilzt zur dunkeln 
Trane. - 

Die groBe Wonnetrane, aus uns alien gemacht, schwimmt 
durchsichtiger und durchsichtiger in der Ewigkeit. - 

Endlich sagte leise der Engel des Endes : Sip sind am siifiesten 
vergangen an ihren Geliebten. — 

Und er zerdriickte weinend das Wolkchen der Zeit. - 



In Emanuels Augen glanzten die Fieberbilder des Todes, mit 
denen sich jeder Schlaf, sogar der letzte, anfangt. Sein Geisr hing 
wiegend in seinen schlaffen Nerven,von sanften Liiften angeweht; ; 
denn er war schon in jener zersetzenden Nerven-Entziickung der 
Ohnmachtigen, der Gebarenden, der Verbluteten, der Sterben- 
den. Aber seine ausgeleerte Brust stieg leichter auf, sein ziehender 
Geist dehnte den Lebensfaden dunner aus. 

Viktor wiirde den Trost der dumpfen Betaubung genossen 
haben, womit iibereinander gehaufte Schmerzen uns zusammen- 
drucken, wenn er nicht dem armen Blinden jede Minute diese 
Schmerzen, d.h. alle Zuriistungen des Todes, hatte sagen miissen. 
Ach der Blinde besorgte vielleicht, seinem Lehrer zu spat mit dem 
Liede der Entziickung nachzurufen. 

Es kam der Abend. Emanuel wurde stiller und sein Auge star- 
rer, und es schien die Phantasien seines arbeitenden Gehirns in 
der Stube zu sehen, bis der Goldstreif der vorgesunknen Abend- 
sonne, den ein Spiegel auf ihn richrete, gleichsam wie ein Blitz 



38. HUNDPOSTTAG 1149 

durch seine Traumwelt fuhr. Leise, aber mit anderer Stimme sagte 
er : >>//i die Sonneh- Sie verstanden ihn und riickten sein Bette und 
sein Haupt dem schonen Abendregen der Abendsonne, dem er 
sonst so oft sein weiches Herz aufgeschlossen hatte, entgegen. 
Viktor erschrak, als er sah, daB seine Augen der Sonne ungeblen- 
det und unbeweglich offenstanden. 

Es war erhaben-still um drei zerriittete Menschen; bio 6 ein 
Abendluftchen flatterte in den Lindenblattern des Zimmers, und 
eine Biene zog um die Lindenbluten; aber drauBen auBerhalb 

10 dem Theater der Beangstigung ruhete ein seliger Abend auf den 
rot iibersonnten Fluren unter freudigen, flatternden, singenden, 
trunknen Wesen. 

Emanuel schauete still in die Sonne, die defer in die Erde drang; 
er krallte nicht am Deckbette wie andre, sondern hob seine Arme 
empor wie zu einem Fluge oder zu einer Umarmung. Viktor nahm 
seine geliebten Hande, aber sie hingen ohne Druck in seine nieder. 
Und als die Sonne wie eine lodernde Welt am Gerichtstage unter- 
sank in einer aufschieBenden letzten Lohe: so blieb der Stille mit 
kalten Augen an der leeren Stelle der Sonne und merkte den 

zo Untergang nicht; und Viktor sah plotzlich wechselnde Blitze der 
Todessense gelb uber das unverruckte AntHtz gehen. - Da gab er 
zerruttet dem Julius die Flote und sagte gebrochen : »Spiele das 
Lied der Entziickung, jetzt stirbt er.« - 

Und Julius preBte mit stromenden verfinsterten Augen den 
schluchzenden Atem in die Flote und erhob seine Seufzer zu 
himmlischen Tonen, um die entrinnende Seele unter ihrer Aus- 
wurzelung mit dem Nachklange der ersten Welt, mit dem Vor- 
klange der zweiten Welt zu verhullen und zu betauben. - 
Und als unter dem Liede ein seliges Lacheln liber einen unbe- 

30 kannten Traum das erkaltende Gesicht verklarte - und als bloB 
eine Zuckung der Hand die Hand des trostlosen Freundes driickte, 
und bloB die Zuckung mit dem Augenlid winkte und weiter hin- 
ab die blassen Lippen offnete und verging - und als die Abend- 
rote die bleiche Gestalt bedeckte siehe da trat der Tod, kalt 

gegen die Erde und unsern Jammer, eisern, aufgerichtet und 
stumm, durch den schonen Abend unter die Lindenbliite hin zur 



I I 50 HESPERUS 

iiberdeckten Seele im beruhigten Leichnam und reichte die ver- 
hiillte Seele mit unermefillchem Arm von der Erde durch unbe- 
kannte Welten bindurch in deine ewige warme vaterliche Hand, 
die tins geschaffen hat - in das Elysium, fur das du uns gebildet 
hast - unter die Verwandten unsers Herzens - in das Land der 
Ruhe, der Tugend und des Lichts .... 

Julius stockte aus Schmerz, und Viktor sagte : »Spiele das Lied 
der Entziickung fort, er ist erst gestorben.« - Unter den Tonen 
driickte Viktor dem Geliebten die Augen zu und sagte mit einem 
Herzen iiber der Erde : »Nun schlieBet euch zu - der Geist ist iiber 10 
der Erde, dem ihr das Licht gegeben - du blasse geheiligte Ge- 
stak, du geheiligtes Herz, der Engel in dir ist ausgezogen, und du 
fallst in die Erde zuriick.« - Und hier umschlang er noch einmal 
die leere kalte Hiille und driickte das Herz, das ja nicht mehr 
schlug, ihn nicht mehr kannte, an sein heifies an; denn die Floten- 
tone rissen seine bleichen Wunden zu weit auseinander. - O es 
ist gut, daB bei dem Menschen, wenn er im grimmigen Weh zu 
festem Eis erstarrt, keine Tone sind: die weichen Tone leckten 
aus der durchbohrten Brust alles traurige Blut, und der Mensch 
wiirde an seinen Qualen sterben, weil er vermochte,, seine Qualen *o 
auszudriicken — 

— Hier falle mein Vorhang vor alle diese Szenen des Todes, vor 
Emanuels Grab und vor Horions Schmerz! - Ich und du, mein 
Leser, wollen nun aus dem fremden Sterbezimmer gehen, um in 
nahere zu schauen, wo wir selber erliegen, oder wo unsere Teuer- 
sten erlagen. Wir wollen in jenen Zimmern unser Totenbette er- 
blicken, aber unser Auge falle nicht nieder; - die Flamme der 
Liebe und der Tugend lodert aufwarts iiber die Verwesungen — 
wir sehen um das Totenbette eine Bahre als Ruhebank, auf die 
alle Lasten abgelegt sind und das auseinandergedruckte Herz 30 
auch - wir sehen um das Totenbette eine groBe unbekannte Ge- 
stalt, die vom Ebenbilde Gottes den Erden-Rahmen bricht. - Aber 
wenn das Herz groB wird neben unserem Ruheort, so wird es 
weich neben dem fremden. - Wenn du, mein Leser, und wenn 
ich jetzt mit dieser bewegten Seele in die Zimmer blicken, wo wir 
die ewigen Wunden der Erde empfingen, so werden uns die bias- 



39- HUNDPOSTTAG II51 

sen Gestalten, die darin ihre Totenaugen noch einmal gegen uns 
aufheben, zu sehr erschiittern und verwunden. - Ach, das durft 
ihr auch, ihr geliebten Stummen - was haben wir euch denn noch 
zu geben als eine Trane, die uns schmerzet, als einen Seufzer, der 
uns beklemmt? Ach wenn der Trauerflor auf unserm Angesicht 
so bald zerreiBet wie der Leichenschleier auf eurem - wenn der 
Grabmarmor mit eurem Namen sich auf eurer Leiche umkehren 
muB, um eine neue mit ihrem neuen Namen zu bedecken - o! 
wenn wir alle die ewige Liebe, das ewige Erinnern so leicht ver- 
10 gessen, das wir euch in eurer letzten Stunde versprochen haben : 

- ach so ist ja in diesen brausenden Tagen des Lebens eine stille 
Stunde wie diese heilig und schon, wo wir uns gleichsam an die 
eingefallnen Graber mit den Ohren niederlegen und tief aus der 
Erde, obwohl jeden Tag dunkler, die Stimmen, die wir kennen, 
rufen horen: »Vergesset uns nicht - vergiB mich nicht, mein Sohn 

- mein Freund - meine Geliebte, vergifi mich nicht !« 

Nein, wir wollen euch auch nicht vergessen. Und wenn es uns 
immerhin zu wehe tut: so rufe doch jeder von uns in dieser Mi- 
nute die teuersten Gestalten aus ihren Ruhestatten vor sich und 
20 schaue die verwesten Ztige, die wieder geofFneten Augen voll 
Liebe, die so lange geschlossen waren, und das teure aufgedeckte 
Angesicht recht lange an, bis ihm die alten Erinnerungen an die 
schonen Tage ihrer Liebe das Herz zerbrechen, und er nicht mehr 
weinen kann. 

39. HUNDPOSTTAG 
Grofie Entdeckung - neue Trennungen 

Ich will jetzt enthullen, was ich im vorigen Kapitel verbarg. - 
Da Emanuel an jenem elysischen Morgen des Wahnsinns zu Ju- 
lius gesagt hatte: »Schatten! weiche!« so fuhr er fort: »Gaukle den 
30 blinden Sohn meines Horions (des Lords) nicht nach, der mich 
noch fur seinen Vater halt - furchte dich vor Gott, der voruber- 
ging, und verschwinde !« - Und zu Viktor wandte er sich : »Schat- 
ten ! wenn du nicht weiBt, wer du bist, und deinen Vater Eymann 



1 152 HESPERUS 

nicht kennst: so falle wieder auf die Erde hinab und in den Schat- 

ten hinein, den dort mein Viktor wirft.« Und da Viktor am 

andern Tag den Sterbenden auf diese Worte ftihrte : so fragte er 
beklommen : »Ach nab* ichs denn nicht im Wahnsinn gesagt, als 
ich wahnte, im Lande jenseits der Erden-Eide zu sein?« und er 
kehrte stumm das erschrockene Angesicht gegen die Wand — 

Er hat es also im Wahnsinn des Todes herausgesagt, daB Ju- 
lius der Sohn des Lords und Viktor der Sohn des Pfarrers Ey- 
mann ist . . . . Aber welche helle weite Beleuchtung gibt nicht die- 
ser Vollmond unserer ganzen Geschichte, auf die bisher nur eine 10 
Mondsichel schien ! - 

Ich gesteh* es, schon beim ersten Kapitel fiel es mir auf, daB 
Viktor ein Arzt war : jetzt ists erklart ; denn der medizinische Dok- 
torhut war die beste Montgolfiere und das Wunschhutlein fur 
einen biirgerlichen Legaten des Lords, um damit leichter um den 
Thron zu schweben und auf den murben Jenner einzuwirken; 
auch konnte Viktor nach seiner kunftigen Devalvation und nach 
dem Verlust des Federhuts am besten in den medizinischen sein 
tagliches biirgerliches Brot einsammeln - sah der Lord. Das war 
ein Grund, warum dieser jenen fiir seinen Sohn ausgab. Ein an- 20 
derer ist: Viktor war der Rolle beim Fursten durch seine Laune, 
Gewandtheit, Gefalligkeit u.s.w. am meisten gewachsen, wozu 
noch die empfehlende Ahnlichkeit trat, die er mit dem funften, 
bis jetzt noch verlornen Sohne, den Jenner so liebte, in allem, das 
Alter ausgenommen, besaB. Da nur ein Leibarzt der Giinstling 
sein sollte : so konnte der Lord keinen von den fiirstlichen Sohnen 
dazu nehmen, weil diese Juristen werden muBten, um in die kiinf- 
tigen Amter einzupassen. - Seinen eignen Sohn Julius konnt* er 
nicht brauchen, weil er blind war - beilaufig! der Lord war auch 
einmal blind und vermehret also die Beispiele der von Vater auf 30 
Sohn forterbenden Blindheit durch seines -; aber auch ohne die 
Blindheit konnt' er wegen seiner uneigennutzigen Delikatesse un- 
moglich seinen Sohn die Vorteile der fiirstlichen Gunst erbeuten 
lassen, indes er die eignen Sohne Jenners von ihnen entfernte. - 

Du guterMann ohne Hoffnung! wenn ich jetzt deine dichte- 
rische Erziehung des Blinden mit deinen kalten Grundsatzen ver- 



39- HUNDPOSTTAG 1 1 53 

gleiche, wenn ich berechne, wie du - abgestorben den lyrischen 
Freuden - verhartet fur die Tranen des Enthusiasmus - gleich- 
wohl die mit Augenlidern verhangne dunkle Seele deines Julius 
von seinem Lehrer fiillen lassest mit dkhterischen Blumenstucken 
- mit Tauwolken der Running - und mit dem Nebelstern des 
zweiten Lebens: so vermehret es ebensosehr meine Schmerzen als 
meine Hochachtung, daB du nichts auf der Erde findest, was du 
an dein ausgehungertes Herz driicken kannst, und daB du dein 
auf leeren Tranendrusen verwelktes Auge kalt aufhebst gegen 

io den Himmel und auch da nichts siehest als ein wiistes odes Blau!- 
Diese schmerzliche Betrachtung machte Viktor noch friiher als 
ich. - Aber zur Geschichte! Die vergangne zog tausend Stacheln 
durch sein Herz. Wir kennen jetzt unsern sonst frohen Sebastian 
nicht mehr - er hat vier Menschen verloren, gleichsam um die 
vier Pfingsttage damit abzuzahlen: Emanuel ist verschwunden, 
Flamin ist ein Feind geworden, der Lord ein Fremder und Klo- 
tilde - eine Fremde. Denn er sagte zu sich: »Jetzt, da sie so weit 
iiber mich geruckt ist, will ich der Leidenden, der ich schon so 
viel genommen, nicht gar alles kosten, nicht gar die Liebe ihres 

20 Vaters und ihren Stand - ich will nicht auf ihre in der Unwissen- 
heit meiner Verhaltnisse geschenkte Liebe dringen. -Nein, ich will 
gern meine Seele von der teuersten ablosen unter tausend Wun- 
den meiner Brust und mich dann einsam hinlegen und zu Tod 
bluten.« - Jetit wurd' ihm dieser Vorsatz leicht; denn nach dem 
Tode eines Freundes nehmen wir ein neues schweres Ungluck 
gern auf unsere Brust, es soil sie eindrucken, denn wir wollen 
sterben. 

Doch hatte das Schicksal in seinen zwei Armen noch zwei Ge- 
liebte gelassen : seinen Julius und seine Mutter. In jenem Hebt' er 

3° so viele schone Beziehungen ; sogar das war eine, die es macht, daB 
man allzeit den liebt, mit dem man verwechselt wurde; und er 
wollte Vaterstelle bei jenem vertreten wie der Lord bei ihm, um 
diesem edlen Manne nicht sowohl zu danken als nachzueifern. 
Und noch heiBer umfing er mit seiner Seele die vortrerTliche 
Pfarrerin, der schon bisher sein Herz in der sanften Warme eines 
Sohnes entgegengeschlagen hatte. Ach wie wohl hatte es der kind- 



1 1 54 HESPERUS 

lichen Brust, von welcher der bisherige Vater weggesto'Ben war, 
in ihrem Sehnen getan, ans miitterliche Herz gedriickt zu werden 
und von der Mutter die Worte zu horen: »Guter Sohn, warum 
kommst du so ungliicklich und so spat zu mir?« Aber er durfte 
nicht, weil er sonst den Schwur, die Abkunft Flamins unter der 
Decke des Geheimnisses zu lassen, gebrochen hatte. 

Er sperrte sich vier Tage mit dem Blinden ins Sterbhaus ein - 
er sah niemand — besuchte das trauernde Kloster nicht, wo aus 
alien schonen Augen ahnliche Tranen flossen - tat Verzicht auf 
den duftenden Park und auf den blauen Himmel - und lieB den 10 
Blumenflor dem Verstorbenen nachwelken. — Er trostete den ver- 
lassenen Blinden, und den ganzen Tag ruhten sie aneinander ge- 
schlungen und malten sich weinend ihren Lehrer und seine Leh- 
ren und die lichten Stunden ihrer Kindheit vor. Endlich am 
vierten Tage fiihrte er den Blinden auf immer aus dem schonen 
Maienthal - die Abendglocke sandte ihnen weit das Totenge- 
laute eines ganzen eingesargten Lebens nach - Julius weinte laut 
- aber Viktor hatte nur ein feuchtes Auge und trostete nicht sich, 
sondern den Blinden; denn seine Seele war jetzo anders, als man 
erraten wird: seine Seele war erhoht iiber dieses Abend-Leben, 20 
sein Verstorbner hielt sie wie ein Genius hoch empor iiber die 
Wolken und iiber die Spiele einer kleinen Zeit. Viktor stand auf 
dem hohen Gebirg, wo man am Bcgrabnis-Tage eines Freundes 
steht, unten am Gebirge ging das Totenmeer des Abgrunds weit 
hin 1 und sog an einem ausgedehnten zitternden Nebel, der sich 
auf dem Meere aufrichtete - und auf dem Nebel waren bunte 
Stadte gefarbt, und schwankende Landschaften hingen in ihm, 
und die kleinen Volker mit roten Wangen liefen auf den Land- 
schaften aus Duft - und alles, Volker und Stadte, tropften wie 
Tranen hinab ins saugende Meer — bloB am Horizont war unten jo 
im diistern Nebel ein angeglommener Saum wie Morgenglut: 
denn eine Sonne steigt hinter der Dammerung auf, und dann ist 
der Nebel vergangen, und eine neue griine feste Welt liegt in die 
UnermeBHchkeit hinein. — 

1 Anspielungen auf den mit abgebildeten Landern und Inseln erfullten 
Nebel, den man am Morgen vom Atna herunter sieht. 



39- HUNDPOSTTAG H 5 5 

Er wollte die ganze Nacht gehen, aber er wurde durch etwas 
Fiirchterliches im nachsten Dorfe, das Obermaienthal heiBet, an- 
gehalten. Eir erkannte in der Wagenremise des Gasthofs den Wa- 
gen des Kammerherrn am Wappen. Er lieB den Blinden auf einer 
steinernen Bank an der Tiire nieder, wo dieser dem Gerausche 
des Heu-Abladens zuhorchte. Viktor bekam im Hause auf seine 
Frage die Nachricht: »es waren zwei Damen droben, die eine 
kenne man nicht« (er entdeckte aber im ersten AbriB ihres Anzugs 
sogleich die Pfarrerin) - »die andere sei oft hier durchpassiert, es 

io sei die Tochter des Obrist-Kammerherrn und habe Ganz-Trauer 
an, weil ihr Vater vor einigen Tagen totgeschossen worden im 
Duell mit dem Regierrat Flamin, und beide reiseten, wie ihre 
Leuten sagten, nach England.« 

Er schrie vergeblich, halb in Blut und Qual erstickend : »Es ist 
unmoglich, mit dem Hof junker von Schleunes meint ihr.« Aber 
es war doch so - Flamin war im Gefangnis — Matthieu auBer Lan- 
des - Le Baut schon unter der Erde .... Fodert aber die Geschichte 
dieses Mordes jetzo nicht! - Viktor zog langsam die Uhr des 
glucklichen Zeidlers heraus und sah starr den Zeiger froher Stun- 

20 den an, der schon einige Tage unaufgezogen stockte; in ihm riet 
etwas der wilden Verzweif lung an, er sollte sie gegen den steiner- 
nen Boden schleudern und schmettern. Aber drei Lauten-Hauche 
der Flote, mit der der Blinde eine schonere warmere Vergangen- 
heit vor die erstarrte Seele zog, loseten sein gerinnendes Herz in 
ein nasses Auge auf, und er hob es uberflieBend empor und sagte 
bloB : »Vergib mirs, Allgutiger - ach ich will gern nur weinen !« - 
Wenn die Schmerzen in uns zu reiBend werden : so knirscht et- 
was in uns gegen das Schicksal, und das Herz ballet sich gleich- 
sam zur Wehre ergrimmt zusammen - aber diese Starke ist Laste- 

3° rung. O! es ist schoner gegen dich, Allgutiger, mit dem entzwei- 
gepreBten Herzen hinzurinnen und zur Trane zu werden und so 
lange zu Heben und zu schweigen, bis man stirbt! 

Die bekannten Flotentonen drangen in Klotildens dicke Regen- 
wolke des Grams - sie zitterte ans Fenster - sie sah den Blinden 
- aber sie ging schnell zuriick und hiillte ihr Herz tiefer in die 
kalte Wolke - denn jetzo wuBte sie alles: der Blinde war der 



I I 56 HESPERUS 

Todesbote, daB ihr groBer Freund die Erde und die Trostlosen 
verlassen habe. »Mein Lehrer ist auch tot«, sagte sie zur Begleite- 
rin; und als Viktor um eine Unterredung bitten lieB: konnte sie 
nur sprachlos mit dem Kopfe nicken. - Dann bat sie die Pfarrerin, 
in ein anderes Zimmer zu treten, weil ihr der Anblick Viktors aus 
vielen Grunden driickend sein muBte. Viktor stieg die Treppe 
gleichsam zu einem Blutgerust hinauf, auf dem ihm das Schicksal 
sein Herz herausnehmen werde, namlich die gute Klotilde, von 
der er heute sowohl durch ihre Reise als durch seinen Vorsatz, sie 
zu entbehren, abgeschieden wurde. Als er aufmachte und die Be- 10 
kiimmerte erblickte, bleich und miide an die Wand gelehnt; und 
als beide einander mit niedergesunknen Handen in die rotge- 
weinten Augen sahen und bebten in dem diistern Zwischenraum 
zwischen dem Anblick und dem ersten Wort wie in der schreck- 
lichen Zeit zwischen dem Feuer eines grofien Geschosses und 
zwischen der Ankunft der Kugel, und da endlich Klotilde leise 
fragte: »Es ist alles wahr?« und er sagte: »Alles!« - so legte sie ihr 
schones Haupt langsam um gegen die Wand und wiederholte in 
einem fort, aber leise-klagend, mit den sanften gedampften Trauer- 
tonen des ermudeten Jammers die Worte: »Achl mein guter Leh- 20 
rer, mein unvergeBlicher Freund! - Ach du groBer Geist! du 
schone Himmelseele, warum zogest du so bald meiner Giulia 

nach! O, teuerster Freund, zurnen Sie nicht, ich wiinschte 

jetzo bloB zu sein, wo mein Vater ist, im stillen Grabe.« — Vik- 
tor flng bebend die Frage an : »Hat ihn Flamin — «- aber er konnte 
nicht dazusetzen: »umgebracht«: denn sie riehtete das Haupt em- 
por und blickte ihn an mit einem schwellenden, mit einem arbei- 
tenden unsaglichen Schmerz, und dieser Schmerz war ihr Ja. — 
Sie wollte, von der Tranenverblutung erschlafft und zuckend 
unter den Erinnerungen, die wie Gehirnbohrer die Seele betaste- 30 
ten, endlich an der Wand zusammensinken; aber Viktor faBte sie 
mit unaussprechlichem Mitleid auf und erhielt sie aufgerichtet an 
seiner Brust und sagte: »Komm, unschuldiger Engel, komm an 
mein Herz und weine dich aus daran - wir sind ungliicklich, aber 
unschuldig — o ruhe aus, du gequaltes Haupt, ruhe sanft unter 
meinen Tranen.« Aber im hochsten Weh ring allezeit eine 



39- HUNDPOSTTAG 1 1 57 

Bergluft um ihn zu flattern an, ihm war, als richtete ein Hebeisen 
die eingebrochne Hirnschale auf, als zoge Lebenluft durch die 
angebohrte, innen modernde Brust hinein; es war ihm darum so, 
weil ihm das Leben der Menschen klein wurde, der Tod grofi und 
die Erde zu Staub. »Sclilafe, Gequalte« - sagt' er zu Klotilde, die 
welkend an ihm lehnte — »verschlafe das Weh — das Leben ist ein 
Schlaf, ein gedriickter heifier Schlaf, Vampyren sitzen auf ihm, 
Regen und Winde fallen auf uns Schlafende, und wir greifen ver- 
geblich aus zum Erwachen — o das Leben ist ein langer, langer 

io Seufzer vor dem Ausgehen des Atems. - O daB aber die elende 
Lufterscheinung gerade diese gute Seele, gerade dich, dich so 
qualen darf !« - »Ach,« sagte Klotilde, »wenn doch die zu traurige 
Flote aufhorte! Mein Herz zerspringt vor Qual«; aber ihr Freund 
riB grausam alle Quellen ihrer Tranen weiter auf und goB seine 
in die ihrigen und make ihr die Vergangenheit ab: »Vor vier 
Wochen war es anders, da gingen die Flotentone iiber ein scho- 
neres Land durch die gliicklichen Klagen der Nachtigall hindurch 
in unsere Herzen, die damals so froh waren - am ersten Pfingst- 
tage fand ich dich, als die Nachtigall schlug - am zweiten sank ich 

io vor Wonne und Hochachtung vor dir nieder, als der Regen um 
uns glanzte - am dritten ging oben an der Abendfontane ein 
weiter Himmel auf, und ich sah einen einzigen Engel glanzend 
und lacheind darin stehen. — Unsere drei Tage waren Traume 
von schonen Blumen, denn Traume von Blumen bedeuten Jam- 
mer.« - Er hatte bisher seine weiche Seele gegen dieses grausame 
Gemalde verhartet ; aber als er gar mit gepreBter Stimme dazuge- 
fiigt hatte: »Damals lebte unser Emanuel noch und besuchte 

abends sein offnes Grab «: so muBte sein Herz zerreiBen, und 

alle Tranen quollen iiber das tief hineingedriickte Schwert wie 

30 blutige Tropfen heraus, und er sagte, sie heftiger an sich fassend: 
»0 komm, wir wollen weinen ohne MaB: wir wollen uns nicht 
trosten. Wir sind nicht lange mehr beisammen : o ich mochte mich 
jetzt zerriatten durch Kummer. - Erhabner Dahore! schau diese 
Sterbende an und ihre Tranen um dich und vergilt ihre Trauer 
und gib der muden Seele einmal Ruhe und deinen Frieden und 
alles, was den Menscheafehlt!« 



1 1 58 HESPERUS 

Die zwei Seelen sanken verschlungen hin in eine einzige Trane, 
und die Stille der Trauer heiligte den Augenblick - und>mehr 
lasset mich mit dem beklommenen Atem nicht davon sagen. 

- Wie erwachend zog sie ihr Haupt von seinem Herzen und 
nahm mit einem entjurafteten Lacheln seine Hand - denn sie liebte 
ihn aller Ungluck-Zufalle ungeachtet unaussprechlich und war 
eben auf dem Wege nach Maienthal, um ihn noch einmal zu er- 
blicken - und sagte: »Ich gehe nach England zu meiner Mutter, 
um den Lord auszufinden und zu erbitten, daB er fruher komme 
und sich ins Mittel schlage und fremde Schmerzen und meine 10 
endige.« - Ihr Stocken, das ihr Blick ausfiillte, entdeckte ihm so- 
viel, als es der ungliicklichen Pfarrfrau verschwieg, die im Neben- 
zimmer vieles horen konnte - was sie verdeckte, war, daB sie bei 
dem Lord die Beschleunigung der Entdeckung, daB Flamin der 
Sohn des Fiirsten sei, betreiben wollte. AuBerdem riickte dieser 
Weg ihre Augen von so vielen Bildern des Grames, so wie ihre 
Ohren von so manchem MiBgeton des Gespottes hinweg. Freilich 
war die Absicht, auf dem Kutschkissen und auf dem Schiffe die 
Bewegung wie eine Eisentinktur einzunehmen, nur ihr Vorwand 
bei Hofe gewesen, wo man ehrerbietige Unwahrheiten nicht 20 
bloB vergibt, sondern auch verlangt. 

Viktor verhieB ihr, in dunkler Ahnung seiner Kraft und Un- 
eigennutzigkeit — denn der Ungluckliche opfert freigebiger und 
leichter als der Gluckliche auf-: »er wolle wie eine Schwester fur 
ihn sorgen.<t - Ihre Augen trugen einander ihre Geheimnisse und 
eben darum ihre Liebe vor, und Klotilde floB von weinender Liebe 
tiber, erstlich der Reise wegen (weil fiir ihr Geschlecht eine Reise 
der Seltenheit wegen etwas Wichtiges ist), zweitens des Kummers 
wegen, da die Liebe ein weibliches Herz in ganzer Trauer warmer 
macht als eins in halber, wie Brennspiegel schwarz gefarbte Dinge 30 
starker erhitzen als weiBe. 

Gerade heute, wo sie ihm mit so viel erneuter Liebe in die Au- 
gen blickte, sollt' er von ihr abgerissen werden. Er verschonte sie 
zwar mit der Entdeckung seiner Geburt und seiner ewigen Tren- 
nung, um an ihr zerrissenes Herz nicht neue ziehende Qualen zu 
hangen; aber er wollte diese letzte Minute seiner schonen Liebe, 



39* HUNDPOSTTAG IIf9 

diese Nachlese und diesen Nachfior seines Lebens ganz abernten. 
Ach er wollte sie anschauen wie nie - er wollte ihr die Hand druk- 
ken hefdg wie nie - er wollte ihr ein Lebewohl sagen wie ein 
Sterbender — Denn es ist alles, rief unauf horlich sein Innerstes, 
zum letzten, letzten Male! - Nur ktissen wollt* er sie nicht: eine 
scheue Ehrfurcht, der Gedanke an die ausgespielte Liebhaber- 
rolle verbot es ihm,von ihrer Unwissenheit einen eigennutzigen 
Gebrauch zu machen. Aber als er den letzten Blick der Liebe auf 
sie richten wollte: so schlug das Schicksal alle die geschliffnen 

10 Waflfen, die bisher in seine Nerven gedrungen waren, noch einmal 
in die blutenden Offnungen, wie man in die Wunden der Ermor- 
deten die alten Instrumente wieder halt, urn zu sehen, obs die- 

selben sind ach es waren dieselben - das Zimmer benebelte 

gleichsam ein Lichterdampf- die Flotentone erstickten im innern 
Brausen - er muBte sie ansehen und konnte doch nicht vor Wasser 
- er muBte sie lange, fassend ansehen, weil er ihr schones Ange- 
sicht als ein Schattenbild des Schatten-Edens auf ewig niederlegen 
wollte in seine Seele — Endlich konnt* ers, mit tausend Schmer- 
zen blickte er ihr betrantes Angesicht, durch das die Tugend wie ein 

20 Herz schlug, ergreifend an und schattete es ab in seiner oden Seele 
bis auf jede Linie, bis auf jeden Tropfen - So viel nahm er mit von 
ihr, mehr nicht; ihr HeB er alles, sein Herz und seine Freude - Ach 
weiche Klotilde 1 wenn du es erraten hattest ! - Das Schluchzen seiner 
Mutter riB ihn ans Nebenzimmer, er stieB dieTiirauf, rief zertriim- 
mert der weggekehrten Mutter zu : »Teuerste ! Beim Allmachtigen, 
Ihr Sohn ist kein Morder und kein Verlorner« - und druckte die 
ihm hinter dem Riicken gegebne Hand sinnlos zusammen. 

Seht dem diistern Augenblicke, meine Freunde, jetzo nicht zu, 
wo er zum letzten Male Klotildens Hand nimmt und sein Herz von 

? o ihrem spaltet und doch nur sagt: »Reise glucklich, Klotilde, lebe 
ruhig, Klotilde, werde froh, Klotilde !« 

- Und weit vom Dorfe fiel er neben dem Blinden auf die Knie 
mit einem stummen Gebet fur das trauernde Herz, das er nun zum 
leztenmal verloren hatte. - 

Erst morgens um 4 Uhr kam er ohne Mudigkeit und ohne Tra- 
nen und ohne Gedanken in Flachsenfingen mit dem Blinden an. 



Il6o HESPERUS 

40. HUNDPOSTTAG 

Das morderische Duell - Rettung der Duelle - Gefangnisse als Tempel 

betrachtet - Hiobsklagen des Pfarrers - Sagen meiner biographischen Vor- 

zeit, Kartoffelnstecken 

Indem ich in den 40sten Tag mit der Anmerkung einschreiten 
will : »Die Historie des Duells ist noch voll Banal-Chiffern und 
ein wahrer unbezifferter GeneralbaB«- langt ein Stuck vom 43sten 
an und bezifFert den BaB oder punktiert die hebraischen Konso- 
nanten. Diesem jungen Vorlauf aus dem 43sten Kapitel hat man 
es zu danken, daB ich die SchuB-Historie mit froherem Mut er- 10 
zahlen kann. 

Man wird es nicht erraten, wer iiber Klotildens Verlobung am 
meisten aufkochte — der Evangelist namlich. Ihn verdroB die 
kiihne Treulosigkeit des Kammerherrn, iiber dessen Hoflichkeit 
er bisher durch Grobheit regiert hatte, darum so sehr, weil eine 
menschliche Mixtur von Kraftlosigkeit und Schmeichelei, wie Le 
Baut, uns unsaglich erbittert, wenn sie von Schmeicheleien zu Be- 
leidigungen iibergeht. Noch mehr hetzte ihn, der Flamin auf hetzte, 
die Witwe des Kammerherrn auf und schiirte in sein Elemen- 
tarfeuer sanftes Ol und emige Zundruten nach; sie haBte Klotil- ao 
den, weil diese geliebt wurde, und unsern Helden, weil er nicht, 
wie der Evangelist, die Stiefmutter iiber die Stieftochter erhob. 
Eine Frau, die fur einen Mann in den Tod gegangen ist, d. h. in 
einen kurzen Schlaf (welches der Tod fur Fromme ist), namlich 
in eine Ohnmacht - wie eben die Frau Witwe im 8ten Posttage -, 
darf schon diesen Mann hassen, wenn er sich nicht Heben lasset. 
Der Evangelist, der bisher Klotildens und Viktors Liebe nur fiir 
die zufallige Galanterie einer Minute gehalten und der die fluchr 
tige Verbindung mit seiner Schwester Joachime auch fiir keine 
langere angesehen hatte, war teufelstoll iiber den FehlschuB im 50 
ersten Falle und iiber denKonigschuB im zweiten; und er be- 
schloB, sich und seine Schwester, die er mehr als seinen Vater 
liebte, an jedem zu rachen. 

Joachime war noch dazu bitter gegen Viktor erzurnt, da sie 



40. HUNDPOSTTAG H 6 1 

sich und ihre Liebe zum bio Ben Deckmantel der seinigen gegen 
Klotilden bisher gemifibraucht glaubte. Ich habe oben berichtet, 
daB Matthieu nach dem Besuche Eymanns den seinen bei Flamin 
machte. Als ihm der Rat die Unterredung mit dem Pfarrer und 
seinen Haupteid eroffnet hatte: faBte sich Matz und walzete viel 
auf den Kammerherrn : »dieser sei ein kleiner Filou und ein groBer 
Hofmann - er habe vielleicht mehr als der Liebhaber Klotildens 
Badreise nach Maienthal vermittelt - er, und nicht so sehr Viktor, 
suche aus der Tochter ein Nachtgarn des furstlichen Herzens und 

io einen gradus ad Parnassum des Hofes zu machen.« Flamin war 
ordentlich froh, daB seine Rachbegierde noch einen andern Ge- 
genstand bekam als den, dessen Fehde er seinem Vater abge- 
schworen hatte. Indessen verbarg er dem Rate (um unparteiisch 
zu sein) doch nicht, daB der Apotheker uberall aus Erbitterung 
gegen Sebastian aussagte, dieser habe den Plan dieser Heirat als 
eines Erhoh-Mittels bloB von ihm, von Zeuseln. Flamin griff bei 
solchen Knochen-Zersplitterungen der Brust nur zur Stahlkur 
des Degens, zum Bleiwasser der Kugeln und zum Brenneisen des 
Sabels; und da ihn das Duell mit dem adeligen Viktor verwohnt 

20 hatte, woIlt' ers in der ersten Hitze dem Dreiknopfler Le Baut 
auch vorschlagen, afe Matz den turnierunfahigen Roturier aus- 
lachte. Flamin vermaledeite in vergeblichem Grimm seinen Ah- 
nen-Defekt, der ihn hinderte, sich erschieBen zu lassen von einem 
Ahnen-Begiiterten; ja er ware - da er schnell angliihte und doch 
langsam erkaltete - fahig gewesen, bloB eines adeligen Schimpf- 
wortes wegen (wie schon einmal einer tat) Soldat zu werden, dann 
Offizier und Edelmann, bloB um nachher den stift- und schuB- 
fahigen Injurianten vor seine Pistolenmiindung zu laden. 

Aber der treue Matthieu - dessen fleckige Seele sich vor jedem 

3 o anders drehte, der Sonne gleich, die nach Ferguson sich ihrer 
Flecken wegen um sich wendet, um alien Planeten gleiches Licht 
zu schenken - wuBte zu raten; er sagte, er wolle in seinem eignen 
Namen den Kammerherrn fodern, und zwar auf ein vermummtes 
Duell, und dann konne in der Verkappung Flamin seine Rolle 
nehmen, indes er selber unter dem Namen des dritten Englanders 
dabei ware und die zwei andern als Sekundanten. 



Il6z HESPERUS 

Flamin wurde durch Schnelligkeit iibermannt; aber nun fehlte 
es wieder an etwas, das noch weniger als der Adel zu einem Fech- 
terspiel zu entraten ist — an einer guten ordentlichen Beleidigung. 
Matthieu war zwar mit Vergnugen bereit, dem Manne eine anzu- 
tun, die zu einem Duelle hinlanglich befugte; aber der Mann mit 
dem kammerherrlichen Dietrich lieB befahren, er werde sie ver- 
geben — und niemand kame zum SchuB. - Recht glucklicherweise 
entsann sich der Evangelist, daB er ja selber schon eine von ihm 
erhalten habe, die er nur niitzlich und redlich zu verwenden 
brauche: »Le Baut hab' ihm ja vor drei Jahren die Tochter so gut 10 
wie versprbchen; und so gleichgultig dieser Meineid an sich sei, 
so behalt' er doch als Vorwand zur Zuchtigung fur einen groBern 
Fehler seinen guten Wert.«... So nimmt auf einer schmutzigen 
Zunge die Wahrheit die Gestalt der Liige an, sobald sich die Luge 
nicht in die der Wahrheit kleiden kann. Und Flamin ahnete nicht, 
daB sein angeblicher Brautfuhrer nichts sei als sein wahrer sabi- 
nischer Rauber derselben. 

Ich bin in Angst, man denke, daB Matthieu einem Kammer- 
herrn, zumal einem, bei dem Versprechen und Halten die weit- 
lauftigsten Vettern waren, die Machtvollkoramenheit zu liigen J0 
mehr abspreche als einem Hof junker, und daB er vergesse, wie 
man iiberhaupt uber den Strom des Hofs und Lebens wie iiber 
jeden physischen nie gerade hinubergelange, sondern die Quere 
und schief. Aber der Schlimme verachtet den Schlimmen noch 
mehr, als er den Guten hasset. Noch dazu handelte er so nicht 
bloB aus Leidenschaftj sondern auch aus Vernunft : wurde Flamin 
totgemacht, so muBte er von Agnola, die jetzt immer mehr die 
Fiirstin des Fursten wurde, und fur die natiirlicherweise ein Nach- 
flor von Jenners und des Lords vorigen Samereien ein Distel- 
Gehege war, das SchieBgeld und MeBgeschenk empfangen und 30 
eine hohere Stelle auf der Meritentafel des Hofs; - ferner konnte 
dann der Lord nicht mehr zum Tor hereinrollen und hinterbrin- 
gen: »Ew. Durchlaucht Sohn ist zu haben und am Leben.« - 
Wurde der Kammerherr erlegt, so wars auch nicht zu verachten; 
dieser vorige Kostganger und Prezist der furstHchen Krone war 
doch zum Teufel, und der Lord muBte sich wenigstens schamen, 



40. HUNDPOSTTAG 1 1 63 

durch sein Schweigen den Regierrat in das morderische Verhalt- 
nis mit einem Manne verflochten zu haben, dem er in jedem Falle 
ofFentlich die Verehrungeines Sohnes abzutragen hatte. Matthieu 
konnte nicht verlieren - noch dazu konnte er seine Wissenschaft 
um Flarains Abkunft verstecken oder aufdecken, wie es etwa not 
tat. 

Da gar die Englander die Sekundanten sein konnten: so sagte 
Flamin Ja; aber Le Baut sagte Nein, als er das Manifest und Krieg- 
instrument von Matzen erhielt; des Todes war er fast schon xiber 

10 ein Todes-Rezept ohne das Ingredienz der Kugel. Ich werde 
einen Hofmann nie so verkleinern, daB ich vorgebe, er lehne 
einen solchen Kartoffelnkrieg aus Tugend ab oder aus Feigherzig- 
keit- solche Menschen zittern gewiB nicht vor dem Tode, sondern 
bloB vor einer Ungnade -; aber eben die letzte, die Le Baut vom 
Minister und Fiirsten besorgte, schreckte ihn ab. Er hielt daher 
auf feinem Papier und mit feinen Wendungen, die den Streusand 
uberschimmerten, Matzen die vorige Freundschaft vor und ver- 
bindliche Abmahnungen von diesem auffallenden »GozsurtheI« 
und erklarte sich iiberhaupt bereitwillig, gern alles zu leisten, was 

20 seine Ehre - beleidigte, falls er hur nicht durch das LusttrefFen 
gegen das Duellmandat verstoBen miiBte. Aber er muBte - Mat- 
thieu schrieb zuriick, er verburge sich fiir das Geheimnis so wie 
fur das Schweigen der Sekundanten, und er schlage ihm zum 
OberfluB vor, sich einander in der Nacht und in Masken die 
Drachen-Pechkugeln zu insinuieren; »ubrigens bleib* er auch in 
Zukunft sein Freund und besuch* ihn, denn nur die Ehre fodere 
ihm diesen Schritt ab.«... Und dem Kammerherrn auch; - denn 
diese Leute verschlucken wohl grofie, aber nicht kleine Beleidi- 
gungen, so wie die von tollen Hunden Gebissenen zwar feste 

30 Sachen, aber keine flussigen hinunterbringen - und damit ist in 
meinen Augen ein Hofmann wie Le Baut genugsam entschuldigt, 
wenn er sich stellt, als war' er ein redlicher Mann oder als ginge 
er von denen sehr ab, die das ganze Jahr ihre Ehre zum Pfand ein- 
setzen und das Pfand - wie Reichspfandschaften oder wie leben- 
dige Pfander der Liebe - nie einlosen. 

Auf den Abend, wo Viktor in Maienthal trauernd eintraf, war 



1 1 64 HESPERUS 

alles festgesetzt — das Knegstheater war zwischen St. Liine und 
der Stadt. 

Extrablatt zur Rettung der Duelle 

Ich glaube, der Staat begunstigt die Duelle, um der Vermehrung 
des Adels Grenzen zu stecken, wie eben darum Titus die Juden 
einander fodern lieB. Da in Kanzleien immerfort Edelleute ge- 
macht werden, aber keine Biirgerliche — da noch dazu allemal ein 
Biirgerlicher darangewendet und eingerissen werden muB, eh* die 
Reichskanzlei einenEdelmann auf seiner Baustatte auffuhren kann 
- da die stehenden Armeen und die Kronungen zugleich zuneh- jo 
men und folglich die Bauten Adeliger mit: so wurde der Staat 
sicher eher zu viel als zu wenig Edelleute (wie doch nicht ist) be- 
sitzen, ware ihnen nicht gegenseitiges ErschieBen oder Erstechen 
verstattet. In Rucksicht der kleinen Fursten, die in der Kanzlei- 
Backerei gemacht werden, ware weiter nichts zu wiinschen, als 
daB zugleich auch Untertanen - ein oder ein paar Rudel mit 
jedem Fursten - mit abfielen von der Drehscheibe; so wie ich 
iiberhaupt auch nicht weiB, warum die Reichskanzlei nur Poeten 
machen will, da sie doch ebensogut Geschichtschreiber, Publi- 
zisten, Biographen, Rezensenten von ihrer Salpeterwand abkrat- 20 
zen konnte. — Man wende mir nicht ein, am Hofe schieBe man 
sich selten; hier hat die Natur selber auf eine andere Art wohl- 
tatige Grenzen der Hofleute gesteckt, etwan so wie bei den Ham- 
stern, bei denen Bechstein die weise Absicht ihrer Entvolkerung 
darin findet, daB sie, so boshaft bissig sie auch sonst das Ihrige 
verfechten, gleichwohl ihre Brut nicht zum Ihrigen rechnen, son- 
dern sie gern fahren lassen. Auch durfte Doktor Fenk mehr Recht 
haben, der ihre Partei nimmt und sagt, er gebe zu, sie niitzten 
nichts den wichtigern Gliedern des Staats, dem Lehr-, dem Bauern- 
stande etc., aber doch viel den kleinern unniitzen Gliedern, den 3° 
MeBhelfern des Magens und des Luxus, den Matressen, der La- 
kaienschaft etc., und ein Unparteiischer musse sie mit den Brenn- 
nesseln vergleichen, auf denen sich, da sie fiir Menschen und grofie 
Tiere wenig Nutzen haben, die meisten Insekten bekostigen. 
Ende dieses rettenden Extrablattes 



40. HUNDPOSTTAG 1 165 

Flamins Seele arbeitete sich den ganzen Tag in Bildern der Rache 
ab. In einem solchen Sieden des Bluts wurden ihm moralische 
Leberflecken zu Beinschwarz, die Druckfehkr des Staats kamen 
ihm wie Donatschnitzer vor, die peccata splendida des Regier- 
kollegiums wie schwarze Laster. Heme sah er noch dazu den 
Fursten immer vor Augen, den er in den Klubs der Drillinge und 
noch mehr in Hinsicht auf Klotilden todlich haBte. Er verschmahte 
das belastete Leben, und in dieser Hitze, worin alle Materien sei- 
nes Innern in einem einzigen FIuB zerlassen waren, suchte die 

10 innere Lava einen Ausbruch in irgendeinem Wagstuck. Seine 
heutige Ergrimmung war am Ende eine Tochter der Tugend, 
aber die Tochter wuchs der Mutter uber den Kopf. Die Drillinge, 
die, obwohl nicht mit der Zunge, doch mit dem Kopfe so wild 
waren wie er, zundeten gar den ganzen Schwaden seiner vollen 
Seele an. 

Endlich ritten nachts die zwei Sekundanten und Flamin und 
der in den dritten Englander verlarvte Matthieu auf den SchieB- 
platz hinaus. Flamin kampfte entflammt mit seinem aufsteigenden 
dampfenden Hengst. Spater trug in Kurbetten ein Schimmel den 

20 Kammerherrn daher. Stumm misset man die Mord- und SchuB- 
weite und tauschet das GeschoB. Flamin als Beleidigter brlcht zu~ 
erst wie ein Sturm gegen den andern los; und auf dem schnauben- 
den Pferde und im Zittern des Grimms schieBet er seine Kugel 
uber das fremde — Leben hinaus. Der Kammerherr feuerte ab- 
sichtlich und offenbar weit vor dem Gegner vorbei, weil die Nie- 
derlage des (vermeintlichen) Matthieu sein ganzes Hofgliick mit 
niedergeschlagen hatte. Matthieu, bei aller Schlauheit zu jahzornig 
und zu kraftvoll, schon unter den Zuriistungen des Gefechtes 
schaumend und noch mehr ergrimmt uber das Verfehlen seines 

30 Wechsel-Ziels und zu stolz, urn sich vor den Englandern mit dem 
Geschenk seines Lebens unter einem fremden Namen und von 
einem so verachtlichen Widerpart beschamen zu lassen , stieB seine 
eigene Maske herab und Flamins seine dazu und ritt kalt auf den 
Kammerherrn zu und sagte, um ihn durch die Entdeckung seines 
ahnenlosen Gegners zu demutigen: »Sie haben sich im Stande 
geirrt — aber jetzt schieBen wir uns.«. . . Le Baut stotterte verwirrt 



1 1 66 HESPERUS 

und beleidigt - aber Matthieu drangte sein Pferd zuriick- stand - 
schrie - schoB mit versteinertem Arme und traf und zerstorte tod- 
lich das kahle Leben des armen Le Baut... Blitzschnell sagte er 
alien: »Zum Grafen 0!« und trabte - mit dem BewuBtsein der 
friihen, leichten Vergebung von seiten des Furstenpaars und der 
Witwe — uber die Grenze hiniiber nach Kussewitz. 

Flamin wurde ein Eisberg - dann ein Vulkan — dann eine wilde 
Flamme — dann ergriffer die Hande der Briten und sagte: »Ick y 
bloB ich habe den hier getotet. Mein Freund hatte nichts mit ihm 
gehabt. Aber da er fur mich gesiindigt hat: so ists Pflicht, daB ich 10 
fiir ihn biiBe. - Ich will sterben; ich gebe mich bei den Richtern 
fur den Morder aus, damit ich hingerichtet werde - und ihr miis- 
set wie ich aussagen.« - Aber er entdeckte ihnen jetzt einen viel 
hohern Antrieb zu seiner kuhnen Luge : »Wenn ich sterbe,« sagt* 
er immer gliihender, »so mtissen sie mich auf dem Richtplatz 
sagen lassen, was ich will. Da will ich Flammen unter das Volk 
werfen, die den Thron einaschern sollen. Ich will sagen: seht, 
hier neben dem Richtschwert bin ich so fest und froh wie ihr, und 
ich habe doch nur einen Nichtswiirdigen aus der Welt geworfen. 
Ihr konntet Blutigel, Wolfe und Schlangen und einen Lammer- *° 
geier zugleich fangen und einsperren - ihr konntet ein Leben voll 
Freiheit erbeuten, oder einen Tod voll Ruhm. Sind denn die tau- 
send aufgerissenen Augen um mich alle starblind, die Arme alle 
gelahmt, daB keiner den langen Blutigel sehen und wegschleu- 
dern will, der uber euch alle hinkriecht und dem der Schwanz ab- 
geschnitten ist, damit wieder der Hofstaat und die Kollegien hin- 
ten daran saugen? Seht, ich war sonst mit dabei und sah, wie man 
euch schindet — und die Herren vom Hofe haben eure Haute an. 
Seht einmal in die Stadt : gehoren die Palaste euch, oder die Hunds- 
hiitten? Die langen Garten, in denen sie zur Lust herumgehen, 30 
oder die steinigen Acker, in denen ihr euch totbiicken musset? Ihr 
arbeitet wohl, aber ihr habt nichts, ihr seid nichts, ihr werdet 
nichts - hingegen der faulenzende tote Kammerherr da neben 
mir«. . . Niemand lachelte; aber er kam zu sich. Die Drillinge, fiir 
die der Korper und die Zeit und der Thron eine Brandmauer oder 
ein Ofenschirm ihrer in sich selber zunickbrennenden Freiheit- 



40. HUNDPOSTTAG 1 1 67 

lohe war, gelobten ihm gebundene Zungen, feste Herzen und 
tatige Hande; doch waren sie schweigend entschlossen, ihn nach 
der spriihenden Rede mit ihrem Blute zu retten und seine Un- 
schuld zu enthullen. Eine Folge dieses Freiheit-Dithyrambus 
war, daB Kato der Altere den Tag darauf den Pulverturm bei 
Maienthal, der das einzige Pulvermagazin im Lande war (Korn- 
magazine hatte man nicht so viele), ins Gewitter aufsprengte, als 
er nach Kussewitz zu Matthieu ritt. - 

Nun trugen sie die Luge ins Dorf, Flamin habe die Verkappung 
io Matthieus benutzt und ineiner ahnlichen dem Kammerherrn, den 
er wegen Mangel an Ahnen nicht erschieBen konnte, mit der Pistole 
das Lebenslicht ausgeputzt. Der Regierrat wurde auf einer kleinen 
scheinbaren Flucht inhaftiert und als eine gottliche Statue allein 
in jenen Tempel gesetzt, der, wie die alten Tempel, ohne Fenster 
und Geratschaft war, und den die darin seBhaften Gotter, wie 
Diogenes sein FaB, mit Inschriften versehen, und den der ge- 

meine Mann bloB ein Gefangnis nennt. Ich will aber vor 

alien Dingen diese und die folgenden Worte ein 

Extrablatt 

zo benennen. Die Kapelle oder das Filial eines solchen Tempels 
heiBet man ferner ein Hundeloch. Die Priester und Sodalen dieser 
Pagoden sind die Stockmeister und Stadtknechte. Oberhaupt sind 
die Zeiten nicht mehr, wo die Groflen gleichgultig gegen Wahr- 
heiten waren; jetzo suchen sie einen Mann, der wichrige gesagt 
hat, vielmehr auf und setzen ihm nach und machen ihn (mit mehr 
Recht als die Tyrier ihren Gott Herkules) in besagten Tempeln 
mit Kettchen und eisernen postilions d'amour fest, damit er da 
auf diesem Isolierschemel (Isolatorio) sein elektrisches Feuer und 
Licht besser beisammen behalte und anhaufe. 1st einmal ein sol- 

3 o cher Merkur so fixiert, und hat er mit den Fixsternen auBer dem 
Lichte auch die Unbeweglichkeit lange genug gemein gehabt: so 
kann man ihn, wenn mehr aus ihm geworden ist, endlich gar an 
den DreifuB - so heiBt der Galgen - als ein hdngendes Siegel der 
Wahrheit schaffen, wo er zur ordentlichen aufgetrockneten Natu- 



1 1 68 HESPERUS 

ralie ausdorrt, weil er sonst als kein taugliches Exemplar in das 
Herbarium vivum des philosophischen Martyrologium geklebt 
werden kann. Ein solches Hangen ist eine wiirdigere und niitz- 
lichere Nachahmung der Kreuzigung Christi, als ich in so vielen 
katholischen Kirchen an Karfreitagen sah, und im Grunde um 
nichts schwacher als die, so Michelangelo nach der Sage veran- 
staltete, der den Menschen, der ihm zum Gekreuzigten saB, oder 
vielmehr hing, re vera kreuzigte. Daher sind in katholischen Lah- 
dern neben den unblutigen MeBopfern mehre blutige\ denn ein 
solcher Quasichristus, der nicht in den dritten Himmel, aber doch 10 
in den Zitterhimmel 1 (coelum trepidationis) erhoht wird durch 
ein wenig Hanf, soli - deswegen erlegt man ihn - seinen Lehren 
durch seinen Tod die Dienste erweisen, die der hohere Kreuzes- 
tod einmal erwies. Und wahrlich die Toten predigen fort — fur 
die Wahrheit sterben 1st ein Tod nicht fur das Vaterland, sondern 
fur die Welt - die Wahrheit wird wie die Mediceische Venus in 
dreiBig Triimmern der Nach welt ubergeben, aber diese wird sie 
iri eine Gottin zusammenfiigen - und dein Tempel, ewige Wahr- 
heit, der jetzt halb unter der Erde steht, ausgehohlt von den Erd- 
begrabnissen deiner Martyrer, wird sich endlich iiber die Erde 20 
heben und eisern mit jedem Pfeiler in einem teuern Grabe stehen! 

Ende! 

Kato ritt dem nach Kussewitz gefluchteten Matthieu nach und 
legte ihm mit franzosischer Beredsamkeit den Plan Flamins, zu 
sterben, und ihren eignen, ihn zu retten, vor. Matz genehmigte 
alles, aber er glaubte nichts; er blieb noch aufier Landes. Doch 
erbat er sich, es ihm nicht ubelzunehmen, wenn er Flamins edle 
Aufopferung mit etwas vergelte, was wider ihren Plan, aber iiber 
ihre HofTnungen ware. Will er etwan dem Fiirsten es sagen, daB 
sein Sohn in der Haft sitzt? - 3 o 

In drei Minuten gehen die Leser und ich in die Apotheke zum 
Helden, wenn nur vorher berichtet worden ist, daB, als der leere 

1 Die alten Astronomen schalteten zwischen den Fixsternen und den Pla- 
neten einen Zitterhimmel ein, um ihm die kleinen Anomalien der letzteren 
schuld zu geben. 



40. HUNDPOSTTAG 1 1 69 

blutige Gaul des Kammerherrn und die Drillinge mit der liigen- 
haften Hiobspost des Mordes ans Pfarrfenster kamen, der Hof- 
kaplan eingeseift und halb rasiert war. Er muBte daher stillsitzen 
und nur langsam unter dem Messer reden : »0 Jammer uber alien 
Jammer - scher* Er doch fixer zu, mein Herr Feldscher - Frau, 
heule fur mich.« - Er schwenkte in seiner verhaltenen Pein die 
Hand schlotternd, um den Arm und das Kinn nicht zu erschiittern : 
»Um Gottes willen, kann Er mich denn nicht hurtig schinden? - 
Er hat einen armen Hiob unter dem Messer - es ist mein letzter 

IO Bart - man wird mich und mein Haushalten gefanglich einziehen. 
- Du Rabenkind, dein Vater kann deinetwegen dekolliert wer- 
den, du Kain du!« Er lief an alle Fenster: »DaB Gott erbarm'! das 
wird schon im ganzen Pfarrspiel ruchtbar. - Siehst du, Frau, 
einen solchen Satanas haben wir miteinander erzogen und ge- 
boren, du bist schuld. - Was lauscht Er denn da! Scher' Er sich 
einmal fort zu Seinen Kunden, Herr Feldscher, und schwarz* Er 

Seinen Seelenhirten nirgends an, und breit* Ers nicht aus!« 

Jetzo kam die sanfte Kloti lde, meder gesenkt und mit dem Schnupf- 
tuch in der Hand, weil sie erriet, was das Herz einer untrostlichen 

20 Mutter bediirfe, namlich zwei liebende Arme als einen Verband 
um die zerschmetterte Brust und tausend Balsamtropfen fremder 
Tranen auf das unter den Splittern schwellende Herz. Sie ging 
auf die Mutter mit offnen Armen zu und schloB sie darin sprach- 
los weinend ein. Der narrische Pfarrer fiel ihr zu FuBen und 
schrie:»Gnade! Gnade! wir samtlich wuBten um nichts. Ich nab' 
den Totschlag erst unter dem Balbieren gehort. Ich bejammre nur 
Dero hochseligen Herrn Vater und dessen Relikten. - Wer hatt' 
es vor zehn Jahren sagen sollen, gnadiges Fraulein, daB ich eine 
Ranke aufzoge, die meinen eignen Patronatsherrn niederschie Bt? 

30 Ich bin ein geschlagner Mann und meine Frau dazu. Ich kann nun 
aus Scham nicht mehr Senior Consistorii werden — ich darf keinen 
Patenbrief an Se. Durchlaucht erlassen, gesetzt auch, meine Frau 
kreisete auf dem Platze. - Und wenn sie meinen armen Sohn 
kopfen, so werd' ich vor Jammer grau in die Grube fahren.« - 
Als ihm Kloti lde, ohne zu lacheln, mit ihrem heiligen Worte zu- 
sicherte, es gebe ein unfehlbares Mittel der Rettung - womit sie 



II70 HESPERUS 

Flamins furstHche Abkunft meinte -: so sah der Kaplan sie. mit 
funkelnden Augen und verbliifften Mienen an und nannte sie 
immer halblaut dazwischen: Himmelsengel! - Gottesengel! - 
Erzengel! — Aber die zwei Freundinnen zogen sich begierig in ein 
Kabinett zuriick; und hier goB Klotilde das erste Wundwasser 
in die weit aufgerissene Seele der Mutter, indem sie ihr die 
Dazwischenkunft eines rettenden Geheimnisses beteuerte und 
verbiirgte und mit ihr deswegen die Reise nach London abredete. - 
Diese Entfernung wurde ihr zum Teil noch durch ihr MiBverhalt- 
nis mit der Kammerherrin abgedrungen, deren letzter Winden- 10 
schmied samt alien Hebemaschinen ihres gesunknen Schicksals 
nun mit ihrem Manne begraben worden, und welche, da sie 
alle Schuld auf Klotildens Betragen schob, diesen trauernden Geist 
durch ein absichtliches ObermaB eigner Trauer noch mehr zukran- 
ken suchte. Da die Le Baut ubrigens nichts so lieb hatte-als Gebet- 
biicher und Freigeister: so ersetzte sie jetzo sich diese durch jene. 
Einige meiner Leser werden rmr schon vorgeflogen sein und in 
den Erker Viktors hineingeschauet haben, um seinen von vier 
Wanden versteckten Gram zu finden - furchterlich steht die Ein- 
samkeit vor ihm und faltet ihm ein groBes schwarzes Gemalde 20 
mit zwei fnschen Grabern auf; in einem groBen Grabe liegt die 
verlorne Freundschaft, im andern die verlorne Hoffnung. Ach er 
wunscht das dritte, worein auch er sich verlore. Er hatte die er- 
habne Stimmung Hamlets. Der verhullte Julius kam ihm wie ein 
zuckender Toter vor. Er mied ganz den Hof ; denn sein Selbgefuhl 
war viel zu bescheiden und stolz, um mit dem gestohlnen Adel 
und den erschlichenen Rechten eines Lords-Sohnes ein fluchtiges 
Geprange zu treiben. Auch setzte sich an seinem Herzen eine 
kleine Frostbeule durch den Gedanken an, daB der Lord, nach der 
Unart aller Staatsleute und Staatsmaschinenmeister, die Menschen 30 
zu handhaben nur wie Korper, nicht wie Geister, nur wie Karya- 
tiden, nicht wie Mietleute des Staatsgebaudes, kurz bloB wie 
Tanzerinnen von Golkonda 1 , die sich zum Lastvieh eines einzigen 

1 Neun Tanzerinnen verstricken sich zu einem Elefanten fur den Konig, 
eine macht den Russel, viere die Beine, viere den Rumpf. Historic aller Reisen. 
10. Band. 



40. hundPosttag i 171 

Reiters mit ihren Gliedern zusammenschlingen und verschranken 
- daB der Lord, sag' ich, diese sonst erhabene Seele, auch seinen 
Viktor zu sehr zum Arbeitzeuge seiner Tugend verbrauchet hatte. 
Aber er vergabs dem Mann, dem er doch nichts vorzuwerfen 
hatte, als daB er nur die Giitigkeken eines Vaters gehabt, ohne 
die Rechte desselben. 

Da Viktor niemand den Hof mehr machte: so wollte natiirlich 
der Apotheker ihm auch keinen mehr machen. Jener lachelte dazu 
und dachte : »So sollte jeder gute Hofmann handeln und, wie ein 

10 geschickter FahrmanninseinemBoote,alIemaldieSeiteverIassen, 
die sinkt, und auf die andere'ubertreten.« Zeusel trat uber zum 
begiinstigten Brunnendoktor Kuhlpepper, dessen Einsichten man 
die Heilung Jenners zuschrieb, die vom Sommer herkam, und er 
legte sich hin, um mit seiner kleinen Schlangenzunge die FuBe zu 
lecken, in deren Ferse er vorher mit seinem GiftgebiB gestochen 
hatte - aber Grobiane vergeben nie; Kuhlpepper verachtete den 
»Neunundneunziger« und der Neunundneunziger wieder meinen 
Hofmedikus, wiewohl er ihn aus Furcht - wie der Fiirst aus Ge- 
machlichkeit - weder vor den Kopf noch aus dem Hause zu stoBen 

20 wagte. 

Armer Viktor! der Ungliickliche braucht Tatigkeit, wie der 
Gliickliche Ruhe; und doch muBtest du gebunden in die Zukunft 
wie in ein ausgedehntes herantreibendes Gewitter schauen. - Du 
konntest sie weder verdrangen noch lenken noch beschleunigen 
und hattest nicht einmal den Trost, dem Schmerze die WafFen zu 
Schmieden und wie Simson den Krampf der Qual durch Er- 
schiitterungen der Saulen auszulassen und - auszuloschen! - Er 
konnte nicht einmal fiir den gefangenen L'iebling etwas tun, den 
er in einen noch groBern Jammer getrieben; denn Flamins Leiden 

30 fiihrten wieder die Freundschaft fiir ihn in seinen Busen ein, ob- 
wohl verkappt in den Domino der Mcnschqnliebe. Er muBt' es 
erwarten, aber er konnt' es nicht erraten, ob der Lord komme oder 
lebe - welches beides durch dessen Schweigen und durch die 
Unsichtbarkeit des funften Furstensohnes wenig fiir sich hatte. - 
Zuletzt stand er in Furcht vor dem - Schlaf, zumal dem nach- 
mittaglichen; denn der Schlummer legt zwar seine Sommernacht 



1 172 HESPERUS 

iiber unsere Gegenwart wie iiber eine Zukunft, er ziebt zwei 
Augenlider wie den ersten Verband iiber die Wunden des Men- 
schen und deckt mit einem kleinen Traume ein Schlachtfeld zu; 
aber wenn er wieder weggeht mit seinem Mantel, so fallen die 
hungrigen Schmerzen desto heiBer auf den nackten Menschen los, 
unter Strichen fahrt er aus dem ruhigern Traume empor, und die 
Vernunft muB die ausgesetzte Kur, den vergessenen Trost von 
vorn anfangen. — Und doch - du gutes Schicksal! - zeigtest du 
unserem Viktor noch einen abendrotlichen Streif an seinem wei- 
ten Nachthimmel; es war die Hoffnung, von Klotilden, die sein 10 
Herz nicht mehr die Seinige nenneh durfte, vielleicht einen Brief 
aus London zu erhalten 

Ich wollte dieses Kapitel erstlich mit der Nachricht schlieBen, 
daB die Kapitel in immer weiterm Zeitraume und in kleinerem 
Format einlaufen - welches das Ende der Historie bezeichnet — , 
und nachher mit der Bitte, es nicht ubelzunehmen, daB die Leute 
darin immer romantischer spielen und spekulieren; das Ungliick 
macht romantisch, nicht der Biograph. 

Aber ich schlieBe gar nicht - eben der letztern Bitte wegen -, 
sondern frische lieber im Kopf des Lesers das Bild des alten lusti- 20 
gen Viktors ein wenig auf, den er sich kaum mehr wird denken 
konnen. Es ist ein ungemein gliicklicher Zufall, daB mir der Hund 
am dritten Hundposttage eines und das andere Faktum einge- 
liefert, das ich damals gar ausgelassen habe. Deswegen kann ichs 
jetzo unvermutet hinterbringen. Es muB ordentlich mir und dem 
Leser das groBte Vergniigen machen, wenn mein Schilderei - sie 
war damals schon ganz fertig - hier auf diesem Blatte aufgehan- 
gen wird* 

Der Hiatus des dritten Kapitels, worin ich Viktors Ankunft 
aus Gottingen im Pfarrhaus male, lautet, vollgemacht, also: 50 

Der Kaplan hatte ,das Eigne mancher Leute, daB er mitten im 
Freuden- und Visiten-Chor an seine winzigsten Geschafte dachte, 
z.E. am Hochzeittage an seine Maulwurffallen. Heute schnitt er in 
der Gesindestube - wahrend der Lord dem Hofmedikus die ge- 
heime Anleitung erteilte - die SaekartofFeln entzwei. Er konnte 
den Schnitt dieser Fruchte wenigen anvertrauen, weil er wuBte, 



40. HUNDPOSTTAG 1 173 

wie selten ein Mensch Stereometrie des Auges genug besaB, urn 
eine KartofFel in zwei gleiche Kegel- oder Kugelschnitte zu zer- 
fallen. Er hatte lieber die Saezeit versessen, als einen Keimglobus 
in ungleiche Sektores zerlegt, und sagte: »Nur Ordnung will ich 
haben.« - Es kann meinen Helden verschatten, wenn es auskommt 
- und durch den Druck muB es ja - und wenn es zumal Nurn- 
berger Patriziern und Leuten in Amtern und reichsgerichtlichen 
membris zu Ohren gelangt, daB Viktor nachmittags hinter dem 
Kaplan und Appeln einen Ehrenzug auf den Krautacker hielt und 

io daselbst das vollfuhrte, was man in einigen Provinzen Kartoffeln- 
stecken nennt. Man liefi ihm das Lob, daB er in ebenso symme- 
trischen Fernen wie der Kaplan die unterirdische Brotfrucht dem 
Boden einverleibe; uberhaupt sannen beide der Kartoffelnallee 
scharf nach, und ihre Augen waren die Linienteiler der Beete. Der 
Kaplan hatte schon vorher dem Ackerpflug hinter einem Diopter- 
lineal nachgesehen und nachgeholfen, damit das Feld, um welches 
ich und die reichsgerichtlichen membra jetzo stehen, in gleiche 
Prismata oder Beete ausgeschnitten wurde. Als beide abends nach 
Hause kamen mit groBem Ernst und kleinen Wamsern : so hatt' 

20 ihn das ganze Haus lieb zum Fressen; und die Pfarrerin fragte 
ihn, was er in seinem Warns, wenn ihm die Kammerherrin begeg- 
net ware, gemacht hatte, eine Verbeugung, eine Entschuldigung 
oder nichts? 

»0 du liebes Deutschland !« (rief er und schlug die Hande zu- 
sammen) »soll sich denn das ganze Land keinen SpaB machen, als 
den der Hof dekretiert?« (Viktor sah hier den alten tauben Kut- 
scher Zeusel an; denn jede humoristische ErgieBung richtete er 
ordentlicherweise an den, der sie am wenigsten verstand; ich wills 
aber hier an die Patrizier und membra gerichtet wissen.) »Gibts 

30 denn, mein lieber Mann, hierzulande nichts als Galgen und Zim- 
merleute und Justizbeamten, ich meine so, daB also die ersten 
keine Axt anriihren, wenn nicht die Ietzten damit den ersten Hieb 
getan? Will Er denn alle Narrheiten wie die Moden von oben her- 
ab bekommen, wie ein Wind allemal in den obern Luftgegenden 
sauset, eh' er unten an unsere Fenster anpfeift? — Und wo ist denn 
ein Reichsabschied oder ein Vikariatkonklusum, das einem 



1 174 HESPERUS 

Reichs-Deutschen verbote, narrisch zu sein? Ich hoffe, Zeusel, es 
soil noch eine Zeit kommen, wo Er und ich und jeder so viel Ver- 
stand hat, daB er seinen eigenen hat und seine eigene, aus seinem 
Fleisch und Blut gezeugte Privat-Narrheit, als Autodidaktus in 
jeder Toll- und Weisheit. - O ihr armen Menschen! fangt doch 
nach den Flugel- und Schwanzfedern der Freude unter den Ge- 
walt-Marschen euerer Tage! O ihr Armen! Will denn kein guter 
Freund einen Imperialfolianten zusammenschmieren und euch 
dartun, daB ihr wenig Zeit habt, gleich dem Teufel in der Apo- 
kalypsis? Ach der GenuB verspricht so wenig - die Hoffnung 10 
halt so wenig - der Sae- und Pflanztage der Freude stehen im 
berlinischen Kalender so wenige - wenn ihr nun vollends so dumm 
waret und ganze Stunden und Olympiaden voll Lust als Einge- 
machtes wegsetztet und aufhobet im Keller, urn, der Henker weifi 
wenn, dariiber zu geraten uber ganze eingepokelte marinierte 
50, 60 Jahre — ich sage, wenn ihr nicht an jeder Stundentraube 
die Minutenbeere auskeltertet wenigstens mit einigen Zitronen- 

druckern was wiirde denn am Ende daraus werden? . . . weiter 

nichts als die Moral zu meiner ersten und letzten Fabel, die ich 
einmal vor einem Hannoveraner gemacht«... 20 

Ich wollt', der Leser wollte sie; denn sie lautet so : 
»Der dumme Hamster, heiBt der Titel. Diesen brachte einmal 
der voile Kropf einerTaube,den er ausfraB,auf die Preisfrage, ob 
es nicht besser ware, wenn er statt einzelner Kornchen lieber 
Tauben mit ganzen Kornmagazinen am Halse eintriige. Er tats. 
An einem langen Sommertag inhaftierte er einen halben Tauben- 
flug mit gefullten Kropfen; aber er riB keinen Kropf entzwei, son- 
dern sparte sich hungernd alles zusammen auf Abend und Mor- 
gen, erstlich um recht viel Tauben einzufangen, zweitens um den 
Korner-Knaul abends durchgeweicht zu schmausen. Er schlitzte 30 
endlich abends seinen Zehend-Offizianten die Kropfe auf, sech- 
sen, neunen, alien - kein Kornchen war mehr da, die Inhaftaten 
hatten alles schon selber verdaut; und der Hamster war so dumm 
gewesen wie ein - Geizhals.« 

So weit der dritte und der vierzigste Hundposttag — Armer 
Viktor! 



41. HUNDPOSTTAG II75 

Nachschrift. Die Geschichte halt jetzt im Monat August und 
der Geschichtschreiber vorn am Oktober - bloB ein Monat liegt; 
zwischen beiden. 



41. HUNDPOSTTAG 

Brief- zwei neue Einschnitte des Schicksals - des Lords Glaubensbekenntnis 

Man schenke einem Menschen, der, gleich Pferden, in der Nahe 
der Nacht und der Heimat starker lauft, den zehnten Schalttag; 
am Ende eines Lebens und eines Buchs macht der Mensch wenig 
Ausschweifungen. 

10 Ich nab' es schon gesagt, daB nichts das Seelen- und Riicken- 
mark mehr aus einem Menschen presset, als wenn ihm sein Un- 
gltick kein Handeln vergonnt; das Schicksal hielt unsern Viktor 
noch fest mit der einen Hand, um ihn wund zu schlagen mit der 
andern, als in diesen Trauerwochen das Schopfrad der Zeit {wei 
neue Tranenkruge im Herzen der Menschen einschopfteund in die 
Ewigkeit hinausgoB. Erstlich kam die triibe Nachricht wie Trauer- 
gelaute an Viktors Ohr, daB sein ehemaliger Jugendfreund Fla- 
min einen Schritt, zu dem es ohne das Oberwerfen mit ihm nie 
gekommen ware, wohl mit dem Tode biiBen werde. Einige Tage 

20 nach den Kanikularferien - gerade als vor einem Jahre der arme 
Gefangne sein neues Amt mit so vielen menschenfreundlichen 
Hoffnungen angetreten hatte - zog jenes Gerucht wie eine Pest- 
wolke aus den Sessionzimmern heraus. Viktor nuchtete eilig und 
unglaubig und doch zkternd zum Apotheker, um ihm die Wider- 
legung abzufragen. Dieser schlug vor ihm - eben weil er den Hof- 
medikus verachtete und beschamen wollte - aufrichtig alle Hof- 
Rapportzettel und Cercle- oder Kreis-Berichte auseinander und 
las ihm daraus so viel vor: es sei nicht anders. Viktor horte, was 
er schon voraussetzte, daB jetzt der Fiirst den Laufzaum oder das 

30 StangengebiB seiner eignen Frau umhabe, und daB sie ihm durch 
Klotildens Entfernung naherkomme und mit dem Ohr- und Ring- 
finger den in den Nasenvmg eingefadelten Zugel bewege, als ware 
sie in der Tat nichts Geringeres als seine - Matresse, welches ein 



1 176 HESPERUS 

neues trauriges Beispiel 1st, wie leicht in den jetzigen Zeiten eine 
feine Ehefrau sich die Rechte einer Kebsfrau erschleiche. Zeusel 
fand es natiirlich, »daB sie, als die Freundin des Ministers, der, so 
wie sein Sohn Matthieu, der Freund des Kammerherrn gewesen, 
den Tod des letztern an Flamin zu rachen suche, und daB der Mi- 
nister, um seine Hand besser in die GrifFe der Parzenschere zu 
bringen und dem Regierrat den Lebensfaden entzweizuschneiden, 
selber die fortdauernde Entfernung seines Sohns verhange und 
unterhalte, damit dieser nicht etwan den ungllicklichen Liebling 
decke«. — Nicht ein wahres Wort war daran, das wuBte Viktor 10 
besser; aber desto schlimmer; o verrat nicht alles, daB Matthieu 
die Fiirstin durch Winke uber Flamins Geburt in sein treuloses 
Interesse gezogen, um, wie Zauberer, in der Feme und durch 
wenige Charaktere umzubringen? Wurd* ihn wohl bloB die 
Furcht vor der Riige der Ausfoderung so lange auBer den Grenz- 
steinen des Landes festhalten? - Noch dazu briitete die Fursten- 
sonne den ministerialischen Krotenlaich immer lebendiger an. Es 
ist wahr - und Viktor leugnete es nicht - man darf erwarten von 
der Fiirstin, daB sie die Matthaus- oder Jakobsleiter, auf der sie 
das fiirstliche Heri erstieg, da sie vorher nur an Jenners Hand 20 
reichte, mit der Zeit umschnellen wird mit dem FuB, so wie der 
Marder sich vom schlaftrunknen Adler in die Hohe reiBen laflt 
und ihn erst droben so lange zerhackt, bis der Trager fallt und 
stirbt; aber jetzt ist, glaub* ich, ihre fortdauernde Dankbarkeit 
gegen Schleunes schon genugsam bei Rechtschaffenen dadurch 
entschuldigt, daB noch mehr zu holen steht von der unvollende- 
ten Gabe. Ein alter Gesetzmacher setzte auf jeden Undank Strafe; 
ich glaube, man verfallt in den namlichen Fehler wie er, wenn man 
jede Dankbarkeit tadelt und bestraft, da oft der Eigenniitzigste 
am Hofe zu ihr seine guten Grunde haben kann. 30 

Viktor ging trube in sein Zimmer und sah Flamins Bild an und 
sagte : »0 ! das wolle der Himmel nicht, daB du Armer nicht mehr 
zu retten warest.« Viktor konnte sich iiberhaupt drei Tage nach 
einer Beleidigung nicht mehr rachen: »Ich vergebe jedem,« sagt' 
er sonst, »nur Freunden und Madchen nicht, weil ich beide zu lieb 
habe.« Aber welche Hand, welchen Zweig konnt' er dem sinken- 



41 . HUNDPOSTTAG 1 177 

den Flamin hinunterreichen ins Gefangnis? - Alles, was er ver- 
mochte, war, zum Fiirsten zu gehen mit einer nackten Bitte um 
dessen Begnadigung. Tausend Aufopferungen unterbleiben, weil 
man nicht ganz gewiB ist, daB sie ihre rechten Friichte bringen. 
Aber Viktor ging doch; er hatte sich die goldne Regel gemacht: 
fur den andern auch dann %u handeln, wenn der Erfolg nicht gewifi 
%u hoffen ist. Denn wollten wir erst diese GewiBheit abwarten: so 
wiirden Aufopferungen ebenso selten als unverdienstlichwerden. 
Er ging zum Fiirsten nach langer Zeit zum erstenmal - hatte 

jo den Nachteil wider sich, eine lange Abwesenheit mit einer Bitte 
zu endigen - sprach mit dem Feuer des Einsamen fur seinen Fla- 
min - flehte den Fiirsten um den Aufschub des Schicksals des- 
selben an, bis der Lord wiederkehrte - erhielt die Entscheidung : 
»Ihr Herr Vater und ich miissen es bloB der Justiz iiberlassen« und 
wurde kalt und stolz verabschiedet. 

Jet2o, gerade am 5. September dieses Jahres, wo eine groBe 
Sonnenfinsternis die Seele wie die Erde triibe und bange machte, 
jetzo hatte das Wasserrad des Schicksals den ersten Tranenkrug 
in seiner Brust gefullt - es walzte sich weiter, und der zweite floB 

10 liber: Klotildens Brief kam den 22. September zu Herbstes-An- 
fang an. 

»Teurer Freund ! 

Ihr Herr Vater war in London noch zu Anfang des Februars und 
hatte viel franiosischen Briefwechsel; dann ging er ab nach 
Deutschland, und seitdem weiB meine Mutter nichts von ihm. 
Das Schicksal wache iiber sein wichtiges Leben. An drei Eiden 1 , 
die seine Abwesenheit unaufloslich macht, hangen viele Tranen, 
viele Herzen und, o Gott! ein Menschenleben. - Ich lege ein Blatt 
von Ihrem Herrn Vater bei, das er bei meiner Mutter geschrieben 
30 und worin eine Philosophic ist, die meinen Geist und meine Aus- 
sichten immer triiber macht. Ach, ob Sie gleich einmal sagten: 
weder jdie Furcht noch die HofFnungen des Menschen treffen ein, 

1 Diese Eide der Verschwiegenheit hatte sich bekanntlich der Lord von 
Viktor, von Klo tilde und von ihrer Mutter unter jenem tragischen Apparat, 
der besonders in weibliche Herzen so stark eingreift, ablegen lassen. 



1 178 HESPERUS 

sondern immer etwas anders : so hab' ich doch das traurige Recht, 
meiner Bangigkeit und alien Traumen der Angst zu glauben, da 
ich mich bisher in nichts irrte als in der HofFhung. - Wie unge- 
niigsam ist der Mensch! - Aber wenn auch alles eintrafe und ich 
zu ungliicklich wiirde : so wiird' ich doch sagen : wie konnt' ich 
jetzt zu ungliicklich sein, war* ich nicht einmal zu gliicklich ge- 
wesen? — 

Sie werden mir es gern vergeben, daB ich iiber London und 
iiber den Eindruck schweige, den es auf ein so zerstreutes Herz wie 
meines machen konnte. Das tatige Gewiihl der Freiheit und der 10 
Schimmer des Luxus und des Handels beklemmen eine kumrher- 
hafte Seele bloB und machen nicht froher, wenn man es nicht vor- 
her ist. Sei gliicklich, geliebte Vaterstadt, sagte mein Herz, sei es 
lange und sehr, wie ichs in dir gewesen bin in meiner Jugend! - 
Aber dann eil* ich lieber mit meiner Mutter auf ihr Landhaus zu, 
wo einmal drei gute Kinder 1 so frdhlich griinten, und da werd* 
ich unaussprechlich erweicht, und dann bild* ich mir ein, ich sei 
hier glucklicher als unter den Gliicklichen. Ich bilde. mir es wohl 
nur ein ; denn wenn ich da das gesammelte Spielzeug dieser guten 
Kinder, ihre Exerzitienbucher und ihre engen Kleider anschaue; 20 
wenn ich mich unter drei aneinandergesaete Kirschbaume setze, 
die sie scherzend in dem*zu engen Kindergarten eingelegt hatten; 
und wenn ich dann denke, auf dieser Buhne zogen sie ihre Herzen 
fur ein gliicklicheres Leben groB, als sie gewonnen, fur eine hohere 
Tugend, als die Verhaltnisse zugelassen, und fur bessere Menschen, 
als sie gefunden haben : dann werd' ich sehr betriibt, und dann ist 
mir, als miiBt' ich weinen und diirft' ich sagen: auch ich bin in 
England geboren und wurde in Maienthal von Emanuel erzogen. 

Ach ich kann mein Herz nicht verbergen, wenn ich den Namen 
dieser groBen Seele schreibe. - Er war hier oft auf einem Berge, 50 
wo eine auseinandergefallene Kirche liegt, und wo er auf eine 
noch nicht umgeworfene Saule stieg, um sein Auge zu den Sternen 
zu erheben, iiber denen er nun wohnt. - Ich wollte Ihnen jetzo 
das schreiben, was mir meine Mutter von seinem Abschied er- 
zahlte : aber es tut mir zu wehe, und ich werd 1 es Ihnen miindlich 

1 Viktor, Julius, Flamin. 



41. HUNDPOSTTAG 1179 

sagen. Ich besuche diesen Berg sehr oft, weil man die ganze Ebene 
nach Osten hinuntersehen kann : hier hangt noch der alte Baum 
mit seinen Wurzeln und Zweigen in den Steinbruch hinunter, der 
voll zerstuckter Tempelsaulen liegt; Emanuel nahm oft abends 
das Kind dahin, das er ^m meisten liebte 1 und das, wenn er auf der 
Saule betete, mit dem einen Arm um den Baum geschlungen, 
sehnsuchtig und singend uber die weite Gegend hinuberblickte 
und sich hinauslehnte und, ohne es zu wissen, in suBer Beklom- 
menheit uber die eignen Tone und die entlegnen Gefilde weinte 

10 und uber das blasse Morgenrot, das von der Abendrote zuriick- 
glimmte. Einmal, da der Lehrer das Kind fragte: >Warum bist du 
so still und singest nicht mehr?< - gab es zur Antwort: >Ach, ich 
sehne mich in die Morgenrote, ich mochte darin Hegen und da- 
durch gehen und in die hellen Lander dahinter hineinschauen.< - 
Ich setze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn 
und verfolge stumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor 
Deutschland steht, und niemand stort mein Weinen und mein 
stilles Beten. 

Ich war heute zum letzten Male dort, denn morgen gehen wir 

20 mit meiner Mutter, ohne die mein verwaistes Herz nicht mehr 
leben kann, nach Deutschland zuriick zum besten Freunde der 

treuesten Freundin 

Kl.« 

* 

du gute Seele! — 

Hart klingt jetzt das sonderbare Blatt vom Lord, das kein Brief, 
sondern eine kalte Schutzrede seines kiinftigen Betragens zu sein 
scheint: 

»Das Leben ist ein Ieeres kleines Spiel. Wenn mich meine vie- 
len Jahre nicht wider leget haben : so ist eine Wider legung durch die 
30 wenigen iibrigen weder notig noch moglich. Ein einziger Un- 
glucklicher wiegt alle Trunkne auf. Fiir uns nichtige Dinge sind 
nichtige Dinge gut genug; fiir Schlafer Traume. Darum gibt es 
weder in noch auBer uns etwas Bewundernswertes. Die Sonne 
ist in der Nahe ein Erdball, ein Erdball ist bloB die oftere Wie- 

1 Sie weiC es wohl, daB es Viktor war. 



Il8o HESPERUS 

derholung der Erdscholle. - Was nicht an tind fur sich erhaben 
ist, kanns durch die oftere Setzung so wenig werden als der Floh 
durchs Mikroskop, hochstens kleiner. Warum soil das Gewitter 
erhabner sein als ein elektrischer Versuch, ein Regenbogen groBer 
als eine Seifenblaser* Los' ich eine groBe Schweizergegend in ihre 
Bestandteile auf: so hab' ich Tannennadeln, Eiszapfen, Graser, 
Tropfen und Gries. — Die Zeit zergeht in Augenblicke, die Vol- 
ker in Einzelwesen, das Genie in Gedanken, die UnermeBlichkeit 
in Punkte; es ist nichts groB. - Ein oft gedachter trigondmetri- 
scher Satz wird zum identischen, ein oft gelesener Einfall schal, 10 
eine alte Wahrheit gleichgiiltig. - Ich behaupte wieder: was 
durch Stufen groB wird, bleibt klein. Wenn die Dichtkraft, die 
entweder Bilder oder Leidenschaften malt, nicht in der Erfindung 
des alltaglichsten Bildes schon zu bewundern ist, so ist sie es nir- 
gends. In die Stelle eines andern kann sich jeder, wie der Dichter, 
wenigstens in irgendeinem Grade setzen. - Die Begeisterung ist 
mir verhaBt, weil sie ebensogut durch Likore als durch Phanta- 
sien entsteht, und weil man in und nach ihr am meisten sich zur 
Unduldung und zur Wollust neigt. - Die GroBe einer erhabnen 
Tat besteht nicht in der Ausfuhrung, die auf korperlkhe Arm- *o 
seligkeiten, auf Bewegen, Stehen, auslauft, nicht im einfachen 
EntschluB, weil der entgegengesetzte,z.B. der,zumorden,eben- 
soviel Kraft bedarf als der, zu sterben, nicht in der Seltenheit, weil 
wir alle in uns dieselbe Tiichtigkeit dazu, nur aber nicht die Be- 
weggrunde dazu empfinden, nicht in alien diesem, sondern in 
unserer PrahlereL - Wir halten unsern allerletzten Irrtum fur 
Wahrheit, und nur den vorletzten fur keine, unser Heute fur 
fromm, und jeden kiinftigen Augenblick fur den Kranz und Him- 
mel der vorigen. Im Alter hat der Geist nach so vielen Arbeiten, 
nach so vielen Stillungen denselben Durst, dieselbe QuaL - Da 30 
alles sich verkleinert in einem hohern Auge: so muBte ein Geist 
oder eine Welt, um groB zu sein, es sogar dem sogenannten gott- 
lichen Auge sein; aber dann mufit* er oder sie groBer sein als 
Gott, weil man nie sein Ebenbild bewundert. - In meiner Jugend 
gab ich in einem Trauerspiel dem Helden alle jene Grundsatze 
und lieB inn kurz vorher, eh' er sich den Dolch ins Herz trieb, 



41. HUNDPOSTTAG Il8l 

noch sagen: >Aber vielleicht ist der Tod erhaben; denn ich fass* 
ihn nicht. Und so will ich denn die Blutbogen, die aus dem Her- 
zen aufspringen und so spielend das Menschenhaupt und Men- 
schen-Ich in der Hohe erhalten, wie ein Springbrunnen die dar- 
aufgelegte Hohlkugel schwebend tragt, diesen Springbrunnen 
will ich mit dem Dolche ableiten^damit das Ich niederfalle.< - Ich 
schauderte damals iiber diesen Charakter : aber ich dachte nachher 
uber ihn nach, und es wurde mein eigner!« - 



Furchterlicher Mensch! Dein Blut-Strahl und das Ich daruber 
io ist vielleicht schon umgefallen, oder bricht bald darnieder. - Und 
eben diese schwarzeWeissagung ist auch im Herzen Klotildens 
und Viktors — O mochtest du, anderer gebiickter Mann, den ich 
hier vor dem Publikum nicht nennen darf, es erraten, daB ich 
dich meine, daB du ebenso wie der ungluckliche Lord dein eigenes 
Ich abfrissest gleich blutsaugenden Leichen, und daB du in der 
Sternennackt des Lebens noch einen eignen todlichen Nebel um 
dich tragst! O der Anblick eines groBmiitigen Herzens, das sich 
bloB durch Ideen hiilflos macht, und das unzuganglich und be- 
taubt in seiner Laube aus philosophischen Giftbaumen liegt, farbt 
20 oft Tage schwarz ! - Glaube nicht, daB der Lord irgendwo recht 
habe ! Wie kann er etwas klein linden, ohn' es gegen etwas GroBes 
zu halten? Ohne Achtung gab' es keine Verachtung, ohne das 
Gefuhl der Uneigenniitzigkeit keine Bemerkung des Eigennutzes, 
ohne GroBe keine Kleinheit. So wenig du aus dem Schwanken 
der Saiten die Tranen des Adagio oder aus den Blutkiigelchen und 
dreifachen Hauten eines schonen Gesichts deine Achtung fur das- 
selbe erklarst: ebensowenig kannst du dein Entziicken fur das 
Geistige in der Natur mit den korperlichen Fasern derselben recht- 
fertigen wollen, die nkhts sind als die Fldten-Ansdt^e und Dis- 
50 und Fisklappen der ungespielten Harmonie. Das Erhabne wohnt 
nur in den Gedanken, es sei des Ewigen, der sie ausdriickt durch 
Buchstaben aus Welten, oder des Menschen, der sie nachlieset! - 
Ich verschiebe die Widerlegung des Lords auf ein anderes Buch, 
obwohl dieses auch eine ist. - 



Il82 HESPERUS 



42. HUNDPOSTTAG 



Aufopferung - Valetreden an die Erde - Memento-mori - Spaziergang - 
Herz von Wachs 

Es gibt einen Schmerz, der sich mit einem groBen Saugestachel 
ans Herz legt und Tranen durstig zieht - das ganze Herz rinnt 
und quillt und driickt zuckend die innersten Fasern zusammen, um 
zu einem Tranenstrom zu werden, und fuhlt den Zug des Schmer- 
zens nicht unter der todlich-suBenErgieCung... So todlich-suB 
schmerzte unsern Viktor Klotildens Brief. 

Aber todlich-bitter war der des Lords. »0 dieser miid-gequalte 10 
Geist« - rief er aus - »sehnte sich ja schon auf der Insel der Ver- 
einigung nach Toten-Ruhe — ach er ist gewiB schon aus der 
schwiilen Erde geflohen, die ihm so klein und driickend vorkam.« 
War das; so waren alle Schwiire, an deren Erlassung Flamins 
Leben hing, ewig gemacht und dieser verloren. Wars nicht, so 
war wenigstens keine Zuriickkehr zu hoffen, da Emanuels Tod 
und Gestandnis, Flamins Gefangenschaft und alle bisherigen Zu- 
falle, die der Lord alle erfahren konnte, seinen ganzen schon lini- 
ierten Plan ausgestrichen hatte. Jetzo riefs laut in Viktors Seek: 
»Rette den Binder deiner Geliebtenk — Ja, es war ein Mittel dazu 20 
da; - aber der Meineid wars. Wenn er namlich den beging, daB er 
dem Fiirsten entdeckte, wer Flamin sei: so war er erloset. Aber 
sein Gewissen sagte : Nein ! - » Der Untergangeiner Tugend ist ein 
groBeres t)bel als der Untergang eines Menschen - nur Sterben, 
aber nicht Siindigen muB sein - soil es mich noch mehr kosten, 
mein Wort zu brechen, als mich bisher kostete, es zu halten?« 

Bekanntlich war am Tage der heurigen Tag- und Nachtgleiche, 
wo er die zwei Londner Blatter empfangen hatte, ein kalter 
schneidender regnender Sturm, aus dem nachher der Sommer 
gleichsam zum zweitenmal aufbluhte. - Viktor griibelte weiter 50 
nach. Er zog jenen groBen Tag auf der Insel der Vereinigung 
noch einmal mit alien Minuten vor sich und fand, daB er dem 
Lord durchaus geschworen hatte, immer zu schweigen, ausge- 
nommen eine Stunde vor seinem eigenen Tode. Wir werden 



42. HUNDPOSTTAG 1183 

noch wissen, daB er sich diesen besondern Artikel damals ausbe- 
dungen, weil er einmal Flamrn zugeschworen hatte, sich mit ihm 
von der Warte zu eturzen, wenn sie sich feindlich trennen miiBten, 
und weil er jetzt, da ihm Klotildens Verschwisterung berichtet 
wurde, voraus befurchtete, es konne zU jenem Trennen und Stiir- 
zen kommen. Dann wollte er sich wenigstens die Freiheitvorbe- 
halten, nur eine Stunde vor dem Sterben seinem Freunde zu sa- 
gen, daB er unschuldig und die Geliebte Flamins nur eine - 
Schwester sei. 
10 »Also eine Stunde vor meinem Tode darf ich alles offenbaren? 

- O Gott! - Ja! - - Ja! - ich will sterben, damit ich reden kann!« 
rief er entziindet, pochend, aufgeweht, tiber das Leben gehoben. 

- Der Sturmwind schlug die GieBbache des Himmels und die 
zerstaubten Eisfelder an die Fenster, und der Tag sank dunkel 

unter in der zusammenschlagenden Flut »0!« (sagte unser 

Freund) »wie sehn' ich mich aus diesem schwarzen Sturm des 
Lebens hinaus ■- in den stillen lichten Ather - an die feste unbe- 
wegliche Brust des Todes, die den Schlaf nicht stort « 

Wenn er dem Fursten es entdeckte, daB Flamin sein eigner 
20 Sohn sei: so war dieser errettet, und er brauchte nur eine Stunde 
darauf sich - umzubringen. 

Und das wollt* er gern ; denn was hatt' er auf der Erde noch als 

- Erinnerungen? O der Erinnerungen zu viel, der Hoffnungen zu 
wenigl - Wen kummert sein Fall? - die Geliebte, die ihn doch 
entbehret, oder ihren Bruder, den er rettet und fliehet, oder seinen 
guten Lord, der vielleicht schon im Erdball ruht, oder seinen 
Emanuel, dessen Hebende Arme schon zerfallen? - »Ja bloB diesen 
geht mein Sterben an,« (sagt* er:) »denn er wird sich sehnen nach 
seinem treuen Schiiler, er wird in einer Sonne die Arme offnen 

30 und auf den Weg zur Erde niederschauen, und ich werde herauf- 
kommen mit einer groBen Wunde auf der Brust, und mein stro- 
mendes Herz wird nackt auf der Wunde liegen - o Emanuel, ver- 
schmah mich nicht, werd* ich schreien, ich war ja unglucklich, 
seit du gestorben bist, nimm mich an und heile die Wunde !« 

- »Siehst du meinen Vater?« sagte der blinde Julius, und sein 
Angesicht nahte sich einer lachelnden Entzuckung. Viktor er- 



I I 84 HESPERUS 

schrak und sagte: »Ich rede mit ihm, aber ich sehe ihn nicht!« - 
Aber dies hemmte sein Erheben. Er war bisher der Paraklet und 
Krankenwarter des armen Blinden gewesen; er konnt' ihn nicht 
ver4assen, er muBte den Retraiteschvfi des Lebens verschieben auf 
Klotildens Ankunft, damit diese den Hiilflosen beschirme. Ach 
der gute Nachtwandler und Nachtsitzer (im eigentlichen Sinn) 
hatte anfangs jeden Tag seinen Viktor gebeten, ihm ins Auge zu 
stechen und das Licht wiederzugeben, eh' sein teuerer Vater aus- 
einandergefallen ware, damit er das schone, von Wurmern noch 
nicht untergrabene Angesicht nur einmal sahe, nur noch einmal, 10 
ja er wollte wenigstens die kalte Larve blind betasten - das hatt* 
er anfangs gebeten; aber in wenig Wochen hatt* er seine Arme 
unter dem Toten weggezogen und sie ganz (wie ein wahres Kind) 
mit aller seiner liebkosenden Liebe um den immer bei ihm zu Hause 
bleibenden Viktor geschlungen. Auch in der Nacht reichten sie 
sich aus ihren zwei nahen Betten die warmen Hande zu und gin- 
gen, so verkniipft, in die Abendlander der Traume hinein. Den 
kindlichen Blinden hatte sogar das fortklingende Getose des 

Stadtgetummels, das seinem Dorfe abgegangen war, getrostet 

Viktor erwartete also vorher die Ankunft Klotildens - ach, er 20 
hatt' es auch ohne den Blinden getan. - MuBt* er nicht seine gute 
Mutter noch einmal sehen, seine unvergeBliche Geliebte noch 
einmal horen? — Ich kann es iibrigens nicht verheimlichen, daB 
ihm nicht bloB die Rettung Flamins, sonderneigentlicher Lebens- 
ekel die Hand bei seinem Todesurteil fiihrten. Im Urteil des mor- 
derischen Ekels standen als Entscheidgriinde der Sonnenunter- 
gang Emanuels - Viktors gelaufige Nachtgedanken uber unser 
Lukubrieren des Lebens — seine ganzliche Umstiirzung seiner biir- 
gerlichen Verhaltnisse - das ahnliche vergangene oder kiinftige 
Muster des Lords — sein Lechzen nach einer Tat voll Starke — und 30 
am meisten die Todeskalte um seine nackt gelassene Brust, die 
sonst von so vielen warmen Herzen zugedeckt wurde. Man kann 
Liebe und Freundschaft nur so lange entbehren, als man sie noch 
nicht genossen hat - aber sie verlieren und ohne HorTnung ver- 
lieren, dies kann man nicht, ohne zu sterben. Seinem Gewissen 
macht* er den optischen Betrug und Theaterstreich vor, daB er es 



42. HUNDPOSTTAG II85 

fragte, ob er nicht seinen Freund aus dem Wasser mit Gefahr des 
Lebens holen, ob er nicht vom Brette, das nur einen triage, in die 
Wellen sturzen diirfe, um den Tod zum Kaufschilling eines andern 
Lebens zu machen. - Zwei sonderbare Vorstellungen versiiBeten 
ihm seinen Todes-EntschluB am meisten. 

Die erste war, daB er am Todestage (nach der Entdeckung beim 
Fiirsten) hingehen konnte ins Gefangnis zu Flamin und seine 
Hand anfassen und sagen diirfte: »Komm heraus - heute sterb* 
ich fur dich, damit ich dir beweisen kann, daB Klotilde deine 

10 Schwester war und ich dein Freund - ich losche das schwarze 
Wort, das erst am Todestage vergeben werden kann, mit meinem 
unschuldigen Blute aus, und der Tod driickt mich wieder in dei- 
nen Arm. - O ich tu' es gem, damit ich dich nur noch einmal 
recht lieben und zu dir sagen kann : mein guter, teuerer, unver- 
geBHcher Jugendfreund !« - Dann wollt' er ihm mit tausend Tra- 
nen um den Hals fallen und ihm alles vergeben : denn nehen dem 
Tode und nach einer grqfien Tat kann und darf der Mensch dem 
Menschen alles, alles verzeihen. 

Die weichere Seele errat leicht die zweite VersiiBung seines 

20 Todes. - Diese, daB er noch einmal zur Geliebten hingehen und 
es vor ihr denken, obwohl nicht sagen konnte: ich falle fur dich. 
Denn er fiihlte es jetzo doch, dafi die beschlossene Scheidung 
durch das Leben zu schwer sei und nur eine durch Sterben leicht — 
o recht leicht und suB, empfand er, ists, vor der Geliebten das 
nasse Auge zu schlieBen, dann nichts mehr weiter anzusehen auf 
der Erde, sondern mit den hohen Flammen des Herzens und mit 
dem an die Brust gedruckten teuren Bilde, wie die eingesargte 
Mutter mit dem toten Liebling, blind an den Rand dieser Welt zu 
treten und sich hinabzustiirzen ins stille, tiefe, dunkle, kalte Toten- 

30 meer... »Du bist«, sagt* er oft, »in mein Ich gemalt, und nichts 
macht dein Bild von meinem Herzen los; beide mussen, wie in 
Italien Mauer und Gemalde darauf, miteinander versetzet wer- 
den.« - Und da er jetzo nichts mehr nach seinem Korper zu fragen 
brauchte: so durft' er'die Tranen, die ihn zerriitteten, absichtlich 
vorreizen - er wollte ordentlich etwas von seinem Leben Klotil- 
den bringen - daher macht* er einige Tage hintereinander die 



1 1 86 HESPERUS 

Proberolle der blutigsten Abschiedszene bis zur Erschopfung und 
zeichnete seinen Schmerz mit Dinte ab und sagte zu sich, wenn 
ihn daruber Kopfschmerzen und Herzklopfen befielen: »So kann 
ich doch etwas fur sie leiden, wenn sie es auch nicht weiB.« — 
Hier ist ein solches Trauerblatt : 

»0 du Engel! Tat' es dir nur nicht zu wehe, so ging' ich zu dir 
und fullete vor deinen Augen mein Herz so lange mit Tranen an, 
mit Bildern der schonern Zeit, mit den bittersten Schmerzen, bis 
es zersprengt ware und sanke - oder ich erlegte mich in deiner 
Gegenwart, ach es ware siiBj wenn ich mein Herz mit Blei zer- i 
schlitzte, indem es an deinem Busen lehnte, und wenn ich mein 
Blut und Leben an deiner Brust abrinnen lieBe. - Aber o Gott! 
nein, nein! Sondern, Gute, lachelnd will ich zu dir gehen, wenn 
du wiederkommst - lachelnd will ich vor dir weinen, als war' es 
bloB vor Freude iiber deine Wiederkehr - nur die Federnelke mit 
dem roten Tropfen werd* ich von dir bitten, damit mein ge- 
schmucktes Herz unter der letzten Blume des Lebens verwese. - 
Ich werde wohl so nah vor dir bluten, himmlische Morderin, wie 
die Leiche vor der Morderin, aber doch nur innerlich, und jeder 
Bluttropfe wird bloB von einem Gedanken auf den andern fallen. 20 
- Dann endlich werd' ich lange verstummen und gehen und auf 
immer und nur sagen und mehr nicht: >Denk' an mich, Geliebte, 
aber sei gliicklicher als bisher.< — Wo werd' ich dann gehen nach 
einer Stunde? Ich werde gehen auf dem oden stummen Wege zum 
giftigen Buo-Upas-Baum 1 , zum einsam stehenden Tode, und dort 
ganz allein sterben, ganz allein. — Die Toten sind Stumme, sie 
haben Glocken, und ein Stummer wird im Blauen schweben und 
die Totenglocke lauten... O Klotilde, Klotilde, dann ist unsere 

Liebe auf der Erde voriiber!« 

* 

Kennst du, Leser, noch die Stimme, die in seinem Innern allzeit jo 
unter dem Weinen der Musik im Tonfall der Verse erklang? Hier 
klingt sie wieder. - Aber sein Orkan des Entschlusses machte bald 

1 Dieser Giftbaum steht in einer kahlen Wuste, weil er alles um sich totet, 
und der Missetater reiset einsam zu seinem Gift, aber kehret selten zuriick. 



42. HUNDPOSTTAG 1 1 87 

sanfteren Taten und Stunden Platz, so wie der Herbststurm der 
Tag- und Nachtgleiche sich in stille Nachsommertage auflosete. 
Der Gedanke : »In einigen Wochen fliichtest du unter die Erde« 
machte ihn zum Freigebornen und zum Engel. Er verzieh jedem, 
sogar dem Evangelisten. Er fullte seine kleine Sphare mit einem 
Lebens-Nachflor von Tugenden; und widmete seine kurzen 
Stunden nicht siiBen Phantasien, sondern durftigen Kranken. Er 
untersagte sich jeden Aufwand, um seinem Julius das vaterliche 
Vermogen ungeschmalert zu lassen. Er war weder eitel noch stolz. 

10 Er sprach freimiitig tiber und gegen den Staat; - denn was 1st so 
nahe neben dem Sturm- und Wetterdache des Sargdeckels wohl 
zu furchten? - Aber eben weil er bloB die Liebe zum Guten und 
keine Leidenschaften und keine Feigheit in seinem Innern spiirte : 
so widerstand er sanft und rukig; denn sobald nur der Mensch fur 
sich selber uberfiihrt ist, daB er Mut fiir den Notfall verwahre : so 
sucht er nicht mehr ihn vor andern auszukramen. Der Gedanke 
des Todes machte ihn sonst zu humoristischen Torheiten ge- 
neigt; jetzo aber nur zu guten Handlungen. Ihm war so 
wohl, ihm erschienen die Menschen und die Szenen um ihn 

20 in dem milden stillenden Abendlichte, worin er beide allemal 
in den Krankheiten seiner Kindheit erblickte. Es schien, als 
wollt* er (und es gelang ihm) durch diese Frommigkeit sein 
Gewissen zur leserlichen Unterschrift seines eigenhandigen 
Todesurteils bestechen. Wie dem verewigten Emanuel kamen 
ihm die Menschen wie Kinder vor, das Erdenlicht wie Abend- 
licht, alles sanfter, alles ein wenig kleiner, er hatte keine Angst 
und Gier; die Erde war sein Mond: jetzt erriet er erst die Seele 
seines Dahore .... 

- Und du, mein Leser, fiihlest du nicht, du wurdest dich so 

30 nahe vor der Klosterpforte des Todes ebenso veredeln? Aber ich 
und du stehen ja schon davor; ist unser Tod nicht so gewiB als 
Viktors seiner, wiewohl in einem langern Zwischenraum? O wenn 
jeder nur gewiB glaubte, nach 50 Jahren an einem bestimmten 
Tage fiihrte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er war' anders; 
aber wir alle werfen das Bild des Todes aus unserer Seele, wie die 
Schlesier es am Latare-Sonntag aus den Stadten werfen. Der Ge- 



1 1 88 HESPERUS 

danke und die Erwartung des Todes bessern so sehr als die Ge- 
wiBheit und Wahl desselben. 

Jetzo zogen die schonen blauen Nachsommertage des heurigen 
Oktobers auf zarten Phalanenfltigeln von Spinnengeweben iiber 
den Himmel. Viktor sagte zu sich: »Schdner Erdenhimmel, ich 
will noch einmal unter dir wandeln! Gutes Mutterland, ich will 
dich noch einmal mit deinen Bergen und Waldern iiberschauen 
und dein Bild in die unsterbliche Seele heften, eh' dein gelbes 
Griin mein Herz uberwachset und darin einwurzelt - ich will dich 
sehen,St. Liine meiner Kindheit, und meine schonen Pfingstwege 10 
und dich, du seliges Maienthal, und dich, du guter alter Bienen- 
vater 1 , und will dir deine Freudenstunden-Uhr zuruckgeben — 
und dann werd* ich genug gelebt haben.« 

Er fragte sich: »Bin ich denn reif fur die Obstkammer des 
Kirchhofs? - Aber ist denn irgendein Mensch reif? 1st er nicht im 
90sten Jahr noch unvollendet wie im 2osten?« - Jawohl! der Tod 
nimmt Kinder ab und Feuerlander; der Mensch ist Sommerobst, 
das der Himmel brechen muB, eh* es zeitigt. Die andere Welt ist 
keine gleichgestellte Allee und Orangerie, sondern die Baum- 
schule unserer hiesigen Samenschule. 20 

Ehe Viktor mit Kiissen und Weinen vom Blinden ging: be- 
schied er abends vorher die arme Marie ins Kabinett und empfahl 
ihr (wie dem italienischen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber 
seine Absicht war, der zerbrochenen kraftlosen Seele die HofF- 
nung einiger 100 fl. - soviel durft' er schon als Erbschaft von sei- 
nem bemittelten Vater Eymann begehren - vorauszugeben und 
anzukundigen. Der Eigennutz dieser Erniedrigten, der andere kalt 
gemacht hatte, riihrte gerade sein Innerstes; schon langst hatt* er 
gesagt : »man sollte mit keinem Menschen Mitleid haben, der philo- 
sophisch oder erhaben dachte, am wenigsten mit einem Gelehrten 30 
- bei einem solchen gingen die Wespen-Stiche des Schicksals 
kaum durch den Strumpf - hingegen mit der armen Pobelseele 
leid' er und wein' er unendlich, die nichts GroBeres kenne als die 
Giiter der Erde, und die, ohne Grundsatze, ohne Trost, bleich, 
hulflos, zuckend und erstarret niederfalle vor den Ruinen ihrer 

1 Zeidler Lind in Kussewitz. 



42. HUNDPOSTTAG 1 1 89 

Guter.« - Es verdoppelte daher bloB sein Mitleiden, da diese 
Marie in sinnloser Dankbarkeit vor ihm mit abgerissenen Dank- 
sagungen - Ausrufungen - Freudengussen - mit RockkuB, ein- 
faltigem Lachen und Niederknien wechselte. 

AIs er den andern Morgen ging - zuerst auf St. Liine - und 
vor dem Marienkloster voriiberkam, wo einmal die angenom- 
mene Tochter des Italieners Tostato einen sechsten Finger op- 
fern wollte: so kam Marie aus einer Glieder-Bude 1 heraus und 
hatte zwei wachserne Herzen erhandelt. Viktor brachte durch 

10 langes und kunstliches Fragen aus ihr heraus: sie wolle das eine, 
das ihres vorstelle, der heiligen Marie umhenken, weil ihres ihr 
nicht mehr so wehe tue und nicht so eingepresset sei wie vorige 
Woche. - Ober das zweite wollte sie lange nicht heraus; endlich 
gestand sie: es sei Viktor seines, das sie der heiligen Mutter Got- 
tes opfern wollte, weil sie dachte, es tu ihm auch recht weh*, da er 
so bleich aussehe und so oft seufze. — »Gib mirs, Liebe,« (sagte 
er zu tief bewegt) »ich will mein Her^ selber opfernA 

»Ja,« wiederholt' er unter dem stillen Himmel drauBen, »das 
Herz hinter der Brust will ich opfern - es ist auch von Wachs - 

20 und der Mutter Erde will ichs geben, damit es heile - heile — « 
Lasset ihn immer weinen, meine Freunde, jetzo da er lachelnd 
die stille blasse Erde anblickt, hinauf bis zu ihren Bergen voll Duft. 
- Denn Weichheit der Empfindung vertragt sich gern mit Ver- 
steinerung und Passauer Kunst gegen das verletzende Geschick. - 
Lasset ihn immer weinen, da er diese blumenlose, gleichsam in die 
Seide des fliegenden Sommers sich einspinnende Erde ansieht und 
ihm ist, als muss' er niederfallen und die kalte Aue wie eine Mutter 
kiissen und sagen : bluhe friiher wieder auf als ich, du hast mir 
Freuden und Blumen genug gegeben ! - Das stille Auseinander- 

30 gehen der Natur, auf deren Leiche die vollbliihende Zeitlose 
gleichsam wie ein Totenkranz stand, legte durch dieses auf losende 
Reiben seine Krafte sanft auseinander - er war ermiidet und ge- 
stillt - die Natur ruhte um ihn, er in ihr - die Erschopfung floB 

1 Um mehre Kapellen (s. Schlotzers Briefwechsel T. III. Heft XVIII. 45) 
stehen Warenlager von wachserne n Gliedern und Tieren, die man als Ohren- 
und Armgehenke fur Heilige kauft, damit die Urbilder genesen. 



1 19O HESPERUS 

beinahe in eine siiBe kitzelnde Ohnmacht iiber - die Tranendriise 
schwoll und driickte nicht mehr, eh' sie iibertrat, sondern ihr Was- 
ser lief wie Tau aus Blumeh leicht und ohne Stocken nieder, wie 
das Blut durch seine Brust. 

Er sah jetzo St. Liine liegen, aber gleichsam entriickt von ihm, 
in einem Mondschein. Er ging nicht hindurch, um nicht die 
Wachsstatue zu erblicken, deren Leichenpredigt er gehalten und zu 
der er auch ein Herz. aus Wachs besaB, sondern er ging auBen 
herum: »Werde immer breiter und lauter, schoner Ort, nie um- 
zingle dich ein Feindk Mehr sagt* er nicht. Denn als er vor dem 10 
Kirchhof voriiberging, dacht' er: »Haben denn nicht diese auch 
a lie von dem Orte Abschied genommen; und tu' ichs allein?« - 
BloB der Zuriickblick nach dem Pfarr-Schieferdach entziindete 
noch einen Blitz des Schmerzens durch den Gedanken an die 
mutterlichen Tranen iiber seinen Tod ; aber er sagte sich bald den 
Trost, daB das an Flamin gewohnte Mutterherz der Pfarrerin den 
Kummer iiber das Opfer heilen werde durch die Freude iiber den 
geretteten Liebling. 

Er ging nun auf Maienthal zu und zog mit FleiB seine traumen- 
den Gedanken von dessen erhabnen Stellen ab, um (abends bei 20 
der Ankunft) desto mehr - Schmerz zu genieBen. Aber nun spann 
sich sein Ich in ein neues Gedarikengewebe ein : er iiberdachte das 
Vergniigen, ohne alle Krankennachte hell und gerade, nicht lie- 
gend, sondern aufgerichtet wie der Riese Canaus 1 in die Erde ein- 
zusinken - er fiihlte sich geschirmet gegen alle Unfalle des Lebens 
und gereinigt von der stets in jedem Herzen fortnagenden Furcht 
- alles dieses und die Freude an erfiillten Pflichten und an be- 
zwungnen Trieben und die Lichter des blauen, gleichsam im Blu- 
menstaube stehenden Tages klarten seinen umgeriittelten Lebens- 
strom so auf, daB er zuletzt langer (wenns ihm nicht sein BeschluB 30 
verbote) im heilen Strome hatte spielen wollen... So groB wird 
durch die Verachtung des Todes die Schonheit des Lebens - so 
gewiB ist jeder, der mit kaltem Blut sich das Leben abspricht, ver- 
mogend, es zu ertragen - so wahr rat Rousseau, vor dem Tode 

1 Die Zentauern konnten ihn nicht mit Baumen umschlagen, sondern 
muBten ihn stehend in die Erde driicken. Orph. Argonaut. 168. 



42. HUNDPOSTTAG 1*9 I 

eine gute Tat zu unternehmen, weil man jenen dann entbehren 

kann - Als Viktor so dachte: trat das Schkksal vor ihn und 

fragte ihn ziirnend: »Willst du sterben?« - Er antwortete: »Ja l« 
- da er vor Sonnenuntergang in Obermaienthal Klotildens Wagen, 
den er da bei der Abreise gesehen, wieder erblickte. Jetzo fiel die 
Todeswolke uber die Gegend nieder. Er eilte voriiber - am Fen- 
ster sah er seine Mutter und die Lady, die Mutter Flamins — sein 
Inneres brauste - seine Augen gliihten trocken - denn er wahlte 
unter den Waffen des Todes. - Warum ging er so spat, im Dun- 

10 kein, mit einem sturmenden Innern, das alle siiBen Traume ver- 
finsterte, noch nach Maienthal? - Er wollte zu Emanuels Grabe : 
nicht um da zu trauern, nicht um da zu traumen; sondern um sich 
da eine Hohle zu suchen, namlich die letzte. Der reiCende Gram 
hatte ein Gemalde seines Sterbens entworfen, und er hatte den 
RiB gebilligt: er wollte namlich, sobald das Verhangnis die Not- 
wendigkeit seines Todes durch das Verschwinden seines Vaters 
und durch die Gefahr Flamins entschieden hatte, nebender Trauer- 
birke sein Grab aushohlen, sich hineinlegen, sich darin toten und 
sich dann von dem blinden Julius, der nichts wissen und sehen 

20 kann, mit Erde uberschiitten lassen und so, verhullt, unbekannt, 
namenlos aus dem Leben fliehen an die modernde Seite seines 
Emanuels .... 

Schwarze Leichenziige von Raben flogen langsam wie Gewolk 
durch den sonnenlosen Himmel und senkten sich wie Gewolk in 
die Walder nieder- der halbe Mond hing uber der Erde - ein klei- 
ner fremder Schatten, so groB wie ein Herz, lief furchterlich 
neben ihm, er sah auf, es war der Schatten eines langsam schwe- 
benden Geiers. - Er riB sich durch Maienthal, er sah nicht den 
entblatterten Garten und Dahores verschlossenes Haus, sondern 

3 o lief durch die Kastanienallee der Trauerbirke entgegen. — 

Aber unter den Kastanien am Orte, wo ihn Flamin toten 
wollte, sah er Klotildens welke Federnelke mit dem blutigen 
Kelch-Tropfen liegen . . . Und da noch eine Lerche, die letzte San- 
gerin der Natur, uber dem Garten zitterte und alien Fruhlingen 
des Lebens mit zu heiBSn Tonen nachrief und das Herz mit einem 
unendlichen todlichen Sehnen durchschnitt : so weinte mein Viktor 



1 192 HESPERUS 

laut hinauf, und als er oben auf dem Grabe die groBen diistern 
Tranen abgewischt hatte, stand - Klotilde vor ihm. 

Er erzitterte einmal und verstummte .... Sie kannte kaum die 
abgebleichte Gestalt und fragte zitternd: »Sie sinds? Sehen wir 
uns wieder?« - Seine Seele war auseinandergetrieben, und er 
sagte, aber in anderem Sinn : »Wir sehen uns wieder.« Sie bliihte, 
durch die Reise genesen. Aber Blut war in ihrem Schnupftuch — 
es war das Blut, das Emanuel unter dem Duell in der Allee aus 
seinem Busen vergossen. Er starrte fragend das Blut an — sie wies 
auf das Grab und verhullte ihr weinendes Auge. - Mit der Frage: 10 
»Ist Ihr Herr Vater gekommen?« wollte die Gute sanft ablenken - 
aber sie lenkte ihn an sein Grab - sein Auge suchte wild den 
Raum zur letzten kuhlen Grotte des Lebens - sie hatte ihren sanf- 
ten Geliebten niemals so gesehen und wollte seine Seele mildern 
durch stilles Erinnern an Emanuel - sie fullte die leere Stelle ihres 
Briefes aus und erzahlte, wie gefaBt und still der Tote aus Eng- 
land gegangen und vorher beim Abschiede in eine auBerordent- 
I!ch tiefe Hohle des verfallnen Tempels alle seine ostindischen 
Blumen, drei Bilder, beschriebene Palmblatter und geliebte 
Aschensammlungen hinabgesenkt habe — 20 

Viktor war auBer sich — er stemmte seine Hand aufs taukalte 
nasse gelbe Grab — er weinte in einem fort und konnte die Ge- 
liebte nicht mehr sehen - er stiirzte an ihren bebehden Mund und 
gab ihr den AbschiedkuB des Todes. Er durfte sie kussen, denn 
Tote haben keinen Rang. Er fiihlte ihre stromenden Tranen, und 
eine harte Sehnsucht ergriff ihn, diese Tranen hervorzureizen; 
aber er konnte nur nicht reden. Er erstickte ihre Worte durch 
Kiisse und seine durch Qual. Endlich konnte er sagen : »Lebe wohl !« 
Sie wand sich erschrocken los und blickte ihn an mit groBern Tra- 
nen und sagte: »Wie ist Ihnen? Sie brechen mir das Herz!« - Er 30 
sagte: »Nur meines muB brechen !« und riB das Herz von Wachs 
heraus und quetschte es auf dem Grabe auseinander und sagte : 
»Ich opfre dir mein Herz, Emanuel, ich opfre dir mein Herz.« Und 
als Klotilde furchtend entflohen war: konnt' er ihr nur mit er- 
schopften Tonen noch riachrufen: »Lebe wohl, lebe wohl!« 



43- HUNDPOSTTAG 1 1 93 

43. HUNDPOSTTAG 
Matthieus vier Pfingsttage und Jubilaum 

Es ist ein Kunstgriff, daB ich wahre Spitzbuben-Szenen in den 
hohern Standen vorher franzosisch niederschreibe und dann ver- 
dolmetsche, wie Boileau seine welken Verse vorher in Prose auf- 
setzte. - Da mir am 43sten Hundtage gelegen ist - weil der edle 
Matz darin seinen Flam in sogar mit Aufopferung seiner Tugend 
und des Lords zu retten sucht -: so gedenk' ich ihn aus dem Fran- 
zosischen, worin ich ihn geschrieben, so getreu ins Deutsche zu 

10 ubersetzen, daB mein franzosischer Autor selber mir seinen Bei- 
fall schenken soli. 

Kaum horte Matthieu, daB Klotildens und Flamins Mutter aus 
London gekommen: so marschierte dieser Reineke aus seinem 
Fuchsbau nach Flachsenfingen, weil er sich die Ehre, Flamin zu 
erlosen, von niemand nehmen lassen wollte. Er griff, seines 
Feuers ungeachtet, dem Zufall selten vor, sondern er paBte und 
schob nur da oder dort nach: - wie in einem Roman, so hake In 
sich im Leben tausend leise zusammengeruckte Geringfugigkei- 
ten endlich fest ineinander, und ein guter Matz zwirnet aus zer- 

20 tragenen Spinngeweben des Zufalls zuletzt einen ordentlichen - 
Seidenstrick fur seinen Nebenmenschen. — Er lieB sich kiihn beim 
Fiirsten eine geheime Audienz auswirken, »weil er lieber der 
Strafe (wegen der Foderung zum Duell) entgegenkommen, als 
uber einige wichtige Dinge langer schweigen wolle«. Wichtige 
und gefahrliche waren langst bei Jenner verwandt, jetzt aber gar 
identisch, weil ihn die Fiirstin an jedem Morgen mit einigen 
Strophen aus dem BuB- und Eulenliede uber Aufruhr, Anker- 
strome und Propagandisten ansang. Sie und Schleunes bliesen in 
ein Horn, wenigstens aus ihm eine Melodie. 

jo Matthieu trat ein und langte das groBe Wichtige hervor - die 
kahle Bitte um Flamins Leben. Jenner sagte ein ebenso kahles 
Nein; denn der Mensch ist ebenso unwillig auf den, der ihn in eine 
ungegrundete Furcht, als auf den, der ihn in eine gegriindete jagt. 
Matthieu wiederholte kalt sein Gesuch : »Ich bitte Ew. Durchlaucht 



1 1 94 HESPERUS 

bloB, nicht zu glauben, da3 ich jemals die bio Be Freundschaft fur 
eine hinlangliche Entschuldigung einer salchen kiihnen Bitte hal- 
ten wtirde - die Pflicht eines Untertanen ist meine Entschuldi- 
gung.« - Jenner, den das unhofliche Zuruckziehen verdroB, brach 
es ab : »Der Schuldige kann nicht fur den Schuldigen bitten .« - 
»Gnadigster Herr,« - sagte der Evangelist, der ihn in Furcht und 
Harnisch zugleich zu jagen suchte - »zu jeder andern Zeit als in 
der unsrigen wiird' es ebenso straflich sein, gewisse Dinge zu er- 
raten oder zu weissagen, als sie zu beschlieBen - aber in unserer 
sind diese drei Dinge leichter. Auf den Tag, wo der Regierrat 10 
sein Leben verlieren sollte, ist ein Plan berechnet, den einige zur 
Erhaltung des seinigen auf Kosten des ihrigen gemacht haben.«- 
Der Furst - entrustet iiber die Kiihnheit, die sonst nicht in der 
Sckneelinie 1 der Hofe, sondern nur in der demokratischen Gleicher- 
linie wohnt — sagte mit dem Todesurtel, das Matz langst in sein 
Gesicht hineinhaben wollte : »Ich werde Ihnen morgen die Namen 
der Elenden abfodern lassen, die ihr Leben preisgeben wollen, um 

die Gerechtigkeit zu storen« Hier fiel dieser vor ihm nieder 

und sagte schnell: »Mein Name ist der erste - jetzt ists meine 
Pflicht, ungliicklich zu werden - mein Freund hat niemanden ge- 20 
totet, sondern ich - er ist nicht der Sohn eines Priesters, sondern 
der erstgeborne Sohn des getoteten Herrn Le Baut«... 

Solan g' es noch Pfeilerspiegel gab, so sah nie ein so besturztes 
auseinandergefahrnes Gesicht aus ihnen als heute. Jenner lieB ihn 
abtreten, um sich wieder zusammenzulesen. 

Wir wollen jetzo in dem Vorzimmer drei Worte iiber den Ab- 
wesenden reden. Mir sagte einmal ein feiner Mann, er habe ein- 
mal zu einem groBen Weltkenner gesagt: »der Fehler der GroBen 
ware, sich selber nichts zuzutrauen, und daher wiirden sie von 
jedem gelenkt«; und der Weltkenner habe geantwortet: er trefF 30 
es. - Jenner war Matzen gram, und das bloB seines satirischen und 
wolliistigen Gesichts wegen - aber nicht etwan seiner Laster 
wegen. Ich setze voraus, der Leser wird doch Hofe genug ge- 
sehen haben - auf dem Theater, wo die hoheren Stande ihre Be- 

1 So heifiet die von Bouguer bestimmte Erhebung iiber das Meer, auf der 
die Berge in alien Zonen beschneiet sind. 



43- HUNDPOSTTAG 1195 

griffe von Landleuten und wir unsere von ihnen abholen ^, urn 
zu wissen, was man da hasset — keine Lasterhaften, nicht einmal 
Tugendhafte, sondern beide liebt man wirklich (gerade wie dasige 
Bratschisten, Handwerker, Wetzlarer Prokuratoren, Intendan- 

ten), sobald man sie notig hat. 

Der Junker kam wieder vor. Jenner hatte das suBe vaterliche 
Wallen iiber die Neuigkeit, da er bisher alle seine Kinder verloren 
gegeben, gestillt; aber er begehrte jetzt den Beweis, da8 Flamin 
der (angebliche) Sohn des Kammerherrn sei. Urns Duell kiim- 

10 merte er sich gar nicht. Der Beweis war der aufrichtigen Seele 
leicht zu fuhren : die Seele berief sich geradezu auf die Mutter, die 
eben gerade aus London eingetroffen, um den Sohn zu retten, 
und auf die Schwester selber. — Die Seele hatte wieder den Vor- 
dersatz, daB beide Kenntnis davon hatten, zu erweisen : - Matthieu 
berief sich auf den Brief der Mutter, den er vor einigen Jahren 
dem blinden Lord mit der angenommenen Stimme Klotildens 
vorgelesen, und auf der Schwester Ausruf unter dem Duell im 
Maienthaler Park: »Es ist mein Bruder« - und zuletzt fuhrt* er 
noch einen Hauszeugen in der Sache auf, den Nachsommer, der 

20 jetzt bald erscheinen und das Apfel-Muttermal, das Le Bauts Sohn 
auf der Schulter trage, neu aufmalen werde. 

Matthieu hatte zu viel Hochachtung gegen seinen Fiirsten und 
Herrn, um den Herrn des Sohns den Vater des Sohns zu nennen. 
Jetzt horte er damit auf: »er wisse nicht, aus welchen Griinden der 
Lord Horion bisher Flamins Abkunft verborgen habe - welche 
es aber auch seien, alle Entschuldigungen desselben waren auch 
seine, warum er selber bisher geschwiegen - um so mehr, da ihm 
der Beweis dieser Abstammung schwerer fallen mussen als dem 
Lord. - Nur jetzt durch die Ankunft der Mutter sei die Leichtig- 

30 keit des Beweises so groB wie die Notwendigkeit desselben. - 
Alles, was er tun konnen als ein Hausfreund des Kammerherrn, 
sei gewesen, Flamins Vertrauter zu werden, um sein Wachter zu 
werden.« 

Dadurch wurde notwendig der Fiirst auf die Materie des Duells 
zuriickgefuhrt, die jener anfangs nach wenigen Winken fallen las- 
sen. Es war sein Geschaftgang, von einer ihm wichtigen Ange- 



I I96 HESPERUS 

lcgenheit bald abzubrechen, iiber andere Dinge ebenso 
lange zu sprechen, dann jene wieder vorzuholen und so das 
Wichtige unter ebenso groBe Lagen von Unwichtigem zu ver- 
packen, wie die Buchhandler konfiszierte Bticher bogenweise 
unter weiBes oder anderes Papier verschlichteri. Auch war jetzt 
Flamins Unschuld am Mord fur Jenner wichtiger; dieser fragte 
also naturlicherweise, warum er seinen Freund dem Scheine des 
Zweikampfes preisgegeben habe. 

Matthieu sagte, es werde lange, und es sei kiihn, Se. Durch- 
laucht um so viel Aufmerksamkeit zu flehen. Er hob an zu be- 
richten, was - die Hundposttage bisher berichtet haben. Er log 
wenig. Er hinterbrachte, er habe, um Flamins Liebe fiir seine un- 
bekannte Schwester Klotilde zu brecken - wenigsten mehren wollt' 
er sie — , ihn eifersuchtig machen wollen, aber er habe ihn mit nie- 
mand entzweien konnen als mit dem Liebhaber; ja, es habe nicht 
einmal etwas gefruchtet, daB et ihn selber den Ohrenzeugen der 
sehr verzeihlichen Untreue Klotildens werden lassen, sondern 
jener habe noch zuletzt iiber die Verlobung der Schwester eine 
Wut geauBert, die er durch nichts als durch die Vorspiegelung 
eines verkappten Duells mit dem Vater befriedigen konnen - ; 
denh um einen zweiten Kampf zwischen Vater und Sohn, den das 
Schweigen des Lords angezettelt, abzuwenden, nab* er ihn selber 
unternommen, aber leider zu unglucklich. 

So weit der Edle. Die uns bekannten wahren Einschiebsel unter- 
schlag' ich. Jenner, der nun dem Evangelisten fiir die Wegnahme 
einer Furcht gewogen wurde, in die er ihn selber gesetzt hatte, 
tat die natiirliche Frage: »warum Flamin den Mord auf sich 
nehme?« - Matthieu; »Ich fliichtete sogleich, und es stand nicht 
bei mir, seine Unwahrheit, deren ich mich nicht versehen konnte, 
zu verhiiten; aber es stand bei mir, sie zu widerlegen.« - Jenner: 3 
»Fahren Sie in Ihrer Freimutigkeit fort, sie ist Ihre Schutzschrift, 
weichen Sie nicht aus!« - Matthieu mit einer freiern Miene: »Was 
ich zu sagen wuBte, hab' ich schon gesagt im Anfange, um ihn zu 
retten; und jetzt ist er gerettet.« - Jenner sann zuriick, begriff 
nichts und bat: »Noch deutlicher!« - Matthieu mit der absicht- 
lichen Miene eines Menschen, der Versilberungen seines Vortrags 



43* HUNDPOSTTAG 1 1 97 

zurechtmacht: »aus GroBmut wiird* er fiir den gestorben sein (fur 
Matzen), der fiir ihn gesiindigt hatte, wenn ihn nicht seine Freunde 
retteten.« Jenner schiittelte unglaubig den Kopf. »Denn«, fuhr 
jener fort, »da er seinen hohern Stand nicht kennt, so nahm er 
einige franiosische Grundsatze leichter an, die ihm seinen Tod 
ebensosehr erleichtert hatten, als einige Englander sie wiirden 
beim Volke genutzt haben, um ihn zu verhiiten.« Zum Beweis 
fiihrt' er den angeziindeten Pulverturm nebenher an. 

Jenner sah staunend ein Licht in eine dunkle Hohle gleiten und 

10 sah weit in die Hohle hinein. 

Man tut dem vortrefflichen Evangelisten unrecht, wenn man 
denkt, es tu* ihm genug, bloB seinen Freund gerettet zu haben; 
sein gutes Herz war auch noch darauf aus, dem Lord eine Ehren- 
saule zu setzen und ihn unter die Saule als Grundstein zu legen. 
Er quartierte gern (wie in Hamlet) in dem Schauspiel wieder eines 
ein und zog zwei Theatervorhange auf. Wir wollen uns in die 
erste Loge setzen. Sein bisheriges Betragen gegen den Regierrat 
zeigt genug, wie weit er wahre Freundschaft zu treiben fahig war, 
ohne andere Freunde, z.B. die Fiirstin, vor den Kopf zu stoBen; 

20 denn fiir die letzte war der Wiederfund des verlornen Sohns des 
Fiirsten ohne sonderlichen Nachteil, da der Sohn als jakobinischer 
Logenmeister und als Rebell gegen den Stief- und den Vater zu- 
gleich prasentiert wurde, und da noch dazu der Lord so entsetz- 
lich dabei verlor. Aber weil Matthieu sich nichts dabei vorzuwer- 
fen hatte als sein ObermaB an Menschenliebe : so suchte er diesem 
ObermaB durch ein entgegengesetztes in der Bosheit zu begeg- 
nen, weil Bako schreibt: Obertreibungen werden am besten durch 
entgegengesetzte kuriert. Nach seinen zu feungen BegrifFen von 
der Freundschaft konnt' er auch kein echter Freund des Lords 

30 sein, da man nach Montaigne nur einen echten, wie einen Lieb- 
haber, haben kann, und der Lord schon einen dergleichen an Jen- 
nern aufzeigte. 

Man vergonne mir, mit drei Worten kurz zu sein und ange- 
nehm: wenn die Araber 200 Namen fiir die Schlange haben, so 
sollten sie gar den 20isten dazulegen, den eines Hoflings - ferner 
erlaube man mir zu sagen, daB ein Mann von Ein flu B und Ton 



durch sogenannte Blutschuld ebensogut bliihe als ein gahzer 
Staat durch elendere metallische. - 

Jenner war jetzo vorbereitet, alles zu glauben, was die vorigen 
sonderbaren Dinge erklarte. Eine Luge, die einen Knoten loset, 
ist uns glaublicher als eine, die einen knupft. Matthieu fuhr fort: 
»er habe alien republikanischen concerts spirituels beigewohnt, 
um MaBregeln gegen Flamins Ansteckung zu nehmen; und er 
iibertreibe die Freundschaft gegen die drei Englander und den 
Lords-Sohn (Viktor) nicht, wenn er jene und diesen mehr fur 
Arbeitzeug irgendeiner andern verborgnen Hand ansehe als fiir 10 
Arbeiter an einem Plane selber. - Das bestatige der bisher vom 
unschuldigen Flamin gemachte MiBbrauch.«— Um Viktor zu ent- 
schuldigen, sagt' er - wobei er ihn immer den Hofmedikus be- 
namsete, so daB Jenner in dieser Verfassung an einen HofVergifter 
eher dachte als an etwas anderes - um also ein vorteilhaftes Licht 
auf diesen zu werfen, sagt' er, selbiger liebe bloB das Vergnugen 
und fuhre nur gehorsam das aus, was sein Vater entworfen - Vik- 
tor habe sich in einen Italiener verkleidet, um die Prinzessin zu 
beobachten, und um es nachher dem Lord, auf dessen Befehl ers 
vermutlich getan, in einer geheimen Zusammenkunft auf einer 20 
Insel zu berichten. - Als Italiener nab 1 er der Fiirstin eine Uhr 
iiberreicht, in die er ein Blattchen versteckt, worin er den hohern 
Rang vergessen, um dem seinigen zu schmeicheln. 

Der Fiirst, der seine Gemahlin mit groBerer Eifersucht Iiebte 
als seine Braut, fegte mit dem schlagenden Puterhahns-Flugel den 
Boden und machte den Nasen-Zapfen lang und fragte stolz: wie 
er das wisse? - Matthieu versetzte ruhig: »von Viktor selber - 
denn die Fiirstin wiss* es selber nicht «.... 

Mir verdankt es der Leser, daB er tausend Dinge besser weiB - 
Agnola wuBte den Inhalt der Uhr gewiB recht gut; ja ich stelle 30 
mir sogar vor, sie habe, da ihr die erzurnte Joachime Viktors ge- 
rades Gestandnis seines concepit hinterbrachte, Matzen oder Jo- 
achimen erlaubt, den gegenwartigen Gebrauchzettul zu entwer- 
fen, nach welchem hier der Eheherr das Sebastiansche billetdoux 
einzunehmen bekommt. - 

- »sie habe vielmehr« (fuhr er fort) »seiner Schwester lange dar- 



43* HUNDPOSTTAG 1199 

auf die Uhr mit dem Blattchen geschenkt - Joachime hab* es in 
Viktors Gegenwart herausgezogen, und der hab* es fur schick- 
lich gehalten, ihr eben dieses frei zu bekennen, was sie und er sel- 
ber aus Ehrfurcht noch nicht der Fiirstin entdeckt hatten. — In- 
zwischen sei ihm seine Schwester darauf ausgewichen - worauf 
er sich Klotilden genahert, vielleicht nach einer vaterlichen In- 
struktion, um den Bruder in nahern Verhaltnissen zu haben. - 
Aber allemal misch' er in vaterliche Plane des Ehrgeizes eigne des 
Vergniigens und sei gutgesinnt, so wie die Englander, die er fiir 

10 verkappte Franzosen halte.« 

Der Fiirst versteckte unter dem ganzen Vorhalten dieser arti- 
gen Schlangenpraparate seine Furcht unter Zorn;\Matthieu, der 
die Maske und das Gesicht sah, schnitt bisher alles nach jener zu 
und machte den. scheinbaren Mangel an Furcht zum Deck- 
mantel seiner Kiihnheit, sie zu erregen. - Und so ging er vom 
Fursten weg in einen unbestimmten spaBhaften Arrest fiir 
deri Mord; Jenner ring aber an, die Sachen und Zeugen zu 
untersuchen. 

Vor dem Berichte des Erfolges lasset mich esgern gestehen, 

20 daB Matz, der Edle, schon liigen kann y um so mehr, da er die 
Wahrheit als Sparrwerk seines Liigen-Mortels hinsetzt. Wie im 
polnischen Steinsalzbergwerk lasset der gute Liigner beim Unter- 
graben immer so viele Wahrheiten zu Saulen stehen, als gegen das 
Einbrechen des Gewolbes notig sind. Oberhaupt ist jede Liige 
ein gluckliches Zeichen, daB es noch Wahrheit in der Welt gibt; 
denn ohne diese wiirde keine geglaubt und also keine versucht. 
Bankerutte machen dem Rechtschaffenen Freude als neue Belege 
des unerschopften Religionfonds von fremder Ehrlichkeit, die 
vorhanden sein muBte, wenn sie sollte betrogen werden. Solange 

30 noch Krieg- und Friedentraktate schandlich gebrochen werden, 
so lange ist noch Hoffnung genug da, und so lange fehlt es Hofen 
an echter Redlichkeit nicht; denn jeder Bruch eines Vertrags 
setzet voraus, daB man einen gemacht hat - und gemacht konnte 
keiner mehr werden, wenn kein einziger mehr gehalten wurde. 
Es ist mit den Liigen, wie mit den falschen Zahnen, die der Gold- 
faden nur an ein paar echte hinterbliebene schlieBen kann. - 



1200 HESPERUS 

Jenner fing die Miinzprobationtage des Matthaischen Evange- 
liums an. 

i) Der Pfarrer wurde vorgeladen, urn in Gegenwart der lan- 
desherrlichen Hoheit zu bekennen, was er fur Zusammenrottun- 
gen im Priesterhause geduldet. Der schlug in Oemlers Pastoral- 
theologie nach, um zu ersehen, wie sich ein Pfarrer zu benehmen 
habe, der gehenkt werden soil. Ohne Murren Iegte er jetzo den 
Hals vor kleinern maBigen Ungliickfallen auf den Block und un- 
ter das Beil, vor dem Rattenkonig, der durch seine Behausung 
sausete, vor dem Strumpfband, das unter dem Gehen langsam 10 
iiber die Kniescheibe abglitt, und vertauschte die Angstlichkeit 
des Gliicklichen gegen die Angst des Ungliicklichen. Im Verhore 
sagt* er, er habe an heiliger Statte und an anderer auf die Klubs so 
gut als einer geschmalet und sich deswegen den Girtanner ge- 
kauft. Auf die Frage: ob Flamin sein Sohn sei? versetzte er trau- 
rig : er hoffe, seine Frau breche seine und ihre Ehe nie. - Als er 
wieder nach Hause kam, nahm er, um nur nicht in der Angst der 
Verhaftung zu sein, einen Biindel alter Predigtmanuskripte in 
einen Steinbruch hinein und lernte sie da auf drei bis vier Sonn- 
tage vorher auswendig. 20 

2) An demselben Tage stattete der Minister von Schleunes (aus 
Gefalligkeit gegen die Fiirstin) einen Besuch in Le Bauts Hause 
ab und teilte der Lady und Klotilden aufrichtig die laufenden Ge- 
ruchte iiber Flamins Abkunft mit. Beide Damen mufiten glauben, 
Viktor habe die letzte dem Fiirsten entdeckt, um den Ungliick- 
lichen zu retten. Wie hatten sie ihm nicht nachahmen sollen, da 
ihnen die eiserne Birn des Schwurs von der Zunge und aus dem 
Munde genommen war, und da man ein Geheimnis verletzen darf, 
wenn man sonst die Wahrheit verletzen miiBte, und da die zarten 
Seelen sich nun so herzlich iiber diese offne Jubeljahrtur im Ge- 50 
fangnis ihres Lieblings freueten? - Mit einem Wort: der Minister 
brachte nichts zuriick als Bekraftigungen der Hypothesen seines 
Sohnes. 

3) An demselben Tage wurde der Kaufmann Tostato vom 
Grafen O iiber seinen Buden-Mitarbeiter und Viktor vom Pater 
iiber den Verfasser des Hirten- oder Schaferbriefes in der Uhr 



43 • HUNDPOSTTAG 1 20 1 

erforscht und dann vernommen. Auch hier hatte Matthieu, wie 
zu erwarten, die Wahrheit ganz auf seiner Seite; Viktor war jetzt 
zu stolz, zu fromm, zu resigniert, um zu verhehlen. 

4) Alle Sunden-Kerbholzer in Kussewitz und iiberall grirTen 
ineinander ein; sogar aus Viktors vorigem Mittleramt, das er 
sonst beim Fiirsten fiir Agnola versah, aus seinen kleinen Unbe- 
sonnenheiten, aus seinen Satiren, aus seiner Hosen-Einkleidung 
der Soldatenjungen, aus seiner Reise mit dem Fiirsten wurde nun 
lauter Zugwerk und Grundstriche einer gegen den Thron ent- 
10 worfenen Schlachtordnung zusammenbuchstabiert. Oberhaupt 
wars notwendig, Jenner muBte, je mehre Sehrohre er auf diese 
Lufterscheinung der Luge richtete, sie nur desto groBer erblik- 
ken. - 

Ich habe die Furstin vergessen, die sich bei Jenner uber das 
Billet sehr beleidigt und unwissend anstellte und kaum mit der 
Strafe zufrieden war, daB dem Helden der Hundposttage der Hof 
verboten wurde. - Der Hof- dir, guter Viktor! der du bald die 
Erde dir verbieten willst! 

Jenner iibersah leicht vergangne Beleidigungen, aber er riigte 
20 streng \ukunftlge. Und da noch dazu Matz wie eine Klapper- 
schlange so arg klapperte, nicht um zu warnen, sondern um, wie 
auch die Neuern an der andern fanden, den Raub steif und scheu 
zu machen : so war der Lord so uber alle Thronstufen aus Jenners 
Herzen herabgepurzelt, daB es ihm nicht einmal etwas helfen 
konnte, wenn er sogleich aus der Luft herausgetreten ware. Fla- 
min war ohne ihn gefunden. - Den drei Englandern schkkte man 
die Erlaubnis in das Haus, nach ihrer Insel (England) abzusegeln, 
wenn sie wollten. Sie lieBen zuriicksagen, sie brauchten nur einen 
Tag, um auf ihrer Insel anzukommen, und warteten nur auf ihren 
30 Reisegefahrten. Unter der Insel meinten sie aber die Insel der Ver- 
einigung - und unter dem Reisegefahrten den gefesselten Flamin, 
den sie mit bereden wollten. 

Es gefallt mir, daB meinem Viktor der Hof verboten wurde. 
Das Hof-Verbot ist sonst eine Wohltat - diesen Namen verdient 
nun wohl eine Befreiung von den Hofdiensten -, die sonst nicht 
immer an den Wurdigsten erteilt wird, sondern oft einem Teufel 



1202 HESPERUS 

wie Louvois so gut als einem Apostel wie Tessin. Heifiet aber das 
nicht einer vorzuglichen Gnade, einem Orden pour le merite 
alien Wert benehmen, wenn man sie Schelmen zuwirft, da sie 
doch nur fur den rechtschaffensten, freimiitigsten, altesten Mann 
am Hofe als die groBte und letzte Belohnung, als ein TrefF- und 
SpieBfolgedank, als eine Ovation sollte aufgehoben bleiben? - 

Im nachsten Kapitel kann man sich auf einen Larm gefaBt 
machen, dergleichen man in wenig deutschen Kapiteln hort; die 
Larmkanonen der Hofpartei, das Herabpoltern der Biihnen und 
das Umschmeifien der Stiihle nach gehegtem peinlichen Gericht 
werd' ich bis in meine Insel heriiber horen konnen. Der schwarz- 
haarige und schwarzherzige Hof junker wird, wenn er aus dem 
Arreste los ist, mit seiner ironischen Miene und mit der eignen 
leisen Stimme - die Ripienstimme seines boshaftesten Hohns, wie 
sie bei andern die des erhabensten Enthusiasmus ist— iiberall herum- 
streichen und sagen : er wiinsche, der Lord erschiene, er habe bis- 
her in seinen Sachen nach Vermogen gearbeitet. Am Hofe ist man 
zuweilen erhaben durch eine vorstehende Bosheit, wie nach Burke 
kein Geruch erhaben ist als der allerstinkendste und kein Ge- 
schmack als der bitterste. Und ebenso verbirgt allda jeder die mit- ; 
leidige Teilnahme am fallenden Giinstling leicht, ahnlich dem 
weisen Vater, der beim Fall eines Kindes das mitleidige Gesicht 
unter ein lustiges versteckt. 

Den 2i.Oktober kommt Matthieu los und darf zu Flamin 
gehen - er hat sichs ausgebeten - und ihm die Freiheit und die 

Standerhohung miteinander ansagen In wenig Tagen konn- 

ten die Begebenheiten und mein Protokoll derselben aus einem 
Zeit-Stundenglase rinnen, wenn der Hund ordentlich kame; aber 
er kommt, wenn er will. 



44- HUNDPOSTTAG 1203 
44. HUNDPOSTTAG 
Die Bruderliebe - die Freundliebe - die Mutterliebe - die Liebe 

Der Hund ist da, aber der Lord nicht - der Larm ist klein, aber 
die Freude nicht - alles ist vorbereitet, aber doch unerwartet - 
das Laster behauptet das Schlachtfeld, aber die Tugend die elysi- 
schen Felder. - Kurz es ist recht narrisch, aber recht hubsch. - 
Ich denke, das ist das letzte Kapitel dieses Buchs. Ich schaue 
ordentlich den Posthund - meinen pommerischen Boten 1 - der 
Schwanz ist sein BotenspieB - mit Running an, und mich argerts, 

10 daB er mit Adam gefallen und einen Knochen unter dem ver- 
botenen Baum gefresseo hat: denn im Paradies leuchteten die 
ersten Hundeltern wie Diamanten, und man konnte durch sie 
sehen, wie Bohme behauptet. - Eben darum, da der Berghaupt- 
mann bald ausgeschrieben hat, verzeih' mans ihm, daB er in die- 
sem Kapitel der Liebe feuriger und angenehmer ist als je und iiber- 
haupt jetzo schreibt, als war* er besessen. 

Anfangs ziehen den Himmelwagen noch Trauerpferde . . . . 
Sehr friih den 2i.Oktober 1793 wars, wo der Hof junker ins 
Stockhaus Flamins lief aus dem eigenen und diesem darin biiBen- 

20 den Bruder alles yerkiindigte, seine Entlassung - seine Ver- 
schwisterung mit Klotilden - seine Einkindschaft ins furstliche 
Haus - seine aufsteigende Lauf bahn und zugleiqh die Amnestie 
des morderischen Boten, die eigne namlich. O wie gliihte die 
Freude iiber Matthieus Lossprechung und Vorsprache und iiber 
die eigne Standerhohung seine stockenden Adern an. Denn Fla- 
min bestieg den hohern Stand als eine Anhohe, um seine Wohl- 
taten und Entwiirfe weiter zu werfen; Viktor hingegen war iiber 
seinen Standes-Bankerutt froh gewesen, weil er Stille begehrte, 
wie jener Getose. Viktor wollte mehr sich, jener mehr andere um- 

jo bessern. Flamin stieB lebendiges Schiffvolk iiber den Bord ins 

Meer und nagelte den Staats-Bucentauro mit Rudersklaven voll, 

um ihn schneller gegen Winde anzutreiben. Viktor aber erlaubte 

1 Auf der Universitat Paris dauert noch der Bote von Pommern fort, der 
jahrlich nach Pommern etc. abging, um von den Eltern Briefe fur die Pariser 
Studenten abzuholen. 



1 204 HESPERUS 

sich nur erne Leiche zur Erleichterung des Kaperschiffs zu machen 
— seine eigne. Er sagte zu sich: »Wenn ich nur den Mut allezeit 
heilig aufbewahre, mich selber auf(uopfern: dann braucK ich keinen 
grofiern\ denn der groBere opfert doch gestohlne Giiter. - Das 
Schicksal kann Jahrhunderte und Inseln opfern, um Jahrtausende 
und Weltteile zu begliicken 1 ; der Mensch aber nichts als sich.« 

Jubelnd lief Flamin mit seinem Erloser nach St. Liine, um die 
treue Schwester in der untreuen Geliebten dankend und abbittend 
zu umfassen - ach als die hohe Warte in seine Augen aufstieg : so 
zog sich blutig und schmerzhaft wie ein Augenfell die Decke von 10 
ihnen herab, die bisher die Unschuld seines besten Freundes, Vik- 
tors, verflnstert hatte. »Ach wie wird er mich hassen ! O hatt* ich 
ihm mehr getrauet!« seufzete er, und nichts freuete ihn mehr; denn 
den Schmerz eines guten Menschen, der ungerecht gewesen, auch 
in der Meinung der vollesten Gerechtigkeit, kann nichts trosten, 
nichts als viele, viele Aufopferungen. Er schlich sich seufzend 
nicht zur neuen Mutter, sondern sank den treuen Drillingen sanft 
an das unbeleidigte Herz. Die redlichen Seelen bewillkommten 
alle den Evangelisten als einen helfenden Freund; und diese bunte 
Spinne kroch mit ihren unreinen Spinnwarzen auf alien diesen 2° 
edeln Gewachsen einer offenen Liebe herum; die Spinne horte 
alles, sogar die Abrede, daB die Englander den Befehl, nach der 
Insel abzugehen, nach dem Buchstaben nehmen und sich in die 
englische Insel des Lords so lange einsperren wollten, bis Flamin 
und die Lady mit ihnen alien in ihre groBere Insel - ins Werkhaus 
der Freiheit - in den klassischen Boden aufgerichteter Menschen 
abzuschiffen imstande waren. 

Denselben Morgen zog der Kaplan in seinen Steinbruch und 
legte sich da vor Anker, weil er vom Neuesten noch nichts wuBte. 
DrauBen versa B er die Angst, und nachts zog er wieder ein. Er 3° 
ging da mit niemand um als mit seinem Korper - wie manche sich 

1 Untf auch da nur in Beziehung auf Unsterblichkeit und Wiederersatz. 
Wir fuhlen keine Ungerechtigkeit, wenn ein Wesen ein Plantagenneger, ein 
anderes ein Sonnenengel wird ; aber ihre Schopfung beginnt ihre Rechte, 
und der Ewige kann ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen 
des winzigsten Wesen s die Freuden aller bessern kaufen, wenn es nicht jenem 
wieder vergiitet wird. 



44- HUNDPOSTTAG I205 

mit ihrer Seele, so unterhalten sich andere mit ihrem Korper - und 
sah von Zeit zu Zeit nicht die Natur, sondern sein Wasser an, um 
daraiis - da dessen Farbenlosigkeit nach der Physiologie Kummer 
bedeutet - die Kenntnis zu schopfen, ob er sich sehr abharme 
oder nicht* wiewohl kein Protomedikus fur ihn stehen wird, daB 
er nicht urinam chyli oder sanguinis fur urinam potus wird ange- 
sehen haben. Da die Arzte behaupten, daB Seufzer niitzen, den 
Puis schneller und die Lungenflugel leichter machen - ein Regent 
kann also ganzen Landern auf einmal niitzen, wenn er sie zu seuf- 

10 zen notigt -: so schrieb sich Eymann eine bestimmte Anzahl Seuf- 
zer vor, die er zum Besten seiner Lunge taglich zu holen hatte. 
Denselben Morgen ging die Lady zur Pfarrerin, um ihr zu 
sagen, daB Flamin ein Unschuldiger, aber ihr Sohn nicht sei; und 
Klotilde ging mit ihr, um die Hande der zwei Tpchter zu nehmen 
und ihnen zu sagen : ihr habt einen andern Bruder. Denn Viktor 
hatte seine Abkunft noch verhehlt. »0 Gott!« (sagte die verar- 
mende Pfarrerin und schloB Flamins Mutter und Schwester an 
die schmachtende Mutterbrust, die mit heiBen Seufzerzugen einen 
Sohn begehrte) - »wo ist denn mein Kind? - Fiihren Sie meinen 

20 wahren Sohn mir zu! - Ach ich ahnete es wohl, daB mich das 
Duell doch ein Kind kosten wiirde ! Er findet alles wieder, aber ich 
biiBe alles ein. - O Sie sind eine Mutter, und ich bin eine Mutter, 
helfen Sie mir!« - Klotilde schauete sie mit dem weinenden 
Wunsche des Trostes an; aber die Lady sagte: »Ihr Sohn lebt und 
ist auch glucklich, aber mehr kann ich nicht sagen.« 

Und denselben Morgen war dieser Sohn, unser Viktor, nicht 
glucklich. Ihm war, bei dem Geruchte von Flamins Loskettung 
und von Matthieus Dienstfertigkeit, als wenn er das Zischen und 
den Kugelpfiff des herabschieBenden StoBvogels vernahme, der 

30 bisher unverruckt gleichsam mit angenageltem Fittich hoch im 
Blauen uber dem Raub geruhet hatte. - Verarget es dem Doktor 
nicht gar zu sehr, daB ihn die verlorne Gelegenheit krankte, sei- 
nen Freund aus dem engen Gefangnis und sich aus dem weiten 
des Lebens loszumachen. Denn er hat zu viel verloren und ist zu 
einsam; die Menschen kommen ihm wie die Leute in dem pol- 
nischen Steinsalzbergwerk vor, die herumtappen mit einem an 



1 206 HESPERUS 

dem Kopf gebundnen Licht, das sie ein Ich nennen, vom genuB- 
Iosen Blinken des Salzes umzingelt, weiB gekleidet und mit roten 
Binden, als waren es AderlaBbinden. - Die Sprache seiner Be- 
kannten ist, wie die der Sineser, einsilbig. - Er muB dem be- 
schamenden Tag eritgegenleben, wo Jenner und die Stadt die 
Niedrigkeit- seines Standes ihm zum Betrug anrechnen. — Vor 
jedem Auge steht er in einem andern Lichte oder Schatten viel- 
mehr: Matthieu halt ihn fur grob, Jenner fiir intrigant, die Wei- 
ber fiir tandelnd, so wie Emanuel fiir fromm und Klotilde fiir zu 
warm -, denn jeder vernimmt an einem vollstimmig besetzten 10 
Menschen nur sein Echo. Welches Herz konnt' ihn nun noch be- 
wegen — seines ohnehin nicht -, das Ruder im SklavenschifT des 
Lebens langer zu halten? O eines konnt' es, ein machtiges warmes, 
das miitterliche : »Sttirze dich nur aus der Erde,« - sagte sein Ge- 
wissen - »dann stirbt dir deine Mutter voll Liebe nach und tritt in 
der zweiten Welt vor dich mit so vielen Tranen, mit alien heiBen 
Wunden und sagt: Sohn, dieser Schmerz ist dein Werk!« - Er ge- 
horchte und sah ein, wenn es edel ist, fur eine Geliebte zu sterben, 
so sei es noch edler, fiir eine Mutter zu leben. 

Daher beschloB er, noch heute abends - abends, damit die 20 
Nacht sich vor einige verwitternde Ruinen der bessern Zeit, vor 
einige voriiberziehende Nachtleicken der Erinnerung stellte - nach 
St. Liine zu gehen, seine Mutter zu rufen und ihr miides sieches 
Herz wenigstens mit einer Freudenblume zu starken und ihr - da 
ihn kein Eid mehr band - zu sagen : du gibst mir jetzt zum zweiten- 
mal das Leben. Wie wohl wurd* ihm ! - Ein einziger guter Vor- 
satz bettet und liiftet das scharfe Siechbette eines zerrissenen 
Lebens. 

Aber am Abende, ihr guten Bedrangten, am Abende - nicht des 
Lebens, sondern - des 2i.Oktobers wird euch leichter und fri- 30 
scher werden, und die Kugel eurer Fortuna wird sich aus der 
Wetterseite in die Sonnenseite drehen ! 

Abends kam Viktor in St. Liine an und hiillte sich in die Laube 
des Pfarrgartens ein, wo er Klotilden die ersten Tranen der Liebe 
gegeben. - Das Pfarrhaus, das SchloB, die Warte, die zwei Gar- 
ten lagen wie verfallne Ritterschlosser um ihn, aus denen alle 



44- hundposttag 1207 

Freuden und Bewohner langst gezogen sind ! - Alles so herbst- 
still, so stehend um ihn - die Bienen saBen stumm auf dem Flug- 
brett neben hingerichteten Drohnen - sogar der Mond und ein 
Wolkchen standen fest nebeneinander - die Wachsmumie war 
mit dem starren Gesicht gegen das stille Zimmer umgewandt! - 
Endlich kam die Pfarrerin durch den Garten, um ins Schlofi zu 
gehen. Er wufite, wie sehr sie ihn wieder lieben muBte, da seine 
Treue gegen den eifersiichtigen Flamin jetzt ans Licht gekommen 
war. O sie sah so miide und kranklich aus, so rotgeweint und ver- 

10 blutet und veraltet! Ihn dauerte es, daB er erst ein gleichgiiltiges 
Wort sagen muBte, um sie in die Laube zu rufen. Als sie hinein- 
trat: erhob er sich und buckte sich tief und legte sich ausloschend 
an die teure Brust, hinter der eine Welt voll Seufzer und ein Herz 
voll Liebe war, und sagte: »0 Mutter, ich bin dein Sohn - nimm 
mich auf, dein Sohn hat nichts, er liebt nichts mehr auf der ganzen 
weiten Erde, nichts mehr als dich - O liebe Mutter, ich habe viel 
verloren, bis ich dich fand. - Warum siehst du mich so an? - 
Wenn du mich verschmahest : so gib mir deinen Segen und laB 
mich entfliehen ... O ! ich wollte ohnehin nur deinetwegen leben 

20 bleiben.« - Sie schauete ihn, zuruckgebogen, mit einem nassen 
Blick voll unaussprechlicher Zartlichkeit und Trauer an und 
sagte: »Ists denn wahr? O Gott! wenn Sie mein Sohn waren! - 
Ach, gutes Kind ! - ich habe dich langst geliebt wie eine Mutter. - 
Aber tausche mich nicht, mein Herz ist so wund!« - Der Sohn 
schwur — und hier sinke der Vorhang langsam an der mutter- 
lichen Umarmung herab, und wenn er Sohn und Mutter ganz be- 
deckt: so schaue ein gutes Kind in seine eigne Seele zuriick und 
sage: hier wohnet alles, was du nicht beschreiben kannst! 

Jetzt abends schlich der Kaplan vom Felde heim und durch den 

30 Garten hindurch und rief seinem neuen Sohne entgegen: 
»Ach! Herr Hofmedikus, ich schwinde lasterlich ein. Ich sehe ja 
offenbar aus wie ein Ecce homo und Fieberhafter. Es wird mir zu- 
gesetzt - ich soil eine persona miserabilis, einen souffre douleurs, 
einen Patropassianer abgeben.« - Da Viktor ihm berichtet hatte: 
»es sei alles voruber, der Regierrat sei los und unschuldig«: so 
blickte Eymann fest auf die Warte und sagte : »Wahrlich droben 



1 208 HESPERUS 

sitzt der Rat und guckt 'ruber« und wollte hinauf zu ihm; aber 
Viktor hielt ihn sanft und sagte zartlich : »Ich bin Ihr Sohn« und 
ofFenbarte ihm alles. - »Wie? - Sie? - Du? - Der Sohn eines so 
vornehmen Lords ware mein Sohn? - Meinen Herrn Gevatter 
hatt' ich gezeugt? — Das ist unerhort, ein Bruder der Pate des 
andern — zwei Sebastiane hab' ich auf einmal im Hause.« - Er 
wurde die Pfarrerin ansichtig und fing einen Hader an - welches 
allemal ein Zeichen seiner Freude war. — »So, Frau? Das weiBt 
du heute den ganzen Tag, und mich lassest du drauBen im Stein- 
bruch im Notstall sitzen, mitten im Harm, und ich laute bis nachts 10 
an der Armensunderglocke? Hattest du nicht den Kalkanten hm- 
auslassen konnen zum Notifizieren? Das war recht schlecht - die 
Frau steckt zu Hause und trinkt Bitterwasser, in das ihr ganze 
Zuckerfasser und Konfektteller hineingeworfen sind - und der 
Mann halt sich in Steinbruchen auf und sauft seine bittern Extrakte 
aus einem Brechbecher fort.« - Sie antwortete nie darauf. 

Jetzt erfuhr erst Viktor von seiner Mutter, daB Flamin bloB fur 
den Freund (Matthieu) und fiir das Vaterland habe sterben wol- 
len - daB er seine eifersuchtige Ungerechtigkeit bereue und die 
verscherzte Freundschaft bejammere und daB sie ihn eben darum 20 
abhole, um ihn in die Hande der wahren Mutter und vor das An- 
gesicht der gekrankten Schwester zu fiihren. Es war heute am 
Morgen menschliche Schwache gewesen, daB das erfrorne Glied 
der Freundschaft, sein Herz, ein wenig kalter und unempfind- 
licher gegen Flamin geworden war, da er dessen Rettung aus dem 
Gefangnis vernahm - aber es war jetzt abends menschliche Giite, 
daB Flamins groBer EntschluB, zu sterben, wie eine Frostsalbe 
seinem starren Herzen Warme und Bewegung wiedergab. Sein 
Inneres regte sich gewaltsam, quoll auf, iiberstromte den er- 
druckten Groll, und das Bild des Jugendfreundes stand auf und 3° 
sagte : »Viktor, gib dem Schulfreund wieder deine Hand - o er 
hat so viel gelitten und so edel gehandelt!« Tranen schossen ihm 
aus den zuckenden Augen, als er sich entschloB, auf die Warte zu 
gehen und zum alten Liebling zu sagen : »Es sei vergessen - komm, 
wir wollen miteinander zu deiner Schwester gehen.« Er ging allein 
auf die Warte, um ihn nachher der Lady vorzustellen. Die Pfar- 



44- HUNDPOSTTAG I2O9 

rerin sprang einige Minuten von Viktor ab, urn seine zwei Schwe- 
stern zu benachrichtigen und zu bringen und den blinden Julius 
aus der Stadt fuhren zu lassen, damit in der goldnen Halskette der 
Liebe kein Gelenk abginge. 

Welche Himmelleiter, in der jede Minute eine hohere Sprosse 
ist, steht in dieser Nacht auf der wankenden Erde, und gute Men- 
schen steigen hintereinander hinauf ! - 

Unten an der Treppe des Thrones der Versohnung arbeitete 
Viktors Herz gewaltsam im heiBen durchwuhlten Blute. Flamin 

10 sah ihn langsam hinaufsteigen; aber er kam ihm nicht entgegen, 
weil es ungewiB war, komme Viktor ztirnend oder vergebend. Als 
dieser endlich oben war: so stiitzte Flamin sein abgekehrtes Ge- 
sicht beschamt in das Gezweig; denn er konnte dem so sehr gemiB- 
handelten Geliebten nicht ins Auge blicken, bis er wuBte, daB er 
ihm verziehen habe. Sie schwiegen schauerlich nebeneinander 
unter dem rieselnden Lindengipfel - sie errieten einander nicht 
ganz, und das machte das Schweigen finsterer und das Versohnen 
zweifelhaft. Endlich reichte ihm Flamin, heftig atmend und mit 
dem ins Laub gelegten Gesicht, die zitternde Hand entgegen. Da 

20 Viktor diese stumme, um Versohnung flehende Hand zittern sah: 
so tropften siedende Tranen durch sein Herz und zertrennten es, 
und nur aus Wehmut und liebender Schonung verschob er es, 
die demutige Hand zu nehmen. Aber hier kehrte sich Flamin 
(im falschen Argwohn) stolz, errotend und voll Tranen und voll 
alter Liebe um und sagte: »Ich bitte dich recht gern um Verge- 
bung, daB ich gegen dich Engel ein Teufel war; aber dann, wenn 
du mir keine erteilst, so schleudere ich mich hinunter, damit mich 
nur der Teufel holt.« - Sonderbar! dieses Erpressen der Verzei- 
hung zog Viktors offne Seele ein wenig zusammen ; aber er um- 

30 faBte doch den freundschaftlichen Wilden und sagte mit der mil- 
den Stimme der stillen Liebe : »Aus dem Grunde der Seele nab* ich 
dir heute vergeben; aber geliebt nab' ich dich immer und allezeit, 
und in wenig Wochen wiird' ich fur dich gestorben sein, um dein 
Leben zu retten.« - Nun traten ihre Seelen nahe und unverhiillt 
voreinander und deckten ihr Leben auf — und da sich beide alles 
erzahlt und Viktor ihm eroffnet hatte, daB er an seine Stelle ein- 



I2IO HESPERUS 

geriickt und der Sohn der beraubten Mutter geworden sei: so 
wollte Flamin vor Reue vergehen und driickte verschamt sein 
Angesicht defer nur an Viktors Brust - und ihre Seelen feierten 
neuvermahlt auf dem Traualtar der Warte ihre Silberhochzeit 
unter der Brautfackel des Mondes, und ihre Seligkeit wurde von 
nichts erreicht als von ihrer Freundschaft. 

Sie wandelten im zartlichen Taumel langsam in Le Bauts Gar- 
ten, und der Strom der Wonne wurde immer defer; aber eiskalte 
Wellen wie vom Flusse Styx erschreckten plotzlich den sanft er- 
warmten Viktor, da er in die Trauerlaube kam, wo er gerade heute 10 
vor einem Jahre, am 2isten Oktober - also ist heute Klotildens 
Geburttag -, aus seinem zerriitteten Rerzen ihr Bild gerissen 
hatte, und wo er wieder ankam, um es aus den alten Narben viel- 
leicht wieder auszureiBen. Denn das Senken seines Standes hatt' 
ihn ein wenig — stolzer gemacht und seine Liebe fur Klotilden 
scheuer. Die Wahrheit zu sagen, so glaubt* ers selber nicht recht, 
daB ihr seine niedrige Abkunft unbekanntgewesen ; er schlofi viel- 
mehr das Widerspiel aus dem Anteil, den sie der Lord an seinen 
Briefen und an alien Geheimnissen nehmen lassen - aus ihrem 
anfanglichen Kampf gegen ihre aufkeimende Liebe und aus dem 20 
kleinen Stolze gegen ihn am ersten Tage - aus ihrem Lobe der 
MiBheiraten - aus ihrer Begiinstigung der Liebe Giulias gegen 
Julius, den sie als Lords-Sohn kannte - aus ihrer leichten Ein- 
willigung in die Verlobung, die ja sonst ihr Vater nach der Er- 
kennung nicht mehr zugelassen hatte - und aus andern Zugen, die 
man bei der zweiten Lesung dieses Werks leichter selber sammelt. 
Wie gesagt, diese HofFnung, daB sie ihn allemal gekannt, wider- 
legte einige Einwiirfe seiner Delikatesse und seiner Entsagung; 
und bliihte heute noch hoher auf unter so vielen Freuden und 
schonen Zufallen. - Ach! wenn er ohne alle HofFnung gewesen 30 
ware: so hatt' er ja mitten im Kreise so vieler Begliickten als die 
letzte Opferleiche niederfallen miissen! - Aber das Etwas im 
Menschen, das ihm allemal einen groBen Verlust so wahrschein- 
lich und einen groBen Gewinn so unwahrscheinlich vormalt, 
quake, vereinigt mit wehmutigen Erinnerungen, ihn jetzo. 

Er bat daher Flamin, ihn ein wenig in der Laube zu lassen und 



44- HUNDPOSTTAG 1 2 1 1 

allein (da die Pfarrerin schon im Garten war) in die befreundeten 
Arme der gefundenen Schwester und Mutter zu eilen, und setzte 
dazu, er komme bald nach. Als Flamin fort war: ring Viktor 
immer vor Klotildens Erschutterung zu zittern an, die sich ihrer 
vielleicht bei der Nachricht seiner Abstammungbemeistern werde ; 
und es driickte ihn sehr, da er dachte, daB fur alle im Garten die 
Trauer von dem schwarz ausgeschlagnen Trauerzimmer der Erde 
abgenommen werde, nur fur ihn wohl nicht. - 

Aber da kam, von neuen Entzuckungen widerscheinend, seine 

10 Mutter und trocknete ihm, eh* sie fragte, erst die Augen ab. Ihre 
neuen Entzuckungen kamen davon her, daB Klotilde ihr, da sie 
seine Abkunft erzahlet hatte, um den Hals gefallen und sie um 
> Verzeihung des so langen Verhehlens, des so lange fortgesetzten 
Raubes des Kindes gebeten - und daB sie die Mutter an ein auf 
dem Spaziergang nach der Verlobung gegebenes und nun ge- 
haltenes Versprechen erinnert hatte. Der Mutter - und ich sorge, 
dem Leser - war vieles entfallen, und Klotilde flog nur eilig und 
errotend uber die Sache weg; hatte sie aber dort nicht zu ihr ge- 
sagt: »Wir andern unser Verh&ltnis nicht«, namlich das einer 

20 Schwagerschaft? - Die Pfarrerin beschloB den Bericht mit dem 
Gesuch der Lady, ihr den neuen Sohn recht schnell zu bringen. 
Viktor konnte vor weinendem Entzucken nichts sagen als : »Ist 
denn meine gute Agathe und der Blinde noch nicht da?« - Und 
beide standen - hmter ihm; und er verbarg das ObermaB seiner 
Wonne unter Liebkosungen der Schwester und des Freundes; 
sein weiter Leidenkelch war ja ganz mit Freudentranen vollge- 
gossen. 

Als er den schonen Weg zu den lieblichen Verbiindeten antrat 
im gehenden Zirkel drei liebender Seelen: so kamen sie ihm alle 

30 entgegen mit glanzenden Zugen - mit schwimmenden BHcken - 
mit verschmerzten Erinnerungen, oder vielmehr mit genossenen, 
denn von den zertretenen Freudenblumen auf dem Lebenswege 
wehet Wohlgeruch auf die jetzige Stunde heruber, wie ziehende 
Heere oft aus Steppen den Wohlgeruch zerquetschter Krauter 
ausschicken. Die Lady wurde von ihren zwei Kindern gefuhrt 
und sagte verbindlich lachelnd : »Hier stell' ich Ihnen meine ge- 



1 212 HESPERUS 

liebten Kinder vor, setzen Sie die Freundschaft gegen sie fort, die 
Sie ihnen bisher gegeben haben.« - Ihr Sohn Flamin flog, gleich- 
gultig gegen Sitte, an seinen Hals. Klotilde biickte sich defer, als 
sie vor einem Fiirsten getan hatte, und in ihrem Auge schwamm 
die Frage der wehmiitigen Liebe: »Bist du noch ungliicklich? 
hab' ich noch dein Herz? Warum ist dein Auge benetzt, warum 
deine Stimme gebrochen?« - Viktor erwiderte mit ebensoviel 
Zartlichkeit als Anstand, indem er sich gegen die Lady wandte: 
»Sie konnten an keinem schonern Tage Ihren Sohn wiederfinden 
als am Geburttage Ihrer Tochter.«. ... 10 

Daran hatte in den bisherigen Wirbelwinden keiner gedacht. 
Welches frohe Chaos! Welch eine herzliche liebende Sprachver- 
wirrung von gliickwiinschenden Improvisatoren ! Welch ein ge- 
riihrter Augendank Klotildens fiir ein so verbindliches Gedacht- 
nis! 

Man zog trunken durch den kiihlen Garten in das SchloB. O, 
wenn Schwesterliebe, Kindesliebe, Mutterliebe, Geliebtenliebe 
und Freundschaft nebeneinander auf den Altaren brennen: so tut 
es dem guten Menschen wohl, daB das Menschenherz so edel ist 
und den Stoffzu so vielen Flammen verwahrt, und daB wir Liebe 20 
und Warme nur fuhlen, wenn wir sie auBer uns verteilen, so wie 
unser Blut uns nicht eher warm vorkommt, als bis es, auBerhalb 
den Adern flieBend, im Freien ist. - O Liebe! wie glucklich sind 
wir, daB du, von einer zweiten Seele angeschauet, dich wieder- 
erzeugst und verdoppelst, daB warme Herzen warme Ziehen und 
schafFen wie Sonnen Planeten, die groBern die kleinern und Gott 
alle - und daB selber der dunkle Planet nur eine kleinere, iiber- 

zogene, eingehausige Sonne ist Alle Seelen standen heute hoch 

auf ihrer Alpe und sahen - wie auf einer physischen - den Regen- 
bogen des Menschengliicks als einen groBen vollendeten Zauber- 30 
kreis zwischen der Erde und der Sonne hangen. - Im Schlosse bat 
die Lady ihre Tochter, allein in das dunkle Zimmer der Mund- 
harmonika zu gehen, sie woll' ihr das Angebinde des Wiegen- 
festes geben. Klotildens Auge nahm vom bleibenden Freund mit 
einem zweiten Dank fiir seine Seele einen zartlichen Abschied. 

Nach ihrer Entfernung gab ihm die Lady einen Wink, mit ihr 



44- HUNDPOSTTAG 1 21 3 

hinter den andern nachzubleiben - da sank er gern vor Klotildens 
Mutter, die urn ihre Einwilligung in seine Liebe noch nicht ge- 
beten war, mit den Worten auf das Knie : »Wenn Sie meine Bitte 
nicht erraten: so nab* ich nicht den Mut, sie anzufangen.« Sie hob 
ihn auf und sagte: »Bitten, die so stillschweigend geschehen, wer- 
den ebenso still erfullt - aber jetzt kommen Sie lieber und sehen 
zu, womit ich meine Tochter beschenke.« - Aber er muBte erst 
lange die Hand benetzen und kussen, die ihm den Lindenhonig 
eines ganzen Lebens reichen will. 

10 Beide gingen nun in diesem aus dem tausendjahrigen Reiche 
herubergeschickten Abende ins dunkle Zimmer zur Tochter. 
Warum entflossen Klotilden Tranen vor Wonne, noch eh* die 
Mutter sprach? - weil sie schon alles erraten konnte. Die Mutter 
fuhrte den Geliebten an die Geliebte und sagte zur Braut: »Nimm 
hin das Angebinde deines Festtages. Wenige Mutter sind reich 
genug, ein solches zu geben - aber auch wenige Tochter sind gut 
genug, es zu erhalten.« - Das Brautpaar wurde vom Druck der 
schweren Wonne, des groBen stummen Dankes vor ihr nieder- 
gedriickt auf die Knie und teilte sich in die zwei wohltatigen 

20 Hande der Mutter; aber diese zog sie sanft aus fremden weg und 
legte den Liebenden die ihrigen ineinander und schlupfte davon 
mit dem Laute : »Hieher will ich unsre Gaste bringen !« — 

— O ihr zwei endlich begliickten , nebeneinander knienden guten 
Seelen I wie unglucklich muB ein Mensch sein, der ohne eine Trane 
der Freude - oder wie glucklich einer, der ohne eine Trane der 
Sehnsucht euch sehen kann jetzo stumm und weinend einander in 
die Arme fallen - nach so vielen LosreiBungen endlich ver- 
kniipft - nach so vielen Verblutungen endlich geheilt - nach 
tausend, tausend Seufzern doch endlich begliickt - und unaus- 

30 sprechlich begliickt durch Herzenunschuld und durch Seelen- 
frieden und durch Gott! - Nein, ich kann heute meine nassen 
Augen nicht von euch wenden - ich kann heute die andern guten 
Menschen nicht anschauen und abzeichnen - sondern ich lege 
meine Augen mit den %wei Tranen, die der Gliickliche und der 
Unglikkliche hat, fest und sanft auf meine zwei stillen Geliebten 
im dunkeln Zimmer, wo einmal der Hauch der Harmonikatone 



1 214 HESPERUS 

ihre zwei Seelen wie Gold- und Silberblattchen aneinanderwehte. 
- O, da sich mein Buch jetzt endigt und meine Geliebten ent- 
weichen : so ziehe dich langsam weg, dunkles Allerheiligstes mit 
deinen beiden Engeln - tone lange nach, wenn du auffliehest mit 
deinen melodischen Seelen, wie Schwanen in der Nacht mit Flo- 

tentonen durch den Himmel ziehen. Aber ach, steht nicht 

schon hoch und weit von mir das Allerheiligste und hangt als 
Silberwolkchen am Horizon t des Traums? - O, diese guten 
Menschen, dieser gute Viktor, dieser gute Emanuel, diese gute 
Klotilde, alle diese Lenz-Traume sind aufgestiegen, und mein i° 
Herz blickt schmerzlich auf und rufet ohne Hoffnung nach: 
»Traume des Fruhlings, wann kommt ihr wieder?« 

O warum wiird' ichs tun, wenn nicht die Freude, die wir so 
fest an den Handen fassen, auch Traume waren, die aufsteigen? 
Aber diesen rufet das auf dem Grabstein zuckende, zuriickge- 
fallne jammernde Herz nicht nach: »Traume des Fruhlings, wann 
kommt ihr wieder?« 



NACHTRAG ZUM 44. HUNDPOSTTAG 

Nichts - 

Da dieser Nachtrag zu einem Posttaglein zu klein war: so war- 20 
tete ich immer auf den Hund und auf neuen biographischen 
Pfeifenton und Teig. - Weil aber die poste aux chiens ausbleibt, 
so will ich nur die wenigen Katzen-Tone, die ich aus dem lieben- 
den Konzert des vorigen Kapitels weggelassen, hier auf meine 
No ten setzen. Es ist lauter verdruBliches Zeug, was ich hier noch 
nachzuholen habe, und eben jene Knarrtone konnen wieder eine 
neue Lauwine herabwerfen und neuen Unfug stiften. Es ist nur 
dumm, daB so das Buch aus und doch nicht aus ist, da der Hund 
von einem - Hund ganz unerwartet weg ist, wie Schnupftabak. 

Die stiefmutterliche Kammerherrin, die vom biographischen 30 
Geister- und Korperbanner seit langem aus diesen Blattern lan- 
desverwiesen ist, war bei der Ankunft der Lady aus sehr natur- 



NACHTRAG ZUM 44. HUNDPOSTTAG 121 5 

licher Antipathie wegmarschiert auf ein kleines Landgut. Reise zu, 
du bist ohnehin meine Amancebada nichtf- Matthieu war im 
vorigen Kapitel nach seiner alten Kuhnheit unter lauter Wider- 
sachern seines dunkelbraunen Ich ein wenig dageblieben; und saB 
im Schlosse, als die gluckliche Prozession aus dem Garten einzog. 
Er wuBte noch nicht, daB der Hofmann Viktor wahrhaftig nichts 
ist als ein bloBer platter Pfarrsohn. Anfangs setzte er den antiken 
SpaB seiner Lieberklarung gegen Agathen fort und reizte den 
Pfarrer zu Komplimenten und Dankadressen fur die Dienste an, 

10 die er alien heute erwiesen. Als er aber zu viel Gleichgultigkeit 
gegen seine kalte Bosheit vorfand, benahm er seiner Verachtung 
die Zweideutigkeit. Oberhaupt war sein Herz aufrichtig und stellte 
sich lieber boshafter als tugendhafter an, als es war; er haBte 
eine Verstellung, wodurch sich mancher Hofling leicht jene Miene 
des Tugendhaften gibt, die am besten durch Lavaters Bemerkung 
zu erklaren ist, daB der Zornige auf seinem Gesicht die Mienen 
dessen, den er hasset, bekomme. 

Endlich erriet Matthieu die Geheimnisse, und der Pfarrer be- 
statigte sie ihm. Ein solches Wasser fiir seine Schneide- und Sage- 

20 miihle, auf der er Menschen fiir sein Throngeruste zurechtschnitt, 
war noch nie auf ihn zugeflossen - wenn er dieses neue Falsum, 
diesen neuen entsetzlichen abscheulichen Betrug, den der Lord 
dem Fiirsten gespielt, dem Fiirsten vortragt: so muB - schlieBet 
er - Jenner auBer sich kommen vor Erstaunen liber Lord Ho- 
rions Liigen und tiber Matthieus Wahrheiten. - Jetzt hielt ers fiir 
Pflicht, zu lacheln zwar, aber nicht mehr schadenfroh wie Matz, 
sondern ordentlich verachtend,wie ein Hof-Lehnmann soil ;auch 
fiihlte er, wie sehr es unter seiner Wiirde sei, sich langer in dieses 
biirgerliche Quodlibet, ohne es doch zum Narren zu haben, mit 

30 einquirlen zu lassen. Er ging mithin - um die Neuigkeit aus sei- 
nem Saetuch in gutes Land auszuwerfen - nach einem kurzen, 
aber aufrichtigen Gliickwunsche zur Vermahlung noch dieselbe 

Nacht an den Hof zuriick und der Teufel folgte ihm als 

Kammermohr anstandig hinterdrein. 

Ich wollte, der Spitzbube tate keinen Tritt mehr in meine bio- 
graphische Schreibstube und casa santa; er ist sich so vieler un- 



I2l6 HESPERUS 

moralischer Hiilfquellen bewuBt, daB er ordentlich im Kraft- 
gefuhl derselben mit den Siinden spielt und immer einige mehr 
wagt, als er braucht; so wie er z.B. in der Maienthaler Allee mit 
der Stimme der Nachtigall aus bloBem Obermut Viktor und Klo- 
tilde in seine Nahe lockte, obgleich Flamin beide ohne jene Phi- 
lomelenmaschinerie hatte belauschen konnen. Von dieser Seite 
wiinsch' ich fast gar nicht mehr, daB der Posthund weiter kommt; 
ich muB zu sehr besorgen, daB Matthieu neuen Krotenlaich und 
eine neue Essigmutter des E lends an die Warme Jenners bringt, 
damit sie neues giftiges scharfes Ungliick aushecke; denn er JO 
wird es gewiB hochsten Orts berichten, daB die drei Englander 
sich in die Insel wie in eine Katakombe verstecken - daB Flamin 
sich ihnen zugeselle - daB Viktor bisher einen Fiirsten belogen, 
dessen Untertan er sei - noch anderer Dinge zu geschweigen, 
welche die ministerialische Spionin und Kammerherrin von Le 
Baut mitteilt und sein so antiklubistischer Vater schwarz farbt, 
und die jene zeichnet und dieser koloriert. Und wenn ich bedenke, 
daB in dieser Lebensbeschreibung ein kleines Ungliick immer die 
Eierschale und das EiweiB eines groBen war : so bin ich sehr ge- 
neigt zu glauben, daB der Ausdruck des Pfarrers am 21. Oktober 20 
mehr Witz als Wahrheit enthalte: »daB sie gegenwartig alle statt 
des Tranenbrots den Brautkuchen der Freude anschnitten.«... 
Ihr guten Menschen! worm mag jetzt in dieser Minute euer Busen 
auf- und niedergehen, im weichen diinnen Ather der Freude oder 
im Gewitter-Brodem der Angst? - 

Nachtrag zum Nachtrag 

Ich habe hierzu, wahrend sich die erste Auf lage vergriff, einige 
recht interessante Umstande fiir die zweite erfahren. Julius urn- 
halsete im Garten seinen Viktor recht fest und sagte : »Ich bin sehr 
froh, daB ich wieder da bin - ich war den ganzen Tag so allein 30 
und horte keinen Menschen - dein italienischer Bedienter ist ganz 
fortgelaufen.« In Viktor stieg iiber diese unerklarliche Entwei- 
chung eines treuen gliicklichen Dieners, wenn nicht eine Ge- 
witterwolke, doch ein Nebel auf. Die stille Marie hatte dem Blin- 



45* ODER LETZTES KAPITEL 1217 

den die Dienste des Fliichtlings emsig getan. »Ich hatte dem 
Italiener gern vorher seinen Brief gegeben,« (fuhr Julius fort) >>aber 
da nab* ich ihn noch.« Viktor besah ihn und fand voll Erstaunen 
die Adresse von der Hand des - Lords. Der Brief wurde einige 
Minuten nach des Menschen Flucht an den Blinden mit der Bitte 
abgereicht, ihn niemand als dem Welschen zu geben. Wiewohl 
Flamin und die Lady und die Pfarrerin versprachen, das Er- 
brechen des Briefes zu verantworten : so ging Viktor doch an diese 
Auf losung einer neuen Scharade seines Lebens ungern ; denn Klo- 
10 tilde schwieg dazu. Hier ist die vidimierte Kopie: 

»Sie haben recht. Aber reisen Sie nicht erst morgen, sondern 
auf der Stelle zum Mr.***. Der Ort bleibt 1?. Aber VI sind not- 
wendig.« 

Mr. konnte den Monsieur (den fiinften Sohn) bedeuten. Wei- 
ter war aus diesem Wolkenzug nichts vom kunftigen Wetter 
durch die besten Wetterpropheten zu erraten. Aber nur aus ihrer 
eignen ban gen WiBbegierde nach der Deutung dieser Himmel- 
zeichen konnen sich die Leser eine Vorstellung von der groBen 
unsers Helden machen. 



20 45STES ODER LETZTES KAPITEL 

Knef - die Stadt Hof - Schweiflfuchs - Rauber - Schlaf- Schwur - Nacht- 
reise - Gebiisch - Ende — 

Ich sage nur so viel voraus; solange man noch Dinte - wie den 
Johannisbeerwein - aus Federspulen verzapfte; solange noch 
Kiele geschnitten wurden, um Friedeninstrumente zu machen - 
oder verkohlet, um Krieginstrumente zu machen (denn die Kohle 
des SchieBpuIvers bereitet man aus Federn) - und noch langer 
vorher : so Iange ist der sonderbare Vorfall gar noch nicht vorge- 
fallen, den ich der Welt jetzo zu berichten habe. Wie gesagt, ich 
30 sage nur das voraus: der Vorfall ist leidlich. 

Weil der Posthund seit dem 44sten Kapitel von diesem gelehr- 
ten Werke die Hand oder Pfote abgezogen: so wollt' ichs allein 



I2l8 HESPERUS 

hinausmachen und nur noch ein Ietztes Kapitel - aber nicht dieses 
- als SchluBstein und Schwanengesang gar anstoBen, damit das 
opus einmal auf die Post und auf die Welt kame. Gute^Rezensen- 
ten, dacht* ich, lassest du iiber den Mangel an einer Finalkadenz 
sich mit dem Posthunde und biographischen Leithammel so lange 

herumbeiBen, als sie wollen Es war schon gegen das Ende 

des Oktobers und meiner Robinsonade auf der Johannisinsel, als 
der alte gute Freitag dieses Robinsons, mein Doktor Fenk, von 
seiner langen botanischen Alpenreise nach Scheerau heimkehrte, 
aber sogleich wieder in die See stach und auf memem Johanniter- 10 
meistertum ausstieg. 

Wir setzten uns nieder zu zwei oder drei Gangen mit histo- 
rischeni Eingeschneizel (Ragout) von Reiseanekdoten. Zuletzt 
macht* ich ihn - wie alle Gelehrte tun - auf das aufmerksam, was 
ich schriebe, auf mein neuestes Opusculum, das so verdammt 
hoch vor uns aufgebettet stand wie ein Sternenkegel : »Es ist ganz 
fliichtig« (sagt' ich) »von mir gefallen, oft in der Nacht, so wie 
Voltaire oder die Pfauhennen im Schlafe Eier aufs Stroh herunter- 
springen lassen. Ich habe die Welt mit diesem Vermachtnis von 
vier Heftlein gern bedacht ; aber das Vermachtnis wartet noch aufs 20 
letzte Kapitel — sonst wird die Hundarbeit im edeln Sinn eine im 
schlechten.« Er las das ganze Vermachtnis vor meinen Augen 
durch - welches fur einen Autor eine narrisch schwiile Empfin- 
dung ist - und schwepperte oft mit den zwei Armen auf und nie- 
der und wollte den Verfasser rot machen durch ubertreibendes Lob ; 
aber es verfing nichts; denn ein Verfasser hat sich jedes schon 
vorher tausendmal erteilt und ist zugleich seine eigne Fleisch- 
waage, sein eignes Fleischgewicht und sein eignes Fleisch, weil er 
wie ein Tugendhafter mit seinem eignen Beifall zufrieden ist. - 

»Der Held deiner Posttage« - sagt* er - »ist ein wenig nach dir 50 
selber gebosselt.« - »Das« ? versetzte ich, »entscheide die Welt und 
der Held, wenn mich beide kennen lernen; es tuns aber alle Auto- 
res, ihr Ich steht entweder abgezeichnet vor dem Titelblatte oder 
darhinter mitten im Werke, wie der Maler Rubens und der Zeich- 
ner Ramberg fast in alien ihren Arbeiten einen Hund anbringen.« 

Nun aber denke man sich mein staunendes Handezusammen- 



45- ODER LETZTES KAPITEL, 1219 

schlagen, als der Doktor mir das Landchen nannte, wo die ganze 
Geschichte vorging: *** heiBet wirklich das Landchen. »Ich solle 
nur hin,« sagt* er, »so konnt* ich das 45ste Schwanz-Kapitel aus 
der Quelle schopfen. Bei seinem Durchmarsch ware man in 
Flachsenfingen erst iiber dem 40sten Hundposttage her gewe*sen. 
Wenn ich eigne Pferde nehmen wollte (das will ich, sagt' ich, ich 
kaufe mir heute noch eigne): so konnt' ich vielleicht einem vor- 
nehmen Passagier nachkommen, der, wenn ihn nicht alles troge, 
der Lord leibhaftig sei.« We gen einiger Lot Teufeldreck, die 

10 Fenk unterweges notig hatte, war er sogar bei Zeuseln in der Apo- 
theke gewesen, dem, sagt* er, die Zahl 99 so leserlich wie dem 
Nummernvogel (Catalanta) die Zahl 98 anerschaffen seL 

Verdenken kann mans wahrlich keinem Alitor, der nach seinem 
4$sten Schwanz- und Schleppen-Kapitel krebset und fischet, da8 
er wie unsinnig weglief - aufpackte - anschirrte - einsafi - fort- 
jagte und so wiitig zufuhr im VoriiberschieBen vor Hotels, vor 
Landhausern, vor Prozessionen, vor Sternen und Nachten, daB 
ich nicht etwan in ** Tagen, sondern schon in *** Tagen (mancher 
wird gar denken, ich mache Wind) in den Gasthof zum goldnen 

20 Lowen bestaubt, aber ungepudert hineinsprang. Besagter Gasthof 
liegt namlich in der Stadt Hof, die ihrerseits wieder in etwas Gro- 
Berem liegt, namlich im Voigtland. Ich nenne mit FleiB weder 
die Tage meiner Reise noch das Tor, wodurch ich zu Hof ein- 
schoB, damit ichs nicht neugierigen Schelmen und mouchards 
durch die Marschroute verrate, wie Flachsenfingen heiBet. Hof 
konnt* ich ohne Schaden herausnennen, weil man von da aus - 
sobald man iiber die Tore hinaus ist - nach alien Punkten des 
Kompasses fahren kann; und so kann man da (welches recht gut 
ist) auch aus alien Orten ankommen, aus Monchberg, Kotzau, 

30 Gattendorf, Sachsen, Bamberg, Boheim und aus Amerika und aus 
den Spitzbubeninseln und aus dem ganzen Biisching und Fabri. 
Nicht weit vom goldnen Lowen (eigentlich im HabergaBchen) 
stand ein vornehmer Englander und sah zu, wie seine vier rauchen- 
den Pferde eine Medizin von 2 / 3 gemeinem Salpeter und ^g.Rofl- 
schwefel gegen das Verschlagen einbekamen. Der Fremde - der 
ungefahr so viel Jahre haben mochte als dieses Buch Tage - war 



1220 HESPERUS 

schwarz gekleidet, lang, ehrwtirdig, reich (nach der Equipage zu 
urteilen) und mannlich gebildet. Sein heller und fixierter Blick 
lag wie ein Brennpunkt ziandend auf den Menschen - sein Gesicht 
war fein und kalt - auf seiner Stirne stand die lotrechte Sekante 
als der Taktstrich der Geschafte, als Ausrufzeichen iiber die 
Muhen des Lebens - mit bleichen waagrechten Linien war dieser 
Taktstrich rastriert, beide Arten von Linien waren gleichsam als 
Zeichen in die zu hohe Stirne eingeschnitten, wie hoch das Tra- 
nenwasser der Triibsal schon an dieser Stirne, an dieser Seele auf- 
gestiegen sei. »Ich wollte den Lord Horion« - dacht' ich - »anders 10 
geschildert haben, wenn mir dieses Gesicht eher vorgekommen 
ware.« Vielleicht denkt der Leser, das war der Lord selber. 

Als der Englander mein Terzett von SchweiBfiichsen erblickt 
hatte : ging er gerade auf mich zu und leitete ein Tauschprojekt ein 
und wollte meinen Fuchs gegen einen Rappen einwechseln. Er 
hatte die Phantasie der vornehmen Russen, mit einem ordent- 
lichen Zento ungleichfarbiger Pferde zu fahren - so wie er die 
schonere Sitte der Neapolitaner hatte, ein freies lediges Pferd wie 
einen Hirsch neben dem Wagen hertanzen zu lassen -; daher, 
des RoB-Quodlibets halber, wollt' er meinen elenden Fuchs er- 20 
stehen, der, die Wahrheit zu sagen, nirgends sein eignes Haar 
trug als hinten auf dem Burzel. Ich sagte es ihm geradezu — um 
ihm keinen Argwohn eines Eigennutzes und einer Absicht zu 
lassen — : »meine drei Fiichse sahen wie die drei Furien aus und 
stellten die drei Kavitaten der Anatomie ein wenig vor; bloB der 
SchweiBgaul, den er wolle, sei herrlich gebauet, besonders um 
den Kopf herum, und ich verlor' ihn ungern gerade jetzt, da mir 
der Kopf erst recht einschlagen will.« - »So?« sagte der Brite. 
»Naturlich,« sagt* ich, »denn ein Pferdekopf 1st das beste Mittel 
gegen Wanzen, und der muB nun bald, wie eine reife Pflaume, 30 
vom Gaul abfallen - den Kopf kann ich in mein Bettstroh tun.« 
Der Englander lachelte nicht einmal; unter dem ganzen Handel 
regte er keinen Finger, keine Miene, keinen Muskel. Erst als ich 
selber gesagt hatte: »Wenn nur die drei Parzen so lange auf den 
Beinen bleiben, bis ich das 45ste Kapitel abgeholt habe auf der 
Achse«, so fiel es mir auf, daB er mich auf eine entfernte Art mehr 



45* ODER LETZTES KAPITEL 12.21 

zu studieren und auszufragen getrachtet als den SehweiBfuchs - 
und ich geriet auf die Hypothese, ob er nicht gar den ganzen RoB- 
tausch nur zum Deckmantel seiner verdachtigen Ausforschfragen 
gemiBbraucht habe. 

Der Leser lese nur weiterl - Der Englander fuhr mit meinem 
Fuchs-Muskelnpraparat davon - und ich spater hintennach mit 
dem Rappen, der so stark, schwarz und gleiBend war wie der alte 
Adam des Menschen. 

Aber ich muB erst sagen, was ich in Hof wollte: - zueignen 
10 wollt* ich. Anfangs sollte jedes dieser Heftlein einer Freundin zu- 
geeignet werden; aber ich muBte besorgen, es wiirde mich ge- 
reuen, weil ich mich jeden .Monat mit einer andern - mit alien auf 
einmal nie - zu zanken pflege. Ich mochte wissen, unter welcher 
geographischen Breite der Mann Iage, der nicht mit seiner Freun- 
din tausendmal ofter keifte als mit seinem Freund. Der Lebens- 
beschreiber muBte also aus Not - weil er zu veranderlich ist - 
mit seinen vier Heftlein quer aus dem goldnen Lowen iiber die 
Gasse ziehen und zu dem einzigen ins Haus gehen, gegen den er 
sich nicht andert.und ders auch nicht tut, und zu ihm sagen : »Hier, 
20 mein Iieber guter Christian Otto, eigne ich dir wieder etwas - vier 
Heftlein auf einmal - hiibsch war' es, wenn du jedes wieder an die 
Deinigen dediziertest, dreie langen gerade zu, und deinesbleibtdir 
auch - ich reite nun dem 4jsten Kapitel nach, und du schneide und 
raupe indes an den 44 andern Rabatten so viel ab, als du willst.« 

Und hier, mein Treuer, muBt du das letzte Kapitel auch gar 
haben, und ich setze nur noch dazu: »Diesen Hesperus, der als 
Morgenstern iiber meinem frischen Lebensmorgen steht, kannst 
du noch anschauen, wenn mein Erdentag voriiber ist; dann ist er 
ein stiller Abendstern fur stille Menschen, bis auch er hinter sei- 
30 nem Hiigel untergeht.« 

Da alle Briefe an mich, wie bekannt, in der emsigen und etwas 
gramlichen Stadt Hof abgegeben werden; und da iiberhaupt viele 
Reisende sie passieren : so kann man mir schon den kleinen Platz 
zu zwei Bemerkungen vergonnen, welche die Stadt iiber die Stadt 
selber gemacht. Die Hofer bemerken namlich alle und tadelns, 
da/3 sie sich nicht recht zusammengewohnen konnen; wir sollten 



1222 HESPERUS 

uns samtlich, sagen sie, einander recht gut ausstehen konnen und 
schon dadurch des groBen Montesquieu Bemerkung widerlegen, 
daB der Handel Volker verkniipfe und Einzelwesen zertrenne. 
Zweitens werfen es alle einander vor, daB sie von Jahr zu Jahr 
weite Diiten voll Balsaminen-, Rosen-, Klee- und Liliensamen 
und hohe Schachteln voll herrlicher Apfelkerne (besonders Kerne 
von Herrenapfeln, Violenapfeln, Adams- und Jungfernapfeln und 
hollandischen Ketterlingen) in Menge antauschten und aufschut- 
teten und in Winterhausern aufspeicherten — daB sie aber von 
diesem Gesame wenig oder nichts versaeten oder aussteckten: 
»Im Alter«, sagen sie, »sollen uns gute Friichte und Blumen zu- 
passe kommen, wenn wir aus den jetzigen recht viel Samen ziehen 
und ihn dann versaen.« - Einem Kandidaten (einem akademischen 
Srubenkameraden von mir) gaben diese zwei Bemerkungen An- 
laB zu zwei recht guten Teilen in einer Nachmittagpredigt: im 
ersten Teile zeigte er seinen Hofern aus der Epistel, daB sie ein- 
ander in der fliichtigen Lufterscheinung des Lebens nicht raufen, 
sondern recht lieben sollten, ohne Riicksicht auf die Nummern 
der Hauser - und im zweiten Pars tat er dar, sie sollten sich im 
kurzen abnehmenden Lichte des Lebens von Zeit zu Zeit einen : 

und den andern SpaB machen 

Als ich kaum einige Stunden - Tage - Wochen gefahren (denn 
die Wahrheit sag' ich nicht) und gegen Mkternacht in meinem 
Wagen bergauf in einem dicken Forste eingeschlafen war: so 
stiirzten zwei Hande, die von hinten durch das Riickenfenster sich 
hereingearbeitet hatten, eine Bienenkappe iiber meinen Kopf, 
schnallten sie hurtig um den Hals mit einem VorlegschloB, ver- 
schrankten und verdeckten meine Augen, und mich selber er- 
griffen, hielten und banden zehn bis zwolf andere Hande. Das 
Schlimmste bei so etwas ist, daB man denkt, man werde totge- 5 
schlagen und von seinen Juwelenkastchen entbloBt; nun kann 
man aber einen Autor, der sein Buch noch nicht hinausgemacht 
hat, nicht argerlicher und verdrieBlicher machen, als wenn man 
ihn erschlagt. Kein Mensch will in einem Plane sterben; und doch 
tragt jeder zu jeder Stunde des Tages zugleich aufknospende, 
griine, halb reife und ganz reife Plane. Ich suchte also mein Leben 



45- ODER LETZTES KAPITEL 1223 

mit einer Tapferkeit zu verfechten - weil mir urns 45ste Kapitel 
und dessen Kunstrichter zu tun war — , daB ich - ich kann es sagen 

- vier bis fiinf Prinzenrauber leicht iibermeistert hatte, war' es 
nicht ein halbes Dutzend gewesen. Ich streckte das Gewehr, be- 
hauptete aber das Schlachtfeld, namlich das Kutsch-Kissen, und 
merkte iiberhaupt, daB man den Berghauptmann nicht sowohl 
tot machen wollen als blind. Es wurde noch abenteuerlicher - 
mein eigner Kerl wurde nicht vom Throne seines Bocks gesturzt - 
mein Wagen blieb auf dem Wege nach Flachsenfingen - zwei 

10 Herren setzteri sich zu mir hinein, die, nach ihren Madchenhanden 
zu urteilen, von Stande waren - und noch sonderbarer, es boll 
ein Hund, der, dem Bellen nach, als MeBhelfer und Mitmeister 
an diesem gelehrten Werke gearbeitet hatte. 

Wir soupierten und goutierten unter freiem Himmel. Hier 
wurde mir ein chirurgisches Ordenband auf bio Ben Leib umge- 
tan, weil ich unter den Viertelschwenkungen und Hand-Evolu- 
tionen meiner Gegenwehr ungliicklicherweise mein Schulterblatt 
in eine Degen-Spitze getrieben hatte. Essen konnt' ich recht gut, 
weil das blecherne Kanarienbauer-Tiirchen an meiner Bienen- 

20 kappe weit aufgedrehet war. O lieber Himmel ! wenn das Publi- 
kum den Verfasser der Hundposttage hatte seine EB waren in die 
aufhangenden Torflugel von Blech einschieben sehen; er ware 
vergangen vor Scham! - Unter dem Essen Iockte ich den Hund 
mit dem Namen »Hofmann!« zu mir: er kam wirklich; ich fuhlte 
ihn aus, ob an seinem Halse kein 45sr.es Kapitel hinge - er war leer. 
Nach einem langen Wechsel von Fahren - Essen - Schweigen 

- Schlafen - Tagen - Nachten wurd' ich endlich in eine See ge- 
setzt und so lange herumgefahren (oder kams von einem Schlaf- 
trunk), bis ich schlief wie eine Ratte. Was darauf geschah: mach' 

3° ich - so wunderbar es immer ist - erst bekannt, wenn ich die 
Bemerkung ausgeschrieben habe, daB die groBe Freude und der 
groBe Schmeri die edlern Neigungen in uns beleben und ver- 
jungen, daB aber die Hoffnung und noch weit mehr die Angst den 
ganzen Wurmstock elender Begierden, den Infusionslaich kleiner 
Gedanken anbriiten und auseinanderringeln und ins Nagen brin- 
gen - so daB also der Teufel und der Engel in uns eine argere 



1224 HESPERUS 

Paritdt ihrer zwei Religionen, als selber in Augsburg bei zwei 
andern ist, zu erhalten wissen, und daB jede von den zwei Reli- 
gionparteien im Menschen ebensogut ihren eignen Nachtwachter, 
Zensor, Wirt, Zeitungschreiber besoldet als, wie gesagt, in Augs- 
burg.... 

- Ich hatte die Augen noch geschlossen, als ein Lispeln, von 
tausend Gipfeln weitergewirbelt, mich umschwamm, das ge- 
triebene Luftmeer zog durch enge Aolsharfen und schlug daran 
Wellen, und die Wellen uberspulten mich mit Melodien - eine 
hohe Bergluft, von einer voriiberschieBenden Wolke herzuschla- 10 
gend, fuhr wie ein Wasserstrahl kiihl an meine Brust - ich offnete 
die Augen und dachte, ich traumte, weil ich ohne die eiserne 
Maske war - ich war an die funfte Saule auf der obersten Stufe 
eines griechischen Tempels gelehnt, dessen weiBen FuBboden die 
Gipfel taumelnder Pappeln umzingelten — und die Gipfel von 
Eichen und Kastanien liefen nur wie Fruchthecken und Gelander- 
baume wallend um den hohen Tempel und reichten dem Men- 
schen darin nur bis an das Herz. - 

Ich muB ja diese wiihlende Gipfelsaat kennen, sagt' ich - dort 
hangen Trauerbirken die Arme - da drauBen knien Stamme vor 20 
dem Donner, der sie getroffeh — flattern nicht neun Flore und zer- 
staubte Springbrunnen in gefleckten Zweigen durcheinander? - 
und die Gewitter haben hier ihre Ableiter als funf eiserne Zepter 
in die Erde gepflanzt. - Das ist doch gewiB ein Traum von der 
Inset der Vereinigung^ die so oft bisher den Nebel des Schlafs mit 
Strahlen durchschnitten und himmlisch und ziehend meine Seele 
angeschimmert hat. 

Es war aber kein Traum. Ich stand von der Stufe auf und wollte 
in den griechischen durchhellten Tempel, der bloB aus einem 
griechischen Dache und aus funf Saulen und der ganzen um ihn 30 
gelagerten Erde bestand, eintreten, als mich acht Arme umfaBten 
und vier Stimmen anredeten: »Bruder! - wir sind deine Bruder.« 
Eh' ich sie anschauete, eh' ich sie anredete: flel ich gern mit ausge- 
breiteten Armen zwischen drei Herzen, die ich nicht kannte, und 
vergoB Tranen an einem vierten, das ich nicht kannte, und hob 
endlich, nicht fragend, sondern begliickt, die Augen von den un- 



45* ODER LETZTES KAPITEL 1225 

bekannten Herzen auf in ihr Angesicht, und unter dem Anschauen 
sagte hinter mir mein geliebter Doktor Fenk: »Du bist der Bin- 
der Flam ins, und diese drei Englander sind deine leiblichen Brii- 
der.«... Die Freude zuckte durch iiiich wie ein Schmerz - ich 
driickte mich stumm an die Lippen der vier Umarmten und Um- 
armenden - aber ich sturzte dann an den altern Freund und 
stammelte: »Guter lieber Fenk! sag mir alles! Ich bin zerruttet 
und bezaubert von Dingen, die ich doch nicht fasse.« 

Fenk ging lachelnd mit mir wieder zu den vier Briidern und 
10 sagte zu ihnen: »Seht, das ist der Monsieur, euer funfter, auf den 
sieben Inseln verlorner Bruder und euer Biograph dazu - nun hat 
er endlich sein 45st.es Kapitel erwischt.« - Da wandte er sich an 
mich: )>Du siehst doch,« (sagt* er) »daB das die Insel der Vereini- 
gung ist - daB die Drillinge hier die drei Sonne des Fursten sind, 
die unser Lord bringen wollte. - Deinetwegen, weil du schon lange 
von den sieben Inseln weg bist, ist er durch alle Marktflecken und 
um alle Inseln von Europa gefahren. Endlich schrieb ich ihm«. . . . 

»Du bist gewifi auch« (unterbrach ich ihn) »mein Korrespon- 
dent mit dem Hund gewesen.« - 
20 »Fahr nur fort«, sagt* er. 

»Und Knef ist der umgekehrte Fenk - und hast dich bei Viktor 
fiir einen Italiener, der kein Deutsch kann, ausgegeben - und ihm 
den ganzen Tag seine eigne Konduitenliste fiir den Lord abge- 
schrieben, und fiir mich im Grunde auch, um sein und mein Spion 
zu sein.« - 

»So ists - und habe also« (sagt' er) »dem Lord auch geschrieben, 

dein franzosischer Name Jean Paul mache dich verdachtig, und 

da du noch dazu selber nicht weiBt, wo du her bist, und dazu ge- 

rechnet dein narrisches Stuck Lebensweg, der wie in einem eng- 

30 lischen Garten nicht eine Meile lang geradeaus geht<< — 

»Der Biograph«, sagt' ich, »sollte iiberhaupt sein eigner sein.^ - 

»Jetzo wird mirs unbegreiflich, wie ich nur nicht gleich darauf 

1 Und ich mache hier mit Vergnugen dem Publikum zu meiner eignen 
Lebensbeschreibung Hoffnung, womitich es,wenn ich nur noch einigenotige 
Kapitel daraus erlebt habe, unter dem Titel beschenken werde : Jean Pauls 
Apostelgeschkhte, oder dessen Taten, Begebenheiten und Meinungen. 



1226 HESPERUS 

fallen konnen; denn deine Ahnlichkeit mit Sebastian, die der 
funfte Sohn des Fursten haben sollte, merktest du langst selber - 
und dein Stettiner-Dosenstiick auf dem Schulterblatt,'das die 
Herren da alle aufhoben, und das der Lord vorgestern selber 
unter deinem Verbande angesehen.« 

»So, so !« (sagt' ich) »Deswegen bekam also euer Biograph die 
Falkenhaube, die Ruckenwunde, den hiibschen Rappen, und der 
Fremde in Hof war der Lord?« - 

Kurz bei allem diesen hatte der Lord sich gar vollig iiberzeugt, 
dafi ich der sei, den er so lange gesucht; denn vorher hatte er 10 
schon lange das Schreiben von Fenk durch funfzehn Hande er- 
halten, indem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Hadeln 
nach Ziegenhain in Niederhessen lief, dann in die Herrschaft 
Schwabeck, dann in die Grafschaft Holzapfel, nach Schweinfurt, 
nach Scheer-Scheer und doch wieder zuruck nach ** und nach *** 
und endlkh nach Flachsenfingen, wo ers erst erhielt: dort, in der 
Insel der Vereinigung, war er lange versteckt gewesen, bis ihn 
das Schreiben, der endigende Oktober, der die Muttermaler 
gleichsam mit roter Dinte unterstrich, und am meisten die drei 
aus St. Lune verwiesenen Briten, die auf der Insel ausstiegen, 20 
nach Scheerau oder vielmehr nach Hof im Voigtland abzureisen 
zwangen. Hier muBt' ich ihm nach einer Verabredung mit dem 
italienischen Bedienten, d.h. mit dem Doktor Fenk, derenwegen 
er mich eben aus meiner Insel dem 45sten Kapitel nachschickte 
und deren Wiederholung in dem vom Blinden aufgefangnen, nun 
entzifferten Billet vorkam, natiirlich begegnen, und mein altes 
Gesicht, das er sofort mit einem jiingern Nachstich vom fiinften 
Fiirstensohne zusammenhielt, warf sogleich im »HabergaBchen« 
iiber alles das reichlichste Licht. 

Sobald er das wuBte, lieB er mich allein hinter meiner Bienen- 30 
Blechkappe und Mosis-Decke fahren und eilte voraus zum Fursten 
gerade eine Minute fruher, eh' es - zu spat war. Denn Matthieu 
hatte alles verraten; und die Drillinge wollte man eben aus der 
Insel, worein sie geflohen waren, und unsern Viktor aus seiner 
Mutter Hause, worin er schon Hof und Adel iiber Patienten und 
Wissenschaften und Braut vergessen hatte, abholen zum Verhaft, 



45- ODER LETZTES KAPITEL 1227 

als der Lord sich bei dem Fiirsten melden lieB. Der Fiirst fiirch- 
tete von ihm, wie Casar von Cicero, iiberredet zu werden. Der 
Lord - dessen Seele ohnehin eine petrographische Karte erhabe- 
ner Ideen war - verwirrte die MaBregeln des Fiirsten durch 
einen kiihnern Trotz, als die MaBregeln berechnet hatten. Er fing 
mit der Nachricht an, daB er nicht blofi einen Sohn dem Fiirsten 
bringe, sondern alle, welches letzte er darum nicht versprochen 
habe, weil er nicht wissen konnen, inwiefern ihn das Schicksal 
vielleicht verlasse oder trage. - Er drang dem Fiirsten eine lange 

io kalte Rede auf, worin er ihm den Studienplan der funf Sonne und 
ihre Entwicklung, Geschichte und Bestimmung vorlegte. Indem 
er die Beweise ihrer Abstammung vorauszusetzen schien, webte 
er sie doch in die Schltisse aus der Abstammung kiinstlich ein. So 
sagt' er z. B., niemand habe um das wichtige Geheimnis gewuBt 
als die Lady und Klotilde und Emanuel, dessen heilige, alles mit 
dem Tode beschworenden Dokumente er ihm hier neben andern 
fiir die Kinder gebe; bloB ein gewisser Hof junker habe wahrend 
der BHndheit von funf Geheimnissen ernes entwendet und gemifi- 
braucht. Der Lord zerfaserte diese Fallstrick-Seele nicht, da sie, 

20 wie er sagte, zu unbedeutend zur Genugtuung, zu schwarz ge- 
beizet zur Strafe sei, und da er selber ohnehin bald aus diesen 
Gegenden auf immer komme. Kurz, er griff so mit seiner All- 
macht den Fiirsten an und zog so rein der Vergangenheit alle 
Schleier ab, daB er diesen fast zwang, statt zu verdammen oder 
loszusprechen, bloB abzubitten und Anklage und MiBtrauen mit 
Dankbarkeit zu vertauschen. Das einzige Gute, endigte Lord 
Horion, was der Junker getan, sei, daB er durch seine Saema- 
schinen des Unkrauts die groBe schone Erkennung gerade auf 
eine Monatzeit gereift und beschleunigt habe, worin die Frucht- 

3° schnur der funf Schultern (die Muttermale) in Bliite stehe. Der 
Fiirst wurde trotz des fremden Eises geschmolzen, denn seine 
vaterliche Liebe war mit neuen Schatzen bereichert. Doch mischt' 
er in seinen Dank diesen feinen Vorwurf wegen Viktors vorgeb- 
lichen Adel: »Ich bin voll Dankbarkeit fiir Sie, ob Sie mir gleich 
zu bald die Gelegenheit nehmen, sie zu zeigen. Bisher freuet' ich 
mich, daB ich wenigstens an dem Sohne beweisen konnte, wie 



1228 HESPERUS 

sehr ich dem Vater, wenn nicht dankbar, doch verbunden ware. 
Aber Sie kennen meinen Irrtum.« Der Lord - jetzo biegsamer 
durch den Sieg - versetzte: »Ich weiB nicht, ob mich gute Ab- 
sichten und schlimme Verhaltnisse entschuldigen ; aber ich konnte 
nur einen Menschen fur wurdig halten, Ihr Leibarzt zu sein, den 
ich fur wurdig erkannte, mein Sohn zu sein.« - Der Furst um- 
armte ihn aufrichtig; der Lord erwiderte es ebenso warm und 
sagte: am 3isten Oktober (der ist heute, und gestern sagte ers) 
woir er seine redlichen Gesinnungen gegen den Fiirsten auf eine 
Weise besiegeln, die mehr als a lie Worte entscheide — IO 

Edler Mann ! Du verzehrst nichts weiter auf der Erde als dich 
und bist ein Sturmvogel, durch dessen Fett ein Docht des Leuch- 
tens gefadelt ist und den jetzo sein eignes Licht ausbrennt und ver- 
kohlt — mir ahnet, als wenn deine schone Seele bald auf einer 
andern, auf einer hohern Inset der Vereinigung sein werde als auf 
dieser irdischen! 

Ich schreibe dieses den 3isten Oktober vormittags um 10 Uhr 

auf der Insel. 

* 

Abends um 6 Uhr in Maienthal 

Womit wird dieses Buch noch enden? - mit einer Traae oder 20 
mit einem Jauchzen? - 

J Der Doktor Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord erst kommen 
wollte) den Koch- oder Lumpen-Zucker der Laune auf unsere 
Minuten und Schmerzen; sein narrisches rotes Gesicht war das 
violette Zuckerpapief der SuBigkeit. Mein guter Viktor war mit 
Klotilden in Maienthal. Fenk lachte mich in einem fort aus als 
einen Dauphin. Er macht viel Gleichnisse, er sagt: ich bekame 
erst am Ende eines Buchs und der ganzen Komodie den rechten 
Titel, wie man den Journalen den Haupttitel erst im letzten Heft 
beidruckt - oder ich avanciere, gleich einem Schachbauern, erst JO 
auf dem letzten Felde zu einem Offizier. Es ist mir aber aus der 
Geschichte recht gut bekannt, daB inFrankreich schon unter Lud- 
wig XIV. das jetzige Gleichheitsystem, obwohl erst fur Prinzen, 
da war, die der Konig gleichmachte, sie mochten als Mestizen oder 



45- ODER LETZTES KAPITEL 1 229 

Kreolen oder Quarteronen 1 oder Quinteronen oder Eingeborne 
des Throns ans Leben ausgestiegen sein. Da man nun ebensogut 
in Deutschland neue Gesetze und Novellen der Reichsgesetze 
hervorzubringen vermag als auBer den Grenzen desselben: 
so konnt* es ja bei meinen Lebzeiten geschehen, daB legiti- 
mierte Prinzen fur thronfahig erklart wiirden - wodurch ich frei- 
lich zur Regierung kame. Gut war's fur Flachsenfingen, wenns 
geschahe, weil ich mir vorher die besten franzosischen und latei- 
nischen Werke iiber das Regieren kaufen und es darin so stu- 

10 dieren will, daB ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich darf mir 
vorsetzen, das arme Menschengeschlecht, das ewig im ersten 
April lebt und das nie vom Gangelwagen steigt - bloB mehre 
Rader werden dem Wagen angesetzt -, ein wenig auf die Beine zu 
bringen durch meinen Zepter. Sonst war ein Edelmann und das 
Pferd eines englischen Bereiters imstande, den Hut abzuziehen, 
ein Pistol loszuschieBen, Tabak zu rauchen, zu wissen, ob eine 
Jungfer in der Gesellschaft war u.s.w.; jetzt aber haben sich 
Pferd und Edelmann durch die Kultur so voneinander getrennt, 
daB es eine wahre Ehre ist, letzter zu sein, und daB es meinem 

20 Adel nichts schadet (ob ichs gleich anfangs besorgte), daB ich 
mehr als gemeine Kenntnisse habe. In unsern Tagen sind die ade- 
ligen Vorderpferde nicht mehr so we it wie vor hundert Jahren 
vor den burgerlichen Deichselpferden am Staatswagen voraus- 
gespannt; daher ists Pflicht, wenigstens Klugheit (auch fur einen 
neuen Edelmann wie ich), daB er (oder ich) sich herablasset und 
das Gefiihl seines Standes - warum soil mir das nicht so gut ge- 
lingen wie andern? - unter die Verzierung einer gefalligen leichten 
Lebensart versteckt, und sich iiberhaupt auf keine Ahnen etwas 
einbildet als auf die kunftigen, deren samtliche Verdienste ich mir 

30 nicht groB genug denken kann, weil die Erde noch blutjung und 

erstim Fliigelkleide und, wie Polen, im polnischen Rockchen ist. 

Ich komme zuriick. Um 2 Uhr kam der Lord mit seinem blin- 

den Sohn, gleichsam die Philosophic mit der Dichtkunst. Scho- 

ner, schoner Jungling! die Unschuld hat deine Wangen gezeich- 

1 Quarteronen sind Kinder von Terzeronen, die wieder Kinder von Mu- 
latten und WeiCen sind. 



1 230 HESPERUS 

net, die Liebe deine Lippen, die Schwarmerei deine Stirne. Der 
Lord mit der Laudons-Stirne und mit einem heute mehr als in 
Hof verdunkelten schattigen Gesicht, an das" die Flitterwochen 
der Jugend und die Marterwochen des spatern Alters vermischtes 
Helldunkel warfen, dieser trat heute fast warmer zu uns, obwohl 
mit lauter Ziigen des Gefuhls, daB das, Leben ein Schalttag sei und 
daB er nur die Menschenliebe, nicht die Menschen liebe. Er sagte, 
wir sollten ihm und dem Hofmedikus den Gefallen tun, letzten 
noch heute in Maienthal zu besuchen und herzubringen, weil er 
hier ohne Augenzeugen noch allerlei Anordnungen fur die An- 10 
kunft des Fiirsten zu vollenden habe; wir sollten aber in der Nacht 
mit Viktor wiederkommen, weil unser Herr Vater morgen sehr 
fruhe eintreffe. Der Blinde konnte als Blinder dableiben. Es fiel 
mir nicht auf, daB er dem guten verhiillten Julius verbarg, daB 
er sein Vater war, denn er sagte zwei- und dreideutig: »Da der 
Gute schon einmal den Schmerz, einen Vater zu verlieren, xiber- 
standen hat, so muB man ihn diesem Schmerze nicht zum zweiten 
Male aussetzen.« Aber dies fiel mir auf, daB er uns bat, ihn fur das, 
was er bisher fur Flachsenfingen tun wollen, dadurch zu beloh- 
nen, daB wirs selber taten, und ihm eidlich zu versichern, daB wir 20 
in den Staatsamtern, die wir bekommen wiirden, seine kosmopo- 
litischen Wiinsche, die er uns schriftlich ubergab, erfiillen wiir- 
den, wenigstens so lange bis er uns wiedersdhe. Der Furst hatt* ihm 
dieselbe feierliche Versicherung geben miissen. Wir sahen zu ihm 
hinauf wie zu einem bewolkten Kometen und schwuren mit Trauer. 

Wir traten den Weg nach Maienthal an. Ein Englander er- 
zahlte uns, daB er hinter dem Trauergebiisch - der Schlafkammer 
der Mutter des Blinden, der Geliebten des Lords, die unter einer 
schwarzen Marmorplatte ausruht - einen zweiten Marmor habe 
aufgestellt gesehen, den die anfiatternden Flortucher xiberdecken 50 
sollten und doch nicht konnten. O da sah jeder von uns sich be- 
klommen nach der Insel urn, wie nach einer unterminierten Stadt, 
eh* sie zenissen aufgeschleudert wird. - Aber meine Sehnsucht, 
Viktor und Maienthal, diesen Irr- und Blumengarten meiner 
warmsten Traume, zu erblicken, iibertaubte die Angst. 

Endlich erstiegen wir den sudlichen Berg, und das bunte Eden 



45- ODER LETZTES KAPITEL I23I 

wuchs mit seiner Blatter-Fiille und mit dem Gewimmel seiner 
pulsierenden Zweige rauschend ins Tal hinab - driiben lag in 
Asten wie ein Nachtigallennest Emanuels stille Hiitte, in der jetzo 
mein Viktor war - naher an uns brauste die Kastanienallee, und 
oben drauBen ruhte der abgemahte Kirchhof. - Mir, der ich alles 
dieses bisher nur im Traum der Phantasie gesehen, war jetzo wie- 
der, als zogenTraume heran ; und der undurchsichtigeBodenwurde 
ein durchsichtiger voll Duft-Gebilde -und ich sank voll Wehmut 
auf den Berg .... Ich ging endlich hinab wie in ein gelobtes Land, 

ro aber meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenschleier ein. 
- Und mein Viktor riB den Schleier weg und driickte seine 
warme Seele an meine, und wir schmolzen ein zu einem gliihen- 
den Punkt. - Aber ich will ihm nachher, wenn er wiederkommt 
aus der Abtei, noch einmal und noch warmer an die Brust fallen 
und ihm dann erst meine Liebe recht sagen . . . . O Viktor, wie bist 
du so milde und so harmonisch, so veredelt und so erweicht, wie 
schon in der Freudentrane, wie groB in der Begeisterung ! - Ach 
Menschenliebe, die du dem innern Menschen das griechische 
Profil und seinen Bewegungen SchonheitHnien und seinen Reizen 

20 Brautschmuck gibst, verdopple deine Wunder- und Heilkrafte in 
meiner hektischen Brust, wenn ich Toren sehe, oder Sunder, oder 
unahnliche Menschen, oder Feinde, oder Fremde! 

Viktor, der nie die Angst eines Menschen noch groBer machte, 
gab uns einige Beruhigung uber den Lord. Er ging zu Klotilden 
ins Stift, um uns bei ihr und der Abtissin anzumelden — der spate 
Besuch wird durch die Notwendigkeit der nachtlichen Zuruck- 
kehr entschuldigt. Bis er wiederkommt, halt' ich mit meiner Ge- 
schichte still. Ich sah ihm nach auf seinem Wege zur Braut, und 
seine Hand, sein Auge und sein Mund waren voll GriiBe fur jeden, 

30 besonders fur verschmahte Menschen, fur Greise, fur alte Wit- 
wen. Die Freude meines Helden wird die meinige ; die Zeit arbeitet 
an dem schonen Tage, wo sein Herz auf immer mit dem ver- 
lobten verschmilzt, wo er, ohne ein Gelenke der entzweigeschnit- 
tenen Floh- und AfTenkette des Hofes, frei durch die Natur geht, 
nichts ist als ein Mensch, nichts macht als Kuren statt der Cour, 
nichts liebt als die ganze Welt und zu glikklich ist, um beneidet 



1232 HESPERUS 

zu werden. Dann will ich einmal, mein Bastian, abends im Mond- 
schein unter Linden-Dampf und Linden- Gesumse bei dir essen 
und mich auf den Ballen gerade ausgepackter abgedruckter Hund- 
posttage setzen. Obrigens bin ich - ob ich mir gleich mein eignes 
Ich sitzen HeB, urn seines abzufarben - nur ein elender zerflosse- 
ner ausgewischter Schieferabdruck von ihm, nur eine sehr freie 
paraphrasierte Verdolmetschung von dieser Seele; und ich finde, 
daB ein gebildeter Pfarrsohn im Grunde besser ist als ein ganz un- 
gebildeter Prinz, und daB die Prinzen nicht wie die Poeten ge- 
boren werden, sondern gemacht. 10 

Ich hoffe, ich habe so lange Materie zum Schreiben, bis er 
wiederkommt. Ich habe iiberhaupt in dieser Lebensbeschreibung 
als Supernumerarkopist der Natur allezeit die Wirklichkeit ab- 
geschrieben-z.B.beiFlaminsCharakterhatt' icheinenDragoner- 
rittmeister im Kopf - bei Emanuels seinem dacht' ich an einen 
groBen Toten, einen beruhmten Schriftsteller, der gerade am 
Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit siiBer 
schauernder Trunkenheit schrieb, aus der Erde ging und halb 
unter sie. - Die Gottin Klotilde fiigt' ich aus zwei weiblichen 
Engeln zusammen, und ich werde in wenig Minuten selber sehen, ™ 
ob ich sie getroffen. VerdrieBlich ists, daB ich aus Gewohnheit 
den Leuten dieses Buchs in Gesprachen die hundposttaglichen 
Namen gebe, da doch Flamin eigentlich ** heiBet und Viktor ** 
und Klotilde gar **. Es ware zu wiinschen - ich nab' es nicht ver- 
schworen - ich machte die wahren Namen nach dem Tode einiger 
moralischer Maroden und Pestkranken dieser Hefte oder nach 
fneinem eignen der Welt bekannt. TV ichs, so wird das gelehrte 
Europa hinter alle die Grunde kommen, die das politische schon 
weiB, welche den Berghauptmann abgehalten haben, in einige 
Partien seiner Historie (zumal tiber den Hof) so viel Licht ein- 30 
fallen zu lassen, als er wirklich hatte geben konnen; und ich er- 
warte, ob nach der Ausstellung dieser Grunde der Zeitungschrei- 
ber Y. und der Gesandtschaftsekretar Z. - die zwei groBten 
Feinde des flachsenflngischen Hofes und meiner Person - noch 
behaupten werden, ich sei dumm. Ja ich bin so kiihn, mich hier 
orTentlich auf den ** Agenten in ** zu berufen, ob ich nicht manche 



45* ODER LETZTES KAPITEL 1233 

Personen in der Geschichte ganz ausgelassen habe, die darin 
mitgehandelt hatten und die in meiner biographischen Zucker- 
muhle als unterschlachtige Rader mit im Gange gewesen waren; 
noch mehr, ich gebe meinem Widersacher-Paar sogar die Erlaub- 
nis, die weggelassenen Personagen - letzte haben einige Gewalt, 
zu schaden - der Welt zu nennen, wenn dieser doppelte Geier 
das Herz dazu hat .... 

Der gute Spitzius Hofmann wedelt jetzt und springt vor mir in 
die Hohe. Guter, fleiCiger Posthund! biographische Egerie Jean 

10 Pauls! ich werde dich zur Aufmunterung, sobald ich Zeit habe, 
ausschinden und nett ausbalgen und mit einer Heu-Wurstfulle 
durchschieBen, urn dich in eine offentliche Ratbibliothek als dein 
eignes Brustbild neben andere Gelehrte von Rang einzustellen! 
- Meusel ist ein billiger Mann, den ich in einem eignen Privat- 
schreiben um einen Sitz im gelehrten Deutschland fur den Spitz 
ansprechen will. Dieser Gelehrte wird, so gut wie ich, nicht ein- 
sehen, warum ein so fleiBiger Handlanger und Kompilator und 
Spediteur der Gelehrsamkeit, als mein Hund ist, bloB darum ein 
elenderes kalteres Schicksal erleiden soil als andere gelehrte Hand- 

20 langer, bloB darum, sag' ich, weil er einen Schwanz tragt, der 
sein SteiB-Toupet vorstellt. BloB der setzt das arme Vieh auf der 
Rangliste der Gelehrten herunter. 

- Ich sehe jetzo Viktor durch die Lauben des Gartens von Lich- 
tern begleitet; ich will nur nocheiligst herwerfen, daB ich in der 
mit entblattertem Gestrauch vergitterten Sakristei Emanuels sitze. 
Eile nicht so, Sebastian, der du wegen deiner bisherigen Ver- 
wechslungen den drei oder vier Pseudo-Sebastianen in Portugal 
gleichst, eile nicht, damit ich nur noch zu meiner Schwester sagen 
kann: du geliebte Ex-Schwester, dein toller Bruder schreibt sich 

30 von y aber du hast nur seine Brust, nicht sein Herz verloren. Wenn 
ich nach Scheerau komme, will ich mich um nichts scheren und 
an dir unter dem Umarmen weinen und endlich sagen: es hat 
nichts auf sich. Mein Geist ist dein Bruder, deine Seele ist meine 
Schwester, und so verandere dich nicht, verschwistertes Herz. 

- Der gute Viktor geht hastig. Ach Menschen, die der Schmerz 
oft erkaltet hat, haben weder in den korperlichen noch mora- 



1234 HESPERUS 

lischen Bewegungen die langsame Symmetric des Glucks, so wie 
Leute, die im Wasser waten, groBe weite Schritte tun. — Armer 
Viktor! warum weinest du jetzo so und kannst dich gar nicht 

trocknen?... 

* 

Friih um 4 Uhr in der Insel der Vereinigung 

Ach es ist lange, daB ich fragte : wird sich dieses Buch mit einer 
Trane schlieBen? — Viktor kam heute nachts um 8 Uhr mit zwei 
groBen unbeweglichen Tranen auf dem Augenrand zuriick und 
sagte : »Wir wollen nur ein wenig schnell auf die Insel zuriickeilen ; 
Klotilde blttet uns selber darum, sie lieber ein anderesmal zu 10 
sehen. Ein Ungluck - (habe ihr getraumt) - richte sich jetzo groB 
und hoch wie eine Meerschlange auf und werfe sich nieder auf 
Menschenherzen, wie jene auf SchifTe, und driicke sie hinunter.<< 
Sie war mit jeder Minute banger und enger geworden, wie man 
an einer dumpfen Stelle wird, tiber der noch der Blitz zielet und 
zischt. Was setzte dies anders voraus, als daB der Lord seiner 
treuen Freundin Dinge entdeckt hatte, die wir in dieser Nacht zu 
erleben besorgten? Und wir konnten uns alle die Sorge nicht mehr 
verhehlen, daB sein mtider Geist vielleicht wie Lykurg das Siegel 
seiner Leiche auf seine Versicherung driicken wolle, daB wir Jen- 20 
ners Sonne sind, ferner auf unsern Schwur, gut zu sein, und auf 
den furstlichen, meinen Brudern zu folgen, bis er wiederkomme. 

»Weine nicht so sehr, Viktor !« (sagt' ich) »es ist doch noch nicht 
gewiB.« Er trocknete sich still und gern die Augen ab und sagte 
bloB: »So wollen wir denn auf die Insel ^etzo gehen - es wird 
schon 9 Uhr.« 

Wir gingen fern, fern vor der fleckigen Trauerbirke voriiber, 
die ihr abgerissenes Laub der welken Hiille des groBen Menschen 
nachwarf. Viktor konnte vorSchmerz nicht hiniibersehen; aber 
ich blickte mit einem kalten Zittern nach ihrem Schwanken im 30 
heitern Nachthimmel. Erst seit einigen Tagen, wo Viktor gliick- 
Hcher geworden war, hatte sich der Staub Emanuels gleichsam 
wieder in eine blasse Gestalt zusammengezogen und sich auf das 
Toterigriin herausgestellt und die Arme weit fur seinen alten Lieb- 



45- ODER LETZTES KAPITEL 123$ 

ling aufgetan - und Viktor jammerte und schmachtete und wollte 
vergeblich sich sterbend an den weiBen Schatten pressen. 

Er lachelte schmerzlich, da er uns und sich durch die Worte 
zerstreuen wollte : »Der narrische Mensch duckt (biickt) sich wie 
ein Vogel, wenn nur das Ungliick von weitem auf ihn zugeht.« Seine 
Tranen machten ihn zum Blinden, und ich und Flamin waren seine 
Fiihrer, dennoch griiBte er in seinem Schmerze einen Nachtboten. 

Ich habe nichts gesagt (denn ich kann rficht) vom Garten des 
Endes, von dem verbliihenden Boden abgebluhter abgelaubter 
10 Freudentage. 

Ober die Stoppeln und iiber die Puppen der Nachtschmetter- 
linge (der Gaukler in kiinftigen Fruhlingnachten) und iiber den 
festen unterirdischen Winterschlaf fuhren die einsamen Nacht- 
winde - ach der Mensch muBte wohl denken: »Liifte, kommt ihr 
nicht iiber Graber her, iiber teure, teure Graber?« — 

Ich sagte: »Wie schmal ist der blaBgriine Zwischenraum von 
Erde zwischen Menschenleibern und Menschengerippen !«— Viktor 
sagte : »Ach die Natur ruht so viel,und warum unser Herz so wenig?« 

Es war gegen Mitternacht. Der Himmel blinkte naher an der 
20 Erde, der Schwan, die Leier, der Herkutes 1 schimmerten unter- 
gesunken durch ein anderes Himmelblau. GroBer Himmel - 
; sagte jedes Herz -, gehorest du fur den Menschengeist, nimmst 
du ihn einmal auf, oder gleichst du nur dem Deckengemalde 
eines Doms, das die gemauerten Schranken verbirgt und mit Far- 
ben die Aussicht in einen Himmel auftut, der nicht ist? - Ach jede 
Gegenwart macht unsere Seele so klein, und nur eine Zukunft 
macht &ie groB. 

Viktor war auBer sich und sagte wied'er: »Ruhe! dich geben 
weder die Freude noch der Schmerz, sondern nur die Hoffnung. 
30 Warum ruht nicht alles in uns wie urn uns?« 

Da schlug der von alien Waldern nachgelallte Knall eines 
Schusses durch die stille Nacht - und die Insel der Vereinigung 
schwamm im Nachtblau auf, und ihr weiBer Tempel hihg iiber 
ihr - und neben dem Trauergebiisch, das iiber das Zerfallen eines 

1 Der Schwan ist die Giulia, die Leier des Apollo Emanuel, der Herkules 
erinnerte an den Lord. 



1236 HESPERUS 

jungen Herzens hiniiberwuchs, schossen gen Himmel neun 
schmale Flammen, die an den neun Floren aufliefen, gleichsam 
Freudenfeuer zu einem Friedenfeste. 

Bleich, eilend, seufzend, schweigend beriihrten wir das erste 
Ufer der Insel. Das Wasser war vom Boden trocken eingesogen. 
Das schwarze Morgentor hatte sich weit aufgerissen und seine 
weiBe Farbensonne an Baume gelehnt und verdeckt. Viele Lei- 
chenfackeln auf weiBen Gueridons knupften sich ans Morgentor 
an, gingen den langen griinen Weg hinein, flimmerten iiber Rui- 
nen, Sphinxe und Marmortorsos und endigten sich dunkel im 10 
Tr auergebiisch . 

Flatterndes Getone der Aolsharfen wurde am Eingang von 
langen Tonen durchzogen. Unter dem Morgentor ruhte still der 
Blinde und spielte froh auf seiner Flote - so wie eine Taube in den 
Donner fliegt. 

Er fiel freudig an seinen Viktor und sagte : »Es ist gut, daB du 
kommst; ein stiller langer Mann hat sich eine halbe Viertelstunde 
an mein Herz gelegt und in meine Hand geweint und mir ein 
Blatt an dich gegeben.« 

Viktor riB das Blatt zu sich, es hieB : »Ihr alle habt geschworen, 20 
so lange meine Bitten zu erfullen, bis ihr mich wieder hort; aber 
decket den schwarzen Marmor nicht auf.« - Der Lord hatt' es 
dem blinden Sohne gegeben. Viktor rief : »0 Vater, o Vater, ich 
konnte dir also nichts belohnen !« und sank an die Brust des Sohns. 
Er wollte sich von ihr reiBen, aber der Blinde umklammerte ihn 
und lachelte freudig unwissend in die Nacht. - Wir eilten ins 
Trauergebiisch - und indem darin die zwei Leichenfackeln aus- 
brannten, so sahen wir, dafi einzweites Grab darin ausgehohlt war, 
dessen frische Erde daneben lag - daB ein schwarzer Marmor die 
Hohle zudeckte, und daB das schwarze Kleid des Lords ein wenig 30 
aus der Hohle vorsah, und daB er sich darin getotet hatte. - Und 
auf seinem schwarzen Marmor stand, wie auf dem Marmor seiner 
Geliebten, ein blasses Aschenherz, und unter dem Herzen stand 
mit weiBen Buchstaben: 

Es ruht 
Ende des Buchs 



ANHANG 



Anmerkungen 



»Der Theolog hasset juristische Anspielungen - der Jurist theologische - 
der Arzt beide - der Mathematiker alle vorigen - ich liebe sie alle; was soil 
man da lassen oder nehmen?« schreibt Jean Paul mit scherzhafter Ratlosig- 
keit in der Vorrede zur zweiten Auflage des »Hesperus« (S. 483, 23 <ff.). Diese 
Haltung des Dichters und die aus ihr entspringende, eigenwillige Neigung 
seines Erzahlstils zu verklausulierenden Anspielungen und »Ausschweifen<', 
zu abliegenden Assoziationen und Metaphern bringen es mit sich, da6 man 
zum vollen Verstandnis der Werke auf Erklarungen nicht ganz verzichten 
kann. 

Die Anmerkungen unserer Ausgabe versuchen nicht, das dichterische 
Wort Jean Pauls, seine Gedankengange oder die Bewegung seiner Sprache 
zu deuten und zu interpretieren. Sie versuchen auch nicht umgekehrt, in 
kleinlicher Weise das oft spielerisch zusammengetragene Wissen des Dich- 
ters, zumal wo er es als oeigentlich iiberflussige Gelehrsamkeit« ausdriicklich 
zum »Vexieren<i des Lesers bestimmt hat, wieder in seine Elemente und Bau- 
steinchen zu zerlegen, sondern die Anmerkungen sollen im ganz konkreten 
Wortsinn dem unmittelbaren Verstandnis des Textes dienen und nach 
Moglichkeit dem Leser alle dazu erforderlichen Hilfen an die Hand geben. 

In knapper Form enthalten sie zunachst die notigen Erklarungen un- 
gebrauchlicher Worter und Begriffe, vor allem der vielen Fachausdriicke 
aus oft recht abseitigen und versteckten Wissensgebieten, und der zahl- 
reichen, uns heute fremd gewordenen Namen. Manche von diesen waren 
schon dem Zeitgenossen unbekannt: er sollte sie nach dem Wunsch des 
Autors gar nicht kennen, und jede Erklarung wiirde hier den Reiz des Spie- 
les, das der Dichter mit seinem Publikum treibt, zerstoren. Mit den meisten 
Namen aber verband der zeitgenossische, gebildete Leser eine zugleich feste 
und lebendige Vorstellung, auch wenn eine Anspielung oder ein Zitat ihm 
im einzelnen dunkel blieb. Daher schien dem Herausgeber in solchem Punkt 
haufig eine Erklarung am Platze, selbst wo sie das Textverstandnis nicht 
direkt erleichtert. Auf Namen, die heute noch als bekannt und gelaufig vor- 
ausgesetzt werden diirfen, wird jedoch nur kurz und stets nur im Zusammen- 
hang einer bestimmten Textstelle oder Anspielung eingegangen. 

Soweit es moglich oder von Nutzen war, wurden auch Nachweise der 
bei Jean Paul sehr haufigen Zitate aus anderen Werken und fremden Schrift- 
stellern gegeben, bei zum Verstandnis wesentlichen und nicht zu umfang- 
lichen Stellen wird bisweilen auch der Wortlaut angefuhrt Lateinische 



I24O t ANMERKUNGEN 

Zitate im Text werden iibersetzt, bei den franzosischen glaubte der Heraus- 
geber, davon Abstand nehmen zu diirfen. Dartiber hinaus wird auf Bezie- 
hungen zu anderen Werken und Autoren, auf Motivparallelen und die 
Obernahme von einzelnen Handlungsziigen verwiesen, die besonders fur 
die friihen Schriften entscheidend und sehr charakteristisch sind.SchlieB- 
lich enthalten die Anmerkungen noch Angaben iiber eventuelle Erweite- 
rungen, Einschiibe und Veranderungen der spateren Auflagen gegenuber 
der Erstausgabe und iiber Konjekturen und Textverbesserungen unserer 
Ausgabe. 

Jedem Werk ist ein kurzer AbriB iiber die Entstehungsgeschichte und 
die Geschichte der Drucke vorangestellt, der einmal das Nachwort ent- 
lasten, zum andern auf besondere Schwierigkeiten und Probleme der Text- 
gestaltung und der Kommentierung hinweisen soli. Die Anmerkungen selbst 
folgen dem Text fortlaufend und sind mit Seiten- und Zeilenzahlen gekenn- 
zeichnet. Da alle Erkiarungen mehrfach, bisweilen sehr haufig notwendig 
sind, werden sie stets nur an der ersten oder aber an der wichtigsten Stelle 
gegeben: einfache Worterklarungen einmal innerhalb jeder Schrift. ohne 
da 6 spater nochmals auf diese Note verwiesen wird, langere Sacherklarun- 
gen nur einmal innerhalb eines Bandes. Doch erfolgt dann in jedem einzel- 
nen Werk ein Verweis auf diese erste Anmerkung. 

Fur die Wort- und Namenerklarungen war der Herausgeber, da die 
Registerbande der Gesamtausgabe noch nicht vorliegen und da gerade fur 
den ersten Band auch sonstige Vorarbeiten fehlen, durchwegs auf eigene, 
oft sehr langwierige Einzelnachforschungen angewiesen. Als Quellen wur- 
den nach Moglichkeit Nachschlagewerke und Worterbiicher der Zeit be- 
nutzt; die Zuverlassigkeit der Angaben richtet sich daher in vielen Fallen 
nach der nicht immer zweifelsfreien Zuverlassigkeit dieser Quellen. In 
Fragen der Zitate, der Anspielungen, der Vorlagen und literarischen Par- 
allelen konnte man sich hingegen auf die Anmerkungen der von Eduard 
Berend edierten Kritischen Ausgabe stiitzen, deren Ergebnisse weitgehend 
in den Kommentar mit einbezogen sind. 

Herr Professor Berend stand daruber hinaus dem Herausgeber bei der 
muhevollen Arbeit des Kommentierens stets hilfsbereit zur Seite, fiir welche 
liebenswurdige Unterstiitzung ihm an dieser Stelle auf das herzlichste ge- 
dankt sei. 

Norbert Miller 



ANMERKUNGEN I24I 



Die unsichtbare Loge 



Plan und Vorarbeiten zur »Unsichtbaren Loge« reichen bis in die Mitte des 
Jahres 1790 zuriick. Niedergeschrieben wurde der Roman dann nach dem 
Ausweis des Tagebuchs zwischen dem 1 5.Marz 1791 und dem Schalttag des 
folgenden Jahres. Das korrigierte und erganzte Manuskript (aber noch ohne 
den »Wutz« und mutmafilich ohne Titel) ging am 7-Juni 1792 an Karl 
Philipp Moritz..Dieser reagierte begeistert und vermittelte Jean Pauls Erst- 
ling an seinen Sch wager Carl Matzdorff in Berlin, in dessen Buchhandlung 
der Roman 1793 in zwei Banden erschien. — Eine zweite, inhaltlich kaum 
veranderte Auflage erlebte die »Unsichtbare Loge« erst 1822 im Verlag von 
Georg Reimer, Berlin. Jean Paul begmigte sich im wesentlichen mit sprach- 
lichen Anderurigen: Tilgung des Fugen-S, Eindeutschung der Fremdwor- 
ter, und mit geiegentlichen Glattungen im .Wortgefiige. Auf die wenigen 
und geringfugigen inhaltlichen Erweiterungen wird in den Anmerkungen 
hingewiesen. Fur die Gesamtausgabe diktierte der Dichter in seinen letzten 
Tagen noch eine »Entschuldigung«, ohne den Text jedoch neu durchsehen 
zu konnen. 

Titel: Eine konkrete Erklarung des^Titels aus der Handlung heraus 
versucht der Dichter in seiner »Vorrede zur zweiten Auf lage« (vgl. S. 20, 1 5 ff.) 
zu geben. Der ganze Ausdruck: »die unsichtbare Loge« scheint jedoch aus 
der Freimaurersprache ubernommen zu sein und dort etwa dem Begriff der 
»unsichtbaren Kirche« in der theologischen Terminologie zu entsprechen. 
So werden beide Formeln von J. P. im Antrittsprogramm des »Titan« neben- 
einander angefuhrt. 

Motto: freies Zitat nach dem »Witzigen Anhang« zur *Ersten Zu- 
sammenkunft mit dem angenehmen Leser« aus J. P.s zweitem satirischem 
Werk. 

S. 1 5, 1 8 neun Jahre lang: Nach einem friihen Romanversuch: »Abelard 
und Heloise« schrieb J. P. fast zehn Jahre lang nur Aufsatze und Satiren, von 
denen 1783 in zwei Bandchen die »Gronlandischen Prozesse<( und 1789 die 
»Auswahl aus des Teufels Papieren« im Druck erschienen. — 22 hora^isches 
Jahrneun: Horaz fordert in seiner Epistel: »de arte poetica« (v. 388/89): 
»nonumque prematur in annum / membranis intus positis« (Neun Jahre 
halte es unsichtbar und laB die Handschrift eingeschlossen ruhen). 

S. 16, 24 im 30ten Jahre: Goethe war beim Erscheinen der »Lehrjahre« 
37 Jahre alt; Henry Fielding (1707-54) war 35 Jahre, J.J.Rousseau (171 2 
bis 1778) fast 50 und Samuel Richardson (1689-1761) iiber 51 Jahre, als 
ihre ersten Romane erschienen. - 2S romantisch: hier im alteren Sinne von 
»romanhaft.« - 2j Georg Chr. Lichtenberg (1742-99) : In seinem »Vorschlag 
zu einem orbis pictus usw.« (1780). Auch der erste Teil des Absatzes ist dieser 
Schrift verpflichtet. 



1 242 ANMERKUNGEN 

S. iS^iyff. Zacharias Werner (1768-1823): romantischer Dramatiker, 
Freund E. T. A. Hoffmanns, gefordert von Iffland und Goethe, war 18 10 
nach einem unsteten Wanderleben zum Katholizismus iibergetreten. Die 
beiden Dramen: ^Luther oder die Weihe der Kraft« und ftAttila, Konig der 
Hunnen« erschienen noch vor seinem Glaubensiibertritt 1807 und 1808. - 
18 Adolf Milliner (1774-1829): Jurist und Stiickeschreiber, Hauptvertreter 
der sog. Schicksalsdramatik. stKonig Vngurda erschien 1817, »Die Albanese- 
rina 1820. 

S. 19,* Friedrich Hoffmann: Gemeint ist E. T.A.Hoffmann, zu dessen 
erstem Buch: »Fantasiestiicke in Callots Manien (18 14) J. P. die Vorrede 
geschrieben hatte. Mehr aus personlichen Grunden entfremdeten sich beide 
Dichter in der Folge. - z o Tieck: J. P. zielt auf die oft form- und ziigellosen 
Marchenspiele und Erzahlungen,-wie sie Ludwig Tieck urn die Jahrhundert- 
wende liebte (»Der gestiefelte Kater«, »Prinz Zerbino« usw.) 

S. 23, 1 Vorredner: Die Einkleidung ist von Laurence Sternes »Empfind- 
samer Reise« (1768) beeinfluBt. Dort schreibt Yorick ebenso die Vorrede 
in einer geschlossenen Desobligeante (einem einsitzigen Reisewagen). - 
30 Schwiegervater : Dieser Absatz ist wie die beiden Stellen S.27, 4-12 und 
S.31, 35-32, 3 dem Prolog zur »Bayrischen Kreuzerkomodie« entnommen, 
einer satirischen Fruhschrift des Dichters. So kommt der Junggeselle des 
Romans in der Vorrede zu einem Schwiegervater. 

S. 24, 3 offyinell: arzneilich, heilsam. - 4 Albrecht von Hatter (1708-77) : 
»das Wunder seiner Zeit«, Arzt, Naturforscher, Politiker und Dichter. Sein 
med. Hauptwerk: »Elementa physiologiae corporis humanh (1759-66, dt. 
8 Bande 1762-76) iibte auf den jungen J.P. ungemeinen EinfluB aus. -10 
phlogistisch : eigtl. brennbar, hier: stickig, erstickend. — 12 antimephitischer 
Respirator: ein Gerat, um das Atmen in Stickluft zu ermoglichen, das 1783 
von dem franz. Physiker und Aeronauten Pilatre de Rosier (1756-85) er- 
funden wurde. - 21 Phthisiker: Schwindsuch tiger. - 24 Miasma: Anflug- 
gift. 

S. 25, 2 Joachim Heinrich Campe (1746-1818) : Padagog, Sprachforscher, 
in seinen frProben einiger Versuche dt. Sprachbereinigung« von 1791, FuB- 
note zu S.9. - 12 Lagado: vgl. Swift, Gullivers Reisen, 3-TeiI,. 5-Kap. - 
29 Montgolfiere: von den Briidern Montgolfier 1783 konstruierter Luft- 
ballon. 

S. 26, / 2 Haberrohr: seit dem 17. Jahrh. ublicher Name fur Schalmei. - 3S 
homer ischer Schlaf: Nach dem bekannten Wort des Horaz in »de arte poetica« 
(v. 357f.) : »et idem / indignor, quandoque bonus dormitat Homerus.« (Und 
ebenso verdrieBt es mich, wenn einmal der treffliche Homer schlaft.) 

S.27, 22 chaussure: FuBbekleidung. 

S.28,7^ Claude Prosper Jolyot Cribillon d.J. (1707-77): franz. Schrift- 
steller, oft vorziiglicher Autor erotischer Romane (»Le sopha« 1740). 

S.29, 2 Candide: Voltaires Erzahlung (1759) als Beispiel des kurzen, 
unepischen Episoden-Romans. - 3 Joh. Heinr. Vofi (1751-1826): schrieb 



ANMERKUNGEN 1 243 

seine Idyllen in betont schlichter, schrittweise vorgehender Erzahlweise. 
VgL auch S. 127, 31. — 7 magister sententiarum: Lehrmeister der Entschei- 
dungen, ein Beiname des Scholastikers Petrus Lombardus (f 1 160), der eine 
Sammlung: »LibriIV sententiarum* (Ausspriiche derHeiligen) verfaBthat.- 
8 39 Artikel: die Glaubensartikel der anglikanischen Kirche von 1563. - 
8 So De^isionen: Entscheidungen Justinians uber altere Rechtskontroversen 
aus den Jahren 529-32. — 22 Tom Jones (1749) und Clarissa (1747—48): die 
Hauptwerke Fieldings und Richardsons. - 30 Friedr. Max. Klinger (1752 
bis 1831): fruchtbarster Dramatiker des Sturm und Drang. Seine Dramen: 
bMedea in Korintha und » Medea auf dem Kaukasus* entstanden 1787 
und 1791. 

S.33,5 darin: auf »Jahr«, nicHt auf »Schach« zubeziehen! - 5 Santa Her- 
mandad (heilige Bruderschaft) : scherzhafte Bezeichnung der Polizei in 
Spanien. - s> Strehpenik: Im heutigen Strobeck bei Halberstadt waren die 
Einwohner wegen ihres leidenschaftlichen und guten Schachspielens ehemals 
von alien Abgaben befreit. - 16 Kempelscke Schachmaschine: Wolfgang 
von Kempelen (1734-1804) gelangte durch die Erfindung eines Schach- 
automaten, der als Tiirke gekleidet war, zu europaischem Ruhm. -18 Kon- 
viktorist: Freitischganger, Tischgenosse. 

S. 34,5) deployieren: entfalten, ausschwarmen lassen. — 14 Quaterne :Vier- 
treffer im Lotto, vier Gewinne von funf moglichen in einer Reihe. 

S. 36,1 5 ]oh. Christian Adelung (1732-1806): aufklarerischer Sprach- 
forscher, hatte im »Magazin fur die dt. Sprache*, 2.Bd. 1. Stuck, gegen 
diesen MiBbrauch geschrieben. - .27 philidorisch: wie Francois Andre* 
Damian, gen. Philidor (1726-95), der anerkannt erste Schachspieler seiner 
Zeit. 

S.38,7 Anschrot; eigtl. Anschnitt, dann Rand und Besatz. 

S. 40, 32 Priniipalkommissarius ; seit 1663 Titel des kaiserlichen Ver- 
treters auf dem Reichstag. 

S.4i,/ Narrheit- Journal: das von Bertuch und Kraus edierte »Journal 
des Luxus und der Moden^ 1786 ff. - / 5 Epitomator: Verfasser eines Werk- 
auszugs. 

S.44,3/ Kleisteralchen; Infusionstierchen, das in Kleister und Essig auf- 
tritt. - 33 terminus medius: verbindendes Mittelglied eines, logischen 
Schlusses. 

S.46,/6' Preiskurant: Preismiinze, scjierzhafte Koppelung, da Kurant 
iunachst »gangiges« Geld, schlechteres Silbergeld bezeichnet. - 24 Knots 
(Knjas) : russ. FiirstentiteL. 

S.47,/* anastomosieren; zusammcnmunden (der Adern), beriihren. - 
2i hogarthisches Schwan^stiick: »Tail-Piece, Finis or the end of the world* 
nannte der engl. Maler und Kupferstecher William Hogarth (1697-1764) 
seinen letzten Kupferstich. 

S.48,/ Meibomium de cerevisiis: Von Joh. Heinr. Meibom (1590-165 5) 
ist ein posthumes olibrum de vino et cerevisiis* (Ober Wein und Biere) er- 



1244 ANMERKUNGEN 

schienen. — 24 Luperkalien: urspr. ein ausgelassenes rom. Fest zu Ehren 
des Pan. 

S.49,.9 die sec As nicht natiir lichen Dinge: Diese werden auch in Sternes 
»Tristram Shandy* (IV, 19) apostrophiert. 

S.50,z Monturen in Kassel; Anspielung auf den Soldatenhandel Fried- 
richs II* von Hessen -Kassel, der 1776-77 fur den amerikanischen Krieg 
12000 Soldaten nach England verkaiift hatte. - 7 Mufiteil: die Halite der 
bei Erbteilung vorgefundenen Speisevorrate, welche der Witwe des Erb- 
lassers zufallen. 

S.yi,z5 Hephata (hebr.): »Tu dich auf!«, vgl. Markus 7,34^ 

S. $5,1 Gin: Die Druckesetzen wohl versehenriich »an«. - 21 Schwa- 
bacher: alter Fraktursatz. - 22 Daniel Nic. Chodowiecki (1 726-1 801): 
der bedeutendste deutsche Illustrator der Zeit. Er hatte auch zum erwahnten 
)>Versuch eines orbis p ictus usw.« von Lichtenberg Tafeln beigesteuert. - 
24 orbis pictus: So nannte Joh. Amos Comenius (1 592-1670) sein groDes 
Lehrbuch in Bildern, das 1658 erschien und bis weit ins 18. Jahrh. verwendet 
wurde. 

S.56,4 Hofmeister: s.o.S. 105, i9fF. — 20 Adjunktus: Gehilfe. 

S. 57,5) Chodowiecki: Ahnlich ruft Theodor G. v. Hippel (s.u. zu S. 134, 
26) in seinen oLebenslaufen nach aufsteigender Linie« 1778, Bd.I, S.2i6 
Chodowiecki zu Hilfe, um eine Szene zu illustrieren. So verlangt aber auch 
schon Sterne nach dem Pinsel Reynolds und Fielding mehr als einmal nach 
der Feder seines Freundes Hogarth. Wirklich hat Chodowiecki diese Szene 
auf dem Frontispiz der ersten Ausgabe dargestellt, bei welcher Gelegenheit 
wohl erst diese Apostrophierung nachgetragen wurde. 

S. 58, 2y Corbey: Ober die Lilie im Kloster zu Corvey vgl. Briider 
Grimm: »Deutsche Sagen«, Nr.264. 

S. 59,^ Robinets-Vexierbild: Jean Baptiste Robinet (1735-68), franz. 
Auf klarer, nahm in seinem Hauptwerk : »De la nature* (5 Bde. 1761—68) wohl 
eine gortliche Ursache der Natur an, verwahrte sich jedoch gegen eine 
Beschreibung des gottlichen Wesens mit endlichen und menschlichen 
Pradikaten. So wird - nach J. P. - Robinets Gottesbild zu einem Suchbild 
Gottes. 

S.6o,/ 3 Stephanus: vgl. Ap. Gesch. 7, 55/56. 

S.65,jj Schulpforte: gemeint ist die 1553 gegriindete Fiirstenschule 
Schulpforta in Sachsen. 

S.6%19 Waldhammer : ein mit dem Signum des Besitzers versehener 
Hammer, mit dem die zum Fallen bestimmten Baume vorher gezeichnet 
werden. 

S.70,zo Wuukelmann (von Bause): verbreiteter Kupferstich nach dem 
Gemalde von Anton Maron. - 18 es geschieht aber wetter hinten: Die Auf- 
klarung wird dem Leser nicht mehr gegeben. — 22 Strohkran^rede: Den 
Strohkranz muBten ehemals in manchen Gegenden gestrauchelte Madchen 
als Schandzeichen am Hochzeitstag tragen. Spater anderte sich der Brauch, 



ANMERKUNGEN 1 245 

und der Strohkranz wurde nun der Braut am Tag nach der Hochzeit mit 
einer scherzhaften Rede uberreicht. — 32 ^ehn deutsche Kreise: 1521 wurde 
das Reichsgebiet, ohne die bohmischen Lande, in zehn Kreise geteilt. Diese 
Kreisverfassung blieb bis 1803 in Kraft. 

$.ji } iff. Sanktorius usw..* In Hallers »Physiologie« (vgl. dort Bd.8, 
XXX. Buch, II.Abschnitt, § 7) werden nur Bernoulli und derengl. Anatom 
Keill angefiihrt, Sanktorius und Blumenbach jedoch nicht erwahnt. Blumen- 
bachs erste Schrift, sein »Handbuch der Naturgeschichtefl erschien auch erst 
nach Hallers Tod. — // Provincial: Landesvorsteher eines Ordens. — 22 
Statua curulis oder triumphalis: eigtl. eine Darstellung des siegreichen 
Herrschers auf dem Viergespann. 

S.72,* 3 Lutherum de causis matrimonii: Luthers Schrift erschien deutsch 
unter dem Titel: »Ober den Ehestand« zuerst 1522. - 26 Nov, 22 c. 25: 
Diese Novelle im vierten Teil des Corpus juris gibt im 15. (nicht 25.) 
liapitel dem Ehemann das Recht zur Scheidung, wenn seine Frau die Nacht 
auCer Haus verbringt. - 30 Langens geistliches Recht: Heinr. Arnold Lan- 
ges »Geistliches Recht der ev.-luth. Landesherren und ihrer Untertanenfl, 
1786 aus dem NachlaB des Kirchenrechtlers herausgegeben, war das an- 
gesehenste Handbuch seiner Art. 

S.73, 20 Origenes: O. (185-254), der groCte Theologe der Ostkirche, 
hatte sich als Jiingling in asketischem Wahn entmannt. - 31 David Hume 
(171 1-76): engl. Philosoph, in seinem beruhmten »Treatise of Human 
Nature« (1739/40). 

S. 74, 7 Keil: Gemeint ist das Buch : »Anatomy of Human Body, abridged 
usw.« (1698) von James Keill (1673-1719), das auch in Deutschland lange 
als Lehrbuch an Universitaten eingefuhrt war. 

S. 76,^5 Silberschlag-Noackitische Arche: Joh. Esaias Silberschlag (1716 
bis 179 1), Oberkonsistorialrat in Berlin, versuchte in seiner »Geogonie« 
von 1780 eine Rekonstruktion der biblischen Arche. 

S.77,/ Moses 1 fFunder:vg\. 2. Mose8, 17L-29 nomenproprium:Eigen- 
name. 

S.78,5 Christian Felix Weifie (1 726-1 801): Jugendfreund Lessings, ge- 
falliger dramatischer Vielschreiber, machte sich durch seine Zeitschrift : »Der 
Kinderfreund« (1775-82) auch als Jugendschriftsteller einen Namen. - 
1 8 Joh. Chr. Edler v. Quistorp (1737—95): Strafrechtsgelehrter, lieB in 
den Jahren 1777-80 seine bBeitrdge zur Erlauterung verschiedener .... 
Rechtsmaterien aus der burgerlichen und peinlichen Rechtsgelahrthein 
erscheinen. 

S.7^,32 Akyessist: Anwarter, Beisitzer. 

S.8o,/7 insinuieren: einhandigen. 

S. 82,7 6 Poussierer: Forthelfer. - 33 Sophi: Titel des persischen Konigs. 

S. 84, 3 1 Affirmant usw..* »Sie behaupten fest, der gleiche Korper konne, 
wenn er sich an zwei Orten befinde, an beiden getrennte, nicht abhangige 
Gestalten haben, so dafi er hier sich bewege, dort nicht, hier warm sei, dort 



I246 ANMERKUNGEN 

kalt, usw. hier sterbe, dort lcbe, hier bald korperliche, dann gefuhlsmaBige, 
dann geistige Beschaftigung ausiibe, dort nicht.* Frei nach den bdisputationes 
selectae theologicaet (1648—55) des Gisbert Voetius* {Arriaga und Bee anus 
waren fuhrende Theologen der Gegenreformation am kaiserlichen 
HofinWien.) 

S.85, 31 Wolfii lecu memorab: Nach Johann Wolffs »Iectiones memora- 
biles et reconditae*, 1600. 

S. 86, / Nuniius a und de latere: papstl. Gesandter erster Klasse. - 4 Ame- 
rika: Angespielt ist im ersten Falle wohl auf die Teilung Amerikas 1493 
zwischen Spanien und Portugal durch den Schiedsspruch Alexanders VI., 
im andern sicher auf die Lustseuche, die angeblich von dort eingeschleppt 
wurde. — 14 Pietro Moskati (1739-1824) : Professor der Medizin in Padua, 
in seinem Buch »Von dem korperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen 
der Struktur der Tiere und der Menschen«, dt. Gottingen 1771. - 21 Pap- 
stin Johanna: Nach einer verbreiteten Sage des i3.Jahrh. regierte nach 855 
eine Frau zweieinhalb Jahre die Kirche, bis die Geburt eines Kindes sie ver- 
riet. Arnim hat den Stoff in einem Drama behandelt. 

5.90. 24 Pertinen{- Mensch: (dazugehoriger) Rest-Mensch. - 33 Grava- 
mina: Beschwerden (urspr. der Reichsstande gegen die rom. Kurie). - 
34 papinianische Magenmaschine : ein von Dionys Papin 1680 konstruiertes 
Gerat, um Knochen zu erweichen und wieder in Gallert zu verwandeln. 

S.91, 9 insolvent: zahlungsunfahig. — 28 f. Leichenprediger : Spater wurde 
diese Predigt in »Dr. Fenks Leichenrede auf den hochstseligen Magen des 
Fiirsten von Scheerau* weiter ausgefuhrt (1797). Schon fur den Anhang 
zum &Titan« vorgesehen, wurde sie erst 1801 gedruckt und dann in die 
oWerkchen« von »Dr. Katzenbergers Badereise« (1809) mit aufgenommen. 

S. 92, /./Anton Friedr. Busching (1724-93): Begriinder der neueren 
Geographic Seine »Neue Erdbeschreibung«, 1754 begonnen, war 1793 noch 
unvollendet. Der Scherz begegnet schon im 4.Hefdein der »Physiognomi- 
schen Reisen* von Musaus (s.u. zu S. 360, 34). - / y Reichsmatrikular- 
anschlag: Steuer fiir das von den Standen aufzubringende Truppenkontin- 
gent. - 18 Kammer^ieler : seit 1548 Steuer zur Erhaltung des Kammer- 
gerichts. 

S. 93, 1 Sachsenhausen: von Frankfurt durch den Main getrennter, damals 
noch selbstandiger Ort. Die halb scherzhafte Animositat blieb bis heute 
sorgsam gewahrt. - 1 3 Monomotapa: einst selbstandiges afrikanisches 
Kaiserreich im heutigen Siid-Rhodesien, seit 1630 verfallen. Allerdings 
pflegte - nach Zedler - das Land nicht dem Kaiser nachzuniesen, sondern 
ihm dabei jedesmal herzlich Gesundheit zu wiinschen. - 16 laxieren: ab- 
fuhren. 

5.94. 25 Ausbruch: edler Wein, zu dem die reifsten Beeren an den Stok- 
ken ausgebrochen weirden. Damals noch auf den Ungarwein beschrankt. 

S.96,4 Sclerotica: Augenhornhaut 

S<97,i> Pistillen, Stigmen, Antheren: Stempel, Stempelspitzen und Staub- 



ANMERKUNGEN 1 247 

gefaBe. - ly u. i$ Pentandria und Dodecandria: die fiinite und elfte Klasse 
in dem neuen System Linnes. -30 Theresianischer Kodex: Die »Constitutio 
criminalis Theresiana«, die osterr. Halsgerichtsordnung von 1768, war mit 
Darstellungen von Folter- und Hinrichtungsszenen erlautert. 

S.98,i Physiognomiscke Fragmente {ur Beforderung der Menschenkennt- 
nis und Menschenliebe: So lautet der vollstandige Titel dieses beruhmten 
Werks iiber die Physiognomik von Joh. Kasp. Lavater (1741-1801). - 
i3Brdune: Halsentziindung. - 21 St.Kilda: die nordlichste Insel der 
AuBeren Hebriden. In den Drucken steht falschlich »St. Hilda« 

S.99, 21 Isolatorium: Gerat zu elektrischen Versuchen, urn die Beruh- 
rung (Rapport) mit dem Boden zu verhindern. 

S. 100,/ 4 Ob er verheiratet sei usw.: Auch Tristram Shandy laBt II, 18 
spottisch offen, ob er verheiratet sei oder nicht. -20 Dispensatorium: 
Arzneibuch fur Apotheker. 

S. 101, 35 Michel-Angelos Petschaft: Das Pariser Kunstkabinett bewahrte 
einen solchen Stein, der als Michelangelos Werk in hohem Ansehen stand. 
Vgl. die kostliche Anekdote um den Steinkenner Stosch, die J. P. im »Leben 
Fibels«, Kap. 20 erzahlt. 

S. 102, 2 Poussiergriffel: richtig Bossiergriffel, Bildhauerwerkzeug zur 
Arbeit in weichem Material. — 3 Leges tackel: Legerohre bei Insekten, durch 
die sie ihre Eier legen. - 31 Rles: PapiermaB, das je 20 Buch oder 480 Bogen 
umfaBt. 

S. 103, 1 2 ablahieren: aufpfropfen, hier verbinden. - 28 Anfurt: Schiffs- 
lande, Anlegeplatz. 

S. 105,-20 Jck kabe mich usw.: So beginnt Sterne das zweite Buch des 
>>Tristram Shandy«: »Ich hab ein neues Buch angefangen, damit ich Raum 
genug vbr mir habe, die Natur der Verlegenheiten zu erklaren, in welche 
mein Onkel Toby ... verwickelt wurde.« — 28 badinieren: schakern, tandeln. 

S. 106, 34 kantschuen: prugeln. 

S. 107 , 8 Backs Kegel: Carl Philipp Em. Bach (1714-88), der »>Berliner 
Bach«, schreibt im ersten Teil seines »Versuchs iiber die wahre Art das 
Klavier zu spielen« (3. Hauptstiick, § 29): »Indessen kann man merken, daB 
die Dissonanzen insgemein starker und die Consonanzen schwacher ge- 
spielt werden, weil jene die Leidenschaften mit Nachdruck erheben und 
diese solche beruhigen.« - 2$f. Bologna: Die alteste Universitat Italiens 
hatte in ihrer Bliitezeit als Rechtsschule hochsten Ruf (Bononia docet). Zur 
Zeit J. P.s florierte dort besonders der Handel mit den kleinen, nach dieser 
Stadt benannten Hiindchen. i 

S.108,20 Recht der toten Hand (droit demainmort):verhaBtes Feudal- 
recht, das in Frankreich dem Lehensherrn das ganze Erbe eines kinderlos 
verstorbenen Untertanen anheimgab. In Deutschland schon im i4.Jahrh. 
dahin gemildert, daB ihm das beste Stuck des Erbes zufiel, das er sich aus- 
wahlen konnte. 

S. 109, 2i Print von ^rtois: Charles-Philippe (1757-1836), der Bruder 



1 248 ANMERKUNGEN 

Ludwigs XVI., wurde von seinem GroBvater 1759 zum Grafen von Artois 
erhoben. Der gewandte, glanzende Hofmann iiberlebte die Revolution und 
wurde 1 824 als Karl X. Konig von Frankreich. 

S. iii,zo Negermarketender : DasMotivistdemBuch: »Erzahlungen von 
den Sitten und Schicksalen der Negersklaven« (von I.E.KoIb) 1789 ent- 
nommen. — 1 Sff. Acker bau y Handel usw. : Zu diesen Gedanken vgl. o. S. 928, 

i 5 ff. 

S. 114,2 Envoye: Gesandter, dem Range nach Stellvertreter des Ambas- 
sadeurs. — 8 Sobouroff: Gemeint ist Alexander Suwurow, Fiirst I tali j ski 
(1730— 1800), der russ. Oberbefehlshaber in den Kriegen mit Polen und dem 
revolutionaren Frankreich. — 21 Quinquennell: Stundungsbrief auf funf 
Jahre. — 28 Moloch: sem. Gottheit, der Menschenopfer, insbesondere 
Kinderopfer, dargebracht wurden. 

S. 116,26 Kalenderpraktiha ; Wettervorhersage. 

S.i 18, 1 Wilsonscher Knopfableiter ; Benjamin Wilson (1721-88), schot- 
tischer Maler und Physiker, konstruierte einen runden BHtzableiter und 
geriet dariiber 1757 mit Benjamin Franklm in eine heftige Kontroverse, als 
dieser fiir die zweckmaBigere, spitze Form eintrat. 

S. 119, 23 a parte ante; Mit »a parte ante« und »a parte post« bezeichnet 
man die Teile der Ewigkeit, die vor oder hinter einem liegen. 

S. 120, 20 Vierherren: Luthers Verdeutschung des griechischen Fiirsten- 
titels : »Tetrarch« fiir die Konige von Israel, von denen jeweils jeder iiber ein 
Viertel von Palastina zu regieren hatte. - 2 5 Konfortativ: Starkmittel. 

S. 121,2 Plethora; Oberfiillung. — 13 Schnurren, Schnacken und Charak- 
teriilge; Titel einer Schrift von J. J. v. Hagen, die dieser in 3 Teilen zu 
Berlin 1783-86 erscheinen lie 13 . - 19 Behemoth; GroBtier, der biblische 
Name des Nilpferdes. 

S.i25,/2 Joh. Matth. Schrockh (1733-1808): ev. Kirchenhistoriker 
(»Christl. Kirchengeschichte«, 45 Bde. 1768-1812) schrieb, durch WeiBe 
(s.o. zu S.78, 5) veranlaBt, eine »Allgemeine Weltgeschichte fur Kinder«, 
1779-84, der 1774 bereits ein »Lehrbuch der allg. Weltgeschichte zum Ge- 
brauch beim ersten Unterricht der Jugend« vorausgegangen war. 

S. 126,? 5 Jak. Friedr. Feddersen (1736-88): Erbauungsschriftsteller, gab 
eine Fiille moralischer Kinderschriften heraus: oBeispiele der Weisheit und 
Tugend aus der Geschichte«, »Lehrreiche Erzahlungen aus der bibl. Ge- 
schichte« usw. 

S. 127,27 ip waren: erg. »es«. Solche Ellipsen sind bei J. P. haufig. - 
31 Vofi seine Jdyllen; s.o.S.29, 3 und die t Anmerkung dazu. 

S. 128, 8 gescheite: In der 2.Aufl. ist nur hier versehentlich »gescheute« 
unverbessert geblieben. - 1 6 Schwabenspiegel: das im 13. Jahrh. kodifizierte 
schwab. Landrecht. 

S. 129,2 o Wildau: s.u. zu S. 1050, 28. - 34 Anmerkung; zielt auf die Er- 
neuerung der klassischen Philologie vor allem durch die Arbeiten von Wolf 
und Friedrich Schlegel. 



ANMERKUNGEN 1^49 

S. 130,2 Joachim Camerarius (1500-74): Philologe und Historiker, als 
Humanist der geistige Nachfolger des Erasmus, schrieb eine griechisch ab- 
gefaBte »Geschichte des Schmalkaldischen Kneges«, die er selbst auch latei- 
nisch herausgab. - y infulieren; (mit dem Bischofshut) bekronen. — 8 Her- 
mes Tdchter:Jak. Tim. Hermes (1738-1821), bekanntdurch seine Romane: 
»Miss Fanny Wilkes« und »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« (6 Bde. 
1769-73) trat haufig und entschieden fur eine hohere Bildung der Frau ein. 
(»Ftir T6chteredlerHerkunft« 1787). - i5 S.Marino-Felsen: kleiner ita- 
lienischer Freistaat bei Rimini. — 21 f* Vossius y Lipsius, Casaubonus; Vom 
alteren Vossius weifi J. P. an anderer Stelle zu berichten, er habe stets die 
Werke des Lukan bei sich getragen; Just Lipsius verfafke eine Reihe von 
Untersuchungen zu Seneka, Isaak Casaubonus veranstaltete 1600 eine Aus- 
gabe der Gedichte des Persius. - 23 Damokles; Klingers Drama von 1790. 

S. 13 1, 6 James Burnett, Lord Monboddo (1714-99) : schottischer Rechts- 
gelehrter und Sprachphilosoph. Sein Hauptwerk : »Of the Origin and Pro- 
gress of Language* wurde 1785 ins Deutsche ubersetzt, wozu Herder eine 
Vorrede schrieb. - 19 Balzac: Gemeint ist der franz. Lyriker Jean L.G. de 
Balzac (1597-1654), dessen groBartig gebaute, rhetorische Briefe viel- 
bewundert waren. Der Sinn der Stelle ist wohl : Ein einfacher, »klassischer« 
Geschmack kann bei Volkern in einen iiberladenen und schwulstigen, »bar- 
barischen* Geschmack entarten. Doch ist der gedankliche Gegensatz mit 
nicht sehr gliicklichen Beispielen belegt. 

S. 132,4 Joh. Georg Hamann (1730-88): philos. Schriftsteller, der 
»Magus des Nordens«, wie ihn Fr. K.v. Moser wegen seines dunklen, orakel- 
haften Stils nannte. Seine kleinen, oft nur aphoristischen Schriften (»Sokra- 
tische Denkwiirdigkeiten« 1759, »Kreuzzuge des Philologen« 1762 usw.) 
hatten die wichtigste Anregung so wohl fur Herder als auch fur den Sturm 
und Drang gegeben. Hamann gestand selbst in einem Brief an Franz Buch- 
holtz aus dem Jahre 1786: »Mein Gedrucktes besteht aus bloflem Text, zu 
dessen Verstande die Noten fehten, die aus zufalligen auditis, visis, lectis et 
oblitis bestehen.« - ij Neuner- Probe : math. Rechenprobe, ob eine Zahl 
durch 9 teilbar ist, (wenn es die Quersumme ist). - 2S Devalvation: Ab- 
wertung. -30 Anthologen: die griechischen Lyriker, deren Lieder und 
Gedichte in der spatantiken »Anthologia Graeca« gesammelt sind. J. P. hatte 
sie durch Herder kennengelernt. - 32 Copiam vocabulorum: »Eine Menge 
(leerer) Worte«. Die Floskel ist als Antwort auf die letzte Frage des vorher- 
gehenden Absatzes zu verstehen. - 34 gradus ad Parnassum: Stufen zum 
ParnaB, s.u. zu S. 1161, 10. 

S. 133,5 Omarsche Verbrennung alter Alten; Nach einer unverbiirgten 
Sage soil der Kalif Omar I. bei der Einnahme von Alexandria im Jahre 642 
die berixhmte Bibliothek der Stadt ein zweites Mai zerstort und mit ihren 
Buchern sechs Monate lang die offentlichen Bader geheizt haben. — 1 4 Chri- 
stian Gottl. Heyne (1729-18 12): vor allem als Lehrer vorzuglicher, klass. 
Philologe. Er trat in zahlreichen seiner Reden und Schriften fur den Ge- 



I250 ANMERKUNGEN 

danken einer formalen Bildung des Geistes durch den Umgang mit den 
alten Sprachen ein. — 28 Ausgabe des Shakespeares : Die erste Gesamtiiber- 
tragung der Shakespeareschen Stucke von J.J.Eschenburg (1775-83) fugte 
einen Anhang mit den Novellen bei, die den Stiicken zugrunde liegen. 

S.i34,2<S»&6er die Ehe« (1774): eine halb, scherzhafte, umfangreiche 
Abhandlung Th.G.v.Hippels (1741-96). Ein Freund Kants und Hamanns, 
schrieb dieser geistvolle Erzahler in den MuBestunden, die eine glanzende 
juristische Laufbahn ihm gonnte, zwei groBe Romane in Sternes Manier: 
»Lebenslaufe in aufsteigender Linie«, 1778, und »Kreuz- und Querziige des 
Ritters A— Z«, 1793, die beide, zusammen mit dieser Friihschrift, stark auf 
den Stil und das Denken J.P.s eingewirkt haben. 

S. 135,2/ Aug. Ludw. v. Schlb\er (1735-1809): Historiker und Publi- 
zist. Er versuchte, vor allem in seinem Buch: »Vorstellung der Universal- 
historie« (1772-73), an die Stelle der ublichen, pragmatischen Geschichts- 
schreibung eine synthetische zu setzen, die sich nicht um eine lineare Nach- 
zeichnung des historischen Ablaufs bemiiht, sondern die Vergangenheit in 
einer Zusammenschau der auBeren geschichtlichen Fakten und Vorgange 
mit den wirtschaftlichen und geistigen Bewegungen begreifen will. — 23 
Ahnlichkeit des Entlegenen: Der ganze SchluCabsatz ist ein wesentlicher 
Schliissel zu den Grundlagen von J.P.s Schreibweise. 

S. 136,* .2 dessauisches Philanthropinwaldchen : ein Wald bei Dessau, der 
zu J.J.Basedows Erziehungsinstitut gehorte, s.u. zu S.235, 5. — 19 Karo- 
lina; die »Constitutio criminalis Carolina«, das erste deutsche Strafgesetz- 
buch. Es wurde 1532 durch Karl V. zum Reichsgesetz erhoben und blieb 
bis in die Mitte des 18. Jahrh., in Preufien bis 1806 in Geltung. - 20 There- 
siana: s.o. zu S.97, 30. - 28 kakochymisch (schlechtsaftig) : ubellaunig, ver- 
stimmt. 

S. 137,* 5 Poenitentiaria: Gerichtshof der rom. Kurie, der uber Ablafl 
und kirchliche BuBen zu befinden hatte. - 28 Parlamenis-Wollensack : Im 
englischen Oberhaus bestanden die Banke aus roten Wollsacken. 

S. 138, 7 Hermes: s. o. zu S. 1 30, 8. -7 ChristianWilh. Oemler (1728-1 802) : 
Konsistorialrat in Jena, gab 1786-89 ein vierbandiges, ubergriindliches 
»Repertorium iiber Pastoraltheologie und Casuistik« heraus, das dem Pfarrer 
. Rat und Hilfe in alien erdenklichen und unerdenklichen Situationen seines 
Berufes geben sollte. - 1 o aquae supra coelestes: iiberhimmlische Wasser 
(vielleicbt analog zu dem Begriff: ftiiberirdische Wasser« als Steigerung ge- 
dacht). - 1 1 humor es peccantes: siindige, schadliche Fliissigkeiten (nach 
Galens Terminologie etwa »Krankheitssafte«). Die Herkunft der beiden 
Ausdrucke - vielleicht entstammen sie der zeitgenossischen theologischen 
und medizinischen Literatur - ist unklar, den Sinn kann man jedenfalls so 
umschreiben : »die uberhimmlischen Tranen seiner Augen begleiteten stets 
die zwei Schuh tiefere Bewegung der ,siindigen Fliifiigkeit' des Bieres.« - 
34 Frais- und Zentherr: ein Gutsherr mit dem Privileg, die peinliche Ge- 
richtsbarkeit auszuiiben. - j5 Feimer: Femerichter. 



ANMERKUNGEN 1 2 5 1 

S. 141,20 Marie Catherine $Au(l)noy (um 1650-1705): franz. Dichte- 
rin, schrieb neben heroischen Romanen die Marchensammlung : »Les illus- 
tres fe>s« (1698), die im 18. Jahrh. unzahlige Nachahmungen gefunden hat. 

S. 142, 1 bureau d* esprit: Versammlung von Schongeistern. - 2Jf. Historie ; 
Diese Geschichte beruhrt sich eng mit dem Marchen von den Sterntalem 
bei den Brttdern Grimm, zumal die abweichende Gestalt des Schlusses 
(S. 142, 6-1 1) eine Erweiterung der 2.Aufl. bildet. 

S. 143,7.9 Dephlegmation: Wasserentziehung. — 31 Veit Weber: Pseud- 
onym furLeonhard Wachter (1762-1837), der durch seine mehrbandigen 
frSagen der Vorzeit* (1787-98) mit ihrer biedermannisch getarnten Schliipf- 
rigkeit einen recht zweifelhaften Ruf besaB. -31 August von Kotqebue 
(1 761-18 1 9): seichter, aber virtuos die Gefuhlseffekte berechnender Dra- 
matiker (»Die KIeinstadter«, »Die beiden Klingsberg«, »Menschenhafi und 
Reue« usw.) und Romanschreiber. 

S. 1 44, 1 7 Versikel: Bibelvers. — 2 1 Contes moraux: u. a. der Titel von Mar- 
montels Erzahlungen (1761), die 1791 ins Deutsche ubersetzt worden waren. 

S. 145, 23 Nouvelles a la main : Handgeschriebene Zeitungen waren schon ' 
friih ublich und besonders im 18. Jahrh. weit verbreitet, zum Teil bedingt 
durch die strenge Zensur. Am beriihmtesten ist Melchior Grimms »Corre- 
spondance Iitterajre, philosophique et critique* (1753^73), an der Diderot 
hervorragenden Anteil hatte. Auch J. P. hatte sich fruher einmal an einem 
fcVierzehn-Tage-Blatw versucht. - 26 Marforio und Pasquino: volkstum- 
liche Namen fur zwei antike Brunnenfiguren in Rom, an denen die Spott- 
vogel ihre satirischen Verse und Pamphlete anzuheften pflegten. - 28 Jour- 
nal fur Deutsckland: Diese von Leop. Th. v. Goeckingk in den Jahren 
1784-92 edierte aufklarerische Zeitschrift trug den genauen Titel: ^Journal 
von und fur Deutschland«. 

S. 146, 26 George Louis Leclerc, Graf von Buffon (1707-88): franz. 
Naturforscher, verfafite mit Daubenton eine umfangliche »Naturgeschichte 
derTiere* (1749-83, 24 Bde.). Seine beriihrnte »Histoire naturelle, g&i&ale 
et particuliere* erschien fast gleichzeitig mit 38 Banden in Paris 1750-89. 

S. 147, 8 Rappimuhh; Handmuhle zum Tabakmahlen. - 16 Regale: 
landesherrliches Recht. 

S. 148,/^ Strata: Grundbuch fur die ersten Eintragungen in der Buch- 
haltung. 

S. 149,77 Fratschlerweiber: Trodlerinnen. 

S. 150,76" Opkir: sagenhaftes, goldreiches Land im A.T. - 31 Idiotikon; 
Worterbuch von den Spracheigentumlichkeiten einer Mundart. 

S. 151,5 Ensoph: mystischer Name fur das hochste, gottliche Wesen in 
der Kabbala. 

S. 152, 2 4 ff. Friederich Georg Jacobi (1743-1809): Dichter und Philo- 
soph, von J. P., der mit ihm spater befreundet war, zeit seines Lebens sehr 
hoch geachtet Die beiden Briefromane: *WoMemart und tEduard Allwills 
Brufsammlung* erschienen 1779 vai ^ 1781, die Abhandlung: %Vber dULehre 



12^2 ANMERKUNGEN 

des Spinoza, in Briefen an Moses Mendelssohn« 1785 und »David Hume iiber 
den Glauben« 1787. — J7 Hamann, s.o. zu S. 132, 4 stand sein ganzes Leben 
gegen die Allgemeine Deutsche Bibliothek und ihren* Herausgeber- Fried- 
rich Nicolai (s.u. zu S.415, 34) in einem heftigen Kampf, der von der 
gegnerischen Seite nicht immer mit lauteren Mitteln gefiihrt wurde und der 
erst durch Hamanns Tod ein Ende fand. - jj Mardochai: der Pflegevater 
der Esther im gleichnamigen Buch des A. T., durch den der Minister Haman 
an den Galgen kommt. 

S. 1 53,5 3 Ignatius-Blech : schutzbringendes Amulett gegen Krankheit und 
Bezauberung. — 24 Lukas- und Agatha%ettel: Sie helfen nach altem Volks- 
glauben, wenn sie mit lateinischen Segensformeln beschrieben sind, gegen 
Brand und Krankheiten. — 25 auch: Die Drucke setzen mutmafilich fehler- 
haft ein zweites »aus«. - 33ff- Anmerkung: s.o. S.36, 5fT. 

S. I54,i> Montaigne: vgl. Essays I, 27. — 13 Ciceros Ideal: vgl. Cicero, 
Laelius de amicitia XVI. — 2S der alte Shandy: vgl. Tristram Shandy II, 19. - 
34j[f* Si ad illam usw. : »Wenn zu jenem tugendhaften Leben (die Bequem- 
lichkeit) von einem Salbflaschchen und einem Schabeisen hinzutritt, wird 
ein kluger Mann das Leben mit diesen Dingen lieber fiihren, auch wenn er 
aus diesem Grunde doch nicht gliicklicher wird.« Der Hauptsatz, von dem 
die Konstruktion abhangig ist und in dem sich Cicero gegen diese stoische 
Meinung verwahrt, ist in der Anmerkung weggelassen. Die Stelle ent- 
stammt Ciceros Schrift: i>uber die Gren^en von Gut und Bose« IV, 12. 

S. 1 56, 24 Abt Galiani: Fernando Galiani (1728—87) : it. Nationalokonom, 
Philosoph und Schongeist, »ein Plato mit den Mienen und Gesten des Har- 
lekin« (Diderot). Als Diplomat in Paris schrieb er seine boshaften »Dia- 
logues des femmes«. J. P. verwechselt iibngens stets den Titel Abbe vor sei- 
nem Namen, der einen Weltgeistlichen ohne Amt bezeichnet, mit dem 
deutschen, nur urspr. synonymen »Abt«. 

S. 157,/ y Hallische Hausapotheke : Die Arzneien, die in den Francke- 
schen Stiftungen zu Halle hergestellt wurden, standen bis in den Anfang 
des 19. Jahrh. in hohem Ansehen. Doch ist hier wohl an eine Sammlung von 
Rezepten und Hausmitteln der dortigen Anstalt zu denken, die auch in Joh. 
Gottwerth Miillers Roman: »Herr Thomas« (Bd.I, FuBnote zu S.356) er- 
wahnt wird. - 19 pres shaft: oberdt. fur bresthaft. - 20 materia medica: 
s.u. zu S.301, 13. - 29 roter Faden: diente in derVolksmedizin zur Heilung 
der Schwindsucht. - 32 peruvanische Rinde oder Chinarinde: Mittel gegen 
das kalte Fieber. - 33 Rock a la peruviinne: ein modisches Kleidungsstiick 
aus geblumtem Seidenstoff. 

S. 158,7 Trepan: Schadelbohrer, »Hirnbohrer« (J.P.). - 27 Tempe-Tal: 
das idyllische Tal des Penaios zwischen Ossa und Olymp in Thessalien, das 
vieien arkadischen Erzahlungen als Schauplatz diente. 

S. 162,2s Bach: s.o. zu S. 107, 8. - 28 Georg Benda (1722-95): Hof- 
kapellmeister in Gotha und gefeierter Klavierist, erregte als Opernkompo- 
nist durch die Neuheit seiner Melodramen (»Ariadne auf Naxos« 1775, 



ANMERKUNGEN 1 25 3 

»Julie und Romeo« 1776, »Medea« 1778) selbst in Italien Aufsehen. - 29 
Mordanten, eigtl. Mordenten: Pralltriller. - z^falscke Quinten: Im strengen 
mehrstimmigen Satz galten Quintenparallelen als fehlerhaft. Vgl. den Arti- 
kel: »Quinten« inSulzers &Theorie der schonen Kiinste und Wissen- 
schaften«. 

S. 163,/ spondaisch: Nach dem Versmafi (lang-kurz) muB hier not- 
wendig trochaisch stehen. Berend vermutet J. P. sei zu dieser Verwechslung 
durch Musaus (s. u. zu S. 360, 34) veranlafit worden, der in den »Physiogno- 
mischen Reisen« wiederholt vom Spondaengang eines Pferdes spricht. - 
2SEpihet: Der griechische Philosoph war der Sage nach durch die Grau- 
samkeit seines Herrn an einem Bein verkriippelt. 

S. 164,5 Lympha: Gewebesaft. — y Infarktus; Verstopfung. 

S. 165, 19 Prefiknechte : s.u. zu S. 188, 30. 

S. i66,z6[^ Jesuiten, Aristokraten, Voltaire: Der Jesuitenorden wurde 
1773, nachdem schon vorher einzelne Lander Verbote gegen ihn erlassen 
hatten, durch Papst Clemens XIV. aufgehoben. Die Aristokraten gerieten 
durch die franzosische Revolution und die Wirkung dieser revolutionaren 
Ideen in eine bedrohliche Situation. Bei Voltaire ist wohl auf dessen mehr- 
fache Verbannung aus Paris angespielt. 

S. 167,-2 leuterieren: svw. lautern. 

S. 168,:^ Ter{ie: der sechzigste Teil einer Sekunde. 

S. 169,18 Haselant: HasenfuB, auch Possenreifier, hier wohl synonym 
mit dem vorausgehenden »Faselhans«. 

S. 170,75? Grofisultan: Wegen dieses Titels s.u. zu S.317, 26. - 20 Fran- 
cois de Salignac de la Motte Fenelon (1641-171 5) : Prinzenerzieher und Pre- 
diger am Hofe Ludwigs XIV., dann Erzbischof von Cambray. Sein Reise- 
und Liebesroman: »Les aventures de TiUmaque^ der ihn bei Hof in Ungnade 
fallen IieB, erschien ohne sein Wissen 1695 in Paris und wurde schnell in 
alle Sprachen iibersetzt. Er diente alien Erziehungsromanen des Jahrhun- 
derts zum Vorbild. - 33 Alexander dem Aristoteles: »Aristoteles bekam von 
Alexander 3000 Menschen, die in 3 Weltteilen Tiere fur ihn zusammen- 
trieben*, notierte sich J. P. in seinen Exzerpten. 

S. 171,^ Bittsteller: In dem o. zu S.25,2 genannten Werk S.40. 

S. 173, 3 vertieren: ubersetzen. - 4 Louis Dominique Cartouche (1693 bis 
1721): Haupt einer Diebesbande, die einige Jahre durch ihre fast sprich- 
wortlichen Streiche Paris in Bann hielt. - 5 Carlo Goldoni (1707-93): Der 
italienische Dramatiker lebte seit 1762 in Paris, wo er trotz allem Ruhm und 
aller Verbreitung seiner Komodien in Armut starb. 

$.ijj,28 Brokardika: kurze, gedrangte Rechtsregeln, wahrscheinlich 
nach einer von Burkard von Mainz (f 1025) hinterlassenen Sammlung von 
Kirchengesetzen, den sog. »regulae Brocardicae« benannt. 

S. 179,5 Claude Adrien Helvetius (171 5-71): franz. Philosoph, erklarte 
sich in seinem Hauptwerk: »De T£sprit« (1758) entschieden und radikal fiir 
einen hedonistisch gefarbten Sensualismus, und grundete darauf wesentlich 



j 2 5 4 ANMERKUNGEN 

sein philosophisches System. — 21 %wei Monche: Nach S. 54,27 waren es 
drei Monche. - 28 ff. : vgl. Nachtrag S. 1311. 

S. i8o,z^ Wetilaer Tor: Das Reichskammergencht hatte seit 1689 in 
Wetzlar seinen Sitz. - ly Styliten: Die Saulenheiligen in Agypten, die dort 
bis ins spate Mittelalter nachweisbar sind, waren keine eigentliche Sekte. 
Als Einsiedler verb rach ten sie ihr Leben biiBend auf Saulen, die bis zu 1 5 Meter 
hoch waren. - 36 Stab Wehe: vgl. Sach. 11, 7. 

S. 181,1/ Morhof: Daniel Georg Morhofs Sammelwerk: »Polyhistor« 
(1668— 1707) hat J. P. haufig zum Exzerpieren benutzt. In den Werken des 
Dichters wird der erwahnte Gelehrte Fortius stets in »Fortins« verschrieben. 

S. 182, 30 EphoTus: Aufseher, in Sparta ein Amt, das dem des rom. 
Zensorsverwandt war. 

S. 185,-2,9 Trancheekatien: erhohte Angriffswerke, um in die gedeckten 
Gange des Feindes Einsicht zu gewinnen. 

S. 186 1 of. damit ich in die Brust nicht steche usw.: Der Satz lautet ver- 
standlicher umgekehrt : »damit ich nicht die Brust sehe, in die ich steche*. 
Zu solchen haufig vorkommenden Umstellungen vgl. etwa U.S. 703, 30 oder 
S.858,11. 

S. 1 87, 7 5 peristaltische Bewegungen : Darmbewegungen. 

S. 188, 22 Malefiirat: Richter beim Blutgericht. - 22 Fakultist: Mitglied 
einer Gelehrten-Innung an den alteren Universitaten. - 30 Prefigange: 
nachtliche Streifziige, auf denen man in England versuchte, junge Leute 
oder Matrosen von Handel sschiffen, die in der Hafengegend sich herum- 
trieben, zum Seedienst bei der Flotte zu zwingen. 

S. 189, 8 Patrimonialgericht : grundherrliches oder Erbgericht. 

S. 1 91, 4 Steingut in ihr en Kopfen: Die sog. Krebsaugen wurden als Arznei 
verwendet. - 6 Daktyliothek: Gemmensammlung. — 10 mephitisck: stickig. 

S.193,*:^ Bendas. Romeo: s.o. zu S. 162,28. 

S. 198, 25ff. Gustavs Bild: s.o. S. 69,25 ff. 

S. 199,70 Baireuther Eremitage: Dort hatte Markgraf Georg Wilhelm 
nach 1715 im Wald vereinzelte Hiitten aus Tuffstein und Holz errichten 
lassen, in denen ein recht frohliches Eremitentreiben sich abspielte. - 34 
Curatores absentis: Sachwalter in Abwesenheit, rechtliche Stellvertreter. 

S. 200, 1 3 papUlotieren : einkrauseln. 

S.202, 24 Horeb: Name des Sinai. 

S.205,j Greveplat^c Auf ihm fanden fruher in Paris die offentlichen 
Hinrichtungen statt. — 3Jf. Wahrhaftig Zeitungschreiber usw. : Zu diesem 
Gedanken verweist Berend auf eine Stelle im ersten Kapitel von Hippels 
»Ober die Ehe« : »Ich weifi wohl, daB alle Autoren mit der hochsten Gerichts- 
barkeit, die iiber Hals und Hand, wie die Kunstverstandigen sich ausdriik- 
ken, gehet, belehnt sind usw.« -20 Abrigis: Ausztige. 

S. 206, 20: Patois: (eigtl. ein bestimmter Dialekt), volkstumliche oder 
»gewohnliche« Sprache. - 27 Wenzel Anton Fiirst v. /Catmi^-Rietberg 



ANMERKUNGEN 1 2 5 5 

(171 1-94): Osterreichs AuBenminister in der Theresianischen Ara. Er war 
bei Erscheinen des Buchs noch im Amt. 

S.207,7.2 Doktor-Grahams-Bette: James Graham (1745-94), Quack- 
salber mit dubiosem Doktorgrad, hatte in seinem mondanen Haus in dem 
engl. Kurort Bath ein »celestial bed« aufgebaut, das gegen Unfruchtbarkeit 
helfen sollte. 

S. 208, 2yBileam unddie Eselin ; vgl. 4. Mose 22, 22-34. - 3 / kartesianischer 
Wirbeh Nach der Lehre des Descartes (Principia philosophica III, 19) be- 
wegt sich die flussige Himmelsmaterie nach Art eines Wirbels urn die Sonne. 

S. 212, 7.9 Ambe: Doppeltreffer im Lottospiel. 

S.216, 8 IVurielfasern: Die Drucke setzen »Wurzelfaser«. 

S. 217, 57 meine Rukestatt: Es muB wohl an dieser Stelle »mein Ruhe- 
statt« gelesen werden, da an ein Wortspiel mit dem Namen des Dorfes nicht 
gedacht werden kann. 

S. 218,77 Morgenland: Dieses Wort gehort zu den auch vom Zeit- 
empfinden mitgepragten Lieblingsvorstellungen des Dichters. So schreibt 
er selbst in der zweiten Vorlesung seiner »Selberlebensbeschreibung«: »In 
fruhester Zeit war das Wort Weltweisheit - jedoch auch ein zweites Wort 
Morgenland — mir wie eine offene Himmelsp forte, durch welche ich hinein- 
sah in lange lange Freudengarten.« Vgl. auch S.614, i6ff. 

S.219, 5 Kirche von S.Adriano: am Forum. Die heute aufgehobene 
Kirche war in fruhchristlicher Zeit in der Kurie des alten rom. Senates er- 
richtet worden. Sie bestand bis 1937. - 24 Scibile: (»das WiBbarec), der 
Wissensstoff. 

S.224, 28 XX. Trinitatis: Es miifite der XXIII. Trinitatis-Sektor folgen. 

S. 225, 4 Empor-Stube: Dachstube. — 36 mahrische Briider: So nannte 
man die Anhanger einer bis ins 17. Jahrh. in Bohmen verbreiteten rel. Sekte, 
aus der mittelbar die Herrnhuter-Bewegung hervorgegangen ist. 

S. 226, 21 Hiskias Sonnenuhr: Um diesem Konig ein Zeichen zu geben, 
liefl Jesaias d ie Sonnenuhr im Palast 1 o Stufen zuriicklaufen. Vgl. 2. Kon. 20, 
9-1 1. - 26 Mosis-Angesicht: Als Moses vom Sinai wiederkehrte, war sein 
Gesicht so voll Glanz, daB niemand ihn anzublicken vermochte und er sein 
Haupt beim Sprechen verhiillen muBte (daher bei J. P. auch haufig die 
Bezeichnung »Mosis-Decke«). Vgl. 2. Mose 34, 29— 35. — 28 Homannische 
Karten; Die Landkarten des Kupferstechers und Geographen Joh. Bapt. 
Homann (1663-1724) wurden bis in J.P.s Zeit haufig nachgestochen. - 
32 Pallium: Bischofsmantel. 

S.227, 3 wie Mitglieder der Berliner Akademie: Die Berliner Akademie 
der Wissenschaften hatte in PreuBen ein Kalendermonopol. 

S.228, 27 Vergleich von iyo5: Die Anspiclung geht vermutlich auf den 
»RezeB wegen der reformierten Religions- und Gewissensfreiheit in der 
Pfalz«, der 1705 zwischen Kurpfalz und PreuBen geschlossen wurde. 

S.23I,* das nachste: der Mund. 

S. 235,5 Philanthropin: Name fur Erziehungsanstalten nach dem Vor- 



I256 ANMERKUNGEN 

bild der Dessauer Philanthropin, die 1774 der Padagoge Joh. Bernh. Base- 
dow (1723-90) eingedchtet hatte. 

S. 242, 1 6 Kanikularferien : Hundstagsferien. 

S. M%3° derpfiffige Phidias: Phidias soil bei der Arbeit an seiner Statue 
der Athena Lemnica in deren Schild sein Bildnis eingemeiBelt haben, um es 
fur die Ewigkeit zu bewahren. 

S.244,z^ preteuse de lete; worth Kopfverleiherin. - 19 dappieren (rich- 
tig tapieren oder toupieren): das Haar hochkammen und in Locken dre- 
hen. -32 Palais royal: einst a Is StadtschloB Richelieus in Paris errichtet, 
dann im Besitz der franz. Konige. Es stand seit den Tagen der Regentschaft 
durch den Herzog von Orleans in iiblem Ruf; besonders seit Beginn der 
Revolution trieben die Dirnen in seiner Umgebung ihr Unwesen. 

S. 247, 1 2 Plumage: Gefieder. - lybekielen: befiedern, bei Klavieren 
durch das Futter auf dem Saitenbelag. 

S. 248, 5 Silbermannisches Klavier: Gottfried Silbermann (1683-1753), 
der bedeutendste Klavierbauer des i8.Jahrh., erbaute das erste Pianoforte 
in unserem Sinn, das bis zur Erfindung des Hammerklaviers in Deutschland 
fuhrend blieb. — 26 palingenesiert: wiedergeboren. 

S.249,7 Galerieiu Floren^: dieheute fast 600 Selbstbildnisse umfassende 
Sammlung der Uffizien, die von Kardinal Leopoldo de Medici (1616-79) 
gegriindet wurde. - 1 2 Philips Wouwermans (1619-68) ; in der Zeit haufig 
kopierter, holh Landschafts- und Genremaler. - ijSalvatore Rosa (161 5 
bis 1673): Maler, Stecher, Dichter und Musiker aus Neapel. Seine drohen- 
den Bildszenarien aus schroffen Felsabsturzen und Meeresbuchten waren 
fur die Bilderfindung und Komposition von Landschaften lange von ent- 
scheidendem EinfluB. — 14 Allan van Everdingen (1621-75): holl. Land- 
schaftsmaler. Er war der Lehrer Ruysdaels, dessen knapp umgrenzte, im 
Vordergrund sorgsam gestaltete Landschaften er kleinmeisterlich vor- 
bereitete. 

S.250,3 Dissemination: Samenverstreuung. - 8 epikurische Abblatterun- 
gen : Epikur lehrte, daB sich alle Dinge wieder in kleinste Bestandteile auf- 
losen, die so lange in der Luft fliegen, bis sie sich wieder zusammenballen 
und ein neues Ding oder Lebewesen erschaffen. - 18 veloutieren: mit Samt 
bespannen. - 28 Idolo del mio cuore: Das Lied findet sich als »Canzonetta 
Veneziana« in den »Oden und Liedern aus den besten dt. Dichtern« von 
Friedr. Wilh. Rust (1739-96), t. Sammlung 1784, S.35. Vermutlich weil 
J. P. sich uber die richtige Form des Wortes nicht im klaren war, lieB er in 
der zweiten Auflage »cuore« wegfallen. 

S. 25 1, / 5 Aderlafimannchen: nackte Figuren, bei denen an alien Gliedern 
durch Zeichen die Stellen angegeben wurden, an denen man sich am giin- 
stigsten zur Ader lassen konnte. Sie waren bis in neueste Zeit in alien Volks- 
kalendern ublich. 

S.2$2 y ioff. Wer nicht hat usw.: vgl Luk. 9,58. 

S. 253, .24 injenem griinen Gewolbe: Das Griine Gewolbe im Westfliigel 



ANMERKUNGEN 1 2 5 7 

des Dresdner Schlosses (1721-24 ausgestattet) barg in seinen acht Raumen 
die vollkommenste Preziosensammlung eines deutschen Fiirsten des 
i8.Jahrh. 

S.256,.2* Hornschroter : Hirschkafer. - 23 Felice Fontana (173 0-1805): 
it. Naturforscher, machte damals durch seine zoologischen Experimente 
viel von sich reden. 

S.257,^^u£ (quae) scit usw.: »Wer zu sterben weifi, lafit sich nicht 
zwingen.« - 4/. majori animo usw. : »Mit hoherem Mute wird der Tod wieder- 
holt, als begonnen.« Frei nach Seneka, Gesprache II, 2, 12. Der Satz wird 
dort auf das Ende des jungeren Cato in Utica bezogen. Dieser durchbohrte 
sich beim Nahen Caesars mit dem Schwert, wurde durch seine Freunde 
gerettet und vollendete seine Tat, indem er die Verbande aufriG und sich 
die Eingeweide zerfleischte. - 9 defaillir: »ohnmachtig werden« und ftdem 
Gericht fernbleiben«. J. P. setzt irrtumlich die Form »defaillante<i. 

S.258,j Mediceische Venus: Zu diesem Wortspiel vgl. u. S.915, iff. — 
6 boue de Paris: »Schmutz von Paris*. Man konnte an eine der damals ge- 
brauchlichen, scherzhaften Farbbezeichnungen denken (z. B. »caca du Dau- 
phin* usw.), vielleicht hat auch J. P. das Wort selbst in Analogie zu »cul« 
und »gorge de Parish gebildet. In jedem Fall mufi man den Ausdruck mit 
»>kunstlichem, d.i. geistigem Schmutz« ubersetzen. - 7 Schriftsteller : Nach 
dem 6. Kap.in J.P.S »ErkIarung der Holzschnitte«, wo dieser Gedanke wieder- 
holt wird, ist Aug. Wilh. v. Thiimmel (1738-1817) gemeint, der liebens- 
wiirdige Verfasser der »Wilhelmine« (1764), dessen »Reise in die mittag- 
lichen Provinzen von Frankreich« damals (1791) eben zu erscheinen begann. 

S. 261,77 Parloir: Sprechzimmer in Klostern. - 23 Ernst Plainer (1744 
bis 1818): Mediziner, Anthropologe und philosophischer Schriftsteller an 
der Leipziger Universitat. Er zog durch die Vielfalt seiner philosophischen 
Studien und Gedanken den jungen J. P. an und war in den Leipziger Uni- 
versitatsjahren 1781-84 der starkste Anreger des Dichters. Vermutlich 
denkt J. P. dabei an Platners »Neue Anthropologies, 2. Buch, 2. Hauptstiick, 
die Abschnitte 2 und 3.-35 Dohnenschneit oder Dohnenstrich: eine Bahn 
von verbundenen Schlingen zum Vogelfang. 

S. 263,2 2 Georg Ernst Stakl (1660-1734), der als Chemiker die lange 
giiltige Phlogistonlehre begriindete, vertrat als Arzt einen Animismus, 
wonach die Seele alle Teile des Korpers einzeln durchfuhle und zusammen- 
halte. Er vertrat diese Lehre vor allem in seiner »Theoria medica vera 
etc.« (1707-37). - 16 Tonus: Spannkraft der Nerven. 

S. 264,12 musivisch: mosaikartig. - 33 taillieren und coupieren: mischen 
und abheben. 

S. 266,57 Strafiburger Uhrwerk: In den Jahren 1547-91 entstand nach 
den Planen Christian Herlins im Strafiburger Minister eine gewaltige astro- 
nomische Uhr. Das alte Uhrwerk, worauf sich J. P.s Bemerkung bezieht, 
stockte 1793 und wurde im 19. Jahrh. neu gestaltet. - 33 National- Versamm- 
lung: Spielt auf die Assembled Nationale an, die damals in Paris tagte (1791). 



1258 ANMERKUNGEN 

S. 268, 20 Ochs Apis: Ehe der Apis-Stier, die Verkorperung des Osiris, 
nach seiner Auffindung in den Tempel nach Memphis gebracht wurde, 
hatten die agyptischen Weiber 40 Tage lang Zutritt zu ihm. - 31 Michaelis- 
ritter aus Spaa: Der Orden des hi. Michael wurde 1469 von LudwigXI. 
von Frankreich gestiftet, stand bis zum Ende des »ancien regime* in hoch- 
stem Ansehen und wurde wahrend der Revolution aufgehoben. In dem 
belgischen Badeort Spaa gaben sich auch Gauner und Beutelschneider als 
Mitglieder des Ordens aus, wie J. P., nach Berend, aus Weckherlins dGrauem 
Ungeheuer« (1785, Bd.4, S.i79ff.) wufite. - 33 Leonhard Euler (1707-83): 
Schweizer Mathematiker, legte seine Gedanken zur Astronomie in seiner 
oTheoria motUum planetarum et cometarum« von 1744 nieder. — 36 Alex- 
ander Graf Cag/iostro, eigtl. Guiseppe Balsano (1743-95): Abenteurer, 
Alchimist und Geisterbeschworer. Er war allerdings seit 1789 bereits in 
papstl. Haft. 

S.269,/7 Pandekten: der Hauptbestandteil und zugleich die zweite Ab- 
teilung des romischen Rechts in der Kodifizierung durch Justinian. - 
2 2 das eherne Meer: Dieses gewaltige Becken im Tempel von Jerusalem 
wurde von 12 Rindern getragen. Vgl. i.Kon. 7, 24-25. - 25 Mlthridates 
der GroBe (132-63 v. Chr.): Konig von Pontus, soil 22 Sprachen, die 
Sprachen aller Vblker seines Riesenreiches, beherrscht haben. 

S.271,5^ tournure: kunstvolle Einkleidung. 

S. 272, if Er erlnnerte sich usw. : Diesen Scherz verdankt J. P. der dritten 
Satire von Edward Young {s.u. zu S.635, 11), wo von einem Zerstreuten 
gesagt wird : »Er macht sich einen Denkzettel, urn etwas zu vergessen.« Das 
Wortspiel, das bei J. P. ofters wiederkehrt, wird in § 47 der »Vorschule der 
Asthetik« als beispielhaft angefuhrt. 

S. 273, 5 Rosenmadchen in Salency: Der hi. Medardus soil zuerst in seiner 
Heimatstadt Salency bei Noyon das Rosenfest eingefuhrt haben, bei dem 
das schonste und kliigste Madchen mit einem Kranz aus Rosen gekront 
wurde. Schon 1774 hatte Adrien Ernest Modeste Gr£try cine Oper: »La 
roziere de Salenci« komponiert. Durch einen ProzeB im Jahre 1776 wurde 
das Fest dann allgemein bekannt und fand in der Schaferwelt des spa ten 
Rokoko viel Nachfolge. 

S. 275,/ 8 prdiipitieren: niederschlagen. -20 Latitudinarier : Freidenker. 

S. 276, 2 o Konnen Sie mich usw, : Das abrupte Durchbrechen eines Selbst- 
gespraches ist Sterne nachgebildet, der diese Technik im »Tristram Shandy« 
virtuos ausgebildet hat. 

S.277,? 1 den sie: Zu »sie« fehlt das Beziehungswort im vorhergehenden 
Satz. Entweder ist beim Schreiben oder im Druck ein Satz ausgefallen. 

S. 285,74 Ottomars Brief: vgl. o.S.2i7ff. 

S. zS6,i2Jf. Erinnerungen: J. P. denkt hier an seinen Jugendfreund Adam 
Lorenz von Oerthel, der 1786 und wie Amandus im Oktober gestorben 
war. Vgl. dazu Tristram Shandy VI, 25 : »Doch was - was ist das gegen 
jenes kiinftige trauervolle Blatt, wo ich das samtene Leichentuch betrachte, 



ANMERKUNGEN 1 2 5 9 

verziert mit dem kriegerischen Ehrenzeichen deines Herrn - des ersten — 
des besten der geschaffenen Wesen.« So riickt Sterne auch nach der Grab- 
schrift Yoricks zwei schwarze Trauerseiten ein (Tristram Shandy I, 12). 

S. 287, yf. aufheben, einkriimmen, fuhlen ; Es fehlen die zugehorigen Hilfs- 
verben, die man wohl mit »konnte« und »muBte« zu ergiinzen hat. 

S. 290,/ 8 inrotulieren: (in einen Rotul, ein Aktenbiindel) zusammenlegen 
und einrollen, d.i. die Akten fur die hohere Instanz fertig machen. — 19 
tockieren: mit dickem Pinselauftrag skizzieren. - 2Sf. Maler und Urbilder: 
Dazu merkt Forster in einer Note zur zweiten Reimerschen Gesamtausgabe 
von 1840 an: »Vor den Augen des Gentile Bellini lieB der turkische Sultan, 
um ihm einen Fehler in der von ihm gemalten Enthauptung Johannis zu 
beweisen, einem Christensklaven den Kopf abschlagen. Philipp Hackert 
hatte von der Kaiserin Katharina u.a. den Auftrag erhalten, die Verbren- 
nung der tiirkischen Flotte durch die russische im Hafen von Tschesme zu 
malen; Graf Orlow lieC fur diesen Zweck den Kiinstler eine russische Fre- 
gatte bei Livorno in die Luft sprengen.« 

S.29i,j6" Pharao: vgl. 2.Mose 1,15 fF. 

S. 292, 6 Erbosung uber den Seligen: Hier klingt zuerst das Motiv auf, das 
dann im Testament van der Kabels in den »FIegeljahren« ausgefuhrt wurde. 
Vgl. Flegeljahre, Nr. i Bleiglanz. — 36 Reinecke: Joh. Friedr. Reinecke 
(1745-87) ist gemeint. Vermutlich kannte J.P. den bedeutenden Darsteher 
nur aus Bildern und Schilderungen. 

S. 294, 1 3 Liripipium : weite, kapuzenartige Kopf bedeckung, die im Mittel- 
alter an Universitaten iiblich war. - 28 Phatanen; Nachtfalter. 

S. 297, 36 Amandus* Seele: Alle Ausgaben lassen hier falschlich »Gustavs 
Seele« stehen, obgleich Zusammenhang und Sinn eindeutig sind. Vgl. auch 
u. S. 396,9 und die Anmerkung. In beiden Fallen erklaren sich die Versehen 
aus der Eile, mit der die zweite Halfte der Arbeit in einem Zug niederge- 
schrieben wurde. 

S. 300, 2 3 Blanchards-Fliigel: Nik. Frangois Blanchard (1738-1809), 
franz. Aeronaut und Konstrukteur, erfand schon mit 16 Jahren ein Flug- 
gerat und arbeitete bis zu seinem Tod an der Entwicklung des Luftballons. 
-31: vgl. Nachtrag S. 131 1. 

S. 301 , 1 3 Nikolais materia medico ; Anton Nikolais »Systema materiae me- 
dicaeadpraxinexplicatae« (1750-52).- 22 materia /jeccanj.* KrankheitsstofT. 

S-302, 20 Schikanedrische Truppe: Emanuel Schikaneder (1751-1812) 
zog seit 1766 als Prinzipal einer angesehenen Schauspieltruppe durch 
Deutschland, hatte sich jedoch seit 1786 fest als Schauspieldirektor, Dichter 
und Schauspieler in Regensburg, spater in Wien etabliert. 

S. 303, 6 Nie hab* ich einen Sektor usw.: Berend verweist zu diesem Ab- 
schnitt auf Tristram Shandy III, 28: »Ich geh* an diesen Teil meiner Ge- 
schichte mit einem so schweren und melancholischen Gemiite, worin sich 
nur jemals eine sympathetische Seele befunden hat. - Meine Nerven werden 
schlaff, indem ich's erzahle. - Bei jeder Zeile, die ich schreibe, fuhl' ich, dafi 



1 260 ANMERKUNGEN 

die Lebhaftigkeit meines Pulses sinkt usw.«, doch unterscheidet beide Stellen 
der ironische Tonfal) Sternes und auch der sehr verschiedene Zusammen- 
hang. — s> unvergejiliche Novemberstunde : die Todesvision am Abend des 
1 5. Nov. 1790, die J. P. als entscheidend fur sein ganzes Leben betrachtete. 

S- 308,34 ein Konig: Ottomar denkt vermutlich an die Abdankung 
Kaiser Karls V. 

S. 312, .2<? Rota (Romana): »romisches Rad«, der oberste Gerichtshof 
der papstliche Kurie. 

S.313,.^ Jocher: Christian Gottlieb Jocher gab 1750 ff. ein »Allgemei- 
nes Gelehrtenlexikon« in vier Banden heraus, das spater oft erganzt wurde 
und noch heute ein unentbehrliches Nachschlagewerk darstellt. — 20 Jenaer 
Re%ensenten: Rezensenten von der »Jenaischen AUgemeinen Literatur- 
zeitung«. 

S. 3 14, 30 Pathognomik : Lehre von den Krankheitszeichen. 

S. 3 1 6, 5 Loren^odose : In Sternes »Empfindsamer Reise« bietet der Monch 
Lorenzo, den Yorick, der Held des Buchs, sehr gekrankt hat, diesem gut- 
miitig Tabak an, ohne der Beleidigung zu achten. Yorick tauscht daraufhin 
seine Tabaksdose gegen die des Monches, um sich seiner heilsam zu erinnern, 
und wird Lorenzos Freund. 

5.317,26" Sultane und Bon^en: In Frankreich geiflelte als erster Montes- 
quieu in seinen beruhmten »Lettres persanes« (1721) die einheimischen 
Laster in orientalischem Gewand, ihm folgten Crebillon, Diderot (»Les 
bijoux indiscrets« 1748) und Voltaire (»Zadig« 1749, »La princesse de Baby- 
lon« 1768 usw.). In Deutschland schrieb Chr. Martin Wieland mit dem 
»Goldenen Spiegel* 1772 und der »Geschichte des weisen Danischmendft 
vorbildliche Erzahlungen dieses Genres. - 28 Pasquino: s.o. zu S. 145,26. 

S. 3 1 9, 1 5 erhabenes Lied: aus der erwahnten Sammlung von Rust (S. 30) ; 
s.o. zu S. 256,28. Der Text ist Herders »VoIksliedern« entnommen (Nr.29: 
»Das Lied vom Bache«): 

S. 3 22, / 4 Stell dich ein : vgl. in der zu S. 25, 2 angefuhrten Schrift S. 3 8. 

S. 323, 2<? Bernard Connor (1660-98); engl. Arzt von Weltruf, erregte 
durch sein grofles Werk: »Evangelium medici seu medicina mystica usw.«, 
1697, in welchem er die Wunder der Bibel, auch die Auferstehung von den 
Toten, medizinisch zu erklaren versuchte, grofies Aufsehen und noch gro- 
Beren AnstoB. - 33 Gerhard: Johannes Gerhardus (1 582-1637), Professor 
der Theologie in Jena, schrieb 9 Bande »Loci communes theo!ogici«, Jena 
i6ioff. 

S. 324, 7 Asop y Pope, Scarron usw. : Die Namen setzt erst die zweite Auf- 
lage ein, da wahrend der Arbeit am Roman Lichtenberg noch lebte. - 
y Paul Scarron (1610-60): franz. Dichter, schrieb Lieder, Stiicke und Bur- 
lesken. Scarron ist bedeutend durch seinen »Roman comique«, beruhmter 
als erster Gatte der Maintenon. - 19 Curtius-Stur^: Auf dem rom. Forum 
klaffte in sehr fruher Zeit ein Schlund, dem verderbliche Dampfe entstiegen. 
Um ein Orakel zu losen, das Rom erst dann Befreiung versprochen hatte, 



ANMERKUNGEN 1 26 1 

wenn es seinen besten Besitz geopfert habe, stiirzte sich der junge Krieger 
M. Curtius mit RoC und Waffen in den Abgrund, der sich uber ihm schlofi. 

8.325,** Origenes; s.o. zu S. 73,20. 

S.326,z Dekoht: Abstid. — 3 Rosenmddcken: s.o. zu S.273,5. 

8.327,* 4 Idylle von Fontenelle: Bernard Le'Bovier Fontenelle (1657 bis 
1757), dessen ^Dialogues des morts« (1683), dessen geistvolle Abhandlun- 
gen und Elogen zu den groflen Zeugnissen der franz. Sprache gehoren, 
schrieb 1688 ein schmales Bandchen »Poesies pastorales*. 

S.328, 26 Lovelace: der Verfuhrer in Richardsons »Clarissa«. - 26 Che- 
valier: Gemeint ist der Vicomte de Valmont, der Held in den »Gefahrlichen 
Liebschaften« des Choderlos de Laclos von 1782. 

S. 329, .9^. Lovelace kingegen usw.: Zum folgenden vgl. Clarissa, Bd.V, 
besonders die Briefe 7 und 35-37. 

S. 330,36" be-Sit^en: Die ungewohnliche Schreibweise ist mit Absicht ge- 
wahlt, um die wortliche Verwendung des Ausdrucks sinnfallig zu machen. 

S.331,5 traganten: Tragant ist eine Art Gummilosung, die auf Mal- 
papier aufgetragen wird. 

S. 332, 6 Assekuranibrief: Versicherungsbrief. — 9 Penny-Post: die 
Stadtpost in London. 

S. 334,32 Brieftauben: Nach der antiken Mythologie wird der Wagen 
der Venus von Tauben gezogen. 

$-338,3* Plenipotentiar : bevollmachtigter Gesandter. - 32 missi regit: 
konigliche Boten. 

S-339,4 Schmaufiens Corpus: Joh. Jak. Schmaufi (1690-1757), Rechts- 
gelehrter und Publizist, gab in zwei groBen Sammlungen das »Corpus juris 
civilis« 1722 und das » Corpus juris gentium« 1730 heraus. — 6 Modejournal: 
s.o. zu S.41,1. 

S. 340, 19-2 o Wieviel besser usw. . Die beiden hier eingeschobenen Zeilen 
gehoren offenbar in einen anderen Zusammenhang. 

S. 342, 1 4 Olla Potrida : »fauliger Topf«, ein spanisches Nationalgericht 
aus Gemuse und Fleisch, hier svw. Potpourri oder Allerlei. - 24 Saillie: 
witziger Einfall. 

$.W7)36limbus infantum: Aufenthalt der ungetauft gestorbenen Kin- 
der, ein Ort ohne Freude und ohne Leid, der wie das Fegefeuer zwischen 
Himmel und Holle gedacht ist. 

S. 348, 32-349, .9 Zusatz der 2.Aufl., um den Fall Gustavs geniigend zu 
rechtfertigen. 

S. 3 5 1, 9 Bologna mit der Freiheit: Bologna war seit dem spaten 1 5. Jahrh. 
vom Kirchenstaat abhangig. — 9 Legende: Umschrift auf Miinzen. 

S. 352,77 Inhdsivprotestation: Beharrungserklarung. - 20 Jakob: vgl. 
i.Mose 32, 25fT. - 33 in meine Stube: vgl. o. S.3i4,iff. 

S. 354, 25 wie der Wilde usw.. Das Gleichnis ist Montesquieus »Esprit 
des lois«, V. 13 entnommen. 

S. 360,32 Heripolype: Fleischgewachs am Herz. — 34 Musaus: Joh. 



1262 ANMERKUNGEN 

Karl Aug. Musaus (1735-87), Romancier und Satiriker, schrieb mehrere 
Romane in der Nachfolge Fieldings und Sternes, darunter die vier Hefte 
»Physiognomische Reisen« (1778-79) gegen Lavater, die J. P. sehr haufig 
zitiert und benutzt. Die folgende Geschichte ist den »Nachgelassenen 
Schriften des verstorbenen Professor Musaus« entnommen, die Kotzebue 
1791 herausgab. Vgl. dort S. 21 und 95 fT. Dort auch mehrere der erwahnten 
Gedichte zum Geburtstag seiner Frau. 

S. 362,/ Exieptionsschrift ; Verantwortungsschrift. 

S. 364, 1 Sff. Neununddreifiigster Sektor usw. : Das Motiv der Erkrankung, 
das den Autor am Fortfuhren seiner Geschichte hindert, taucht bei Sterne 
auf und ruft dort die Reise nach Frankreich im VI. Teil hervor, von der 
ahnlich auch Thiimmel und vor ihm Hippel beeinflufit sind. Aufgenommen 
und an die Grenze getrieben wird dieses Spiel J.P.s in Brentanos Roman: 
»Godwi« (1801). - 2G]oh. Georg Ritter von Zimmermann (1728-95): 
medizinische Zelebritat. Seine Abhandlung: »Ober dieEinsamkeit« (1784 in 
endgiiltiger Form) hatte ihm fruh literarischen Ruhm eingebracht. Er lebte 
als Leibarzt des engl. Konigs in Hannover. — 2j Richter: Das Wortspiel 
mit Aug. Gottl. Richter (1742-18 12) und seinen »Anfangsgriinden der 
Wundar^neihunsn (7 Bde. 1782— 1804) ist erst ein Zusatz der zweiten Aufl. 
Die erste verschwieg bekanntlich noch J.P.s wahren Namen. 

S.365, 23 Lohbeet: mit geriehener Baumrinde gefullter Treibkasten. 

$.366,7.2 Semiotik: Lehre von dem Anzeichen der Krankheit, ein Teil 
der Diagnose. 

S.367, Sff, Schwester: Ahnlich tritt in Hippels »Lebenslaufen« (s.o. zu 
S.134,26) im 4. Teil, S.542, fur den kranken Erzahler seine Gattin ein. - 
77 Joh. Leop. Avenbriigger (1722-1809): Wiener Arzt, wurde schon 1754 
auf die Schallunterschiede beim Klopfen an die Brustwand aufmerksam und 
veroffentlichte 1761 seine Abhandlung: »Inventum novum ex percussione 
thoracis humani, ut signo, abstrusos interni pectoris morbos detegendi«, in 
der er zeigte, daB ein schwacher oder dumpfer Ton auf Krankheiten der Lunge 
hindeute. Erst nach 1808 hat sich diese Erkenntnis weiter durchgesetzt. 

S.368,7 heureusement: Wie Dr. Fenk benutzte auch der Dichter dieses 
Wort gern zur Federprobe. 

S. 370, / 1 Audienia (span, audiencia) : Name fur Gerichtshofe in Spanien, 
die den alten franz. Parlamenten vergleichbar waren, dann auch fur den 
Richter an einem solchen Amt. - 21 Thiimmel (s.o. zu S. 258,7): Er schil- 
dert in seiner »Reise in die mittagl. Provinzen von Frankreich« einen Hypo- 
chonder, der durch eine Fahrt sich von seinen Einbildungen kuriert. - 
2?ff. Willis^ Posidonius y Aetius, Glaser: Das Anhaufen und Vermengen 
bekannter, und unbekannter Arztenamen, auch der Gegenstand selbst er- 
innern hier stark an die Untersuchung des alten Shandy uber den Sitz des 
Verstandes. Vgl. Tristram Shandy II, 20. 

S.371, GOktapla: Achtsprachenbibel, hier etwas gezwungen auf die 
acht Bande von Hallers »Physiologie« umgedeutet. - 29 Favorit-Krankkeit : 



ANMERKUNGEN 1 26 3 

Der Einfall, der im »Hesperus« wieder begegnet (s.u. zu S. 730,7 jH> stammt 
vermutlich aus Fieldings »Tom Jones« II, 13. 

S-373, 3 Johann Kaempf (1726-87): praktizierte mit einer Klistier- 
maschine und von ihm erdachten Pflanzenklistieren gegen Krankheiten des 
Unterleibes, vor allem gegen die Hypochondrie und gab eine Anzahl be- 
schreibender Schriften daruber heraus. 

S-$74,3<Fohismus: s.u. zu S.1099,15. - 4 multum^ non multa: »Viel, 
nicht vielerlei.« Schon bei PHnius, Briefe V, 6, als Sprichwort zitiert. 

S.375,^ in integrum restituieren: unversehrt wiederherstellen. 

S.376, .2 3 Samuel Heinecke (1727-90).* Begriinder des Taubstummen- 
wesens, trat gegen das herkommliche Buchstabieren im Grundunterricht 
und fur eine Lautmethode ein. 

S. 377, z Dissenters (»Andersdenkende«) : Personen und Gruppen in Eng- 
land, die auBerhalb der anglikanischen Kirche stehen. - 22 leidtragende Kan- 
%eln: s.o. S. 110, iff. 

S-379)'^ Blonden: Spitzen aus heller Seide. 

S. 383,^0 Bethesda: Das Wasser dieses Teiches machte nach Joh. 5, 4, 
wenn es von einem Engel bewegt wurde, »jeden gesund, gleichviel an wel- 
cher Krankheit er litt«. — 19 Plinius: vgk PHnius* d. A. »Naturgeschichte«, 
VIII, 16, 14. - 23 Josaphats-Tal: Tal des Kidron, ostl. von Jerusalem. In 
ihm versammeln sich am Jiingsten Tag die Menschen zum Gericht. — 
25 Baquet: Zuber. 

S. 386, 2 3 Medea; Zu dem gefeierten Melodram Georg Bendas (s.o. zu 
S. 162,28) hatte Fr. W.Gotter, der zu Goethes erstem Weimarer Kreis ge- 
horte, einen diirren und unergiebigen Text verfertigt. - 29 Gotth. Friedr. 
Burger (175 3-1 8 16): damals Prediger in GroBenhayn, gab 1789-94 vier 
Bande mit Predigten heraus. »Was J. P. an den recht unbedeutenden Pre- 
digten so, angezogen hat, ist mir unklar; vielleicht bestand irgendeine 
personliche Beziehung.« (Berend.) 

S'389>j* Francois de Ton (1730-93) : franz. Reisender, schrieb »Me" moi- 
res sur les Turcs et les Tartares« (1784). 

S.39CV.9 Freuden: in beiden Ausgaben verdruckt: »Freunde.« 

S.391, 32 Concert spirituel: urspr. ein geistliches Konzert, das in der 
Karwoche an die Stelle der iiblichen Theaterauffuhrungen trat, dann ein 
Konzert in kleinem Rahmen. 

S.392,/^ Kabinettprediger der Topfe; Melanchthon soil sich in seiner 
Jugend an Top fen im Predigen geiibt haben. 

S.393,z6" nach Keifiler: Joh. Georg Key filer (1 693-1743), Reiseschrift- 
steller, aus dessen »Neuesten Reisen durch Teutschland ... die Schweiz, Italien 
usw.« (1740) sich J. P. viele Notizen gemacht hatte. 

S.396,.9 Vierter Freuden-Sektor : Es fehlt die laufende Oberschrift. - 
1 o Fenks: In den Drucken steht versehentlich »Hoppedizels«. Vgl. o. zu 
S. 297,36.- 13 Schrockh; s.o. zu S. 125,12. Er gab 1767-91 in acht I?anden 
eine umfangliche »Allgemeine Biographie« heraus. 



I264 ANMERKUNGEN 

S.400,,9 Epiktets Lampe: Lukian erzahlt von einem reichen Mann, der 
aus dem NachlaB des Philosophen dessen tonerne Lampe fur teures Geld 
erworben habe, in der Meinung, damit auch seine Gelehrsamkeit zu er- 
werben. — 13 Quadrupel-Allian{: Viererbiindnis. Im i8.Jahrh. verstand 
man darunter vorwiegend jenen Vertrag zwischen Frankreich, England, 
Osterreich und Holland von 171 8, der dem Regenten im Falle eines Ab- 
lebens des jungen Konigs die franz. Krone sichern sollte. f 

S.403,.2 Menschenfreuden: Chr. Friedr. Sintenis (1 750-1 826), Verfasser 
von religiosen Romanen und Traktaten, schrieb 1778 »Menschenfreuden 
aus meinem Garten in Zerbst«. — 32 Bartolus: Die Anspielung ist unklar. 
Gemeint ist jedenfalls Bartolo v. Sassoferrato (1314-57), Professor der 
Rechte in Padua, der bedeutendste Jurist des Mittelalters in Italien. 

S. 407,2 5 der Weltweise: Dafur steht in der Erstausgabe noch der Name 
Joh. Christian Wolfts, auf dessen Ideenlehre sich die Stelle bezieht. 

S. 408, 2 8 Lauten{ug: ein Dampfregister an der Orgel und am Cembalo. - 
3 6f. wie in Gras umkleideteB lumen: Zum Verstandnis dieser Stelle vgl. »Hes- 
perus« S. 579, 8 f. : »und in der Nacht sehen die Blumen selber wie Gras aus.« 

S. 409, y Otaheiti (oder Tahiti) : eine der Gesellschaftsinseln. Die Kennt- 
nis dieser Insel und der Brauche ihrer Einwohner verdankt J. P. im wesent- 
lichen J.Georg Forsters »Reise um die Welt* (s.u. zu S. 427, 30). Otaheiti 
wird haufig erwahnt und bezeichnet bei J. P. ein Eldorado oder Paradies 
nach Rousseauschem Geschmack. 

S.415,^^ Christoph Friedr. Nicolai (1733-1811): Publizist, Popular- 
phi losoph und Romancier, ein Freund Lessings und Mendelssohns, war als 
Herausgeber der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« durch Jahrzehnte der 
Gesetzgeber der Berliner Aufklarung. — 3S Schmalhaldiscke Artikel: die 
von Luther 1534 abgefaBten Glaubensartikel, die der Schmalkaldische Bund 
auf dem Konzil von Mantua vertreten sollte; sie wurden aber erst sehr viel 
sparer und in abgeschwachter Form wirksam. 

S. 41 8, p ich hah* es dem Leser auch gesagt: vgl. o. S. 64, 22 ff. - zg V-^ka : 
Gemeint ist »Venzka«, das Gut der Familie v. Spangenberg, auf dem J. P. 
als Lehrer in Topen ofters geweilt hatte. 

S. 419, 6 gewisse Bemerkurig von Ottomar: vgl. o. S.407,28ff. 

S.420, 11 Sechsfinger; vgl. o. S. 293,36. Das Motiv ubernahm J. P. 
spater in den »Hesperus« (vgl. o. S. 629, 19) und wollte urspriinglich sogar 
beide Romane durch diese Gestalt miteinander verbinden. 

Schulmeisterlein Wut\ 

Jean Paul nennt als Entstehungszeit der Idylle den Dezember 1790. Da- 
gegen lafit Eduard Berend es auf Grund der Briefe als sicher erscheinen, daB 
die Erzahlung erst nach den Skizzen des »Falbel« und des »Freudel« ge- 
schrieben wurde, in der ersten Halfte Februar 1791 (vgl. in der hist.-krit. 
Ausg., 1 . Abt. die Einleitung zu Bd. 2, S. XL VIII f.). Nachdem die Arbeit vom 



ANMERKUNGEN 1 26 $ 

Dichter im Marz des Jahres vorlaufig abgeschlossen worden war, iiber- 
arbeitete er die Idylle noch einmal im Oktober des Jahres, wobei die erste 
Fassung wesentlich erwekert wurde, und entschloB sich damals offenbar 
auch, die Erzahlung mit der »Unsichtbaren Loge« locker zu verkniipfen. 
Doch stellte er noch in seinem Begleitbrief an Karl Philipp Moritz (vom 
6. Juli 1792) diesem anheim, ob die Idylle dem Roman »beigeleimt« werden 
solle oder nicht. - Fiir die Neuauflage 1822 ist auch das oSchulmeisterlein 
Wutz« nur stilistisch iiberarbehet worden. Selbst die alte Schreibweise des 
Namens »Wuz«, die J.P.s Gepflogenheiten in dieser Zeit ganz fremd war - 
er schreibt in den Briefen stets »Wutz« -, ist dabei versehentlich unverbessert 
geblieben. Dem Beispiel der Kritischen Ausgabe folgend, haben wir diese 
Anderung uberall durchgefuhrt. 

S.422,i6" Christian: Georg Christian Otto (1 763-1 828) ist gemeint, mit 
dem den Dichter seit seiner Schulzeit eine lebenslange, innige Freundschaft 
verband. Otto stand auch durch Jahrzehnte dem Dichter beratend und an- 
regend in seiner Arbeit zur Seite. 

S.423,z> Gottlieb Cober (1682-1717): Prediger und Erbauungsschrift- 
steller, gab 1 7 1 1 einen » Aufrichtigen Cabinettprediger usw.« heraus, von dessen 
Beliebtheit mehrere Neuauflagen zeugen. 

S.424, 5 Dishabilli: svw. Neglige. - 9 palingenesieren : wiedererzeugen. 

S.425,5 Loretto-Hduschen: Das Geburtshaus der Maria in Nazareth 
wurde der Sage nach 1295 von Engeln nach Loreto in Italien gebracht. Dort 
wird die ocasa santa«, eingebaut in einen gewaltigen Dom, noch heute ver- 
ehrt. - 7 Rousseauische Spa&ergdnge : Rousseaus Spatwerk: ^Reveries d*un 
promeneur solitaire« wurde 17.82 aus seinem NachlaB veroffentlicht. - 
19 Lavaters Fragmente: In den »Physiognomischen Fragmenten« (s.o. zu 
S. 98, 1 f.) waren in 21 Kupferstichen die Lebensabschnitte von Mann und 
Frau jeweils von 10 zu 10 Jahren dargestellt. - 19 Comenii orbis pictus: Auf 
Tafel36 dieses Buches (s.o. zu S. 55,24) waren die sieben Alter des Men- 
schen als Stufen einer Pyramide dargestellt. 

S. 426, 5 physiognomische Fragmente von Lavater: Ihr erster Band erschien 
1778. -10 dem Sckweiier: Die Erstausgabe hat dafiir )>den Schweizer«. - 
29 Federscher Traktat: Joh. Georg Heinr. Feder: »Ober Raum und Cau- 
salitat. Zur Priifung der Kantischen Philosophie«, eine Streitschrift gegen 
Kant (1782). - 26 Ballet: Teilgebiet einer Ritterordensprovinz. 

S. 427, 8 Friedr. Nicolai: s.o. zu S. 41 5, 34. - ti auf einmal: Das stimmt 
nicht ganz, denn Sturms ^Betrachtungen uber die Werke Gottes im Reiche 
der Natur und der Vorsehung« erschienen in neuer, verbesserter Auflage 
bereits 1775-76, Schiller s bRdubert und Kants bKritik der reinen Vernunfa 
erst 1781. - 16 Cookische Reise: Gedacht ist wohl auch hier an Forsters 
»Reise um die Welt« (s. u. zu S. 427, 30), nicht an den von Hawksworth ver- 
faBten Reisebericht der Expedition Cooks. - 29 vorherbestimmte Harmonte: 
Die erste Auflage setzt noch den gelaufigen Terminus : »prastabilierte Har- 
monie«. - 30 Joh. Georg Forster (1754-94) : Naturforscher und Schriftsteller, 



1266 ANMERKUNGEN 

begleitete seinen Vater J. R. Forster auf Cooks zweiter Weltumseglung und 
gab mit ihm zusammen einen umfangreichen Bericht dariiber heraus (»> Ob- 
servations from a voyage round the World.« 1777 dt. : »J. R. Forsters Reise 
um die Welt in den Jahren 1772-7 5 «, ersch. 1778-80). Die Unruhen der 
Revolution trieben ihn als Mainzer Abgeordneten nach Paris wo er elend 
zugrunde ging. - 30 Patrick Brydone (1741-1818): engl. Reisender, schrieb 
»A tour through Sicily and Malta« (1773). - 30 Jakob-Jonas Bjornstahl 
(1730-79): schwedischer Orientalist, dessen »Reise nach Frankreich, Ita- 
lien ... der Tiirkei und Griechenland« 1780-83 ins Deutsche iibersetzt 
wurde. 

S. 428, y Rousseaus vBekenntnisseo-: Sie erschienen in den Jahren 1781-88. 
19 Dionysius-Ohr : Ein von dem Tyrannen Dionysius von Sizilien errich- 
tetes Gefangnis, das, wie ein Trichter zugespitzt, ihn die Klagen seiner 
Gefangenen horen lieB. - 26 Annulus platonis: »Annulus platonis oder 
physikalisch -chymische Erklarung der Natur usw.« Unter diesem Titel 
wurde 178 1 eine Neuauflage der »Aurea catena Homeri« veranstaltet, einer 
alchimistischen Schrift des Herward v. Forchenhamm, die 1723 zuerst ge- 
druckt worden war. — 28 Gyges-Ring: unsichtbar machender Ring, mit 
dessen Hilfe sich nach Herod ot der Hirte Gyges zum Herrscher Lydiens 
aufschwang. 

S.429,* thorax^ caudex, pulexque: die unregelmaBigen Substantive der 
dritten lat. Deklin^tionsklasse auf x, die mannlichen Geschlechtes sind. - 
2 5 Philanthropin: s.o. zu S.235,5. - 28 Guardian; Vorsteher eines Fran- 
ziskanerklosters. - 30 Kruditaten: unverdauliche Speisen. - 32 Bassiano 
Carminati (1 750-1 830): Prof, der Therapeutik in Pavia, untersuchte die 
arztlichen Verwendungsmoglichkeiten des Magensaftes in seinen »Ricerche 
sulla natura e sugli usi del succo gastrico in medicina ed in chirurgia«*" 
(1785). — 33 supernumerar : iiberzahlig, iiberschiissig. 

S>430,z peristaltische Bewegungen: Darmbewegungen. — 5 Ka%ik: 
Stammeshauptling bei den sudamerik. Indianern. 

S.431,/^) Wutiische Kunst y stets frohlick {u sein: »Ars semper gaudendifl 
heifit ein gelehrsames theologisches Werk von Alfonso de Sarasa (1664-67), 
und im AnschluI3 daran nannte Joh. Peter Uz einen Traktat von 1760 »Ver- 
such liber die Kunst, stets frohlich zu sein«. Beide Werke zitiert J. P. ihres 
Titels wegen zu Anfang seines unvollendet gebliebenen »Freudenbiichleins«. 

S.432, 3 Jodit^: In dem kleinen Dorf bei Hof im Voigtland verbrachte 
J. P. einen Teil seiner eigenen Kinderzeit. — 19 Regeldetri: Dreisatz in der 
Mathematik. 

S.433,z 8 Lustrum: Zeitspanne von funf Jahren. - 34 Werthers Freuden: 
»Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers, des Mannes« 
nannte Friedr. Nicolai 1775 seine ebenso schwache, wie bissige Parodie auf 
Goethes Roman. 

S. 434, /_7 Kappfenster: kleines vorspringendes Dachfenster. — 23 Tempe- 
Tal: s. o. zu S. 1 58, 27. 



ANMERKUNGEN 1 267 

S.435,7 Ripienist: Musiker oder Sanger, der nur die Fiillstimme auszu- 
fullen hat. — 1 jf. Johqnna-Therese-Charlotte usw.: Charlotte und Mariane 
heiBen die Geliebten Werthers und Siegwarts, Clarissa und Heloise die 
Heldinnen in den gleichnamigen Romanen von Richardson und Rousseau. 
Ober die Herkunft der ersten beiden Namen ist mir nichts bekannt. - 
*7~437>4 Potentaten: Die Geschichte mit den Potentaten und den PfefTer- 
kuchen wurde erst bei der Oberarbeitung eingeschoben. - 33 vorige Kaiserin : 
Kaiserin Elisabeth (1709-62). 

S. 436,//. Streich- und Streckteich ; Teiche zur Erzeugung und ungefahr- 
deten Aufzucht der Fischbrut. — 29 schottischer Meister: maitre £cossais, 
der hochste Grad in der Freimaurerei. 

S-437, 1 3 Revision des Schulwesens: J. H.Campe (s.o. zu S.25,2) gab 
1785-91 in 16 Bdn. eine ^Revision des gesamten Schul- und Erziehungs- 
wesens« heraus, ein Werk, an dem J. P. selbstverstandlich keinen Anteil 
hatte. - 14 Friedr. Gedike (1754-1803): Padagoge aus der Schule Base- 
dows. Er stammte selbst aus sehr armlichen Verhaltnissen und wuchs fast 
ohne Erziehung und Bildung auf. — 21 Scibile: Wissensstoff. 

S. 43 8,/ Kallipadie: die Kunst, Kinder schon zu erziehen. 

S. 439, 7 j Symbolum Athanasii; ein angeblich von dem Kirchenlehrer 
Athanasius verfaBtes Glaubensbekenntnis, das die Lehre von der Dreieinig- 
keit und der Menschwerdung Christi formuliert. — 36 Langens geistlickes 
Recht: s.o. zu S.72, 30, 

S. 440, j 6 Messiade: Von Klopstocks »Messias« erschienen nach einer 
langen Pause die letzten funf Gesange (nicht drei) im Jahre 1773. 

5.441.1 j Romer; Auf dem Frankfurter Romer, dem Rathausplatz der 
Stadt, stand eine Reihe bekannter Gasthofe. 

S. 442, 6 Nofiel: MaBeinheit, etwa x / 8 Liter. - 33 : vgl. Nachtrag S. 13 1 1. 

5.445. 2 iff. O wie schon ist Gottes Erde; die letzte Strophe von L.G. 
Holtys »Aufmunterung zur Freude« von 1777. Eigentlich lautet die erste, 
von J. P. ganz gegen den Rhythmus wiedergegebene Zeile : »Wie wunder- 
schon ist Gottes Erde.« 

S.446,p metaphysischer Esel: der sog. Esel des Buridan. Nach diesem 
spatmitte la Iter lichen Gleichnis verhungert ein Esel, der zwischen zwei gleich 
groBeHeubiindel gestellt wird,weiler sich fur keines von beiden entscheiden 
kann. Die Geschichte findet sich nicht in den Schriften des franz. Schola- 
stikers Buridan, dem sie zugeschrieben wird. Sie wurde vielmehr wohl 
von seinen Gegnern erfunden, um seine Wi liens lehre zu verspotten. 

S. 447, 7 4 papillotieren: einkrauseln. — 22 Schuli von Paris: Friedr. 
Schulz »t)ber Paris und die Pariser«, 2 Bde. 1791. Die Stelle findet sich in 
Bd. 1, S.397rT. - 28 sponseln oder spannseln: (ein Weidetier an den Vorder- 
fuBen) fesseln. - 28 Chignon; Haarzopf. - 32 Frage^eichen: Hier fallt J. P., 
wie es ihm vor allem im zweiten Teil der Erzahlung noch mehrfach unter- 
Iauft, aus seiner Rolle als Erzahler heraus. 

S. 448, 4 Alpheus (Alphios) : der groBte FluB im Peloponnes. 



1 268 ANMERKUNGEN 

S. 449, 20 Schiffund Geschirr: ein tautologischer Ausdruck fur Geschirr, 
hier svw. die Gesamtheit der Toilettengegenstande. - 3 iff. Sckmetterling : 
Zu dieser Geschichte vgl. die Szene im Tristram Shandy (I, 18), wo der 
gutmutige Onkel Toby eine Fliege, die ihn lange umsumst und geargert 
hat, ebenso zum Fenster hinausfliegen laflt. 

5.452. 6 Sponsalien: Ehevertrag. - 14 Kirchenagende : Kirchenhandbuch. 

5.455.7 Semiotik: s.o. zu S. 366, 12. - 16 Rudera: Oberbleibsel. - 
zy Antikentempel: In Sanssouci hatte Friedrich der Grofle 1765 durch Karl 
v. Gontard fur seine kleine Sammlung den sog. »Antikentempel« errichten 
lassen; in Dresden waren die Antiken und die groBe Sammlung von Ab- 
giissen seit 1786 neu im Z winger untergebracht. — 32 gemaltes Jesuskind: 
auf Corregios beruhmtem Bilde der »Heiligen Nacht«, das sich seit 1746 in 
der Dresdener Galerie befindet, geht alle Helligkeit in Strahlen von der 
Krippe aus. 

S. 45 6, .24 Band und Kreole: Die erste Ausgabe setzt deutlicher: »der 
Obergang, das Band und der Kreole.*- 30 Alltags-Kleider : vgl. o. S. 287, 246*". 
S.tfj^G Konig von Preuflen: Friedrich II. 

Auslauten oder Sieben let{te Worte 

Der SchluBabschnitt wurde zugleich mit der Idylle am <5.Juli an Moritz 
geschickt. Jean Paul schrieb dazu in seinem Begleitbrief: »Ich werde selten 
eine Stunde haben, wo mein Herz so hoch schlug, wo mir fast alle Sinnen 
so vergingen, wie in der Geburtsstunde jener Sieben Worte.« Der Titel ist 
deutlich in Analogie zu den Sieben letzten Worten Christi am Kreuz gesetzt. 

S. 463, 10 Medea: Als Medea mit Jason und dem goldenen Vlies aus 
Kolchis floh, schlachtete sie, um den verfolgenden SchifTen ihres Vaters 
Aietes zu entkommen, ihren Bruder und streute seine Glieder auf der Bahn 
ihres Schiffes ins Meer. — 19 Pikesche oder Pekesche: nach Husarenart ge- 
schnittener, studentischer Rock. 

S. 464, 6 Junius mit der Sense: Schon seit dem Mittelalter werden Juni 
und Juli in der Ikonographie mit der Sense dargestellt als dem Zeichen der 
Monatstatigkeit. 

S. 467, i o %wei Menschen : J. P. denkt an seine beiden frtih verstorbenen 
Jugendfreunde Adam Lorenz v. Oerthel und Johann Bernhard Herrmann. 



Hesperus 

Zur Entstehungszeit des Romans vermerkt das sog. »Vaterblatt«, in dem 
Jean Paul iiber seine Werke Buch zu fuhren pflegte: »Hesperus den 21. Sept. 
1792 — 21. Juni 1794 (1 Jahr, 9 Monate).« Wirkonnen jedoch die Vorarbeiten 
sehr viel weiter zufiickverfolgen, der Plan selbst tauchte vermutlich schon 
wahrend der Arbeit an der »Unsichtbaren Loge« auf und bildet wohl auch 



ANMERKUNGEN 1 269 

den Hauptgrund, warum der Dichter in so ungewohnlicher Weise diesen 
Roman abbrach. So schreibt Jean Paul bei der Obersendung der noch nicht 
zum Druck fertigen »Loge« an seinen Freund Christian Otto (Brief v. 
27.Febr. 1972): »Obrigens ist dieses Pack ein corpus vile, an dem ich das 
Romanenmachen lernte; ich habe jetzt etwas bessers im Kopfe!« Wir haben 
also unter der erwahnten Notiz des »Vaterblattes« nur die Zeit der eigent- 
lichen Niederschrift zu verstehen. Der »Hesperus« erschien dann in drei 
Heftlein in Karl Matzdorffs Buchhandlung in Berlin zum Sommer 1795, 
wobei der Druck, ob er gleich durch den ganzen Winter gedauert hatte, 
doch nur sehr nachlassig ausgefuhrt war. - Der unvorhergesehene, gewal- 
tige Erfolg des Buches machte schon bald eine zweite Auflage notwendig. 
Von kleineren Arbeiten zunachst aufgehalten, unterzog Jean Paul den 
Roman im Fruhjahr 1797 einer durchgreifenden Umarbeitung, wobei er 
die Hauptsorgfalt der auBeren Handlung zuwandte: die undurchsichtigen 
und verworrenen Geschehnisse der Vorgeschichte wurden breiter dar- 
gestellt und nach Moglichkeit sorgsamer motiviert, die Handlungsfaden 
deutlicher aufgezeigt und sinnfalliger aufeinander bezogen. An vielen Stellen 
wurde schlieSlich auch die Charakteristik der Personen durch Einzelziige 
oder eingeschobene Szenen verstarkt. Da Jean Paul selbst im Roman haufig 
auf solche Umarbeitungen und Veranderungen anspielt, werden in den 
Anmerkungen wichtige Einschube und, wo es zum Verstandnis notwendig 
schien, auch einzelne kleinere Veranderungen verzeichnet. Als »zweite, ver- 
besserte und vermehrte Auf Iage« erschien die Neubearbeitung, nunmehr in 
vier (statt drei) Heftlein abgeteilt, 1798 ebenfalls bei Matzdorff. - Dann 
dauerte es bis 1819, ehe Reimer die dritte und letzte Auflage, die zu Leb- 
zeiten des Dichters erschien, veranstalten konnte. Jean Paul begniigte sich, 
wie in der zweiten Auflage der »Unsichtbaren Loge« mit freilich sehr ein- 
gehenden, stilistischen und sprachlichen Anderungen, die den Gepflogen- 
heiten seiner Spatzeit entsprachen : Tilgung des Fugen-S, weitgehende Ein- 
deutschung der Fremdworter, Milderungen und Glattungen im Ausdruck 
(vgl. dazu S.475ff.). Inhaltlich hat er nur gelegentlich Versehen richtig- 
gestellt oder veraltete Anspielungen getilgt. 

Motto: Das Zitat ist in gekiirzter Form dem gleichen Abschnitt der »Teu- 
felspapiere« entnommen wie schon das Motto zur »Unsichtbaren Loge«. Die 
Originaldrucke fugen einen Seitenverweis bei (S. 115), der in unserer Aus- 
gabe entfallt. 

S.475, i5 Campe: s.o. zu S.25,2. - /5Karl Wilh. Kolbe (1766-1835): 
Radierer, Schriftsteller und Sprachforscher. Seine Schrift : »Ober den Wort- 
reichtum der deutschen und franzosischen Sprache* (2 Bde. 1804-06) wurde 
von J. P. sehr geschatzt. - 29 stimtliche Werke: Statt dessen muB in der 
Anmerkung stehen: »Aus meinem Leben«. Das Zitat findet sich bei der 
Charakteristik des StraCburger Historikers Schoepflin im u.Buch von 
»Dkhtung und Wahrheit«. 



I27O ANMERKUNGEN 

S.4j6,i Ernst Moritz Arndt (1769-1860): die publizistische Hauptkraft 
der deutschnationalen Bewegung wahrend und nach der Franzosenherr- 
schaft. Er zeigte sich in den Schriften dieser Zeit von einem oft sehr ein- 
seitigen National stolz. J. P. war tiberdies durch die derben Angriffe Arndts 
in dessen »Briefen an seine Freunde« (18 10) verargert, in welchen er den 
Dichter exemplarisch fur die Verweichlichung und Inzucht des Gefuhls in 
der deutschen Literatur verantwortlich machte. - i5 deutsche Gesellschaft: 
Die »Berlinische Gesellschaft fur deutsche Sprache* (gegr. 18 14) hatte J. P. 
18 1 6 zum auswartigen Mitglied ernannt. - 2.1 Humboldt: Bezieht sich wohl 
auf dessen fruhe Schrift: »Ansichten der Natur« (2 Bde. 1808). - 29 Wil- 
helmi: Berend vermutet unter diesem Namen Gottfried Tobias Wilhelm, 
dessen 1792 ff. veroffentlichte »Unterhakungen aus der Naturgeschichted 
von J. P. ausgiebig exzerpiert wurden. - 30 Lorenz Oken, eigentlich Ocken- 
fuC (1779-1851): der Begriinder der neueren Naturphilosophie, von 
1807 bis 1819 Prof, in Jena. 1813 erschien sein »Lehrbuch der Naturwissen- 
schaft*. 

S. 477, 2.2 Morgenblattbriefe: In Cottas »Morgenblatt« verofTentlichte 
J. P. 18 18 zwolf Briefe »Ober die deutschen Doppelworter«,.in denen er sich 
unter dem EinfluC des Sprachapostels Wo Ike lebhaft fur die Tilgung des 
Fugen-S einsetzte. Dem Wunsch nach Priifung seiner Argumente kam u. a. 
Jakob Grimm nach, der in einem langeren Aufsatz 18 19 J.P.s Beweis- 
fuhrung ablehnte und an vielen Stellen widerlegte. 

S. 478, 6 Ernst Wagner (1769-18 12): Romanschriftsteller. J. P. schatzte 
und forderte ihn als den Verfasser von »Willibalds Ansichten des Lebens«, 
die 1 806 in zwei Teilen gedruckt wurden. - 6 F. H. Freiherr de la Motte- 
Fouqui (1777— 1843), der Dichter der »Undine«, war mit seinen zahlreichen 
Ritterromanen damals der fast am meisten gelesene Romantiker. — 10 er- 
haben ruhig: vgl. etwa o. S.698,7.— 16 Werner und Milliner : %.o. S.i8,i6ff. 
und die betreffenden Anmerkungen. - 3S Goethe: vgl. Faust I, Vers 911. 

S. 480, 7 dienender Bruder (frere servant) : verrichtet in den Freimaurer- 
logen die niederen Dienste, ohne eigentliches Mitglied zu sein. - 8 Meister 
vom schottiscken Stuhl: s.o. zu S. 436, 29. 

S. 483,27 Druckfehler: Die Druckfehler sind in der zweiten Auflage 
leider zum groBen Teil und entgegen dem Versprechen unverbessert ge- 
blieben. 

S.485, jzo aphroditographische Fragmente: »Aphr. Fragmente zur ge- 
nauern Kenntnis des Planeten Venus« ist der Titel einer astronomischen 
Schrift von Joh. Hier. Schroder (1796). - zy Ter^ie: der sechzigste Teil 
einer Sekunde. - 34 Asteriskus: Sternchen (sonst ubertragen verwendet 
fur das Anmerkungszeichen). , 

S.487,7 Prosektor: In der Anatomie der Gehilfe des Chirurgen, der die 
Leichen zur Sektion vorbereitet. 

S.489,7 Homoiomerien: Nach der Meinung des Anaxagoras kleine Ur- 
bestandteile der Materie, die den Dingen gleichartig sind und diese aus sich 



ANMERKUNGEN 1271 

bilden. So setzt skh etwa das Wasser aus unzahligen kleinen, aber in sich 
und zum Ganzen gleichartigen Grundteilen zusammen. - iSfunfte Bine: 
»Und vergib uns unsere Schuld.« 

S. 490, * 8 Deukalion und Pyrrha ; Sie schufen nach der Sintflut ein neues 
Menschengeschlecht, indem sie die Steine der Erde iiber ihre Schulter war- 
fen. - 22 Cherson: Das ehemalige taurische Cherson, die Hauptstadt der 
Krim, war in byzantinischer Zeit eine wichtige Handelsstation auf dem 
Wege von RuBland nach Byzanz. 

S. 491, / 1. Hundposttag: Nur die erste Auflage schreibt »i.Hundposttag«, 
die folgenden lassen die »i« vielleicht mit Absicht weg. da es zu Beginn des 
Kapitels noch ungewiB ist, ob der Biograph weiterschreiben wird. Ahnlich 
nennt J. P. auch das letzte Kapitel nicht mehr »Hundposttag«. Vgl. o. 
S. 1217,20 und die Anmerkung dazu. 

S. 492, 5 Giovanni Battista Riccioli (1 598-1671) : Lehrer fur Astronomie 
am Jesuitenkollegium in Bologna, fiihrte die noch heute iibliche Benennung 
der Mondkrater nach beruhmten Astronomen ein. Sein Hauptwerk : »Alma* 
gestum novum* erschien 165 1. — 12 Haresiarch: Erzketzer. 

S-493,6" Tostato: Nach der ersten Auflage tauscht Viktor die Pfarrers- 
leute durch einen Brief, erst die zweite, in der dieser Absatz stark erweitert 
ist, fuhrt den Italiener Tostato hier bereits als Bo ten Viktors in die Hand- 
lung ein. Die Anderung begriindet J. P. selbst im Text. - 6 Auerbachs-Hof: 
beruhmter Gasthof in Leipzig. - 22 Plutos-Helm; Pluto bekam von den 
Giganten als Dank fur ihre Befreiung eine Kappe, die ihn wie in einer Wolke 
verhullte. - 2S Gygesring; s.o. zu S.428, 28. 

S. 494, .27 Orden^unge: Teilgebiet eines Ritterordens. — 29 Swift: vgl. 
dazu »Vorschule der Asthetik«, § 32. J. P. huldigt dieser Sitte selbst in 
seiner satirischen »Erklarung der Holzschnitte« (1797) und im »Leben 
Fibels« (181 1). 

S. 495, 14 Henri Louis Cain, genannt Lekain (1728-78): bedeutender 
franz. Schauspieler, vor allem ausgezeichnet als Darsteller des Affektes in 
Tragodien. - zS alte griechische Komodie; die politische Komodie des Ari- 
stophanes und Kratinos als Gegensatz zum »neuen« Charakterlustspiel des 
Menander. 

S.496, 24 Kontroversist : Gegner, Widerpart. 

S. 497, 20 Mordanten, eigtl. Mordenten: Pralltriller. — 23 Trauerpferd: 
ein mit einer schwarzen Schabracke bedeck tes Pferd, das bei fiirstlichen 
Begrabnissen im Trauerzug mitgefuhrt wird. 

S.499j* 2 Briiderunitat: Name der Herrnhutischen Glaubensgemeinde. 

S. 500, 35 Prima Plana ; Chargen einer Kompanie, die nicht in Reih und 
Glied stehen miissen. 

S. 502, 4 Ohnehosen : Eindeutschung von »Sansculottes«, wie die auf- 
riihrerischen Proletarier wahrend der franz. Revolution verachtlich von 
den Adligen genannt wurden, weil sie nicht die culottes (Kniehosen) der 



1272 ANMERKUNGEN 

Standespersonen trugen, sondern offene, lange Hosen. — s> Reduktion: Ver- 
minderung, hier Abdankung. 

S. 505,^ Montgolfiers-Kugeln: Die beiden Briider Montgolfier kon- 
struierten 1783 den ersten tragfahigen Flugballon. — 8 Belidors-Druck- 
kugeln; Bernard Foret de Belidor (1693-1761): franz. General und Bal- 
listiker, erfand 1756 die sog. globes de compression, Druckminen von einer 
darnals ungeahnten und verheerenden Wirkung. 

S. 506, 5 Sujohannis: Zum folgendenvgl. o. S. 146, ioflf. und S. 400, 5 ff.- 
y Strata: s.o. zu S. 148,12. - 2.6 Teidor-Insel: vgl. ebenfalls S. 400,5 ff. 

5.507,? 3 Berghauptmann: Vorsteher eines Bergamtes. 

S. 508, 3 Edward Gibbon (1737-94): der bedeutendste engl. Geschichts- 
schreiber des i8.Jahrh. Sein gewaltiges Werk: »The decline and fall of the 
Roman Empire«, das den Niedergang Roms von den Friedenskaisern bis 
zum Fall von Konstantinopel behandelte, wurde 1787 abgeschlossen und 
gait als der absolute Gipfelpunkt der neueren Geschichtsschreibung. - 
3 Justus Moser (1720-94): Staatsmann und Publizist, besaB durch seine 
sehr griindliche, obgleich unvollendete »Osnabriicker Geschichte* (2.Aufl. 
1780) auch als Historiker einen Namen. 

S. 509, 2 3 Voltaires Karl und Peter: J. P. denkt an die beiden fast roman- 
haften Abhandlungen : »Histoire de Charles XII.« (1737) und »Histoire de la 
Russie sous Pierre le Grand« (1759-63), moglicherweise auch nur an die 
erste. 

S. 511,5 und p Kothurn und Sokkus; der hohe und niedere Schuh als 
Kennzeichen fur Tragodie und Komodie, ein alter Topos fur Lachen und 
Weinen. - i 6 Karl Wilh. Ramler (1725-98): Freund Lessings und Nico- 
Iais, Dichter und Essayist. Er gab 1785 zwei Bandchen: ^Salomon Gefiners 
auserlesene Idyllew heraus, worin er die zierliche, filigrane Prosa des Schwei- 
zers in schwerfallige Hexameter iibertragen hatte. — 2j Lohkasten: s.o. zu 
S. 365,23. — 29 Hamadryade : Baumnymphe. 

S. 512, 1 3 paphischer Hain: s*u. zu S. 1027,3. " l 7ff' 2. Hundposttag : 
Dieses Kapitel wurde fur die zweite Auflage vielfach erweitert und die 
Reihenfolge der Erzahlung verandert, in dem Bemiihen, zugleich die ver- 
worrene Vorgeschichte aufzuhellen und den diirren, knapp gedrangten 
Bericht motivierend zu lockern. Vollig neu eingeschoben wurde dabei ein- 
mal die Erzahlung von der Gemahlin des Lords und von seiner Erblindung 
bei ihrem Tode (S.513, 27— 514,13, ebenso alle spateren Bezugnahmen dar- 
auf), zum andern das psychologisch glanzend kontrastierende Gesprach 
zwischen dem Lord und Viktor (8.520,10-20). - i$>f. Eingang: Diese 
Stelle ahmt den Anfang von Hippels »Lebenslaufen in aufsteigender Linie« 
nach. Zugleich erinnert sie an das Fragespiel zu Beginn von Diderots 
Roman: »Jaques le fataliste et son maitre« (franz. erst 1796), der 1792 bei 
Mylius in dt. Obersetzung (aus einer Abschrift des Manuskripts) erschien. - 
2 5 don gratuit : freiwillige Abgabe, die in vielen Landern alsPflichtsteuer ein- 
gefuhrt war. — 30 Titus: J. P. bringt hier das bekannte Wort des Titus: 



ANMERKUNGEN 1 273 

»Diem perdidi« (Ich habe einen Tag verloren) mit der Tatsache in Ver- 
bindung, daB ein Weltreisender, der nach Osten um die Erde fahrt, einen 
Tag verliert oder richtiger einspart. 

S. 513,4 sieben Inseln: Gemeint sind wohl die Sept Isles am Golf von 
St.Malo, — yf. Prin^ v. Wallis, Brasilien und Asturien : die Titel der Thron- 
folger in England, Portugal und Spanien. Die erste Auflage spricht noch 
von einem Prinzen von Kalabrien (dem neapolitanischen Thronfolger), ein 
Titel, der offenbar dem »Monsieur« zugedacht war. Darum ist in den beiden 
folgenden Auf lagen an dieser Stelle und 8.515,16 statt »Asturier« versehent- 
lich »Kalabrier« stehengeblieben. Der Krit. Ausgabe folgend haben wir 
dieses Versehen an beiden Stellen berichtigt. - 6 Monsieur: Mit diesem 
Titel wurde der Bruder des franz. Konigs angeredet. — 31 der Alte vom 
Berge: So iibersetzten die Kreuzfahrer den Titel Scheich el Dschebel (Ge- 
bieter des Berges), den das Oberhaupt der Assassinen fiihrte. 

S. 514, ^7 Kreui- und Quer^uge: Anspielung auf Th.G.v.Hippels (s.o. 
zu S. 1 34, 26) Roman : »Kreuz- und Querziige des Ritters A-Z«. — 1 9 Namen- 
vetter: vielleicht der engl. Astrologe und Arzt Nicolas Culpepper (1616 bis 
1654). — 30 conscientia duhia; zweifelhaftes Gewissen. 

S-5i5,zj wie Kotiebue: August v. Kotzebue (s.o. zu S. 143,31) ging 
1790 aus Kummer iiber den Tod seiner Gemahlin nach Paris und beschrieb 
die Reise ein Jahr spater in seinem Buch: »Meine Flucht nach Paris im 
Wintermonat 1790.* 

S. 516,^ Mauerkrone: eine Krone aus Gold oder Metall, die dem 
Ritter oder Soldner iiberreicht wurde, dei ills erster die Walle einer 
feindlichen Stadt im Sturm erstiegen hatte. - 3 Joujou de Normandie: 
Rollradchen, um 1790 und neuerdings wieder in Mode gekommenes 
Ballspiel. - 14 wie Cicero verlangt: in »Laelius de amicitia«, XVI. Vgl. o. 
S. 154,13. 

S. 517,^7 Weisel: Anfiihrer, besonders Bienenkonigin. 

S. 518,^2 Uriasbriefe: Urias, dem Gemahl der Bathseba, wurde auf 
Davids Befehl ein Brief mitgegeben, der die Weisung enthielt, den Uber- 
bringer im Kampf an die gefahrlichste Stelle zu stellen; dort wurde er dann 
auch erschlagen. Vgl. 2.Sam. 11. 

S. 519,/p Otaheiter: s. o. zu S.409,7. Die Erzahlung von dem Namens- 
tausch der Otaheiter wird auch im »Siebenkas« Kap. 2 (Bd.II unserer Aus- 
gabe S. 167,5) erzahlt. Sie beruht auf einer Bemerkung im VIII. Hauptstuck 
von Forsters Buch. 

S. 520, 9 Pulververschwbrung: Anschlag von katholischen Fanatikern, 
Jakob I. und das Unterhaus bei der ParlamentserofTnung 1605 in die Luft 
zu sprengen. 

S. 521, 6 Royalbogen: sehr grofier Bogen Papier. 

S. 522,*/ Samielwind: Samum, der heiBe afrikanische Sandsturm. - 14 
conjunctio concessiva: einraumende Partikel. 

S. 523,22 Epihets Handbiichlein: Das »Enchiridion«, das ein Schiller des 



1 274 ANMERKUNGEN 

Epiktet, Arrianus, nach dessen Lehrvortragen zusammenstellte, gehorte zu 
den wesentlichen philosophischen Eindriicken des junger J. P. - 28 Pan- 
dekten : s. o. zu S. 269, 2 j. 

S. 524,75 Psalter (ndt. salter) Vordermagen von Wiederkauern, - 
26 und 2y Podagra und Chiragra: FuB- und Handgicht. 

S. 525, 23 musivisch: mosaikartig. 

S. $26,22 Lady Maire: Analogiebildung zu der alten Form Lord Maire 
(Burgermeister von London). 

S. 527, 7 6 dictum probans : Beweissatz, - ij Pasquino: Name eines sagen- 
haften rom. Schneiders, der seine bissigen Spottverse auf einer spater nach 
ihm benannten antiken Eigur (s.o. zu S. 145,26) anzuschlagen pflegte. — 
ij magister sententiarum : s.o. zu S. 29,7. — 18 Ldstergeschichte : Eindeut- 
schung von )>chronique scandaleuse«. Die zweite Auflage schreibt noch 
»skandalose Chronik«. 

S. 528,;/ almanac royal: Im Hofkalender wurden Namen, Rang und 
Adresse der zum Hof gehorigen Standespersonen und ihrer Gefolgsleute 
verzeichnet. — 3S allgemeine Welthistorie s. u. zu S. 638, 18. 

S. 529,7 Gravamina: s.o. zu S. 90,33. - i5 Regensburger Ansagieitel: 
Die Langsamkeit des Geschaftsganges auf dem Regensburger Reichstag 
war so sprichwortlich wie die vor dem Wetzlarer Kammergericht. 

S. 530, 34 Quinterne: HaupttrefFer, alle fiinf moglichen Gewinnzahlen im 
Lotto. 

S. 531, 3 Ambe: s.o. zu S.212, 19. - 4 die Periode: Berend macht hier auf 
das Wortspiel aufmerksam, daB sich »die Periode* gleichzeitig bezieht auf 
»>die zweite Liebesperiode und auf den abgebrochenen Satz, obgleich J. P. 
das Wort in der letzten Bedeutung sonst mannlich gebraucht«. 

S. 532,^7 sieben Weihen: die sieben Weihegrade bei der Priesterweihe. 

S. 536,7^ Flamin: Das folgende Portrat Klotildens stand in der ersten 
Ausgabe erst nach S. 541,32. — 24 von: moglicherweise Druckfehler fur 
»vor«. 

S. 538,7 Pastor fido (der getreue Schafer): Liebhaber, urspr. der Titel 
von GuarinisberuhmtemSchaferspiel:»Il pastor fido« (1585). - 18 Respekt- 
oder Respittage: Fristtage, die nach dem Verfall eines Wechsels noch ge- 
wahrt werden. — 28 Doppel-Uso: doppelte Wechselfrist. 

S. 541,76" Exordium: Einleitung. 

S. 542,5 Omai (richtig O-Mai) : ein Tahitier, den Cook von seiner Reise 
mit nach England brachte, der dort zwei Jahre lebte und groBes Aufsehen 
erregte. Vgl. Forster in der Vorrede zur »Reise um die Welt in den Jahren 
i772-74«. - 9 Li-Bu: Konigssohn von den Pelew-Inseln, der von Kapitan 
Wilson 1783 ebenfalls nach London gebracht wurde, dort aber schnell 
starb. Ober ihn berichtet G. Keate in »Nachrichten von den Pelew-Inseln«, 
dtsch. von Forster 1789. 

S. 543, 7 6* Fontenelle: s. o. zu S. 327,14. - 26 Crebillon: s. o. zu S. 28, 19. - 
26 Pierre Carlais de Marivaux (1688— 1763): schrieb noch vor Richardson 



ANMERKUNGEN 1 275 

zwei bedeutende empfindsame Romane: »La vie de Marianne* (1731-36) 
und »Le paysan parvenu« (1735), die auf die englische Romankunst stark 
eingewirkt haben, und eine Menge geistreicher und grazidser Komddien. 

S. 544, 5 Pillory: Pranger. — 10 Makarius der Grofte (um 300-390): 
agyptischer Einsiedler, unter dessen Namen sich 50 Homilien, theologische 
und mystische Traktate, erhalten haben. Diese seine Lehre fand in einigen 
russischen Sekten Verbreitung, wahrend sie im Westen bald abgelehnt 
wurde. - 1 9 Aristoteles : Vgl. Poetik II. - 24 Luperkalien: s.o. zu S.48,24. - 
28 Ordalien: Gottesurteile im Mittelalter. 

S. 546^7 Fontenelle: Gemeint ist Fontenelles Schrift: »Les entretiens 
sur la plurality des mondes« (1686). 

S. 547,/^ homiletisch: kanzelrednerisch. - 2j Goethes moralisches Pup- 
penspiel: »Das Jahrmarktsfest in Plundersweilen«, eine satirische Posse des 
jungen Goethe von 1773. 

S. 548, 6 hogarthisch.es Schwan^stuck : s.o. zu S. 47,21. — 11 Blumauers 
Aneis: Aloys Blumauer (1775-98), Wiener Literat der Aufklarung, nach 
1781 langere Zeit Zensor in Wien, verfertigte 1783—86 eine plumpe Tra- 
vestie der Aneis: »Abenteuer des frommen Helden Aeneas.« — 11 Julian 
Offray de La Mettrie (1709-51): franz. Philosoph (»L'Homme machine« 
1743) und glanzender Satiriker. EineRadierung vonSchmitt zeigt ihn darum 
als Demokrit, den lachenden Philosophen, mit einem breit zum Lachen ver- 
zogenen Mund. Das Bild ubernahm Lavater in seine »Physiognomik«, auf 
die sich J. P. vermutlich bezieht. — 13 Vademecum; Die Titelblatter des 
Berliner Vademecums (s. u. zu S. 905, 8) waren mit einem lachenden Gesicht 
geschmiickt. 

S. 551,/ 6" me der Areopag: Vor dem athenischen Areopag war das rheto- 
rische Ausschmiicken der Rede untersagt. 

S. 552, 26" musikalischer Armsessel: Die Nachricht uber diesen wirklich 
existierenden Stuhl »entnahm J. P. einem Aufsatz uber das furstliche Lust- 
schlofi Esterhaz in Ungarn in der Literatur- und Theaterzeitung, 1782, 
S. $i« (Berend). 

S. 553, 9 Meister vom Stuhl: der hochste Grad innerhalb einer Frei- 
maurerloge. 

S. 555, J2p Narrenschiff volt romantischer Originalromane: Im »Narren- 
schiff« des Sebastian Brant von 1494 werden die Narren und Torheiten der 
Zeit unter dem Bild einer Schiffsreise versammelt, und zugleich heftig und 
derb gegeifielt. Ober J.P.s Stellung zu den romantischen Originalromanen 
s.o. S. 17, i2ff. und die betreffenden Anmerkungen. 

S. 556, 8 Maupertuis* Halbsonnen: Pierre Louis de Maupertuis (1698 bis 
1759), f ranz * Physiker, trat gegen die Cartesianer fur die Auffassung New- 
tons von der Gravitationslehre ein. Er vertrat seine sehr eigenwillige Theo- 
rie von den »Halbsonnen« in einer umfangreichen Abhandlung: »Discours 
sur la figure des astres« von 1732. - 20 Subsidienvertrag: Hilfeleistungs- 
vertrag. 



I276 ANMERKUNGEN 

S. 557,77 das Gam weifi sieden: ein Brauch in J.P.s Heimat und in der 
benachbarten Oberpfalz. 

S* 559? 30 Cansteinische Bibel: Bibel aus der von Karl Hildebrand von 
Canstein 17 10 gegriindeten Halleschen Bibelanstalt, die viel zur Verb rei- 
ning der Heiligen Schrift unter das Volk beitrug. 

S. 560, 2 Seileriscke Bibel-Ckresthomathie : »Die heilige Schrift des alten 
Testaments im Auszug samt dem ganzen neuen Testament... mit Anmer- 
kungen von G. Fried r. Seiler«, Erlangen 1781. Schon in den »Teufels- 
papieren« hatte J. P. gegen den von ihm wenig geschatzten Bayreuther 
Konsistorialrat und Erlanger Theologieprofessor vom Leder gezogen. — 
7 Lautens: J. P. folgt hier wie ofters der Abneigung des dilettantischen 
Sprachforschers Wolke, dessen Marotten er in seiner Spatzeit haufig an- 
nahm, -gegen den Umlaut. - $ Kennikottisten: Der engl. Theologe Benja- 
min Kennicott (1718-83) veranstaltete mit einer groBen Schar von Mit- 
arbeitern in den Jahren 1776-80 eine Ausgabe des Alten Testamentes mit 
den Varianten. Doch gelang es ihm nicht, die gesuchte Urgestalt des Textes 
uberzeugend herzustellen, so daB er viel Tadel, Ablehnung und Spott er- 
fahren muBte. 

S. 561, 5 portugiesische Israeliten; Anspielung auf die noch zu J.P.s Zeit 
wahrenden Judenverfolgungen durch die Inquisition. - 1 2 Christinens ver- 
legte Krone: Christine von Schweden dankte 1654 zugunsten ihres Vetters 
Gustav von Zweibriicken ab und zog sich nach Rom zuriick. - 23 orbis 
pictus: s.o. zu S. 55,24. — 32 Melanchthon: s.o. zu $.392,18. 

S. 565,^ Fufigeburt: Geburt, bei welcher das Kind mit den Beinen 
zuerst auf die Welt kommt. - 10 Basselisse: tiefkettig gewebter Wand- 
teppich. 

$.<)66,iS beneficiis juris usw.; »Rechtswohltaten - der unversehrten 
Wiederherstellung — der Ausnahme hochster und allerhochster Verletzung — 
der Entschuldigung - Lossprechung usw.« - 23 Renuniiationsakte : Ver- 
zichterklarung, besonders die Akte, mit der Philipp V. von Spanien das 
Erbrecht an Frankreich abtrat. - 2 5 Media teur: Mit tier, Schiedsrichter. - 
25 Austragatgericht : ein Gerichtshof, oft von den Parteien selbst gestellt, 
der uber Streitigkeiten zwischen den Reichsstanden in erster Instanz zu ent- 
scheiden hatte. 

S. 568, 2 in den Weinen: Der Sinn der Stelle ist unklar. Vermutlich ist 
»in den Weinen« ein Lesefehler des Setzers, den J. P. in alien drei Ausgaben 
unverbessert gelassen hat. - 5 Randelmaschine : dient zum Pragen des ge- 
zackten Randes bei Miinzen. - 16 Arndts Paradiesgartlein : die Gebet- 
sammlung: »Das Paradiesgartlein voll christlicher Tugenden« (16 16) des 
Erbauungsschriftstellers Johann Arndt (1555-1621). - 2J-3S Lob des 
Gartens: Einschub der zweiten Auflage. 

S. 571,-2 Erhebung von 4$° : Die Szene, erinnert an Tristram Shandy II, 
17 und VIII, 25. 

S. 572, 22 Tetragrammaton ; Namenszug Gottes, da er in vielen Sprachen 



ANMERKUNGEN I 277 

aus vier Buchstaben besteht. - 2 5 Diebs-Daumen: Daumen, die man von 
Leichen am Galgen abschnitt, sollen zauberische Krafte besitzen. -30 
Habakuks Engel: Nach Daniel 14,33-39 tragt ejn Engel den Propheten 
Habakuk zu Daniel nach Babylon, damit er diesen in der Lowengrube mit 
Essen starke. — 31 Novelle: hier im Sinne von Neuigkeit. 

S. 573,-24 Ripienstimme : Fullstimme. 

S. 575, 2S subhastieren: an den Meistbietenden versteigern. 

S. 576, 23 Pandekten in Floren%: Seit 1406 benndet sich eine unversehrte 
Handschrift der Digesten (lat. Name fur Pandekten) des Justinian aus 
dem 6.Jahrh. in Florenz. - 24 Wiener keiliger Leib; beriihmte Reliquien 
in einigen Kirchen Wiens, deren Beriihrung wundertatige Heilung be- 
wirken soil. 

S. 578, 2 Rikoschetschiisse : Prallschusse, bei denen die Kugeln, wie flache 
Kiesel auf der Wasseroberflache, mehrfach aufschlagen, um die feindlichen 
Geschutze auf den Bastionen auBer Gefecht zu setzen. - 1 z Sckwabacher: 
alte Frakturschrift. - tSff. Vgl. dazu o. S.423,29fT. In beiden Fallen wirken 
personliche Erfahrungen und Gewohnheiten nach. — 28 Blonden; Spitzen. - 
3$ wie Gulliver: vgl. Gullivers Reisen Teil I, Kap. 2. 

S. 579, 2if. Bendas Romeo: s.o. zu S. 162,28. Die Worte gehdren noch 
zum Rezitativ der Arie. 

S. 583,^30 Palladium: Kultbild der Athene, an dessen Besitz die Erobe- 
rung von Troja gekniipft war, dann iiberhaupt svw. schiitzendes Heiligtum. 

S. 584, 2 Dehortatorium: Abmahnungsschreiben. — 12 Audien^a: s.o. zu 
S. 370, 1 1. 

S. 585,5 Bettiopf: Lederriemen iiber dem Bett, um das Aufstehen zu 
erleichtern. 

S. 588,/ o Profefihaus: In ihm wohnen die Mitglieder des Jesuitenordens, 
welche bereits Profefi abgelegt haben, d.h. im Besitz der hoheren Weihen 
sind. 

S. 590,2/ sinesische Sckatten: die Figuren beim Schattenspiel. - 13 Stoa 
und Portikus: Wandelhalle und Vorplatz. - 3$ Geiferfleckcken: Latzchen 
fiir Kinder. 

S. 59*,? 4 Mosis-Glan^: s.o. zu S. 226, 26. - 33 magnetische Sensen: Eisen- 
stangen konnen durch langes Hammern magnetisch gemacht werden. - 
36 Grofiavanturhandel: Handel a la grosse aventure (engl. Respondentia) 
nennt man im Seerecht das Geldleihen eines Kaufmanns auf Waren, die er 
verschtrTt, unter der Bedingung, bei Loschung der Waren das Geld wieder 
zuriickzuzahlen, im Falle des Verlustes aber nicht. 

S. 592,5 Spiralwiirste von Lausewen^el: Tabakrollen aus einer schlechten 
Tabaksorte. - 19 Plutarchin: Plutarch stellt in. seinen Lebensbeschreibun- 
gen jeweils die Vita eines Griechen und eines Romers gegeniiber, die er 
dann in einem dritten Teil vergleicht. 

S. 593,/j > Kammeriieler: Steuer fur das Reichskammergericht. - 13 
Karitativsubsidien : Wohlfahrtszuwendungen. 



1 278 ANMERKUNGEN 

S-594,* 3 grossieretes : Widerwartigkeiten. - 2 y gorge und cut de Paris: 
»Unterziehbusen und UnterziehsteiB« nennt J. P. selbst beide Geratschaften 
wenig vorher (s.o. S. 547, 23). — 31 Kaperbrief: Regierungsvollmacht zur 
Freibeuterei. — 36Hieron. cont.Jov. L. 2: die zwei Biicher derStreitschriften 
des Hieronymus gegen den freigeistigen Theologen Jovinian von 393. 

S> 595j * 3 Z ett des Psatmbetens : die nachtlichen Stunden der Versuchung. 
Pierre Bayle (1647— 1706) erzahlt an der betreffenden Stelle seines »Diction- 
naire historique et critique« (zuerst 1695-97) von dem irischen Monch Ald- 
helm, der nachtlicherweise oft vom Teufel in Gestalt eines buhlerischen 
Weibes in Versuchung gefuhrt wurde, er habe seine Tugend bewahrt, in- 
dem er laut den Psalm betete. 

S. 596,20 Fungiten: Schwammkorallen, pilzartige Versteinerungen. - 
21 strombi: versteinerte Fliigelschnecken. — -26*Petrus Camper (1722-89): 
bedeutender Forscher der vergleichenden Anatomie, wies in einer Preis- 
schrift aus dem Jahre 1779 die anatomischen Unterschiede zwischen Mensch 
und Orang-Utang nach. 

S. 597, J-^ postiche-Tod: Aftertod. 

S. 599, 23 travestierte Aneis: s.o. zu S- 548,11.. — 26 chambres ardentes: 
zwei Gerichtshofe im alten Frankreich, die fiir Giftmord und Ketzerei den 
Feuertod zu verhangen hatten, dann auch der Name der gefurchteten 
Sondergerichte La Regnies unter Ludwig XI V. aus den Jahren 1677-80, 
in denen die Giftmorde der Voisin untersucht wurden. - 32 Hoffurier: 
Hofbedienter, der die Befehle des Hofmarschalls auszufiihren hat. — 34 
Essigalchen: kleines Infusionstier, das im Essig auftritt. 

S.600, 3 Roturier: Mann von niederem Stand. 

5.601.21 Philipp Jakob Spener (1655-1705): evang. Theologe, der Be- 
griinder des Pietismus. Ihm wurde von seiner Jugend an ein ernstes und 
gesetztes Wesen nachgeruhmt. - 21 Kato: Von Cato dem Jtingeren weiB 
Plutarch zu berichten, er habe bereits als Kind selten gelachelt, nie gelacht. 

S.603, 26 Ichor: Blut der Gotter. 

S.604, 35 Note: Diese Anmerkung des Dichters zieht Emanuels Traum 
so eng in die eigene Erlebnissphare, daB die Anmerkung zunachst weder 
Emanuel noch J. P. ohne weiteres zuzuordnen ist. 

S. 606, 1 8 Styliten : s.o. zu S. 180,18. - 2S gan% anders: Die ersten beiden 
Auflagen schreiben umgekehrt »so wie«. Durch diese Sinnverkehrung der 
Ietzten Auflage geht nun allerdings der stilistische Aufbau der Stelle verloren. 

S.6o8,z£ scholastischer Esel: s.o. zu S.446,9. 

S.6o%2of. privilegium de non appellando: das durch die Goldene Bulle 
den Kurfursten gewahrte Recht, daB von ihrem obersten Gerichtshof aus 
nicht weiter appelliert werden darf. 

S.6io,i i Petermannchen: eine Fischart, die den Makrelen verwandt ist. 
Zur Geschichte selbst vgl. Matth. 17, 27. - 12 Stater: grofites Silberstuck 
der attischen Wahrung. 

5.611.22 servitus oneris ferendi: das Recht, sein Haus auf ein Nachbar- 



ANMERKUNGEN 1 279 

gebaude zu stiitzen. — 23 servitus projiciendi: das Recht, sein Ha us auf 
benachbartes Grundstiick uberragen zu lassen. — 28 Friedrich der Anti- 
machiavellist ; Berend zitiert aus dem 1 8. Kap. des »Antimachiavell« die Satze : 
»J*avoue d'ailleurs qu'il y a des necessity facheuses, oil un prince ne sau- 
roit s'empecher de rompre ses traites et ses alliances; mais il doit. . . . en venir 
jamais a ces extremites, sans que le salut de ses peuples et une grande n^ces- 
site Fy obligenw. 

S. 6iz,tf. Vertrag von zyiS: Im Mai 1715 schlossen die Urkantone, 
Luzern u.a. mit Frankreich den sog. »Trukli-Bund«, einen Vertrag, der 
Ludwig XIV. zum Schiedsrichter in alien inneren Streitigkeiten der Eid- 
genossenschaft bestellte. - 23 Herr Herkommen: J. P. notierte sich in seinen 
Exzerpten aus Bielfelds »Staatsrecht« III die Anekdote : »Ein franz. Schrift- 
steller hielt das Reichsherkommen, auf das man sich in offentlichen Urkunden 
immer beruft, fur einen grofien Gelehrten im Staatsrechte, der Herr Her- 
kommen hie Be usw.« Der Name findet sich auch im ersten Heft der 
»fhysiognomischen Reisen« von Musaus (vgl. dort S. 46 der 2. Aufl.), - 
28 acta sanctorum: die von den Bollandisten (Jesuiten in Holland) heraus- 
gegebene Sammlung von Lebensbeschreibungen der Heiligen. 

S.6i3,yff. Der Schlufiabsatz und der Hieb auf Humes Seelenlehre sind 
fast identisch mit einer S telle der Strohkranzrede in der »Unsichtbaren 
Loge« (vgl. o. S.7iff. und 73,306°.). 

S.617,1 4 Radertier (vorticella rotatoria): eine Gattung der Infusions- 
tierchen. 

S. 620, 1 4 Provisor: Apothekergehilfe. - 23 enfants perdus: verlorene 
Kinder nannte man das mit Arkebusen bewaifnete Fuflvolk, das im Sturm 
vor der ersten Schlachtreihe vorauslief und darum als verloren gait. - 
30 Leibni%isches Monaden-Mahl:is ist an das bekannte Bemiihen des Philo- 
sophen zu denken, seine Monadenlehre mit der Lehre von der Transsub- 
stantiation in Einklang zu bringen. Berend verweist noch auf eine von 
Fr.HJacobi iiberlieferte Anekdote (»Ober die Lehre des Spinoza«, S-46f.), 
»da3 Leibniz einmal beim Kaffeetrinken geauBert habe, es mochten wohl 
in der Tasse heiBen KafTees, die er gerade zu sich nehme, Monaden sein, die 
einst als verniinftige, menschliche Seelen leben wiirden«. J. P. hatte sich 
diese Stelle in seinen Exzerpten notiert. 

S.6zi 7 3 mephitisch: stickig, erstickend. — 1 4 Benefiz-Komodie : Schau- 
spielauffuhrung zugunsten eines Mitwirkenden. — 1 5 Gays Bettleroper: 
John Gay (1685-1732): engl. Dichter und Essayist, schrieb 1728 die Par- 
odie : »The Beggars Opera«, die einer der groBten Theatererfolge in England 
wurde. 

S.622,-^ Rotes Haus; lange Zeit ein vornehmer Gasthof in Frankfurt. 

S.623, 2i seinem: Man erwartet statt dessen die Form »seinen«, doch ist 
der Dativ, der in alien Ausgaben steht, vielleicht vom lateinischen »ponere« 
beeinfluBt, kommt doch auch sonst im Werk des Dichters der Dativ bei 
»stellen« gelegentlich vor. 



1280 ANMERKUNGEN 

S. 624,5 Prtn^ipalkommissarius ; s. o. zu S.40,32. — 11 os\dlieren; 
schwingen, schleudern. — 12 Re^ensenten: So heiBt es im Tristram Shan- 
dy IV, 13: »HolIa! — guter Freund Lasttrager! Da hat Er drei Groschen — 
geh Er doch nach jenem Buchladen, und hoi Er mir einen handfesten Kri- 
tiker her. Ich will gerne einem jeden von ihnen einen Gulden geben, der 
mir mit seinen kritischen Seilen und Winden helfen will, meinen Vater und 
meinen Onkel Toby die Treppe herunter und zu Bette bringen.d - 14 
Maskopeibruder : Teilhaber einer Handelsgesellschaft. - 1 5 homerischer 
Schlafer (Die Originaldrucke setzen falschlich )>Schafer«) : s. o. zu S. 26,35. - 
zy Dr. Grahams-Bette: s.o. zu S. 207, 12. - 13 von: Die Drucke setzen da- 
fur versehentlich »vor«. 

S. 625, 2 j Barrieren-Traktat: Grenzwehrvertrag, besonders der Ver- 
trag, der zwischen Osterreich und Holland 1715 geschlossen wurde. - 
30 Re^efi: Vergleich zwischen dem Landesherrn und den Standen. 

S.626, 23 Shakespeare: In »Antoriius und Kleopatra« heiflt es V, 2, 81 f.: 
»Sein Antlitz war ein Himmel; ausgeschmiickt / Mit Sonn* und Mond, die 
ihre Bahn durchrollen, / Dem kleinen O, der Erde, Licht verleihn.« — 
24 James Bruce (1730-94): engl. Reisender. Sein Hauptwerk: »Travels to 
discover the sources of the Nile* wurde 1790-92 ins Deutsche iibersetzt. 

S.627,^ Agioteur: Borsenspekulant. — 22 Langiscke Kolloquia: bezieht 
sich auf das verbreitete Schulbuch: »ColIoquia scholastica latina captui 
tironum accomodata« (1713 u.6.) von Joachim Lange (1670-1744). 

S. 628, 20 Newton, Linne, Swift: Newton und Linne" wurden gegen Ende 
ihres Lebens durch Krankheit und Alter auch geistig hinfallig, der alternde 
Swift verfiel bekanntlich in Trubsinn. - 33$". Pfingstprogramm: Meist zu 
Ostern oder Pfmgsten erschienen an Schulen und Universitaten sog. Pro- 
gramme, kleinere wissenschaftliche Beitfage von Angehorigen der Anstalt 
enthaltend. Eine Schrift mit dem Titel : )>de Chalifis verhorum studiosis« (Ober 
die schriftgelehrten Kalifen) war jedoch nicht nachweisbar. 

S.62%13 supranumerar: uberzahlig. - 1 9 Seeks finger : Urspriinglich 
so lite durch diese Gestalt die Hand lung des »Hesperus« mit der »Unsicht- 
baren Loge« verbunden werden (vgl. o. S.293,36 und S. 420, 11). - 2S 
Sabbaterweg: eine Strecke von 1000 Schritten, iiber die hinaus sich der 
glaubige Jude am Sabbat nicht vom Hause entfernen darf. 

S. 630, 1 1 Kdstner: der Gottinger Mathematiker und Gelegenheitsdichter 
Abraham Gotthelf Kastner (1719-1800). — 1$ Vetturin: Lohnkutscher. 

S. 63 1,/ 5 Systole und Diastole: das Zusammen- und Auseinanderziehen 
der Herzmuskeln. 

S.633,/0/ Reinhold: Karl Leonhard R. (1758-1825) trat schon 1786 in 
»Briefen iiber die Kantische Philosophie« fur Kants Lehre ein, schrieb 1789 
»0ber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie« und gait a Is 
einer ihrer besten Kenner. - 1 y Joh. Aug. Ephraim Goe\e (1731-93) : Theo- 
loge und Naturforscher. Er gab 1782 den »Versuch einer Naturgeschkhte 
der Eingeweidewiirmer tierischer Korper« heraus. 



ANMERKUNGEN I ^8 1 

S. 634,3 Lese-Esel: schmales Polstergestell, auf dem man rittlings zu 
lesen pflegte. - 6 arkehusieren: erschieflen. — 22 Klaviermeister: vgl. o. 
S. i07,27ff. -26 Scientia media: hier »Wissenschaft«. EigtI. bezeichnet dieser 
theol. BegrifT das ruhende, inaktive Vorherwissen Gottes. Durch ihn ver- 
such ten die Jesuiten Molina und Fonseca den Gegensatz zwischen mensch- 
licher Gedankenfreiheit und gottlicher Entscheidung aufzuheben. — 31 
Krdn-Proiefl in Frankfurt: wohl die Kronung Josephs II. zum romischen 
Konig im Jahre 1 764, nicht die zeitlich naherliegende Kronung Franz* II. von 
1 792. — 32 Yorick : Der Zug findet sich nicht bei Sterne selbst, sondern in dem 
ihm falschlich zugeschriebenen »Koran« von Richard Griffith (im 15. Kap.)- 

S.635,/ Tiirspan: Span und Halm gehorten bis weit ins i7.Jahrh. als 
Rechtssymbole zur gesetzmaBigen Obergabe eines Hauses. — 3Jf. investi- 
ture, per ionam usw. : Einsetzung durch den Giirtel - durch den Ring - durch 
den weltlichen Stab. — 1 1 Edward Young (1683-1765): engl. Dichter. Sein 
lyrisches Hauptwerk: »The complaint, or night-thoughts on life, death and 
immortality« (1742-45) formulierte am scharfsten die Gedanken der Welt- 
flucht im i8.Jahrh. und wirkte damit iiber die Empfindsamkeit hinaus bis 
zum Weltschmerz der-Spatromantik. — 12 Gravamina: Wohl »Der samt- 
lichen Evangelisch-Lutherischen und Reformierten im H.R.Reich Neue 
Religionsgravamina usw.«, Frankfurt i72off., 6 Folio-Bde. -12 dritter Band 
von Siegwart: Joh. Mart. Millers empfindsamer Roman: »Siegwart. Eine 
Klostergeschichte« wurde in der zweiten Auflage von 1777 in drei Bande 
abgeteilt. Im SchluBband laBt der Dichter den Helden auf dem Grab seiner 
geliebten Mariane verscheiden. - i4f. Home und Beattie: Gedacht ist an 
das 7.Kap. in Homes Werk: »The elements of criticism* und an John Beat- 
ties (1735-1803) Abhandlung: »On laughter and ludicrous composition 
von 1776. - 22 Benefiz-Kombdie : Vorbild war die Obergabe der Prinzessin 
Karoline von Parma an die Gesandten des Prinzen Maximilian von Sachsen, 
die Anfang Mai 1792 in Hof vor sich gegangen war. Die Einkleidung dieser 
Erzahlung in Akte erinnert an eine ahnliche Szene in Hippels Roman: 
»Kreuz- und Querziige des Ritters A-Z« (vgl. dort § 23), der freilich erst 
1793 ~ a ^ so wahrend der Arbeit am »Hesperus« - erschienen war. Die An- 
spielung auf den TiteI(S. 514,17) und eine Parallelstelle in einem Brief vom 
27-Juni 1793 deuten jedoch darauf hin, dafi J.P. das Buch unmittelbar nach 
seinem Erscheinen gelesen hat. - 31 Ilium haculum usw.: Jenen Stab, auf 
den er sich stutzte, zum Zeichen der Obergabe. - 32 Charles du Fresne du 
Cange (1610-88): schuf in jahrzehntelanger Arbeit ein noch heute unent- 
behrliches »Glossarium ad scriptores mediae et infimae Latinitatis«, das zuerst 
1678 erschien. 

S. 636,30 Platner (s.o. zu 5.261,23): in seiner »Neuen Anthropologies 
Bd. I, § 876. 

S.6$Z,iS englische Allgemeine Weltgeschichte : »An universal History 
from the earliest account of time to the present, compiled from original 



1282 ANMERKUNGEN 

authors*, London 1736—63. Aus den 23 umfangreichen Foliobanden wurden 
verschiedentlich Obersetzungen ins Deutsche vorgenommen. 

S.639,7 curator absentis: rechtlicher Stellvertreter. — Z4JBassa: tiir- 
kischer Fiirstentitel. 

S.640,4/. parere scire usw.: Gehorchen und Wissen gereicht einer Herr- 
schaft zu gleichem Ruhm. - 6 servi pro nullis habentur: Sklaven sind fur 
nichts zu achten. - 20 Harmodios und Aristogiton: athenische Tyrannen- 
morder, die den Hipparch, den Sohn des Peisistratos erdolchten. 

S.641, jz magister legens: Magister, der das Recht hat, an der Universitat 
Vorlesungen zu halten. 

S.642,.9 Schlagschati: eine Miinzsteuer, um entweder die Kosten der 
Pragung zu decken, oder um das Recht der Pragung zu erwerben. — 
3$ Plainer: vgl. »Neue Anthropologies Bd.I, § 802. 

S.644, 24 Abendmahl: Berend vermutet eine Anspielung auf Cosimo 
Rosellis Fresko in der Sixtinischen Kapelle. - 27 Joseph Addison (1672 bis 
1 71 9): einflufireicher Schriftsteller der engl. Aufklarung. Er gab mit seinem 
Freunde Georg Steele die asthetisch-moralischen Wochenschriften : »The 
Tatler«, »The Spectator* und »The Guardian* heraus. - 28 Johann Georg 
Suiter (1720-79): Schweizer Asthetiker undPhilosoph schreibt im Artikel: 
»Scherz« seiner »Allgemeinen Theorie der schonen Ktinste« (Neue Aufl. 
1794, Teil 4, S.271): »Die vorziiglichsten Scherze sind diejenigen, in deren 
Charakter viel Ernst und grofie Griindlichkeit liegt, und die deswegen zu 
wichtigen Arbeiten aufgelegt sind. Der nuchterne, zu den groBten Ge- 
schaften tuchtige Cicero, konnte mit Recht uber den unwitzigen Antonius, 
der sein Leben in Schwelgerei und lustigen Gesellschaften zugebracht hatte, 
spotten.« — 32 Pater Mer^ische Kontroverspredigt : Der Jesuitenpater Aloys 
Merz (1727-92) war einer der fruchtbarsten und schlagfertigsten katho- 
lischen Polemiker seiner Zeit. In zahlreichen Flugschriften und Streit- 
predigten wandte er sich gleichermaBen gegen die Protestanten und die 
josephinische Aufklarung in Wien. 

S. 645, zo tratto di corda: Seilzug, mit dem in Italien bei der Folterung 
die Gliederzerdehnt wurden. - 2 2 Regensburger Reichstag .*s. o. zuS. 529, 1 5. - 
2$ Dunsin: Torin. 

S.646, 2 5 Moloch; s.o. zu S. 114,28. 

S. 647, 6 romischer Gott; Im alten Rom war es verboten, den Namen des 
Stadtgenius auszusprechen, damit nicht auch die Feinde zu ihm beten konn- 
ten. — 33 Barrierealliani: s.o. zu S. 625, 23. 

S.648, 26 Dreifaltigheitsring; besteht aus drei geschweiften Ringen, die 
ineinander verschlungen sind. 

S. 649, 2 Stundenuhr; Uhr mit einem einfachen Werk, die nur die ganzen 
Stunden anzuzeigen vermag. - 6 Lorenzo-Dose: s.o. zu S.316,5. — 7 Igna- 
tiusblech: s.o. zu 8.1^3,23. — 7 Saulische Stunden: Stunden des Triibsinns 
(nach 1. Sam. 16, 14). — 16 Thesesbilder : grofie, oft uber einen Meter hohe 
Kupferstiche, die in Bayern und besonders in Augsburg sehr verbreitet 



ANMERKUNGEN 1 283 

waren. Mit ihnen illustrierten die Monche in komplizierten Allegorien die 
Thesen und Themen ihrer Schuldisputationen. Vgl. Nicolais »Beschreibung 
einer Reisedurch Deutschland und die Schweiz« (3. Aufl. 1788-96), Bd. VIII 
S. 85 fF. - 19 Bunklischer Reformator : Anspielung auf den aufklarerischen 
Roman: »T*he life of John Buncle Esq.<i (1756-66), der in der Obersetzung 
von Pistorius 1778, die von Nicolai propagiert worden war, zwischen Nico- 
lai und Wieland eine heftige Auseinan4ersetzung ausgelost hatte. 

S.650, 28 Wahlverwandtschaften: Goethes Roman erschien bekanntlich 
erst 1809. An Stelle der beiden angefiihrten Werke setzten die ersten zwei 
Auflagen »Goethe und Salisfl. - 30 Kants Prolegomena: die ^Prolegomena 
zu jeder kiinftigen Methaphysik« von 1783 sind gemeint. 

S. 651,3 Simultan- und Tuttiliebe; So in den beiden ersten Auflagen. — 
2 6 Samm- oder Zugleichliebe : So beansprucht Sterne im »Tristram Shandy« 
(I, 21) das Benennungsrecht fur ein neues, von ihm erfundenes Argument 
der Rhetorik. — 32 noch viel ofter: »noch« stellt eine Textkonjektur der 
Krit. Ausgabe dar, da die dritte Auflage sinnwidrig das einfache »6fter« 
der beiden vorhergehenden durch ein wiicht viel« erweitert. 

S.653,z6" Strohkran^rede : s.o. zu S. 70,22. — 21 John de Mandeville 
(1300-72?)' engl. Arzt und Reisender. Seine lateinische Reisebeschreibung 
uber die Sitten und Volker des Fernen Ostens erwies skh als literarische 
Falschung. Die Geschichte findet sich jedoch nicht bei Mandeville, sondern 
in Plutarchs moralischen Schriften (dt. von Kaltwasser, i.Bd. 1783, S. 156). 
Das Motiv von dem Einfrieren der Tone im hohen Norden begegnet schon 
bei Rabelais, Gargantua und Pantagruel IV, 55 und 56, und kehrt in der 
Geschichte des Freiherrn von Miinchhausen wieder. Vgl. Burgers »Miinch- 
hausen«, ^.Kap. - 36 Zirkulierofen; Bei ihnen wird zur Verstarkung der 
Warme das Feuer durch gewundene Gange gefiihrt. 

S. 654,^2 B ruder Redner: ein Grad der Freimaurerei. 

S.655,^ »Nach Grofikussewiti uswa: vgl. dazu o. S. 276, 20 und die'An- 
merkung. - 9 a parte ante: s.o. zu S. 119,23. 

S. 656,26" ablaktieren: aufpfropfen. 

S.66o,S begriff nichts: Danach folgen in der ersten Auflage sogleich 
knapp referierend die weiteren Enthullungen. Auch sonst ist das Kapitel in 
Einzelzugen verandert und erweitert worden. 

$.661,14 Semper freie (urspr.: sendbar Freie): »der hochsten Art von 
Freiheit teilhaftig« (Grimm). 

S.664,2^ Midas* Barhier: die bekannte Sage vom Barbier des Konigs 
Midas, der als einziger das Geheimnis von dessen Eselsohren kannte. Da 
er bei seinem Leben das Geheimnis nicht preisgeben durfte, es aber auch 
nicht fur sich behalten konnte, vertraute er es dem Schilfrohr an. 

S.665,5 Gracians homme de cour: Gemeint ist Baldassar Gracians (1601 
bis 1658) Schrift uber den Weltmann: »E1 Discreto« (1646), die in einer 
franz. Obersetzung von 1684 verbreitet war. - 6 Rochefoucaults Maximen: 
Die ^Reflexions ou sentences et maximes mora!es« des Herzogs von Laroche- 



IZ84 AMMERKUNGEN 

foucault (1613—80). — 21 Die erste Gefalligkeit usw.: Der Satz ist in der 
zweiten und dritten Auflage ausgefallen. Es lag wohl ein Druckversehen 
vor, bedingt durch den gleichen Anfang des nachsten Satzes mit »die«. — 
30 den er mit jencr besonnenen Hoflichkeit usw.: Wiederholung von S.66o, 
22 f., die durch die erwahnten Umstellungen veranlafit wurde. 

S. 666, 22 f. Man soil die Stimmen wagen und nicht \ahlen: Dieser Satz, 
dem wir gewohnlich die Fassung Schillers aus dem »Demetrius« (1, 1) zu- 
grunde legen, der aber auch bei Wieland und Lichtenberg begegnet, war 
schon im Altertum sprichwortlich. 

S.667,^ Atonte: Erschlaffung. 

S. 670, 22 Verben in pa: Die griechischen Verben dieser Konjugation 
fallen aus dem gewohnlichen Konjugierschema (Paradigma) heraus. 

S.672, 23 Lauten^ug: Dampfregister an der Orgel. 

S. 674,18 William Penn (1644— 1718): engl. Quaker, wanderte 1682 nach 
Amerika aus und griindete fur die Anhanger seiner Sekte in den Kolonien 
den nach ihm benannten Staat Pennsylvania. 

S. 678, 2 1 der keute in den Spiegel der Inset seine Gestalt geworfen: Zusatz 
der zweiten Auflage. Nach den Vorarbeiten wohnt Emanuel der Begegnung 
bei und kommt darum erst so spat zuriick. 

S.685,,9 Aristides: Joseph Miiller nimmt eine Verwechslung mit Alki- 
biades an, nach dessen bekanntem Ausspruch, er sei stets nur in der Gegen- 
wart des Sokrates gut gewesen. Doch verweist Berend zu Recht auf die Stelle 
in den &Teufels Papieren*: »Wem es nicht bekannt ist, wie sehr Aristides* 
Kenntnisse durch die Stubenkameradschaft und noch mehr durch die Be- 
riihrung des Sokrates gewonnen: der kann den Theages des Plato unmog- 
lich gelesen haben.« So steht auch in den ersten beiden Auflagen fur Ari- 
stides der Name des Theages. Man muC das Miflverstandnis weckende 
»blofi wenn« darum als ein »durch die blofie Gegenwart* verstehen. - 
1 5 Thesesbilder s.o. zu S. 649, 16. — i5 rationes decidendi: Entscheidungs- 
griinde. — i5 sententiae magistrates: Lehrspriiche. 

S. 687,5 nach Lambert: Joh. Heinr. Lambert (1728-77), von J. P. mafiig 
geschatzter Physiker und Philosoph, in seinen »Kosmologischen Briefen iiber 
die Einrichtung des Weltbaus«, 1761. 

S.691,/-^ Tristrams Werke: Gemeint sind Sternes Werke. 

S.692, 34 Anmerkung: vgl. o. S.605, i6f. 

S. 694, 1 8 seine meisten mannlichen Verwandten: Der Gedanke dient als 
Grundmotiv in der Erzahlung vom »Quintus Fixlein« und taucht auch sonst 
gelegentlich wieder auf. - 26 Widerspruch in adjecto: im Zusatz (z.B. trok- 
kenes Wasser). 

S. 7Q3> 3 regula falsi: »Regel des Falschen« (erg. Ausgangspunktes). 
Mathem. Rechnungsverfahren zum Losen von Gleichungen. Man setzt 
eine ungenaue (»falsche)« Losung und kommt durch schrittweises Ver- 
bessern des Fehlers zum richtigen Ergebnis. - 30 so stand sein Auge usw.: 



ANMERKUNGEN I 28 5 

Man erwartet umgekehrt: »so stand in seinem Auge eine unverriickte Trane 
usw.« VgL dariiber o. zu S.i86,iof. 

S.704, 9 Schliefiquadrdtchen: bei den Buchdruckern der vierte Teil eines 
Quadrates, mit dem man die Zeilen ausschliefit. - 31 ff. Anmerkung: Die 
Anmerkung wurde bis »Wunder« in der zweiten Auflage eingefugt, der 
SchluB ist ein Zusatz der dritten. 

S-707, 3 Jean Janin de Combe-Blanche (1731-99): franz. Augenopera- 

teur von Ruf, dessen »M£moires et observations sur l'oeil et les maladies, 

qui affectent cet organe« (1772) von Selle ins Deutsche iibersetzt wurde 
(2. Aufl. 1788). - 8 Meibomische Driisen (glandulae tarsales) : die von dem 
Arzt Heinr. Meibom (1638-1700) zuerst 1666 beschriebenen, in die Augen- 
lidknorpel eingelagerten Talgdriisen. - 18 Petit: Von den zahlreichen 
Arzten dieses Namens kommt hier nur der alteste, Francois-Pourfbur du 
Petit (1664-1741), in Betracht, der durch zahlreiche Untersuchungen zur 
Anatomie des Sehorgans bemerkenswert ist. J. P. denkt wohl an seine 
Schrift: »DifFerentes manieres de connaitre la grandeur de chambre de 
l'humeur aqueuse dans les yeux de rhomme« von 1727. 

S.7o8,z<? Labarum; die rom. Kriegsfahne mit dem Kreuzzeichen, die 
unter den spateren Kaisern seit Konstantin eingefuhrt war. - 30 apokalyp- 
tischer Engel: vgl. Apok. 19, 10. — 32 Engel mit Weltreichen: vgl. die Er- 
zahlung von der Versuchung Christi bei Matth. 4, 8-10. 

S. 709, 4 Philanthropistenwdldchen : s. o. zu S. 1 36, 1 2. — j5 Charles Sonnet 
(1720-93): Naturforscher und Philosoph in Genf. Von seinen Schriften 
kannte der Dichter vor allem die »Considerations sur les corps organises«, 
die 1762 und die Contemplations de la nature*, die 1766 deutsch erschienen 
waren. - 36 Robert Hooke (163 5-1703): engl. Physiker. In Frage kommt 
nur seine Untersuchung : »A hypothetical explanation of memory« in den 
posthumen »Philosophical experiments* 1726, die den einzigen Versuch 
Hookes auf dtesem Gebiet darstellen. 

• S. 7 io t 8 Fabius: Der rom. Feldherr Quintus Fabius Maximus (f 203 
v. Chr.) bekam wegen seiner hinhaltenden und abwartenden Kriegs- 
fuhrung gegen Hannibal den Beinamen »Cunctator« (Zauderer). - 32 
Eulerscher Rosselsprung: Leonhard Euler schrieb 1759 eme Abhandlung 
iiber den Rosselsprung, die in den »M£moires« der Berliner Akademie 
erschien. 

S.712, 24 toga virilis: weiBes Obergewand, das alle freien Romer vom 
Tage ihrer Volljahrigkeit zu tragen hatten. 

S. 713, 24 Romer: ital. Hausierer. - 34 Hospodar: (»Herr«) Titel der ehe- 
maligen Fiirsten in der Walachei. 

S.714,^7 Schachbrett: So nur die erste Ausgabe. Die spateren Drucke 
setzen wohl falschlich die Verkleinerungsform : >>Schachbrettchen«. Vielleicht 
liegt eine verlesene Korrektur J.P.s vor. 

S. 71 5, 19 Mosisdecke: s.o. zu S. 226, 26. 

S.716,7 Empyreum: Feuefhimmel, der Sitz der Seligen in der griechi- 



1 286 ANMERKUNGEN 

schen Mythologie. — 13 hora^ische Mischung: vgl. dazu am SchluB von »de 
arte poetica« die Verse 438ff. Aber auch die bekannte Sentenz: »utile cum 
dulci« des Horaz kann dem Dichter vorgeschwebt haben, obgleich diese in 
einen anderen Zusammenhang gehort. 

S.717, 2 Anjou: Dazu zitiert Berend aus den Exzerpten: »Die Eltern der 
sechsfingerigen Familie in der Provinz Bas-Anjou lassen nach der Geburt 
den 6. Finger wegschneiden; gebaren doch solche.« 

S.71% 35 LochBaum, richtig Lachbaum: ein mit Lachen (Kreuzschnit- 
ten) versehener Baum, der die Grenze einer Gemarkung bezeichnet. 

S.720, 5 Herkules-Sdule : Als Saulen des Herkules wurden im Altertum 
die Vorgebirge von Gibraltar und Ceuta benannt, da diese nach der Sage 
von Herkules an den Grenzen der damals bekannten Welt aufgerichtet 
worden waren. 

S.721, 32 Berlinerblau: eigtl. Name einer Porzellanfarbe, die in der 
Berliner Manufaktur hergestellt wurde, hier vermutlich eine Anspielung 
auf die Allgemeine Deutsche Bibliothek. 

S-722,* hocus pocus: Schabernack. Die Erklarung aus einer Verstiimme- 
lung der Konsekrationsformel war damals und ist noch heute sehr ver- 
breitet, doch liegt die Entstehung des Wortes, das zuerst in England als 
Taschenspielername auftritt, vollig im dunkeln. - 2 John Tillotson (1630 
bis 1694): wirkungsvoller, volkstiimlicher Prediger der anglikani schen 
Kirche, zugleich auch als Politiker tatig. Er starb als Erzbischof von Canter- 
bury, zu dem er 169 1 bestallt worden war. Seine »Complete Works* wurden 
1752 in drei Banden gesammelt. - 13 Petrus Lomhardus: s.o. zu S.29,7. 

5.723.4 Joh. Bernh. Basedow (s.o. zu S.235,5) im ersten Band seiner 
*PhilaUthie<i (1764), S.252f. Der Gedanke selbst, den u.a. auch Kaiser 
Friedrich II. verwirklichen wo lite, ist uralt und bereits bei den Griechen 
als Legende zu belegen. 

S. 724, 1 6 H. : Ahnlich umgeht Sterne im ^Tristram Shandy« (VIII, 13) 
den Buchstaben K im Alphabet. - 17 Holbeins Bein; Die Anekdote ist 
Campes »Reise von Hamburg bis in die Schweiz« (1786) entnommen. 

S. 725, 28 Fetspopel: Die Gestalt war J. P. aus Flogels »Geschichte der 
Hofnarren* (1789) bekannt. Vgl. dort S.82. 

S. 726,^5? Joh. Georg Meusel (ly^-iSzo) : Publizist, setzte Hambergers 
vielbandiges Sammelwerk: itGelehrtes Deutschland oder Lexikon der jetzt 
lebenden deutschen Schriftsteller« fort und erganzte es durch ein umfang- 
reiches dVerzeichnis der 1750-1800 verstorbenen deutschen Schriftsteller«. — 
26 Hamann: s.o. zu S. 132,4. — zy Christ. Ludwig Liskow (1701-60): 
satirischer Dichter, dessen funkelnder, an Swift geschulter Witz und dessen 
glatter Stil ihn damals ebenso iiberschatzen, wie heute zu unrecht vergessen 
HeBen. Eine »Sammlung satirischer und ernsthafter Schriften« gab er selbst 
1736 heraus. 

5. 727.5 Manipel und Pugillum; eine Handvoll und drei Finger voll, 
ApothekermaBe. - 1 1 Moxa (spanisch) : BeifuBwolle, ein grauer Stoff, der 



ANMERKUNGEN 1 287 

auCerlich als Heilmittel gegen Gicht und Podagra verwendet wird. Dabei 
wird die Moxa mit Speichel an die Haut befestigt und verbrannt, so dafl eine 
eitrige Brand wunde zuriickbleibt. - 23 Gabe: Die ersten Auflagen setzen 
das gelaufigcre »Dosis«. 

S.728, 5 Her^-Polype: s.o..zu $.360,10. - zo kantonieren: (in der Mili- 
tarsprache) voriibergehend Lager nehmen. - 27 Tuberose: Herbsthya- 
zinthe. - 33 Schiff und Geschirr: tautologischer Ausdruck fur »Hausrat«. 

$.729,35 steh auf, hebe dein Bett auf: vgl. Matth. 9,6. Der Satz ist in 
der zweiten und dritten AufJage ausgefallen. 

S.730,7^] Universalkrankheit: vgl. o. S. 371,29 und die Anmerkung. — 21 
himmlisches Grahamsbett; s. o. zu S. 207, 12. — 24 Wurstschlitten: un- 
bequemes, landliches Fuhrwerk. 

S.731, 21 Neros Palast: Die »domus aurea«, das Goldene Haus des Nero, 
64 n. Chr. nach dem Brande Roms erbaut, bedeckte mehr als anderthalb 
Quadratkilometer, so dafi in Rom das Witzwort umlief: »Rom wird ein 
einziges Haus.« 

$-733>'^ Razllerie: Spotterei. 

S. 736,27 Kato; s.o. zu S.601,21. - 28 Kontuma^haus : Absonderungs- 
oder Quarantanehaus. — 29 russischer Eispalast: s.u. zu S. 847,7. 

S.737, 5j William Pitt d.J. (1759-1806): engl. Staatsmann, seit 1783 
Premier minister, dem es gelang, die engl. Wirtschaft und Politik nach dem 
verlorenen Unabhangigkeitskrieg wieder zu stabilisieren. Der franz. Revo- 
lution stand er lange abwartend gegeniiber, erst der Einfallder Revolutions- 
armeen bewog ihn, 1793, in den Krieg gegen Frankreich einzutreten. - 
36 bureau d* esprit; s.o. zu S. 142, 1 . 

S. 739,-2.5-740, j Zuneigung 'des Fiirsten: Der Absatz ist in der zweiten 
Auflage eingeschoben. 

S. 741, 20 Linnaus: Karl von Linne" revolutionierte 1735 durch sein 
»Systema naturae« und die folgenden Werke: »Genera« und » Classes plan- 
tarum« (1737 und 1738) die Naturwissenschaft, indem er das Sexualsystem 
auch bei Pflanzen zur Klassifizierung einfuhrte. 

S. 743, .2 j er: Die Drucke setzen wohl versehentlich »es«. 

S. 744, 28 Gleicher: deutscher, damals besonders dichterisch verwendeter 
Ausdruck fur Aquator. 

S.745,.9 keiliger Januar: An seinem Namenstag vergieCt der Leichnam 
des San Gennaro, des Schutzpatrons von Neapel, aus seiner Sterbewunde 
frisches Blut, und die Neapolitaner furchten Unheil, wenn dieses Bluten 
einmal ausbleibt. 

S.746,4 wie Portugal mit Blut: vgl. o. S. 561,5 und die Anmerkung da- 
zu. - 11 Kastor und Pollux: die Sohne der Leda und des Zeus, die er in 
seiner Verkleidung als Schwan gezeugt hatte. Sie wurden darum aus einem 
Ei geboren. 

S.75o,? 8 Sportelbuch: Rechnungsbuch iiber die gerichtlichen Neben- 
einnahmen des Konsistoriums. - 2 3 Rekahnsfahrt: Gemeint ist » Anton 



1288 ANMERKUNGEN 

Friedr. Biischings ... Beschreibung seiner Reise von Berlin iiber Potsdam 
nach Rekahn« von 1778. — 2 5 meine Schwester: die Philippine aus der »Un- 
sichtbaren Loge«. 

S. 751,7 3 Tribonidn (f 546): rom. Rechtsgelehrter, hatte durch lange 
Jahre den Vorsitz der Rechtskommission, die unter Justinian das romische 
Recht neu kodifizierte. - i5 nach Howard: John Howard (1726-90): engl. 
Philanthrop, der sein Lebenswerk den hygienischen Verbesserungen im 
Gefangnis- und Hospitalwesen widmete und zu diesem Zweck ausgedehnte 
Reisen unternahm. Sein Bericht: »The state of the prisons in England and 
Wales; and an account of some foreign prisons^ (1777, dt. 1780) erregte 
ungeheures Aufsehn. 

S.753,/^ ruckstdndige Ehepfdnder: vgl. die Strohkranzrede o. S.75, i8ff.- 
32 Goldwoge: In der letzten Auflage steht der Druckfehler; »Geldwoge«. - 
35 Poenitentiaria; s.o. zu S. 137, 15. 

S.755,* 2 Maximilian, Herzog von Sully (1560-1641): franz. Staatsmann 
unter Heinrich IV. Seine »M£moires« (deutsch 1783-86) zahlen zu den 
wichtigsten Dokumenten der franz. Geschichte. - 22 Antoninus Philo- 
sophus; Beiname des rom. Friedenskaisers Marc Aurel. 

S. 757,25 edel: In Osterreich und Bayern nennt man Edler einen Adels- 
grad, der zwischen dem Freiherrn und dem einfachen Adel steht. - 36 wie 
Paulus die Schlange: vgl. Ap. Gesch. 28,5. 

S.759^4 Kbnigsberger Bratwurst; Joh. Christ. Wagenseil (1633-1705), 
der Niirnberger Polyhistor, gibt in dem in der Note erwahnten Werk - 
seinem letzten - das Gewicht dieser ungewohnlichen Wurst mit 434 Pfund 
an. - 31 Domizettar: junger Domherr, der im Kapitel noch nicht Sitz und 
Stimme hat. 

S. 760, to Michael Denis (1729— 1800): erst Jesuitenpater in Wien, dann 
freischaflender Dichter. Auf Klopstocks Spuren wandelnd, verdeutschte er. 
1768 Macphersons »Ossian« und schrieb eigene Gedichte als Sined der Barde. 
Seine Dichtungen wurden gesammelt in »Ossians und Sineds Lieder«, 
5 Bde. 1784. - 1 5 und 1 6 i>Skine von Wiem (6 Hefte, 1786-90) und »Fau- 
stin oder Das philosophische Jahrhundert« (1783): beides Schriften des 
mediokren Wiener Publizisten Joh. Pezzl (1756-1823). - 16 Blumauer: 
s.o. zu S. 548,11.'— 1 8 ^Wiener Musenalmanachu; Er wurde von Alxinger 
herausgegeben und erschien zuerst 1774. Neben Alxinger und Blumauer 
arbeitete allerdings auch Denis an diesem Almanach mit. 

S.761,5 Leberreim: gemeine und schlechte Stegreifgedichte, die nach 
altem Brauch bis ins i7.Jahrh. iiber dem Essen einer Hechtleber gemacht 
wurden. - 10 voile Krebse: Bei Vollmond sollen die Krebse besonders fett 
werden. — 26 reisender Fran^ose: Die Stelle findet sich in den »Briefen eines 
reisenden Franzosen iiber Deutschland« (von Kaspar Risbeck) 1783, i.Bd. 
S.295. 

S.762, 2—29 Abschnitt iiber Viktor und Brief der Pfarrerin: Einschub der 
zweiten Auflage. - 3 Dr. Graham: s.o. zu S. 207, 12. — 22 Lordship: J. P. 



ANMERKUNGEN 1 289 

setzt »Lordschip«, denn er gesteht selbst im »Enochsblatt« des ersten komi- 
schen Anhangs zum »Titan« : »daB mir, eh* ich im Englischen perfekt war, 
immer ein ch nach dem s entfuhr, statt des h.« 

8.763,? z Carl Stamiti (1 746-1 801): umschwarmter Virtuose auf der 
Viola d'amore und bahnbrechender Tonsetzer der Mannheimer Schule. 
J.P. hatte den vielgereisten Musiker 1792 bei einem Konzert in Hof gehort. 

5.764.5 Anekdoten fur Prediger: Joh. Friedr. Tellers »Anekdoten fur 
Prediger und Priester zur Unterhaltung« erschienen 1778 in drei Banden. - 
28 Wiistenbock (syn. mit Sundenbock): vgl. 3»Mose 16,21 f. 

S.767^* Philippine: s.o. zu $.750,25. 

S.768, 31 Doppel-Uso: doppelte Wechselfrist. 

S. 769, z z Schulpforta : s. o. zu S. 65 , 3 3 . 

S.771,^ Tarantel: Zum Verstandnis zitiert Berend aus den Exzerpten 
die Notiz : »Der von der Tarantel Gestochene leidet Pein, wenn der Musi- 
kant in einem Ton oder Strich fehlt.« -22 dritter Sinn: Beim Jungen ist 
an den Geruchssinn gedacht, bei der Sangerin jedenfalls an den Geschlechts- 
sinn, der damals als sechster Sinn gerechnet wurde. 

5.772. 6 Euler: Leonhard Euler gab 1739 eine knappe, mathematisch 
begrundete »Theorie der Musik« heraus. - G.Sulier: s.o. zu S. 644, 28. Vgl. 
den Artikel: »Dissonanzen« im ersten Band seines Werkes. 

S. 773,25 tremolando: bebend. - 3 5 Antonio Sacchini (1730-86): ge- 
feierter Opernkomponist aus Florenz. 

S. 774,2 (£-77 5, .2 Appels Er^dhlung: Der Abschnitt, der ein fruheres 
Motiv wieder aufklingen lafit (s. o. S. 577. 29 ff.), ist erst in der zweiten Auf- 
lage eingefiigt. 

S.776, 27 Gewittersturmer (analog zu Feuerstiirmer gebildet) : Sie zeigen 
durch Lauten der Glocken die Brandgefahr bei einem Blitzeinschlag an. 

S.781,4 Vergifi mein nickt: viel gesungenes, um 1790 gedichtetes Lied 
von Max v. Knebel. Die Musik von Lorenz Schneider wurde haufig Mozart 
zugeschrieben. 

5.783,22 Ararat und Tabor: Auf dem Ararat landete die Arche Noah 
nach der Sintflut, der Berg Tabor in Galilaa gilt als der Berg der Verklarung 
Christi. - 30 Bayles Wdnerbuch: s.o. zu S. 595,13. - 34 Olla Podrida: 
Allerlei. 

S. 785, z Sff. hinter den rauchenden Bergen usw.: Die Stelle nimmt die 
Gedanken aus Ottomars erstem Brief auf, vgl. o. S.217,27 

S. 788, ,34 Nachsommer: So die kritische Ausgabe; die Originaldrucke 
setzen, vermutlich durch das Wort: »Nebensonne« in der folgenden Zeile 
verleitet, »Nebensommer«. 

S-793,^ Latrie: Gotzendienst. - 5 und 6 Dulie und Hyper dulie: Heili- 
genverehrung und uberschwengliche Heiligenverehrung. 

S.794, 8 Wohlstand: altertumliche Form fur »Anstand«. — 26 dal segno: 
vom (Wiederho lungs-) Zeichen an. 

S. 795,2 5/.* Staaten: Anspie lung auf die zweitepoInischeTei lung von 1773. 



1 290 ANMERKUNGEN 

S, 796,^2 Musaus: s. o. zu S. 360, 34. - zzjakobi: s.o. zu S. 152,240*. - 
22 Klinger: s.o. zu S. 29,30. — 31 Allwills Briefwecksel: s.o. zu S. I52,24ff. 

S.798, 5 Namen der Groflen: In der ersten Auflage war noch der Witz 
eingefugt, daB die Groi3en ihre SproBIinge wie Pasquille erstlich verviel- 
faltigen, zweitens anonym versenden. Wie schon die Note vermerkt, hatte 
J. P. den Scherz inzwischen in der »Erklarung der Holzschnitte« von 1797 
verwendet (vgl. die Erklarung zum vierten). - 6 pieces fugitives : seit dem 
i7.Jahrh. eine in Frankreich modische Form kleiner Gelegenheitsdich- 
tungen. — 1 8 vingt-quatre : Das Hoforchester LudwigsXIV. trug diesen 
Namen, weil es aus 24 Spielern bestand. - 19 Goethe: vgl. Wilhelm Meisters 
Lehrjahre VIII, 5. - 28 Ostraiismus : das Scherbengericht in Athen, das 
in offentlicher Abstimmung iiber die Strafe der Verbannung zu befinden 
hatte. 

S. 799,5) Karl Friedr. Bahrdt (1741-92): aufklarerischer Theologe, in 
seiner Stellung so umstritten wie verhafit. Er hatte sich 1789 durch eine 
Satire auf das preuB. Religionsedikt ein Jahr Festungshaft und die Aus- 
weisung zugezogen. Als Schankwirt starb er verbittert in der Nahe von 
Halle. - 26 in effigie: »im Bild«, sinnbildlich. 

S.8oi,(3 Charles-Marie de La Condamine (1701-74) und Pierre Bouguer 
(1698— 1758) unternahmen 1736 eine Expedition nach Peru, um die Gestalt 
der Erde zu erforschen. 

S.8o2,z Donatscknitier : grober VerstoB gegen die Elementarregeln der 
Sprachlehre, genannt nach Aelius Donatus, einem bekannten rom. Sprach- 
lehrer des 4.Jahrh. - 18 Fechser: Rebknoten als Setzling. - 24portugie- 
sische Israeliten: s.o. zu S. 561, 5. — 28 Wer seines Herren Willen weifi usw. 
nach Luk. 12,471". 

S.804, 34 Pringle und Schmucker (1712-86) : Kapazitaten auf dem Gebiet 
der Militararzneikunst. Besonders Pringles Hauptwerk: »Observations on 
the diseases of the army« (1752, dt. 1772) war allgemein bekannt. 

S.808, 21 der naturhistorische Goe\e: s.o. zuS.633,17. — 25 Linni; ^ Seine 
&Oratio de telluris habitabilis incremento« steht in der Erlanger Ausgabe 
seiner Aufsatzsammlung: »Amoenitates academicae« im zweiten Band. - 
32 Deutscher Herr: Angehoriger des Deutschen Ritterordens. 

5.810. 2 5 Nurnbergische Konvertitenbibliothek: sicher Anspielung auf 
eine Erbauungsschrift der Zeit. Doch war es nicht moglich, ein Buch dieses 
Titels ausfindig zu machen. 

S.Siij^j Drehbasse: drehbares Geschiitz auf Schiffen. 

5.812. 3 Ixions-Rad: Ixion, der Sohn eines Konigs der Lapithen, hatte 
sich in Hera verliebt und wurde von Zeus zur Strafe auf ein feuriges, nie 
stillstehendes Rad geflochten. - 23 Assekuran^brief: Versicherungsbrief. 

S.8i3,*4 Donnerkaus: Modell, um die Wirkung von Blitzableitern zu 
demonstrieren. 

S.814, 5 Hexe von Endor: Sie weissagte Konig Saul seinen Sturz und 
Tod. Vgl. i.Sam. 28. — 5 Hexe von Kuma; die cumalsche Sybille war die 



ANMERKUNGEN 1 29 1 

beriihmteste Wahrsagerin des Altertums. - 29 des Dreh-Rosinante : In den 
beiden ersten Auflagen steht fur unser Empfinden gelaufiger )>der Dreh- 
Rosinante*. Doch geschah die Anderung der letzten Ausgabe wohl mit 
Bedacht, da der Name: »Rosinante« im spanischen mannlich ist. - 36 Wieg- 
lebische natiirlkhe Magie: 1779 erschien »Joh. Nik. Martius* Unterricht in 
der natiirlichen Magie... umgearbeitet von Joh. Chr. Wiegleb«. Das Werk 
wurde dann bis 1805 in zweiter Auflage als ein riesiges Korpus in 20 Banden 
ediert. 

5.815.7 Trunkus, Plempsum, Schaltalei: gliickbringende Taschenspieler- 
formel. — ti Nicole Malebranche (1638— 171 5): Philosoph in der Nachfolge 
des Descartes, der ein umfangreiches Werk : »De la recherche de la verite« 
geschrieben hat. — 13 Hamiltons memoires: Darunter ist der Roman: »M£- 
moires du Comte de Gramont« (1713) von Anthony, Graf von Hamilton 
zu verstehen. - 17 nach Morit%: K.Ph.Moritz, der seit 1789 Professor fur 
Altertumskunde an der Kunstakademie in Berlin war, schrieb uber die 
antike Mythologie und den antiken Kult verschiedene, bedeutende Auf- 
satze und seine beruhmte »Gotterlehre der Alten« (1791). 

5.817. 8 Digesten: s.o. zu S. 576, 23. Die einzelnen Verordnungen sind 
dabei nach Titeln (Paragraphen) unterteilt. — 3 1 Buscking: s. o. zu S. 92, 14.— 
33 Teriienuhren: astronomische Uhren, welche auch die Terzien (s.o. zu 
S. 485, 27) anzeigen. 

S.819, 8 Halbkenner: Verdeutschung der letzten Ausgabe fur »Igno- 
rantfi. - 25 f. Girondisten und Feuillants (nach ihrem Versammlungsort im 
Pariser Kloster der Feuillants bezeichnet) : zwei gemaBigte Parteien im revo- 
lutionaren Frankreich. — 33 Ak^essit (»er ist nahe gekommen«) : Nebenpreis. 

S. 820, 2 j Martinitag : 1 1 . November. - 2 6 Jonastag : 1 2. November. - 
33 Leopoldstag: 15. November. 

S. 821, 30 Ottomars-Tag: 16. November. Die Apostrophierung ist ah die 
Gestalt Ottomars aus der »Unsichtbaren Loge« gerichtet. 

S.823,^ Platigold: ein Praparat aus Goldlack, das beim Erwarmen mit 
Knallen auffliegt. 

S. 824, 34 Rehhsgravamina: s.o. zu S. 90,33. 

S. 825, GBrokardikon: s. o. zu S. 177, 28. - 12 Institutionen: der erste Teil 
in Justinians ^Corpus juris*. Die Institutionen geben eine systematische 
Obersicht des rom. Rechts und waren zur Einfuhrung in das Rechtsstudium 
gedacht. - 1 4 accessorium ; Beiwerk, Anhangsel. — 30 Prokulejaner: Die 
Prokulianer waren eine der beiden fuhrenden Rechtsschulen der rom. 
Kaiserzeit und standen mit der zweiten, den Sabinianern, in einer lebhaften 
Kontroverse. Der zitierte Satz: »Der Augenblick einer Formanderung 
schaift eine neue Sache« bildete einen der Hauptgegensatze. - 33 Siegwart: 
s.o. zu S. 63 5, 12. - 36 Servituten: das Recht an fremdem Eigentum, auch 
die Last, die mit einem Besitz verbunden ist. 

S.830,*£ Rataffia: Fruchtlikor. 

S.831,/7 quarentigiatisches Instrument: Biirgschaftsurkunde. — 18 Par- 



I29 2 ANMERKUNGEN 

tagetraktat: Abtretungsvertrag. - 29 den sie so liebte und Viktor auch: eine 
an sich nicht notige Wiederholung aus dem letzten Satz. 

$.832,77 Bunterie-Gespann: Berend vermutet unter »Bunterie« eine 
Korrumpierung aus oBunte Reihefl. 

S.833,z^ Mikrologie: Kleinigkeitsgeist. 

S.837, 22 Michel Baron (1653— 1729): einer der groBten Schauspieler 
der franz. Buhrie, als Darsteller der heroischen Partien in Dramen 
Corneilles und Racines noch in hohem Alter umschwarmt. Seine Eitelkeit 
brachte ihm viel Tadel und manche sicher unzutreffende Anekdote ein. 

5.838,/* Bill und Act; Gesetzentwurf und das daraus erwachsene Ge- 
setz. — 1 2 in nuce: im Keime. — 14 enrages und noirs: Bezeichnungen fur 
radikale Revolutionsparteien in Frankreich. - 14 Philippe Her^og von Or- 
leans (1747—93): »der rote Prinz«, stand unter dem Namen Philipp Egalit£ 
auf der auBersten Linken im Nationalkonvent und stimmte mit dieser fur 
den Tod Ludwigs XVI. Als sein Sohn 1793 m k dem General Dumouriez 
zu den Osterreichern uberging, wurde Philipp guillotiniert. — 2 5 Jean Paul 
Marat (1744-93): fanatischer Anhanger Dantons, stiirzte mit ihm die 
Girondisten und veranstaltete unter ihrenAnhangern eingraflliches Blutbad. 
1793 wurde er von Charlotte Corday im Bad erstochen. — 29 mort: So nennt 
man im I/hombre den Strohmann, den vierten Spieler, der gerade aussetzt. 

S.840^ Muhameds Reise: Von Mohammed berichten die arabischen 
Historiker ubereinstimmend (vgl. Gibbon: ^Decline und Fallof the Roman 
Empire*, Kap. 56), er sei von einem geheimnisvollen Tier Borak aus dem 
Tempel zu Mekka durch alle sieben Himmel vor Gottes Thron getragen 
worden. Diese Reise nahm nach Gibbon allerdings doch den zehnten Teil 
einer Nacht in Anspruch. 

S.842,jj Marie Catherine Biheron (1719-86): Sie hatte in vieljahriger 
Arbeit ein Kabinett von Wachsfiguren und von zerlegbaren, anatomischen 
Figuren geschafTen, solche auch zum Teil verkauft. 

S. 845,7 5 Edikt von Nantes: das Toleranzedikt von 1598, in dem Hein- 
rich IV. den Hugenotten Religionsduldung zusicherte. - 33 Lehisternien: 
Kulthandlung im antiken Rom, bei der kiinstliche Genienbilder zu 
Tische lagen und feierlich bewirtet wurden. - 3$ Panist (»Versorgter«) : 
Laienpfrundner. 

8.846,*/ Forster: s.o. zu S. 427, 30. Vgl. seine vortreffliche Schilderung 
in den »Ansichten vom Niederrheim i.Abt. XXI.Abschnitt. Es handelt 
sich um das Hochaltarblatt von Rubens in der Antwerpener Kathedrale. 

S.847, 2 unkennen: wenig gliickliche Eindeutschung von »ignorieren«. - 
7 russischer Eispalast: Im strengen Winter 1756 hatte ein Hoflihg fur die 
Kaiserin Katharina von RuBland auf dem See bei Petersburg einen Palast 
aus Eis errichten lassen. An seinen Eingangen spien Delphine kalte Naphtha- 
flammen. - 18 Papilloten: Haarwickel. - 34 wie Pompejus* Fitter: Caesar 
soil wahrend des Biirgerkrieges seinen Soldaten befohlen haben, im Kampf 
stets auf das Gesicht der Krieger des Pompejus zu zielen. 



ANMERKUNGEN 1 293 

S. 848, * 2 Freiheiten der gallikanischen Kirche; Die sog. »Gallikanischen 
Freiheiten«, die 1438 in der »Pragmatischen Sanktion« erstmals gesetzlich 
verankert wurden, sicherten der franz. Krone und dem Klerus weitgehende 
Selbstandigkeit von Rom zu. 1594 durch Pithou systematisiert, blieben sie 
bis zum Ausgang des »ancien-regime« in Kraft. Doch scheint der Vergleich 
bei J. P. wie offers willkiirlich durch das Wort: »Freiheit« hervorgerufen. - 
28 Clarissa: s.o. zu $.29,22. Die ersten vier Teile des Romans schildern 
den Kampf von Clarissa gegen ihren Verfuhrer Lovelace, dessen gewalt- 
samer Werbung sie im 5. Band zum Opfer fallt. 

S. 849, 31 St. Clermont: J. P. denkt an die »ponts naturelles« bei Clermont- 
Ferrand. 

S.854, 30 ff. Iphigenie: vgl. »Iphigenie auf Tauris«, II, 1 und III, 1. 

S. 856,4-^3.2 Er legte an den Spinnrocken usw.: Einschub der zweiten 
Auflage. 

S. 857, 20 Rikoschetblicke : s.o. zu S. 578,2. 

S. 858, i if. dafi sonach die Geschichte usw. : wieder eine Sinnumkehrung. 
Es mufite heifien : »dafi sonach. . . meine Beschreibung in einem halben Jahre 
der Geschichte nachkomme«. Doch ist hier auch an einen Scherz zu denken. 

S. 861, * .2 recht gern: In den ersten beiden Auflagen folgt: »Denn auch 
Klo tilde mied, eingedenk der letztern Beklemmungen, das Schauspiel, und 
bio 13 die funfjahrige Giulia muBte ihre liebende Seele kiihlen.« — 30 concert 
spirituel: s.o. zu S. 391, 32. 

S.862,:^ a la grecque: in griechischem Geschmack, svw. grotesk oder 
bizarr. 

S.$6<i,6jener Tyrann: der aus der Theseussage bekannte Riese Pro- 
krustes, der grofigewachsene Gaste in ein zu kurzes Bett zu legen pflegte 
und ihnen dann die iiberstehenden Glieder abhackte. — 34 mundieren: ins 
reine schreiben. 

S. 866, 6 drei Alphabete : in Druckbogen des Romans. Bekanntlich wurden 
damals noch die Bogen in der Setzerei mit den Buchstaben des Alphabets 
bezeichnet. - 21 joues de Paris: kimstliche Wangen, wie »cul de Paris« 
gebildet. 

S. 867, Sff. Sechster Sckalttag: Berend nimmt fur diesen bedeutenden 
Aufsatz Anregung durch Herder an, von dessen »Briefen zur Beforderung 
der Humanitat« der zweite, thematisch verwandte Teil 1793 erschienen 
war, und wohl auch durch Christian Otto, der in dieser Zeit eine Unter- 
suchung iiber den Parallelismus der Kreuzziige, der Reformation und der 
Revolution ausarbeitete. — 28 wie ein bekannter Philosoph: vermutlich Her- 
der in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784 
bis 179 1). - 33 Metamorph. L. II. Fab. to: nach der heute iiblichen Ein- 
teilung der Metamorphosen: Buch 9,36 ff. 

S.868,£ Vortiielle: Wimpertierchen. 

S.869,5 bowling-green: Rasenplatz. — i5 die Nativitat stellen: das kiinf- 
tige Geschick aus den Sternkonstellationen der Geburtsstunde vorher- 



1 294 ANMERKUNGEN 

sagen. — 21 allgemeine Welthistorie: s.o. zu 8.638,18. — 28 Code noir: 1685 
erlassenes Gesetz, das die Verwaltung und den Handel der Neger in den 
franz. Kolonien regelte. — 31 Dekretalbriefe und Extravaganten: die dem 
»Corpus juris canonici« beigegebenen Sammlungen von Dekretalen (Ent- 
scheidungen) Johannes* XXII. und der spateren Papste. 

S. 870, 1 Achilles* Schild: Auf ihm stellte Hephaisth nach Homers Bericht 
(Ilias XVIII, 478 ff.) Menschen, Tiere, Stadte, die Erde und das Meer, die 
Sonne und alle Gestirne dar. 

S. 871 ? 2 platonisches Jahr; ein Zeitraum von *und 25800 Sonnen- 
jahren, den der Pol des Himmelsaquators braucht, um einen Umlauf um den 
Pol der Ekliptik auszufuhren. 

S. 872,2 6" Librationen: Schwankungen, bes. des Mondes in seiner Stel- 
lung zur Erde. 

S. 873,2.7 Untertanenhandel : s.o. zu S.50,1. 

S. 875, 24-S77, s> Verwechslung Viktor s: Einschub der zweiten Auflage. 

S. 878,^5 majore und minore: Dur und Moll. 

S.879 >t 32 ich und der Leser: vgl. o.S.539,2if. 

S. 882, 6—1 2 Viktor hatte sogar usw. : Zusatz der zweiten Auflage, ebenso 
die Stellen, auf die darin angespielt wird. (Vgl. o. S. 690,9-11, S. 779, 20 f. 
undS.856,23ff.) 

S. 895,4 Coventgarden: das 1733 am Markt errichtete Londoner Theater. 

S. 896,^33 Professor Hoffmann: Leopold Aloys Hofmann (1 746-1 806): 
beriichtigter Denunziant und Journalist in Wien, gab 1792 die » Wiener 
Zeitung« heraus, in der er versteckt und offen gegen die aufklarerischen 
Tendenzen und die Ideen der Revolutionszeit zu Felde zog. 

S. 897,2 / Chiragra: Handgicht. - 23 kartesischer JVirbel: s.o. zu S.208, 
31- — 33 dephlogistisierte Luftart; Sauerstoff. 

8.898,2.3 Haller: in den »Elementen der Physiologie«, 5.Bd., i5.Buch, 
Abschn. 2, § 4. 

S. 899,2 4 Geldborse am Hintern: s.o. zu S. 744, 12. 

S.900,/<?/e grand escuyer tranchant; seit Philipp IV. von Frankreich 
ein Titel des koniglichen Bannertragers. der bei feierlichen Anlassen als 
Vorleger an die konigliche Tafel gezogen wurde. - 22 Wahlreiche und Erb- 
lande: Bohmen und Ungarn sind unter den Wahlreichen Osterreichs zu 
verstehen, wahrend Erblande die den Habsburgern erblich zugehorenden 
Gebiete genannt werden. 

S.901,4 fallopische Muttertrompete (tuba fallopia): Eileker, genannt 
nach dem italienischen Anatom Gabriele Fallopio (1523-62). - 29 syllo- 
gistische Figuren: in der Logik die vier moglichen SchluBfiguren einer 
Folgerung. - 31 Salvationssckrift : Verteidigungsschrift. 

S.902,j2<9 Boselkugel: Kegelkugel. - 32 Kalkant: Balgtreter. 

S. 903, 1 7 Vergette: Biirste, kurzgeschorenes Stirnhaar. - 33 Haar der 
Berenice: Das Haar, das diese agyptische Konigin der Aphrodite fur die 
gluckliche Riickkehr ihres Gemahls Ptolemaus Euergetes geweiht hatte, 



ANMERKUNGEN 1 295 

verschwand aus dem Tempel und wurde in ein Sternbild (nahe dem Lowen) 
verwandelt. - 3$ Kutmination im Nadir: Der Nadir ist als Tiefpunkt dem 
Zenit entgegengesetzt, also eine Aufgipfelung im Tiefpunkt. 

S. 904,22 Pfeilnaht (sutura sagittalis): verbindet die beiden Scheitel- 
beine. - 1 4 Zainhammer (auch Zahnhammer) : Werkzeug der Steinhauer. 

S.905,^ Antihypochondriacus : »A. oder Etwas zur Erschiitterung des 
Zwerchfells und zur Beforderung der Verdauung«, Titel einer mehrbandi- 
gen Sammlung von Anekdoten und Witzen, die G. A.Kayser in den Jahren 
1782-96 herausgab. — 9 Vademecum: Von den zahlreichen Schriften dieses 
Titels denkt J. P. (nach S. 548, 13) offenbar an das »V. fur lustige Leute, eine 
Sammlung angenehmer Scherze, witziger Einfalle usw.«, Berlin 1764-92 bei 
Mylius.- 13 Tobias5Vno//e*(i72i-7i):engl. Arztund Romanschrifts teller, 
dessen Schelmenromane (»The adventures of Roderick Randonw 1748 und 
vor allem»The adventures of Peregrine Pickle« 175 1) typisch fiir das von J. P. 
als »niederlandisch« gekennzeichnete Genre sind. Vgl. ftVorschule der 
Asthetik« § 72. 

S. 908, / 4 man begeht die meisten Torkeiten usw.: vgl. o. S. 66 5, 13. 

S. 9 12,32 Klaglibell: Klageschrift. — 33 Ruhr um: der mit roter Tinte 
geschriebene Titel eines Urteils. 

S.913, 5 Abt Galiani: s.o. zu S.156, 24. - 6 der alte Shandy: vgl. Tristram 
Shandy III, 29. — 32 Salvator Rosa: s.o. zu S. 249, 13. — 34 jus imaginum: 
Recht auf Bilder (Recht, sich Bilder zu setzen). 

S. 9 1 4,jz Esaushande: Anspielung auf die bekannte Erzahlung vom 
Erbbetrug des Jakob. Vgl. i.Mose27,nfT. 

S. 91 5, 1 2ff. Sebastian: im einen Fall das beriihmte Spatbild Tizians (um 
1 570), das sich heute in der Petersburger Eremitage befindet, im andern das 
Jugendbildnis van Dyks, heute im Besitz der Alten Pinakothek in Miinchen. 
Die beiden Stellen, an denen van Dycks »Sebastian« erwahnt wird (S.915, 
16-19 un< ^ S. 9 19, 1 8-21 samt der zugehorigen Anmerkung) sind erst in 
der zweiten Auflage eingeschoben. - 2 6 Kallus: Rinde, Haut. - 30 griechi- 
sches Feuer: bereits im Alter turn bekanntes Kriegsmittel, das vor allem im 
Seekampf gern verwendet wurde, da dieses Feuer auch durch die Beruhrung 
mit Wasser nicht geloscht wird. 

S.916, 14 Nikolaus Rosen v.Rosenstein (1706-73): beruhmter schwed. 
Arzt, war bahnbrechend in der Entwicklung homoopathischer Heilmittel. 

S. 919, 22 Weiber in Italien: Sie verhangen die Bilder, damit die Heiligen 
sie nicht siindigen sehen. - 2 5 Hol^schnitt {u den iehn Geboten: Wohl der 
Holzschnitt zum sechsten Gebot, auf dem David die nackte Bathseba im 
Bade beobachtet. Die groben, unbeholfenen Holzschnitte des Bayreuther 
Katechismus nahm J. P. spater zum AnlaB fur seine satirische »Erklarung 
der Holzschnitte« von 1797. 

S.920,p globe de compression von Belidor: Druck- oder Mordschlag, 
s.o. zu S. 505,8. 

5.925,? Sabbaterweg: s.o. zu S. 629, 25. 



1 296 ANMERKUNGEN 

S.926,22 Pitt: s.o. zu S. 737, 23. — 34 Isaak Casaubonus (15 59-1614): 
franz. Humanist. 1614 verfaBte er im Auftrag Heinrichs IV. seine umfang- 
reiche Schrift: »Exercitationes de rebus sacris et ecclesiasticis contra Baro- 
nium«, in denen er den Geschichtsirrtiimern des gelehrten Kardinals (s. u. zu 
S.966, 5) nachging. Der Nachsatz, der fur J.P.s Art, Anmerkungen zu 
schreiben, recht bezeichnend ist, wurde in der dritten Auf lage angefugt. 

S. 928, 34 Prefifreikeit: Gemeint ist wohl die Proklamation gegen auf- 
ruhrerische Pamphlete, die 1792 erlassen wurde. 

S.929, 29 Gradual-Disputation: ofTentliche Verteidigung einer These, 
um den Doktorgrad zu erlangen. — 31 Nicolas de Catinat (1637-1712): 
Marschall von Frankreich unter Ludwig XIV., zeichnete sich besonders in 
den italienischen Feldziigen 1690-96 aus. Von ihm waren damals noch zahl- 
reiche Sentenzen im Umlauf. 

S.930,zjf/; Nominal- und Realterrition : miindliche und tatliche An- 
drohung der Folter. - 19 Hermann Boerhaave (1668-1738): Professor der 
Medizin und Botanik in Leyden, dort Lehrer Albrecht von Hallers, einer 
der bedeutendsten Arzte aller Zeiten. — 36 Schufiwasser ■.* aus Krautern mit 
Weingeist destilliertes Wundwasser. 

S.932, 5 Harten: bayr. Kinderspiel, bei dem gekochte Eier mit den 
Spitzen gegeneinander gesto Ben werden. Das hartere, unverletzt bleibende 
Ei gewinnt. — 11 Iris: die griechische Gotterbotin. — 18 Vergifimeinnickt: 
s.o. zy S.781,^. 

S-933,-^ Stolgebiihren: Nebengebuhren fur den evang. Pfarrer. - 14 
Pastoraltheologien: spottische Anspielung auf Oemlers schon erwahntes 
oRepetitorium iiber Pastoraltheologie«, s.o. zu S. 138,7. - 36 Voetius: s.o. 
zu S.84,3ofT. Die beiden Zitate sind der gleichen Stelle entnommen. 

S.934,jz papinischer Topf: s.o. zu S.90,34. 

S. 936,-2/ Kasualrede: Gelegenheitsrede. 

S-937>' 7 Kautelai -jurisprudent: der Teil des praktischen Rechtes, der 
sich mit den mdglichen VerhutungsmaCnahmen eines Schadens oder Ver- 
brechens befaBt. — / y medicina forensis : Gerichtsmedizin. — ly Spkragistik: 
Siege lkunde. - 29 so oft: in der dritten Auf lage fehlt »so«. - 3S Bander- 
lehre (Syndesmologie) : Teilgebiet der Anatomic 

S.938, -26" Fallhut: Ihn trugen kleine Kinder, um sich beim Sturz nicht 
zu verletzen. 

S. 940, 1 3 Ruhe du auch: s.o. S.766, 19. 

S. 941, 9 nachtlichte: Durch diese eigene Wortpragung ersetzte J.P. in 
der dritten Auf lage das gebrauchliche Fremdwort: »illuminierte«. Die 
Reimersche Gesamtausgabe hat die falsche Konjektur: »nachtliche«, der die 
meisten Ausgaben folgten. 

S. 942, 2y Vierfunftel: Die Drucke setzen iibereinstimmend»FunfvierteI«. 
Da ein SpaB an dieser Stelle aber auszuschlieften ist, mufi man an eine 
Entgleisung der Feder denken. 

S.945,?# car tel est noire plaisir: seit Franz I. die Formel, mit welcher 



ANMERKUNGEN 1 297 

der franz. Konig auf Briefen der Staatskanzlei seine Entscheidungen be- 
zeichnete. - 29 Frani Koch: Diesen abgedankten, auf einer Art Maul- 
trommel spielenden Soldaten, hatte der Dichter bei einem Konzert in Hof 
im August 1792 gehort. Koch wurde — beilaufig bemerkt — durch den 
Roman so beruhmt, daB sich ein zweiter Virtuose unter seinem Namen 
etablierte. 

S. 946,2.? Lorettohaus; s.o. zu S.425,5. 

S.947,zc> teuerster **: Zu erganzen ist vermutlich »Christian Otto«. 

S.949,^ weifte Taube: s.o. S.888,7ff. und S.766, 28 f. — 20 Wie sie so 
sanft ruhenJ ': Anfang des Liedes: »Der Gottesacker«, dessen erste beiden 
Strophen A. C.Stockmann dichtete und das sparer vielfach umgearbeitet 
wurde. 

S.95i } 5 Vergifi mein nicht usw.: frei nach der zweiten und dritten 
Strophe des Knebelschen Liedes (s.o. zu S.781,4). 

S.961, //. Vorrede %um dritten Heftlein: Der beigefugte Zusatz der dritten 
Auflage ist falsch. Es muB umgekehrt heiBen; »das in der ersten Auflage 
erst hier begann«. 

S.963,^ Quinquenell: s.o. zu S. 114,21. — 13 Gehenna: Urspriinglich ein 
dem Moloch geweihtes Tal bei Jerusalem, in der christlichen Kirchensprache 
der Hollenpfuhl. 

8.964,^ Halloren: So werden die Salzsieder in Halle genannt, die eine 
streng in sich geschlossene Gilde bildeten und eine eigene, dem Rorwelschen 
verwandte Sprache entwickelt haben. - 8 Gex: eine Landschaft und ein 
Stadtchen im franz. Jura, in dem der Kretinismus sehr verbreitet war. - 31 
Stab Wehe: s.o. zu S. 180,35. 

S.965, 2 Platrler: vgl. seine »Philosophischen Aphorismen« 1793, Teil 1, 
S.609, § 1008. — y blumauerische Parodie: s. o. zu S. 548, 1 1. — 21 Yorick mit 
den Eseln: 1768 erschien in London eine Sammlung »Sermons to asses« von 
John Murray, die in der deutschen Obersetzung von 1769 Sterne unter- 
geschoben wurde und den Titel: »Yoricks Predigten an Esel« erhielt. 

S.966,4 Cesare Baronio (1 538-1607): rom. Kardinal und Kirchenhisto- 
riker, began n seine i>Annales ecclesiastich als junger Mann und vollendete 
den letzen der 1 2 Foliobande erst in seinem Todesjahr. 

S. 967, p Doppetspat: durchsich tiger Kalkspat, der a lie Gegenstande dop- . 
pelt zeigt. 

S. 968,3* Traum am dritten Osterfelertag: s.o. S.985,27fF. 

S. 969,3/ die iweite Welt aufsteigt, und wenn: Dieses Stuck des Satzes 
ist nur in der ersten Auflage enthalten, wahrend es in den folgenden ver- 
sehentlich ausgefallen ist. 

S. 970, 31 oft: Noch die zweite Auflage setzt verallgemeinernd »immer«. 
Eine der zahlreichen Ausdrucksmilderungen der letzten Ausgabe. Vgl. o. 
S. 606, 25 und die Anmerkung. 

S.971, 31 Gullivers lettfe Reise: Im Land der Pferde war das Lugen un- 
bekannt. - 33 Kubach: Gemeint ist »TagHches Bet-, BuB-, Lob- und Dank- 



1298 ANMERKUNGEN 

opfer, d.i. Grofles und vollkommenes Gebetbuch« von Michael Cubach, 
das schon 161 6 in Leipzig erschien und mehrere Auflpgen erlebte. — 33 
Schat{kdstlein: Titel von zahlreichen, religiosen Erbauungsschriften der 
Zeit. — 33 collegia pietatis : So nannte Philipp Spener (s.o. zu S. 601, 21) in 
Frankfurt seine gemeinsamen Andachtsstunden, die er erst in seinem Hause, 
dann nach 171 2 auch in der Kirche abhielt und die bald an vielen Orten 
Nachfolge fanden. 

S. 972, z 0-973, 3 Besuch bei Agnola: Einschub der zweiten Auflage. 

S. 974, 30 liquor probatorius (richtig: L. vini probatorius) : Hahnemann- 
sche Weinprobe. Durch das einfache Auflosen von Weinsaure in Schwefel- 
wasserstoff kann man die Verfalschung des Weines durch Bleisalz fest- 
stellen* 

S.975, 2 Moria: Auf diesem Berg fand nach dem A. T. dieOpferunglsaaks 
durch Abraham statt. Vgl. i.Mose 22,2-14. 

S. 976^,9 der beriihmte Graf von Briihl; der Gunstling und erste Minister 
Augusts des Starken, den er ganzlich unter seinen verhangnisvollen Ein- 
fluB zu bringen ver stand. »Leben und Charakter des Grafen von Briihk 
wurden schon 1760-64, unmittelbar nach seinem Tode, von Justi dar- 
gestellt. 

S. 977, 1 4 Uriasbriefe : s. o. zu S. 5 1 8, 1 2. 

S. 978,5 Freuden-Lymphe : Lympha heiBt urspr. »Gewebesaft«. 

S. 979, i 5 Kurhut; Neun Kurfiirsten gab es nur von 1692 an (endg. 1708), 
als Hannover mit der Kurwiirde bekleidet wurde, bis zum Aussterben der 
bayr. Linie der Wittelsbacher 1777. Dann fielen durch die Erbfolge der 
Heidelberger die getrennten Kurwiirden von Bayern (seit dem BeschluB 
von 1623) und der Pfalz wieder in eine zusammen, und Hannover riickte 
an die achte und letzte Stelle. - 24 investitura per pileum : Belehnung durch 
den Hut, der nach germanischem Brauch bei der Lehensubergabe als Rechts- 
symbol diente. 

S. 980, 24 Fettmannchen: geringe kolnische Scheidemiinze. » 3&f. Ge- 
richthalter y Musikmeister und Lebensbeschreiber : Das sind J.P.s Berufe in 
der »Unsichtbaren Loge«. 

S. 98 1 , 33 Phalanen : Nachtfalter. 

8.985,^5 Lieder: Das richtige Verstandnis ist hier erschwert, da J.P. 
fiir Lieder und Augenlider gleichmaBig »Lieder« schreibt. Vgl. jedoch o. 
S. 968,32. 

S. 987, 2 Konduktor: Leiter an einer Elektrisiermaschine. — 3 holier- 
schemel: Isolatorium, s.o. zu S.99,21. - ly Nur meinen Vater usw.: Der 
Sinn dieser Stelle, die offenbar dialektisch gefarbt ist, muB lauten : »Wenn 
es nur meinen Vater nicht erschlagt!« Die ersten beiden Auflagen schreiben 
dafur »nichts«, was wohl im Sinne der Redensart: »es verschlagt nichts« noch 
zu verstehen, aber schwer mit dem Zusammenhang zu vereinen ist. - 
19 JValdhammer: s. o. zu S. 69, 19. 

S.989, 5 Herrenschmidts osculologia: Jak. Herrenschmidt gab 1630 ein 



ANMERKUNGEN 1 299 

dickleibiges Werk : »OscuIologia theologo-philologica usw«. heraus, das J. P. 
vermutlich durch seinen Titel aufgefallen war, unter dem er sich jedoch zu 
unrecht ein »Lehrbuch des Kiissens« versprach. So schreibt er an Wernlein 
(Brief vom 20. April 1791): »Konnen Sie nicht Herrenschmidts osculologie 
fur mich erstehen, weil ich ihn haben muB, um nur, wenn mich einer fragt : 
was ist ein KuB, mit einer Nominaldefinition und einigen literarischen 
Notizen bei der Hand zu sein. Hier will mirs kein Teufel definieren.« - 
19 Frauinlob: Der Minnesanger Heinrich von MeiBen, gen. Frauenlob, 
wurde 1 3 1 8 von acht edlen Frauen - nach dem Bericht Albrechts von Strafi- 
burg — zu Grabe getragen, weil er den Frauen in seinen Liedern so groBes 
Lob erteilt hatte. — 21 Verfasser des deutscken Alcibiades: Gemeint ist Karl 
Gottlob Cramer (1758-1817), Verfasser von vielbandigen Ritter- und 
Rauberromanen, der in Deutschland lange Jahre ein Modeautor war. Er be- 
gann mit noch stark aufklarerischen Romanen, zu denen audi »Der deutsche 
Alcibiades« (1790^) und »Hermann von Nordenschild« (1791 f.) gehoren. - 
34 f. nach der Bergsprache: Bergleute von der Feder werden beim Bergbau 
die Leute in der Schreibstube genannt, von Leder und von Feuer die Gru- 
benarbeiter und die Hammerschmiede usw. 

S. 990, iz Kot^ebue: s.o. zu 8.143,30. — 13 Poetenwinkel in Jena: Der 
Ausfall auf die Jenaer Romantiker (den Kreis um die Gebriider Schlegel) 
und die Note unten traten erst in der letzten Auflage an die Stelle einer noch- 
maligen Nennung Cramers. - 34 Lucinde: Friedrich Schlegels frivoler und 
halb programmatischer Roman von 1799. — 34 Herders Feinde: Herder 
war in dieser Zeit mit den Kantianern und der romantischen Schule in Jena 
und der dortigen »Literaturzeitung« in einem heftigen Kampf begriffen, 
an dem sich audi der Dichter auf Herders Seite beteiligte. 

S.992,j/ Youngin: (von den Gedanken Edward Youngs beeinflufite) 
Schwarmerin. 

S.993,zjtff- Prospekte und Florhut: Diese Szene ist schon bei Fielding 
vorgebildet. Im »Tom Jones« (io.Buch, 7,Kap.) findet Blifil beim Helden 
den Hut der Sophie Western und bringt damit Tom Jones in den gleichen 
Verdacht. 

S. 994, 1 9 wie Ritter Mhhaelis: Joh. David Michaelis (1717-9 1), Theologe 
und Orientalist von europaischem Ruf, veroffentlichte 1762 in Frankfurt 
a. Main »Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Manner, die auf Befehl S.M. 
des Konigs von Dahemark nach dem Orient reisten«. - 3^~995> s Raub des 
Schattenrisses ; Einschub der zweiten Auflage. Vgl. o.S. 541,20^. 

S.995,^ Avisfregatte: Schnellboot zur Obersendung wichtiger Nach- 
richten. 

S. 996, 2 sokratischer Genius: Sokrates erzahlt bekanntlich in Platos 
»ApoIogie« von dem Genius in seiner Brust, der ihm nie zustimmenden Rat 
erteilte, ihn aber stets vor einem falschen Verhalten zu warnen pflegte. 

S. iooo t 1 3 Maler: vgl. o. S.536,2off. Auch diese Stelle (bis Zeile 23) 
ist in der zweiten Auflage eingefiigt worden. 



1 3OO ANMERKUNGEN 

S. 1 00 1, 32 Raguel: Im apokryphen Buch Tobit des A.T. schaiifelt 
Raguel urn Mitternacht ein Grab fiir Tobias, der als achter Freier urn seine 
Tochter Sara geworben hat. Alle anderen hatte der bose Geist Asmodeus 
in der Hochzeitsnacht getotet. Da Tobias am Leben bleibt, schiittet er das 
Grab am Morgen frohlich wieder zu. Vgl. Tobias 8,9-17. 

S. 1 002, 1 6 Pkilippi-Jakobi : 1 . Juni. 

S. 1005,/ 5 teurer: DieDrucke setzen ubereinstimmend »treuer«, was stark 
gegen den Sinn der Stelle verstoBt. 

S. 1006, *o Korpuskularphilosophie: Lehre von den Urkorpern. Danach 
ist die Seele schon im Diesseits von unsichtbaren Korperteilen umgeben, 
die den Urstoffzu einem atherischen Korper im Jenseits bilden. - 13 Zas- 
pel: ein groBes GarnmaB von je 20 Strangen, - 13 weifen; haspeln, auf- 
wickeln. 

S.i 008, 12 Bestia-Spiel; Spiel mit hohem Einsatz. (Bete nennt man im 
Kartenspiel den Strafsatz oder den Einsatz). - 31 Versohntag: Eigentlich 
umgekehrt: »der groBe Versohntag des 4ten Mai.« vgl. o. zu S. 186, 10. 

S. 1009, 3ff* Schnepfenthaler Er^iehanstalt usw. ; Bisauf das oscheerauische 
Marianum«, das der ^Unsichtbaren Loge« entstammt, bedeutende Erziehungs- 
institute der Zeit. Besonders die Schnepfenthaler Anstalt in Thiaringen, 1784 
von Christian Gotth. Salzmann gegriindet, stand in hohem Ansehen. - 
33 *'"".* eine der von Sterne beeinfluBten, scherzhaft genauen Winkel- 
ahgaben. 

S. 1010, 3 milder; Textkonjektur von Josef Mliller fiir das in den Druk- 
ken stehende »wilder«. — 20 Septleva (richtig sept-et-le-va) : die siebenfache 
Verstarkung des Spieleinsatzes und der entsprechende Gewinn. 

S. 101 1, 4 Schnarrkorpusregister (auch Schnarrwerk genannt) : die Pfeifen 
und Metallzungen an der Orgel, die einen schnarrenden Ton erzeugen. - 
10 Wurstschlitten: s.o. zu S. 730, 24. 

S. ioiz y i4 FUmet; Wohlgeruch bei Speisen. - 29 Centos- und Pluvios- 
Tag; Wind- und Regentag. 

S. 1014,4 sympathetische Kuren: Diese sind auf die geheimnisvolle 
Wechselwirkung zwischen der Seele oder Organen des menschlichen K6r- 
pers mit Dingen der Umwelt abgestimmt. Durch das Sprechen wiarde 
dabei der Rapport unterbrochen. 

S. 1015,^5 Brumaire: Nebelmonat (22.Okt.-20.Nov.), der zweite im 
Revolutionskalender. - %5 Floreal: Blutenmonat (20.Apr.-19.Mai). 

S. 1 01 6, zy Antoninen und Sulla: Unter den Friedenskaisern Antoninus 
Pius und Marc Aurel, der von ihm adoptiert war (138—180 n. Chr.), stand 
Rom in seiner hochsten Bkite, unter Sullas Diktatur herrschten Willkiir 
und Gewalt, doch hatte Sulla wenigstens nominell die Herrschaft des Senates 
und der republikanischen Ordnung wiederhergestellt. - 36 Lause Sullas: 
Nach einer im Altertum verbreiteten Sage soil Sulla an Lausen gestorben 
sein. 

S. 1017,36" Karl Ferd. Hommel (1722-81): verdienstlicher Rechts- 



ANMERKUNGEN 13OI 

gelehrter. J.P.s Zitatangabe ist ungenau. Er meint die »Rhapsodia quae- 
stionum in foro quotidie obvenientium usw.«, die, 1765 erschienen, ihren 
Verfasser lange in Ansehn erhielt. 

S. 1018, 8f. z'l.Oktober und 4, August: Die Anspielung auf den n.Ok- 
tober (des Jahres 1788?) vermag ich nicht zu erklaren, am 4. August 1789 
hob die franz. Nationalversammlung alle Feudalrechte auf. -to David: 
vgl. i.Chron. 28, nff. - 30 Fiat justitia usw.: Es geschehe Recht, auch 
wenn die Welt dariiber zugrunde geht! Devise Kaiser Ferdinands L von 
Habsburg. 

S. 1 01 9, 2Cf Januarius in Pu^olo: Berend vermutet in dem verklausu- 
lierten Bonmot eine Anspielung auf die Zerstorung der Nase durch die 
Lustseuche. - 31 kleir\en 6foacAen;Vor>>kleinen<<muBnotwendig>>einzelnen<( 
erganzt werden, da ohne diesen Zusatz die Antithese nicht zur Geltung 
kommt. - 37 Labats Reisen: Die Stellenangabe der Anmerkung bezieht 
sich auf den 5.Teil der »Voyages en Espagne etltalie« (8Bde) des franz. 
Missionars und Reisenden Jean Baptist Labat (1663-1738), die 1758-62 in 
der deutschen Obersetzung von Trblsche erschienen waren. 

S. \02O,iff. narrischer Gedanke: Diese Szene - ob dabei ein Wunsch- 
traum des Dichters zugrunde liegt, wie es Berend sehr wahrscheinlich 
macht, bleibe dahingestellt - dient ganz konkret der Vorbereitung auf die 
Entdeckung J.P.s als funfter Fiirstensohn, an welcher Stelle (s.u. S. 1228, 
30 ff.) der Gedanke spielerisch wieder aufgenommen wird. - // Knas: 
russ. Fiirstentitel. 

S. 1021, 3 infulieren: (mit dem Bischofshut) bekronen. - 4 Doktor Lud- 
wig: wohl Christian Gottlob Ludwig (1709-73), dessen »Institutionen« der 
verschiedenen medizinischen Diszip linen lange als Lehrbiicher dienten. - 
5 Tissot von den Nerven: Der unvollendete »Traite des nerfs et des leurs 
maladies« des beriihmten Schweizer.Arztes Simon- Andre Tissot (1728-97) 
ist gemeint, der 1781/82 in deutscher Obersetzung erschien und von J. P. 
exzerpiert wurde. 

S. 1022, 1 Sf. dionysische und konstantinopolitanische Periods: Die erste 
wurde um 525 n. Chr. von dem rom. Abt Dionysius eingefiihrt und setzt 
als An fang der Epoche die Geburt Chris ti, die zweite taucht, unbekannten 
Ursprungs, zuerst im 7. Jahrh. auf und gibt als Periodenbeginn das Jahr 5509 
v. Chr. an. — 22 Paulus: vgl. 2.Kor. 12, 2f. 

S. 1023, j ; capitulatio perpetua: ewig gtiltiges Abkommen. So wurde 
der Wahlvertrag des Westfalischen Friedens genannt, da er unauflosliche 
Geltung besitzen sollte. 

S. 1024, 8 Sansculotide: So nannte man im Revolutionskalender Fest- 
tage, die auf die Schalttage der einzelnen Monate fie ten. - 1 1 Robert Bett- 
armin (1 542-1621): jesuitischer Theologe, seit 1599 Kardinal, entschiede- 
ner Vorkampfer fur die Autoritat des Papstes gegen die Haretiker und die 
Reformation. Sein Hauptwerk, die »Disputationes de controversiis chri- 
stianae fidei adversus hujus temporis haereticosfl, erschien 1581-92 in Ingol- 



1302 ANMERKUNGEN 

stadt. - 7 6" Job. Jak. Moser (1701-85): wiirttemb. Staatsrechtler und Pa- 
triot. Er wurde 1759 durch den Herzog fiir sechs Jahre auf dem Hohentwiel 
in demutigender Weise gefangengesetzt und schrieb dort mit der Spitze 
seiner Lichtputze Abhandlungen, Aufsatze und zahlreicHe Kirchenlieder. 
Seine Leidenszeit hat er in der »Lebensgeschichte J. J.Mosers, von ihm selbst 
beschrieben« (3 Bde. 3.Aufl. 1777) dargestellt. - 1 7 Despotismus ; Das 
Gleichnis stammt von Montesquieu, s.o. zu S.354,25. 

S. 1025,2 jene vier Punkte: der Doppelpunkt und die beiden Gedanken- 
punkte am Ende des vorigen Absatzes. 

S. 1026, 27 frere terrible: »SchreckIicher Bruder« wird in den Freimaurer- 
Iogen der Bruder genannt, der die Adepten durch Schrecknisse zu priifen 
hat. — 28 unsichtbare Mutter -Loge: s. die Anm. zum Titel dieses Romans. 

S. 1027, 3 Paphos: eine der Aphrodite heilige Stadt auf Zypern. Dort 
befand sich ihr Haupttempel mit einem beruhmten Hain. - 4 wie Lud- 
wigXI.: KonigLudwig XI. vonFrankreich weihte 1478 auf einerPilgerfahrt 
zur Notre-Dame de Boulogne Stadt und Grafschaft der Maria. - 7 der alte 
Lipsius; Just Lipsius (1547— 1606), der als alter Mann wieder katholisch 
wurde, gab zwei Werke iiber die Wundertaten der Notre-Dame von Hal 
heraus. Im ersten »De diva virgine Hallensi liber, quo beneficia eius et 
miracula fide atque ordine descripta« (Antwerpen 1604) teilte er eine Weih- 
inschrift mit, mit der er dem Gnadenbild eine silberne Feder geweiht habe 
zum Dank fiir den Schutz bei seinen literarischen Arbeiten. - 22 Schatull- 
gut; ein Gut, dessen Ertrage der konigl. Schatulle zufallen. - 28 patrimo- 
nium Petri: Erbvermogen Petri, der Kirchenstaat. - 36 Hesperiden-Apfel: 
Nach der griechischen Sage bewachen die Hesperiden in einem Garten 
jenseits des Weltmeeres die goldenen Apfel des Lebens. 

S. 1028,7 Schupflehen: werden auf Lebenszeit verliehen, so daG man die 
Erben nach dem Tod des Erblassers wieder »schupfen«, d.i. vertreiben 
kann. — 13 Rittersprung : Er gab nach altem Rechtsbrauch Anrecht auf 
einen Besitz. Bei J. P. sehr haufig metaphorisch gebraucht. - 29 primus, 
adquirens: erster Besitzanwarter. - 29 Kunkellehn: ein Lehen, das auf die 
weibliche Linie iibergehen kann. 

S. 1029, 22 Fruktidor: Truchtmonat (18. Aug.- 16. Sept.), der zwolfte im 
franz. Revolutionskalender. 

S. 1032, 20 libieren: ein Trankopfer bringen, vergiefien. 

S. 1034, 28 Bilderblinde (oder -blende): Nische, in die ein Bild ein- 
gelassen ist. 

S. 1035, 29 Mauerkrone: s.o. zu S. 516,3. — 34 Lindenblatter : Die 
Drucke setzen versehentlich »Lindenblattern«. 

S. 1037,^7 Proprehandlung: Handlung mit eigenen Erzeugnissen. 

S. 1038,6 Sekundawechsei: bereits einmal protestierter Wechsel. - 10 
Talmudische Artikel: Im Talmud sind die Lehren und Vorschriften des 
nachbiblischen Juden turns zusammengefaBt, doch besitzt der Talmud keine 
kanonische Giiltigkeit. 



ANMERKUNGEN 1 303 

S. 1046,16 Voltaire: J. P. spielt auf den letzten Aufenthalt Voltaires in 
Paris in seinem Todesjahr 1778 an. — 21 Quadruplik: eigtl. vierte Eingabe 
der Verteidigung in einenvStrafprozeB. — zyGustav; vgl. das Ende der 
»Unsichtbaren Loge«. 

S. 1047,4 Tremulant; Beberegister an der Orgel, das alien Stimmen 
einen zitternden Klang unterlegt. 

S. 1048,5 Zwieselwagen: einfacher, unbequemer Bauernkarren. 

S. 1050, 5 mandata... propria: eigene Erlasse der heiligen kaiserlichen 
Majestat. - 24 Voliere: Vogelhaus, Taubenschlag. - 28 Wildau: Aus 
Sigauds »Dictionnaire des merveilles de la nature* hatte sich J. P. notiert: 
»Wildau HeB Bienen an seinem Arm einen Muff bilden, am Gesicht eine 
Larve - muBten auf seinen Befehl auf dem Tisch hin- und hergehn - 
machte es mit jeder Biene, Wespe, Fliege so und in funf Minuten zahm.« 

S. 1051,6* Tournure: Einkleidung. — 11 physiognomiscke Fragmente: s.o. 
zu S.98, 1. - 18 Mosisdecke: s.o. zu S. 226,26. - 32 Pupillenkolleg: Ober- 
vormundschaftsgericht. 

S. 1056, 4 alter Traum: s. o. S. 766, 3 1 ff. — 2 z der Traum: s.o. S. 986, 9 f. 

S. 1062, 20 Karnation: in der Malerei der Farbauftrag bei Fleisch- und 
Gesichtspartien. 

S. 1063, 3 nahere Weifie: J. P. spielt auf die Franzosenkriege der Zeit 
an. - $ Kiblah: das Ziel. Die Mohammedaner blicken beim Gebet nach dem 
Ziel ihres religiosen Lebens, nach Mekka. - 1 1 Seifersdorfer Tal: ein be- 
liebter Ausflugsort in der Umgebung von Dresden. 

S. 1065,26* Chrysalide: goldfarbige Schmetterlingspuppe. 

S. 1070, 3 2- 1 07 1, 30 Streit uber das Vergeben: Einschub der zweiten Auf- 
lage. 

S. 1072,2* Maestoso: J. P. hat hier wohl, wie auch sonst mehrfach, 
»maestoso« (feierlich) mit »mesto« (traurig) verwechselt. 

S. 1076,20 heimgegangen: die gewohnliche Inschrift auf Grabsteinen in 
den Herrnhutischen Friedhofen. ^ 

S. loSOjictff. Giulias Brief; So erhalt Siegwart, der Held in Joh. Martin 
Millers gleichnamigen Roman (s.o. zu S. 635, 13), von einem Madchen 
Sophie nach ihrem Tode ihr Tagebuch zugestellt, das die Geschichte ihrer 
vergeblichen Liebe zu ihm und ihres tod lichen Leidens enthalt. 

S. 1083,3 Kissen mit Heu: Um den Toten die Erde leicht zu machen, 
pflegt man in manchen Gegenden Deutschlands ihnen Kissen aus Heu in 
den Sarg zu legen oder den Sarg mit Heu zu bedecken. - 6 Lilie: s.o. zu 
S. 58,27. — 31 Das Grab ist tief und stille usw.: Das Gedicht von Joh. 
Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834) mit der Oberschrift: »Das Grab* 
ist der bekannten Sammlung seiner »Gedichte« entnommen, die Joh. Mat- 
thisson 1793 herausgab. 

S. 1095,22 Dikasteriant; Schdffenrichter, auch Anwalt bei einem 
Schoffengericht. 

§.io<)6y29 Hysteron-Proteron; »Hinterst-zuvorderst« (Goethe), eine 



I3O4 ANMERKUNGEN 

grammatische Figur, der-die Verkehrung der richtigen Reihenfofge im 
gedanklichen Ausdnick zugrunde iiegt. 

S.i 097, 3 Haberrohr; seit dem i7.Jahrh» eingebiirgerter Name fur die 
Schalmei. - 7 Mallei: J oh. Nep. Malzels (1772-1838) groBes Panharmoni- 
kon, mit dem der Wiener Mechaniker zuerst seinen Ruf begriindete, war 
1792 zum erstenmal gezeigt worden. - 8 Potemkins Orehester: Gregoire- 
Alexandrowitsch, Fiirst Potemkin (1739-91), der beruhmte russ. Staats- 
mann und langjahrige Favorit der Kaiserin Katharina, war fiir den Glanz 
seiner Hofhaltung und die Extravaganz seiner Neigungen beruhmt. Beide 
wurden 1793 in einem anonymen Buch tiber das »PrivatIeben des Fiirsten 
Potemkin« ausfiihrlich dargestellt — 20 Epkorus Emerepes: Emerepes, ein 
sparjanischer Ephor und ein Freund der alten Gepflogenheiten, soil die zwei 
Saiten zerschnitten haben, mit denen der Sanger Phrynis die Leier zu ver- 
vollkommnen suchte. Die Erzahlung ist Montaignes »Essays« (I, 22) ent- 
nommen. 

S. 1098,/ 7 Marianne Ehrmann, geb. Brentano (1755-96): Verfasserin 
zahlreicher moralischer Romane und Erzahlungen. Sie hatte wirklich 1789 
den StraBburger Privatgelehrten Ehrmann geehelicht, der sie in einer 
StraBburger Zeitung rezensiert hatte. 

S. 1099, 5 Epiphanius (gest. 403) : Metropolit von Konstantia und Freund 
des Hieronymus. Er zahlt in seinem »Panarion« (Arzneikasten) achtzig 
Arten der Ketzerei auf und Heilmittel gegen sie. - 5 Christian Wilh. Walch 
(1726-84): Kirchenhistoriker, gab in seinem Hauptwerk, das 1762-85 un- 
vollstandig in 1 1 Teilen erschien, einen »Entwurf einer vollstandigen Histo- 
ric der Ketzereien, Spaltungen und Religionsstreitigkeiten bis auf die Zeiten 
der Reformation*. — 9 Klinamen: Neigung. — 14 Monachismus: monchi- 
scheji>weltabgewandte« Lebenseinstellung. - 1 5 Fohismus: die friihe buddhi- 
stische Lehre des Fohi. Sie erkennt fiinf Umwandlungen in den Vorgangen 
des Lebens, bei denen a lie Elemente ineinander ubergehen und sich wieder 
aufheben. Aus dieser Kreisbewegung erwachst die ethische Forderung nach 
einer gelassenen, verachtenden Gleichgiiltigkeit gegen das Leben. Alle 
diese Begriffe besitzen fur J. P. keine historische Wertigkeit - sonst ware 
eine Reihenfolge: Christentum - Stoizismus - Fohismus gar nicht mog- 
lich -, sondern er verwendet sie fiir bestimmte gleichbleibende, philo- 
sophische Haltungen und Lagen. 

S. noOy 4 Bayie: s.o. zu S. 593,13. — 6 Miin^yvardein: Geldpriifer, der 
Gewicht und Wert der Miinzen zu uberpriifen hat. - 27 Schneidertsche 
Haut: eigtl. die Nasenschleimhaut, nach Konrad Viktor Schneider benannt, 
der sie 1660 in seinem Werk: »de catarrhis« zuerst beschrieben hat. Hier ist 
aber wohl eher an die Netzhaut des Auges zu denken. 

S. 1 102. 28 Bonnet: s.o. zu S. 709,3 5. - 32 wie Kardan: Geronimo Car- 
dano (1501—74), it. Philosoph und Naturwissenschaftler, gab 1546 und 1575 
in zwei Teilen eine Autobiographic heraus: »de vita propria*, von der sich 
J. P. sehr beeindruckt fiihlte. - 36 Hermann Samuel Reimarus (1 694-1 768) : 



ANMERKUNGEN I3O5 

Philosoph und Naturwissenschaftler mit vielsei tigs ten Neigungen. Er gab 
1756 eine »Vernunftlehre als Anweisung zum richtigen Gehrauche der Ver- 
nunft usw.« heraus, die 1790 bereits in funfter Auf lage gedruckt wurde. 

S. 1105,2* 3j.Hundposttag; Das Kapitel ist fur die zweite AufJage 
verandert und um zwei Szenen nicht unerheblich erweitert worden: einmal 
ist das Gesprach Klotildens mit der Pfarrerin und Emanuels Brief (S. 1 1 14,3 
bis 1118,13) eingeschoben, zum andern wurde die DuellarTare Flamins 
durch den Besuch seines Vaters (8.1120,28-1123,25) vorbereitet. - 26 Pal- 
myra: Die Ruinen von Palmyra, der unter der Herrschaft der Zenobia 
bluhenden Handel sstadt in Syrien, waren schon im 18. Jahrh. durch das von 
Wood und Dawson veroffentlichte Kupferstichwerk : »The ruins of Pal- 
myra* (London 1753) sehr beruhmt. 

S. 1 1 07, 5 Dominikaner Car done; Vincente Cardone, der um die Wende 
des 16. Jahrh. lebte, schrieb als junger Mann jenes Gedicht: »L'R sbandita« t 
das 1 61 4 zuerst erschien und 161 8 zusammen mit dem »L'AIfabeto distrutto« 
wieder aufgelegt wurde. - 20 dictum probans : Beweissatz. 

S.i 108, 23 Orleans: Philipp, Herzog von Orleans (1674-1723), der als 
Vormund Ludwigs XV. von 171 5 bis zu seiner Miindigkeit 1723 dieRegent- 
schaft in Frankreich innehatte, war fur sein ausschweifendes, ziigel loses 
Leben beruchtigt. 

S. 1109,2,9 lectures upon heads: George Alexander Steevens (1710-84), 
ein maBiger Schauspieler und Schrifts teller, trat 1764 in einer literarischen 
Kontroverse mit dem parodistischen Ein-Mann-Stiick: »A lecture upon 
heads* auf dem Haymarket hervor, das ihn in beiden Sparten zum gefeierten 
Mann machte. 

S. 1 in, 34 Klotilde: Die hi. Chlotildis regierte als Frau des ersten 
Frankenkonigs Chlodwig I. uber das frankische Reich. 

$.ni2. y zS Platner: in seinen »Phil. Aphorismen«, Leipzig 1776, S.401, 
§ 1049. 

S, m$> 7 erste Auf lage; s.o. zu S. 1105,21. - 26 spiritus asper: Das 
griechische Anlautzeichen bei nicht gehauchten Vokalen hat die Gestalt 
eines nach links geoffneten Kreises. 

S. 1 1 19, i Kant: vgl. »Kritik der prakt. Vernunft«, 1. T., 1. Buch, 3. Haupt- 
stiick. 

S. 1 1 22, 24 die junfte Bitte: s. o. zu S. 489, 1 5. 

S. 1123,26" Viktor horte usw>: Auch diese Wiederholung (vgl. 
S.i 117,35 ff.) * st durch die erwahnten Umstellungen und Erweiterungen 
des Kapitels bedingt. 

S.1128,2/ Moriti; Karl Philipp Moritz im »Magazin der Erfahrungs- 
seelenkunde« (ersch. 1783-93). Der zitierte Aufsatz: »Eine fiirchterliche 
Art von Ahndungsvermogen« erzahlt von Menschen, die andern den Tod 
am Gesicht ablesen konnen. - 28 Tod! Ich bin schon begraben; s. o. S. 1088, 28. 

S. 1 144, 27 Schlafe; Plural zu der alten Form: »Schlaf«. 

S. 1145,^^ Traum: Dieser Traum Emanuels wurde von J.P. am 



1 306 ANMERKUNGEN 

Todestag von K.Ph.Moritz (Brief vom 26.Juni 1793) gedichtet, der fur die 
Gestalt Emanuels als Vorbild diente. So schreibt der Dichter am i2.Aug. 
1795 an Moritz* Bruder: »Nie hat der Zufall Spiele der Phantasie bitterer 
realisieret als die im ,Hesperus' durch den Tod Ihres geliebten Verwandten. 
Denn uber ein Jahr vorher war schon der Plan und also Emanuels Sterben 
entworfen, das ich beinahe meistens schrieb, daft er es lese. Noch mehr, 
den Vernichtungstraum im 38.Kapitel, den ich spater einfiigte, machte ich 
gerade an seinem Todesmorgen.« Vgl. o. S.i 232,160*. Das widerspricht 
auch durchaus nicht der Angabe des »Vaterblattes«, wonach Emanuels Tod 
im Februar 1793 »voraus gemacht« wurde, denn das in sich selbstandige 
Stuck war leicht und ohne grofie Modiflkationen in den fertigen Teil ein- 
zufiigen. 

S. 1 1 52, 1 j Devalvation: Abwertung. 

S. 1 1 53, 5 Nebelstern: ein von einem kreisenden Schimmer umgebener 
Fixstern. 

S. 1 1 60, 3 Sagen meiner biograpkiscken Vor\eit: Anspielung auf Veit 
Webers schon o. zu S. 143,31 erwahnte Sammlung: »Sagen der Vorzeit« 
(1787—98). — 6 Banal-Chiffren: unaufgeschliisselte Zeichen einer Geheim- 
schrift. — 7 unbe^ifferter Generalbafl: Die Grundstimme im musik. Satz, des- 
sen harmonisches und korhpositorisches Gefiige noch nicht durch Zahlen 
angegeben ist. — 8 hebraische Konsonanten: Das Hebraische deutet die 
Vokale in der Schrift nur durch Punkte oder Striche unter den Konsonan- 
tenzeichen an. 

S. ii6i,zo gradus ad Parnassum (Stufen zum Parnafl).* So wurden lat. 
oder griech. Worterbiicher genannt, die den Worten Synonyma, passende 
Beiworter und metrische Bezeichnungen beigaben, zum Gebrauch bei pros- 
odischen und poetischen Cbungen. Der erste »Gradus ad P.« wurde 1702 
von Paul Aler in Koln ediert. - 1 3 er: bezieht sich auf Matz. Der Zwischen- 
satz, der den Zusammenhang unterbricht, ist mit der Stelle S. 1160,34 bis 
1 161,4 erst em Zusatz der zweiten Auflage. - 20 Dreikndpfler ; Le Baut war 
als Kammerherr berechtigt, drei Knopfe an seinem Staatskleid zu tragen. 

S. 1 162, 30 Schiefigeld und Meflgeschenk: Das Schiefigeld bekommt ein 
Jager fur das von ihm geschossene Wild, MeBgeschenke werden fiir gute 
Abschliisse auf den Handelsmessen ausgegeben. -3S Pre^ist; Bittsteller, 
Pfriindner. 

S. 1163,25 Drachen-Pechkugeln: Daniel gibt im A.T. dem babyloni- 
schen Drachen »>Pechkuchlein« zu fressen, an denen das Ungeheuer zu- 
grunde geht. Vgl. die apokryphen Zusatze zum Buch Daniel (Dan. 14, 23 
bis 27). 

S. 1 164, 23 Joh. Matth. Beckstein (1757-1 822) : Naturforscher urid Forst- 
mann, untersuchte zuerst systematisch die Tiere nach ihrer Nutzlichkeit. 
Aus seiner »Naturgeschichte Deutschlands« (1789-95) hat sich J.P. viel 
exzerpiert. 
■ S. 1 165, 3 Beinschwari: tiefschwarze Farbe aus gebrannten und zer- 



ANMERKUNGEN 1 307 

riebenen Knochen, - 4 peccata splendida: J. P. iibersetzt den von Augu- 
stin gepragten, theol. Begriff meist wortlich mit »glanzende Siinden«. Augu- 
stin bezeichnet so die Verdienste und Tugenden der Heiden. 

S. ii 66, 14 hohern Antrieb: Die folgende Szene bildete in der urspriing- 
lichen Konzeption einen der Brennpunkte des Planes. Erst wahrend der 
Arbeit am Roman riickte die politische Thematik in den Hintergrund. 

S. 1167,20 Filial: Nebenkirche. - 21 Sodalen: geistliche Zunftgenossen. 
26 Tyrier: Die Statue des tyrischen Herakles oder Melkarth - er ist mit 
dem Herakles, den wir aus der griech. Mythologie kennen, nicht identisch - 
war a Is Symbol der gehemmten Sonnenkraft an die Tempelwand gefesselt. 
Nur an wenigen Festtagen wurden dem Melkarth die Bande abgenommen. 

S. 1169,** dekollieren: kopfen. 

S. 1 171, 1 y Neunundneun^iger : Schimpmame der Apotheker, well sie - 
nach Grimm - angeblich immer 99 % nehmen. - 26 Simson: vgl. Richt. 16, 
28 ff. 

S. 1172,29 Hiatus des dritten Kapitels: Wirklich hatte die hier an- 
gehangte Episode zusammen mit der Fabel urspr. im 3.Hundposttag ge- 
standen. Christian Otto hatte sie dort als storend empfunden, so dafl J. P. 
sie hier etwas unmotiviert nachtragt. 

S. 1 173, 1 5 Diopterlineal: Zielspaltenscheit, ein Lineal, auf dem zwei mit 
Sehschlitzen versehene Metallplatten befestigt sind. - 36 Vikariatkonklu- 
sum: Entscheidung des bischofl. Obergerichtes. 

S. 1174,5 gleich dem Teufel: vgl. Apok. 12, 12. - 1 2 berlinischer Kalen- 
der: Der »Almanach de Berlin* zeigte zu jedem Monat die entsprechenden 
Landarbeiten an. 

S. 1 179,* 3 Mor gemote: Ahnlich wiinscht sich Justel als Braut des Schul- 
meisterlein Wutz in die Lander hinter dem Abendrot zu gehen. Vgl. o. 
S.445,41*. 

S.i 181,1 2 andeter gebuckter Mann: Berend vermutet hier eine Apo- 
strophe an Friedrich v. Meyern (1762-1829), den Verfasser des indischen 
Romans: »Dya-Na-Sore oder Die Wanderer* (3 Bde. 1787), an dessen 
Handlungsschema sich J. P. im »Hesperus« mehrfach anlehnt. Eine solche 
Apostrophierung war zumindest nach den Vorarbeiten geplant. 

S. 1 1 82, 34 eine Stunde vor meinem Tode: vgl. o. S.420, i2rT. 

S. 1 184, 2 Paraklet: Beistand, Troster. - 4 Retraitescku.fi: Abberufungs- 
schuC, mit dem die Soldaten zum Riickzug befohlen werden. - 28 Luku- 
. Brieren: das Nachtarbeiten. 

S.i 1 86, 2 5 Buo~Upa$-Baum (antiaris toxicaria): ein sagenumwobener 
Baum der malaiischen Inselwelt, der einen gefahrlichen Milchsaft enthalt. - 
30 die Stimme: s.o. S.948,3off. 

S. 1 1 87, 36 Latare-Sonntfag: Am vierten Fastensonntag, der als Fruhlings- 
beginn gilt, wird in alien ostlichen Teilen Deutschlands der »Tod ausge- 
tragen«. Dabei wird etne Strohpuppe, die die verderbliche Kraft des 
Winters mit sich nehmen soil, aus dem Dorf geschleppt und verbrannt 



1 308 ANMERKUNGEN 

S. 1189,-24 Passauer Kunst: So heifit seit dem 30Jahrigen Krieg 
das »Festmachen« des Korpers gegen Verwundungen durch Blei und 
Eisen, weil diese Kunst ein Passauer Scharfrichter zuerst gefunden haben 
soil. 

S. 1190,-24 Cdndus: Dieser Riese wurde von den Zentauren seiner Un- 
verwundbarkeit wegen unter einem Berg von Felsen und Baumstammen 
lebend begraben. - 34 Rousseau: in dem Brief gegen den Selbstmord in der 
»Neuen Heloise« (III, 22), den J. P. iibersetzt hatte. - 36 Orph. Arg. : die 
sog. »Orphischen Argonauten«, eine spatantike Version des bekannten 
Sagenstoffes. 

S. 1193,5 Nicolas Boileau Despr6aux (1636-1711): fur mehr als ein 
Jahrhundert der Gesetzgeber der franz. Poesie, mufite sich schon bei 
Lebzeiten wegen seiner gesuchten Ausdrucksweise und seiner Langsamkeit 
im Arbeiten viel Spot* gefallen lassen. - zy Ankerstrome : Gemeint ist 
J.J.Anckarstrom (1762-92), ein schwed. Offizier, der am 16. Marz 1792 
Konig Gustav III. ermordete. 

S. 1 1 94, 35 Boguer: s.o. zu S. 801,6. Die Anmerkung ist ein Zusatz der 
zweiten Auflage. 

S. 1195,4 Wet^larer Prokurator: Anwalt am W. Kammergericht. 

S. 1 197, 30 Montaigne: s.o. zu S. 154,9- 

S. 1 198, 32 concepit (»er hat es verfafit«) : nach dem Namenszug stehendes 
Signum zurri Beweis der Verfasserschaft. 

S. 1200, 5 Oemler s Pastoraltheologie : s.o. zu S. 138,7. - 1 4 Gir tanner : 
J. P. spielt auf die reakrfenareri und oft falschenden »Historischen Nach- 
richten und politischen Betrachtungen iiber die franz. Revolutions an, die 
Chr. Girtanner 1791 ff. erscheinen lieJ3. - zy elserne Birn: eine Art Knebel, 
macht in der Folter den Opfern ein lautes Schreien unmoglich. - 30 Jubel- 
jahrtiir: die sog. »porta santa«, ein vermauerter Seiteneingang zur Peters- 
kirche, der nur alle 25 Jahre zum Jubeljahr vom Papst eigenhandig geoffnet 
wird. - 34ff. An demselben Tage usw. : Auch hier schiebt die zweite Auflage 
noch einmal Tostato ein. In der ersten heifit der ganze Absatz nur: t> Viktor 
bekannte sich ruhig und gern zum Verfasser des Hirten- und Schaferbriefes 
in der Uhr.« 

S. 1202,7 Francois M. Le Tellier, Marquis de Louvois (1641-91): der 
allmachtige Kriegsminister Ludwigs XIV. Er gab der spateren Politik des 
Konigs das Geprage hochster Riicksichtslosigkeit und war in Deutschland 
durch die von ihm befurwortete Zerstorung der Pfalz besonders verhaBt. 
Der Ausgang dieses Pfalzischen Erbfolgekrieges hatte ihn schwer in seiner 
Stellung am Hof erschuttert. — / Tessln: Gemeint ist Karl Gustav Tessin 
(169 5-1 770), der Giinstling Adolf Friedrichs von Schweden und lang- 
jahrige Botschafter in Paris. Er fiel 1752 in Ungnade und zog sich vom Hof 
zuriick. - Sf. Treff- und Spiefifolgedank: Der Treffdank ist eine Pramie fur 
mutige und erfolgreiche Soldner, der Spiefifolgedank wird den Soldnem 
als Belohnung fur einen gegliickten Feldzug gegeben. 



ANMERKUNGEN ^3°9 

S.i 207, 3 3 souffre douleurs: »$chmerzensdulder« heiBt in Frankreich je- 
mand, der zum Spielball des Spottes oder zum Siindenbock ftir die Bosheit. 
seiner Umgebung geworden ist. - 34 Patropassianer : Ketzername fur jene 
Bewegung der Monarchisten im 3.Jahrh., die streng an der Einheit der 
Person Gottes festhielten und in Chrisms nur eine Erscheinungsform des 
Vaterssahen. Darum warfen ihnen ihre Gegner vor, sie HeBen »Gottvater 
selbst leiden«. 

S. 121 1, 1 j dem Leser: vgl. o. S. 1 1 15, 18. Der Satz ist erst ein Zusatz der 
zweiten Auflage. 

S. 1214, 22 poste aux chiens; Hundepost, Analogiebildung zu )>poste aux 
anes«. 

S. 1 2 1 5 , 2 Amancebada (span.) : eigtl. »Konkubine«. J. P. denkt jedoch woh 1 
allgemeiner an die Bedeutung: »Geliebte«. - 36 casa santa: s.o. zu S.425, 5. 

S. 1216, 26 ff. Nachtrag %um Nacktrag: Erganzung der zweiten Auflage. 

S. 1217, 10 vidimierte Kopie: beglaubigte Abschrift. - 20 4$.Kapitel: 
Die laufende Bezeichnung als »Hundposttag« fehlt bewuBt, da ja der Hund 
nicht mehr als Postbote in Erscheinung tritt. Auch dieses SchluBkapitel ist 
an manchen kleineren Einzelziigen in der zweiten Auflage verandert worden, 
die Hofer Episode (8.1221,31—1222,21) und der Rechenschaftsbericht des 
Lords (S. 1226,30-1228, 10) wurden erweitert. 

S. 1 21 8, 8 Doktor Fenk: eine der Hauptfiguren der ftUnsichtbaren Loge«. - 
35 Ramberg: der vielbeschaftigte Zeichner Joh. Heinr. Ramberg, der mit 
seinen zahllosen, routinierten und meist sehr fliichtigen Blattern durch 
Jahrzehnte die deutschen Musenalmanache beherrschte. Sein Stern war 
damals noch im Aufstieg begriffen. 

S. 1219,22 die Zahl 99: s.o. zu S. 1171,17. - 31 Spit^bubeninseln: wohl 
die sog. Ladronen, eine kleine Inselgruppe an der siidchin. Kiiste. — 31 
Busching: s.o. zu S.92,14. - 31 Joh. Ernst Fabri (175 5-1825): Prof, fiir 
Geographie in Erlangen, gab u.a. 1780—90 eine »Elementargeographie« in 
vier Banden heraus, der er eine vom Dichter haufig benutzte »Geographie 
fur alle Stande« folgen lieB. 

S. 1 220, / 7 Zento (it. cento) : Flickwerk, auch Bezeichnung fur ein zu- 
sammengestoppeltes Gedicht. - 2S die drei Kavitaten der Anatomie: Kopf-, 
Brust- und Unterleibshohle. 

S. 1222,/ 3 Kandidat: Er trug in der ersten Auflage denNamen: »J.P. 
Friedrich Richter«, der spater getilgt wurde, als J.P.s wirklicher Name all- 
gemein bekannt geworden war, 

S.i 223, j Prinzenrauber: Anspielung auf den sachsischen Prinzenraub 
von 1455. 

S. 1 226, j Dosenstiick: Feine, medaillonartige Gemalde auf Schnupf- 
tabakdosen waren damals sehr in Mode. Fiir ihre Herstellung war in 
Deutschland besonders Stettin bekannt. 

S. 1 227 , 3 petrographische Kane: Landkarte, auf der die Grenzen der 
Gesteinsformationen eingetragen sind. 



1 3 1 ANMERKUNGEN 

S. 1228,7-2 Sturmvogel: »Der Sturm- oder Ungewittervogel wird von 
den Einwohnern von Feroer p. wegen des vielen Fettes statt einer Lampe 
gebraucht, indem sie bloB einen Docht durch den Korper ziehen und an- 
brennem, notiert Berend zu dieser Stelle aus J. P.s Exzerpten. - 33 Gleich- 
keitsystem: Anspielung auf den Versuch Ludwigs XIV., den Sohnen der 
Maintenon die Ebenbiirtigkeit und damit die Rechtsanspriiche auf die 
Thronfolge zu sichern. 

S. 1229,7.2 Gdngelwagen: Laufgestell fur kleine Kinder. 

S. 1230,2 Laudons-Stirn: Gideon Ernst Freiherr v. Laudon (1717-90), 
der Sieger von Kunersdorf und Belgrad, osterr. Feldmarschall unter Maria 
Theresia und Joseph II., war nach Berichten und Bildern im spateren Alter 
haufig von Schwermut und Gewissenskampfen befallen, die seiner Stirn 
ein dusteres, verschattetes Aussehen gaben. 

S. 1 23 2, j Ballen ausgepacher Hundposttage : Erinnert an den Anfang des 
sechsten Buches im »Tristram Shandy«, wo Sterne den Leser bittet, auf 
den Ballen mit den Exemplaren der ersten fiinf Teile sich niederzulassen. - 
1 GberiikmterSckriftsteller: K. Ph. Moritz, s. o. zuS. 1 1 45, 3 1 ff. — ig^weiEngel: 
Amone Herold und Beate v. Spangenberg, zwei Jugendbekanntschaften 
des Dichters. Das Fraulein von Spangenberg hatte schon fur das Portrat 
Beatens in der »Unsichtbaren Loge« mehr als nur den Namen hergegeben, in 
Amone hatte sich J. P. wahrend der Niederschrift des Romans sehr und 
unglucklich verliebt. 

S. 1233,^ Egerle: rom. Quellnymphe, die Frau und Ratgeberin des zwei- 
ten rom. Konigs Numa Pompilius. - 27 Pseucto-Sebastiane : Nach dem Tod 
des jungen portugiesischen Konigs Sebastian in der Schlacht von Alkazar 
(1578) nutzten mehrere Betruger die Stimmung des Volkes aus, das an die 
Wiederkehr des Monarchen glaubte, und spielten seine Rolle. 

S. i234,zc> wie Lykurg: Lykurg nahm dem spartanischen Volk, ehe er 
zum prakel nach Delphi ging, den Eid ab, nichts an seinen Gesetzen zu 
andern, bis er wiederkehre. Da ihm das Orakel bestatigte, daB seine Ver- 
fassung gut sei, entzog er sich die Speise und starb fern der Heimat. Noch 
sterbend befahl er, seinen Leichnam zu verbrennen, damit die Spartaner von 
ihrem Eid nicht entbunden werden konnten. 



Nachtrag 

S. ijy,28jff. Erstlich bin ich ^war einjahr hinter Gustavs Leben %u- 
riick usw.: Die Stelle beriihrt sich eng mit ahnlichen Zeiterorterungen 
bei Sterne, vgl. bes. Tristram Shandy IV,i3: »Ich bin diesen Monai ein 
ganzes Jahr alter, als heute vor zwolf Monaten, und da ich, wie Sie sehen, 
schon fast bis auf die Halfte meines vierten Bandes gelangt bin und noch 
nicht weiter als bis auf den ersten Tag meines Lebens, so geht daraus 
klar hervor, dafi ich schon jetzt dredhundertvierundsechzig Tage mehr zu 
schreiben habe, als ich zuerst begann, so dafl ich, austatt wie ein gewohn- 
licher Schriftsteller pflegt, in meinem Werke mit dem, was ich daran ge- 
tan, weiterzukommen - vielmehr geradeso viele Bande zuruckgekommen 

bin Lafi mkh schreiben, wie ich mag und wie ich will, nach Hora- 

zens Rat mitten in meine Materie hineinfallen: ich werde mich niemals 
einholen — trotz alles Treibens und Peitschens; wenn auch das Argste 
zum Argen kommen sollte, habe ich doch immer einen Tag vor meiner 
Feder voraus, und ein Tag ist genug fur zwei Bande, und zwei Bande 
werden genug sein fur ein Jahr.« 

S. 3°°>J i Febrikanten: svw. Fieberkranke. So verbessert das Druck- 
fehlerverzeichnis der Erstausgabe. Die zweite Auf lage la fit versehentlich 
»Fabrikanten« stehen, und dieser Fehler ist in alle spateren Ausgaben 
ubernommen worden. 

S. 442, 3 3 Valet defantatsie: Man wird diesen Ausdruck am treffend- 
sten mit »kurzweiliger Rat« wiedergeben, obwohl ein genauer Quellen- 
nachweis nicht moglich war. Es lie fie sich zunachst wohl auch an eine 
Analogiebildung zu der in der barocken Gesellschaft und Literatur 
iiblichen Bezeichnung: »berger de fantaisie« denken. Wenn ein »berger 
de fantaisie« ein vornehmer Mann ist, der sich in die Rolle des Schafers 
verkleidet, dann ware entsprechend ein »valet de fantaisie« jemand, der 
sich als Diener verkleidet. (Es braucht nur an die Gepflogenheiten der 
Verwechslungskomodien bis hin zu Marivaux erinnert zu werden.) Wahr- 
scheinlicher aber ist es, dafi J. P. den Ausdruck wie andere, ahnlich ge- 
baute Titel (grand escuyer tranchant) einem alteren franz. Werk iiber die 
Hofordnung entnahm. Dann ware mit dem Ausdruck entweder der Mann 
gemeint, der fur bestimmte Lustbarkeiten verantwortlich war, oder aber 
eine Art Hofnarr. Beides schliefit der deutsche Ausdruck »kurzweiliger 
Rat« in sich ein. 



Nachwort 



Jean Paul sah mit den Augen seines Luftschiffers Giannozzo Ab- 
griinde und Himmelsstriche dieser Welt, wie sie damals noch nie- 
mand gesehen hatte, und zu denen sich die Spateren langsam vor- 
tasteten. Er sah sie, indem er nicht nur seine Phantasie auf die 
Reise schickte, sondern jede ihm wahrnehmbare Einzelheit mit 
der Bewegung und der Vibration der sich drehenden Erde ver- 
sah. Aus hellwachen Traumen, uberwachen Erwartungen und 
traumsicheren Wahrnehmungen baute Jean Paul seine Welt zwi- 
schen den Polen des genau umzirkten Einzeldings, in einer Feld- 
lerchen- und Grashalmperspektive, und des unermeB lichen Flugs 
in die Licht- und Farbenfelder, in einer Zeitrechnung, in der sich 
in einen Augenblick eine unabsehbare Zeitspanne drangt. Wie 
kein anderer deutscher Schriftsteller hat Jean Paul seine eigene 
Epoche hinter sich gelassen, einem Kometen gleich, der stets neu 
gesichtet und neu entdeckt werden muB. 

Die Romane Jean Pauls zeigen die Parabel vom Menschen, 
der, mit seinen Passionen, Affekten und Vernunftgrunden 
ausstaffiert, zwischen einer Umgebung der umgrenzten Gegen- 
stande und einem Gegeniiber der unumgrenzten Raume sich be- 
wegt. Wie verhalt er sich? Richtet er sich ein? Welche Halte- 
punkte durchlauft er? 

Die Sprache Jean Pauls ist so gut wie unentdeckt. Sie vermag 
es, die heftigen Dissonanzen und die groBen, uberspannenden 
Fliigelschlage in ihre Bildketten, Satze, signalisierenden Rhyth- 
men und in ihre Gedankenfuhrung aufzunehmen.. Stefan George 
hat Jean Paul als »die groBte dichterische Kraft der Deutschen« 
bezeichnet, und Oskar Loerke schrieb von seinen Romanen, sie 
seien »Troge fur ein Meer«. 



1 3 14 NACHWORT 

Die Formulierungen der Asthetik Jean Pauls haben von alien 
asthetischen Versuchen in der deutschen Literatur am meisten die 
Fesselung an die Zeit ihrer Entstehung gelost. Sie sind heute noch 
verbindlich. 

Wird das LeserbewuBtsein in Jean Paul endlich mehr entdek- 
ken als den idyllischen und in der Gartenlaube schreibenden Vor- 
fahren eines biedermeierlichen Lebensgefuhls, der er sicher auch 
war? Jean Paul ist ein fast Unbekannter in der deutschen Litera- 
tur. Wer sich ihm nahert, wer in seinen Bann gerat, zieht sein 
Blickfeld weiter. 

In den Band i dieser Ausgabe sind die beiden umfang- 
reichen ersten Romane des Dichters: >Die unsichtbare Loge< und 
>Hesperus< aufgenommen. In der >Unsichtbaren Loge<, seinem 
bedeutenden und sehr zu unrecht von der Kritik vernachlassig- 
ten Friihwerk, fand Jean Paul zur groBen Romanform und zu 
seiner eigenen Handschrift. In diesem Werk erscheinen die Tra- 
ditionen der aufklarerischen Satire, des empfindsamen Romans 
und der gespenstischen Schauerromantik jener Zeit in einem 
neuen eigenstandigen Stil aufgehoben und umgewandelt. 

Im Anhang der >Unsichtbaren Loge< ist, wie in der Original- 
ausgabe, Jean Pauls beriihmte Idylle >Das Leben des vergniig- 
ten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal< abgedruckt, auf 
die das neunzehnte Jahrhundert seine Wertschatzung Jean Pauls 
aufbaute. Sie ist bis heute als das Meisterwerk dieser dkhteri- 
schen Gattung anzusprechen, wenn auch als ein besonderes und 
auBenseiterisches; Jean Paul nennt sie, mit all seiner astheti- 
schen Vorsicht, »eine Art Idylle«. 

Der > Hesperus <, der zweite groBe Roman, mit dem Jean Paul 
der beliebteste deutsche Romancier seiner Epoche wurde, greift 
die Thematik der >Unsichtbaren Loge< wieder auf. Im Wechselspiel 
einer auBeren Handlung, die verwickelt und verflochten ist, und 
einer inneren, die die seelische Bewegung der Helden in Liebe 
und HaB, Eifersucht und Freundschaft nachzeichnet, fiihrt Jean 
Paul an Abgriinde, an deren Randern seine Gestalten zwischen 
Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod dahintanzen. Die 
auBere Handlung spielt in dem von einem Fiirsten regierten 



NACHWORT 1315 

Zwergstaat Flachsenfingen — sie zeigt Elemente der vielen kleinen, 
geheimen Verschworungen in jener Zeit der GroBen Revolution — , 
gleichzeitig aber auch in rein idyllischer und in heroischer Um- 
gebung: im Pfarrhause Eymanns in St.Lune und in dem para- 
diesischen Ort Maienthal, dem Wohnsitz des indischen Erziehers 
Emanuel, einer der groBen von Jean Paul erschaffenen Figuren, 
sowie auf der >Insel der Vereinigung<, dem Refugium des Lord 
Horion. In der inneren Handlung, fur die dieses Spiel aus Staats- 
aktionen, Intrigen und Verwechslungen nur Vorwand und An- 
laB ist, zeigt Jean Paul mit oft beklemmender Scharfsicht die ver- 
borgenen Regungen des Herzens und die findigste Rabulistik des 
Verstarides. Er fmdet im >Hesperus<, aufbauend auf den Erfah- 
rungen der >Unsichtbaren Loge<, zu einer Ausdrucksfahigkeit, 
die mit ihren Bildersturzen und mit ihren das BewuBtsein provo- 
zierenden musikalischen Flugen Vorbilder fur surrealistische 
Dichtung schuf. 

Bevor Jean Paul im Fruhjahr 1791 als Achtundzwanzigjahriger 
die >Unsichtbare Loge< zu schreiben begann, hatte er mannig- 
fache Miihen, Ungliicksfalle und Erfahrungen durchzustehen, 
die in den beiden ersten Romanen ihre Spuren hinterlieBen. Mit 
einem Aufgebot von autodidaktischem FleiB, mit Zielglaubig- 
keit und Selbstdisziplin versuchte er so lange die engen Verhalt- 
nisse, in die er hineingeboren war, zu berennen, bis sich ihm gro- 
Bere Bewegungsfreiheit eroffnete. Am 2i.Marz 1763 kam er in 
Wunsiedel im Fichtelgebirge als erster Sohn des Tertius und Or- 
ganisten Johann Christian Christoph Richter zur Welt. Die ab- 
gelegene Gegend seiner Herkunft benutzte er als willkommene 
Zufiucht seiner Phantasie und seiner literarischen Besonderheit; 
er machte aus ihr ein Positivum, indem er sich durch sie gegen 
abgeblaBtes Kolorit und weitergereichte Moden verwahren liefi: 
»Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebaren und 
erziehen, sondern wo moglich in einem Dorfe, hochstens in 
einem Stadtchen«. In das Dorf Joditz bei Hof iibersiedelt die 
Familie zwei Jahre spater; Jean Pauls Vater wird als Pfarrer dort- 
hin berufen. 1776 ist der neue Wohnort Schwarzenbach a.d. 
Saale, ebenfalls in der Nahe von Hof, Der fiinfzehnjahrige Jean 



13 1 6 NACHWORT 

Paul beginnt 1778 seine Exzerptenhefte zu fullen: mit den Zitaten 
aus Uhmassen von gelesenen schongeistigen, wissenschaftlichen, 
philosophischen, theologischen und halbwissenschaftlichen Wer- 
ken. In den Jahren 1778 bis i78oentstehen alleinzehn Bande sol- 
cher Art. In die Zeit von Februar 1779 bis Oktober 1780 fallt 
der Beginn von Jean Pauls groBen Freundschaften : mit Lorenz 
Adam von Oerthel, der als»vornehm zart, hektisch und empfind- 
sam« charakterisiert wird, gleichaltrig mit Jean Paul, mit dem 
»exzentrischen, kiihnen und unglucyich selbstherrlichen« Johann 
Bernhard Hermann, zwei Jahre alter als Jean Paul, und dem ge- 
wissenhaften, hilfsbereiten Georg Christian Otto, der, mit Jean 
Paul im selben Alter, sein ganzes Leben hindurch der erste kri- 
tische Begutachter seiner Werke geblieben ist. Diese Freund- 
schaften schlieBt Jean Paul als Schiiler der Prima des Gymna- 
siums zu Hof. 

Im April 1779 stirbt Jean Pauls Vater; fur die Familie bedeutet 
dies Einschrankung, schlieBlich Armut. Im Januar 1781 schreibt 
der achtzehn jahrige Jean Paul fiir Lorenz Adam von Oerthel seinen 
kleinen empfindsamen »Gymnasiastenroman« »Abelard und He- 
loise«, hinter dem sich, unausgesprochen, das erste Liebes- und 
Freundschaftsdrama des Dichters verbirgt. >Heloise< steht fur 
Beate von Spangenberg von dem nahen SchloB Venzka, die 
Freundin Oerthels. Jean Paul, der Einblick in den Briefwechsel 
der beiden hatte, scheint sich selbst in Verliebtheit und in eine 
mit Gewalt unterdriickte Eifersucht hineingesteigert zu haben, 
was aus seinen privaten Aufzeichnungen hervorgeht. Jedenfalls 
wurde die Gestalt Beates einer der auslosenden realen Schatten fur 
»Beate« in der >Unsichtbaren Loge< und fiir »Klotilde« im >Hespe- 
rus<, die beide zwischen zwei Freunden stehen. Beate von Spangen- 
berg, die ein Jahr alter war als Jean Paul und Oerthel, verheiratete 
sich in einer >Versorgungsehe< mit einem Amtmann SchafFer und 
wohnte schlieBlich in der Nahe von Jena. Keine Frau scheint in 
dem bewegten Leben Jean Pauls noch einmal einen so nachhal- 
tigen Eindruck hinterlassen zu haben; sie ist »das vortreflichste 
Frauenzimmer, das ich in meinem narrischen, bloB tockierten 
Leben gesehen«. - Von Mai 1781 bis November 1784 studiert 



NACHWORT 13 17 

Jean Paul, in enger Freundschaft mit Oerthel, an der Universitat 
Leipzig Theologie; einpragsam ist fur ihn nur der Philosoph 
Platner mit seinen Shakespeare- Vorlesungen. Jean Paul liest und 
exzerpiert, und beginnt im Stil seiner Zeit Satiren zu schreiben: 
1782 »Lob der Dummheit«; 1783 erscheinen die »Gronlandisehen 
Prozesse«, eine Satirensammlung in zweiTeilen, zu Berlin; ohne 
Publikumserfolg. Er arbeitet an einer neuen Satirensammlung, 
verlobt sich wahrend eines Ferienaufenthalts in Hof voriiber- 
gehend mit Sophia Ellrodt, schreibt 1784 sein »Andachtsbuch- 
lein«, und verlaBt schlieBlich im November 1784 fluchtartig und 
unerkannt Leipzig, um sich seinen Glaubigern zu entziehen. In 
Hof bewohnt er zusammen mit seiner Mutter eine Einzimmerwoh- 
nung, drei Jahre hindurch, was ihm Stoff genug fur die Haus- 
halts-Gerausch-Note in seinem spateren Roman >Siebenkas< 
Hefert. In solcher Enge schreibt er 1786 ohne viel Gliick seine 
>Mixturen fiir Menschenkinder aus alien Standem. 

In diesem Jahr beginnt die Kette seiner Todeserfahrungen, die 
ihn erschiittern und die seinen beiden ersten Romanen ihr Siegel 
aufdriicken: Im Oktober stirbt Lorenz Adam von Oerthel, drei- 
undzwanzigjahrig. - 

Von Januar 1787 bis Ostern 1789 unterrichtet Jean Paul den 
jungeren Bruder Oerthels, Christian Adam, in Topen als Haus- 
lehrer; an Ostern 1789 erscheint seine schon fruher verfertigte 
Satirensammlung unter dem vom Verleger gewunschten Titel 
»Auswahl aus des Teufels Papieren«. Im selben Jahr begeht Jean 
Pauls Bruder Heinrich Selbstmord in der Saale. Wieder in Hof, 
beginnt Jean Paul die Reihe seiner »Gesamt«- oder »Tutti-Liebe« 
im Kreis von funf jungen Madchen, seiner »Erotischen Akade- 
mie«. Zu diesem Kreis gehort Amone Herold (geb. 1778), der 
zweite »reale Schatten«, der hinter der Idealgestalt Klotilde ver- 
borgen ist. Es wiederholt sich in diesen Jahren ein ahnliches 
Freundschafts-Liebes-Drama, wie es zwischen Jean Paul, Oer- 
thel und Beate von Spangenberg zehn Jahre zuvor spielte, nur 
diesmal nicht im Verborgenen, sondern es wird in Gesprachen, 
Briefen und Begegnungen ausgetragen. Amone Herold wird die 
Frau von Jean Pauls Freund Georg Christian Otto : dies ist das 



13 1 8 NACHWORT ^ 

Ergebnis der Wirrungen, die sich vom Fruhjahr 1791, ernst- 
hafter vom Herbst 1792 bis zum Februar 1793 hinziehen. Jean 
Paul schrieb uber den Anfang dieser Liebesverkettung, die mit 
dem Beginn seiner Arbeit an der >Unsichtbaren Loge< zusammen- 
fiel: »Was soil da das Einbein machen, das am namlichen Tag, 
wo es einen Roman zu schreiben anfing, zugleich einen zu spie- 
lenanhob...«. 

Die Todes-Kette setzt sich ebenfalls fort: im Februar 1790 
stirbt Jean Pauls Freund Johann Bernhard Hermann mit neun- 
undzwanzig Jahren in Gottingen, im September 1792 der jungere 
Oerthel, Jean Pauls einstiger Zogling. Am 15. November 1790 
macht der Dichter in Schwarzenbach, wo er Privatlehrer ist, 
seine Tagebuch-Aufzeichnung uber eine Todesvision, deren 
Abglanz in seinen Werken des ofteren wiederkehrt: »Wichtigster 
Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des To- 
des, daB es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen 
oder in 30 Jahren sterbe, daB alle Plane und alles mir davon- 
schwindet und daB ich die armen Menschen lieben sol, die sobald 
mit ihrem Bisgen Leben niedersinken«. 

Vor diesem Hintergrund entstehen bis 1791 »Des Amts-Vogts 
Josuah Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Damon«,»Des 
RektorFlorianFalbelsundseinerPrimanerReisenachdemFichtel- 
berg« und schlieBlich die Geschichte vom »Leben des vergniigten 
Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthak, die am 12. Marz 
1791 beendet wird und spater im zweiten Band der >Unsichtbaren 
Loge< gedruckt erscheint. Vom Fruhjahr 1791 bis Fruhjahr 1792 
arbeitet Jean Paul an der >Unsichtbaren Loge<, die im Jahr darauf, 
mit dem Untertitel >Mumien<, in zwei Banden aufgelegt wird. - 
Im September 1792 beginnt er die Ausarbeitung des >Hesperus<, 
die sich bis zum Sommer 1794 hinzieht. An dem Tag, an dem 
Jean Paul seinen groBartigen »Traum Emanuels, daB alle Seelen 
eine Wonne vernichte« niederschreibt, am 2(S.Juni 1793, stirbt 
Karl Philipp Moritz, der in Jean Pauls Imagination das Vorbild 
der Gestalt Emanuels war. 

Im Mai 1795 erschien der >Hesperus< in drei Banden im Druck. 
Zugleich mit ihm brachte dieses Jahr zwei andere deutsche Ro- 



NACHWORT 13 19 

mane: Ludwig Tiecks > William Lovell< und Goethes >Wilhelm 
Meisten. Diese Konstellation ist bezeichnend: Jean Paul er- 
scheint gleichsam zwischen Romantik und Klassik als eine dritte 
Gewalt und Moglichkeit. - Den starksten Publikumserfolg 
hatte Jean Pauls Roman. Er verhalf seinem Autor zum Ruhm, 
zumindest innerhalb Deutschlands. Er leitete damit eine neue 
Epoche im Leben Jean Pauls ein, die sich im >Titan< wider- 
spiegelt. 



II 



Den Roman >Die unsichtbare Loge< bezeichnet Jean Paul 1825 
in seiner »Entschuldigung bei den Lesern der samtlichen Werke 
in Beziehung auf die unsichtbare Loge« als eine»geborne Ruine«. 
In seiner Vorrede zur zweiten Auflage, 1821, versprach Jean Paul 
noch eine Beendigung des Fragments : Der Titel »soll etwas aus- 
sprechen, was sich auf eine verborgene Gesellschaft bezieht, die 
aber freilich so lange im Verborgenen bleibt, bis ich den dritten 
oder SchluBband an den Tag oder in die Welt bringe«. - Aus die- 
ser versprochenen Fortsetzung wird nichts, und das ist verstand- 
lich. Jean Paul brach seinen ersten Roman ab, urn ihn, mit ahn- 
lichem Vorwurf, aber mit neuen Aufbauplanen, mit scharferen 
Umrissen fur die hofische Welt und die revolutionaren Tenden- 
zen und mit verbesserten stilistischen Mitteln noch einmal zu 
schreiben: in der Gestalt des >Hesperus<! Ob er sich selber iiber 
diesen in der Literaturgeschichte einmaligen Vorgang ganz klar 
war, bleibt dahingestellt. Jedenfalls bewegten ihn Oberlegungen 
in ahnlicher Richtung, als er in einem Begleitbrief zur ersten 
Niederschrift der >Unsichtbaren Loge< an Otto schreibt :»Obrigens 
ist dieses Pak ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen 
lernte; ich habe jetzt etwas besseres im Kopfe!« 

Um einen Lotsen durch das Werk Jean Pauls mitzugeben, ist 
es unerlaBlich, den Inhalt der einzelnen Bticher zu skizzieren: 
denn ihr Plan droht oft in den Heckenwucherungen des Laby- 
rinths unterzugehen. Ein Vergleich der Grundrisse der >Unsicht- 
baren Loge< und des >Hesperus< zeigt ihre Ahnlichkeit. 



I32O NACHWORT 

Blickt man auf die beiden Haupthelden, so erkennt man ahn- 
liche Schicksale. In der >Unsichtbaren Loge< unterliegt der Held 
Gustav, der in volliger Abgeschlossenheit mit dem Anspruch 
hochster Idealitat erzogen wird, den Verfuhrungen des Hof lebens. 
Im >Hesperus< kann der einigermaBen versohnliche SchluB nicht 
dariiber hinwegtauschen, daB der Held Viktor sich vergeblich be- 
miiht hat, seine Ideale im Hofleben zu verwirklichen. 

Die Motive, die die Maschinerie der Fabel in Bewegung setzen, 
sind zum groBen Teil traditionell. In der >Unsichtbaren Loge< 
will ein Vater, der Obristforstmeister von Knor, seine Tochter 
Ernestine nur dem Mann geben, der sie im Schachspiel besiegt. 
Die Mutter stimmt nur unter der Bedingung der Hochzeit zu, 
daB das erste Kind dieser Tochter »fur den Himmel« groBgezogen 
werde ; es soil seine ersten Unterweisungen furs Leben acht Jahre 
lang unter der Erde von einem herrnhutischen Jiingling, dem 
>Genius<, erhalten. Wie der achtjahrige Gustav von Falkenberg 
gleichsam »stirbt«, um das Licht der Erde zum ersten Mai zu 
sehen, ist einer der Hohepunkte des Romans. - Gustav wird 
eines Tages von der ehemaligen Geliebten seines Vaters und 
jetzigen wohlhabenden Frau Roper verirrt' aufgefunden und 
von ihr wegen der Ahnlichkeit mit ihrem verschollenen Sohn 
Guido festgehalten, der aus dem Verhaltnis mit dem Vater von 
Falkenberg entsprungen ist. Sie schickt schlieBlich Gustav, mit 
dem Medaillon des Verschollenen um den Hals, nach Hause. Nach 
einer Militardienstzelt wird Gustav in der Residenzstadt Scheerau 
am Hof des Landesfursten eingefuhrt. Er trifft dort auf die 
Schwester des Verschollenen, auf Beata. Sein Freund und gleich- 
zeitiger Mitbewerber ist Amandus. Gustav wird in das Hofleben 
hineingezogen und von der Regentin Bouse verfuhrt, wahrend 
Beata den Fiirsten abweist. Gustav und Beata finden sich, nach 
Verwicklungen, zu denen auch das Medaillon beitragt, in dem 
traumhaften Ort Lilienbad. Der Roman bricht jedoch ab mit der 
Nachricht, daB Gustav sich im Gefangnis befindet, da er mit einer 
geheimen Verschworergruppe, zu der auch Ottomar, der na- 
tiirliche Sohn des Fiirsten gehort, ausgehoben worden ist. - 

Die Handlung des >Hesperus< kann man wie folgt vereinfacht 



NACHWORT 1 3 21 

zusammenfassen : Viktor, der vermeintliche Sohn des Lord Ho- 
rion, und Flamin, der vermeintliche Sohn des Kaplans Eymann, 
sind als Kinder in London und in dem idyllischen St.Liine er- 
zogen worden. Flamin bittet Viktor urn Fursprache bei seinem 
einfluBreichen Vater, damit er ihm die Wege ebne zur Heirat mit 
Klotilde, der Tochter des Kammerrats von Le Baut in der Resi- 
denzstadt Flachsenfingen. Durch Flamin lernt Viktor Klotilde 
kennen und faBt ebenfalls eine Neigung zu ihr. Sie erzahlt ihm 
begeistert von ihrem Lehrer Emanuel, in dessen Schilderung Vik- 
tor Ahnlichkeiten mit seinem eigenen Erzieher Dahore entdeckt. 
Viktor wird von Lord Horion auf die >Insel der Vereinigung< ge- 
rufen; dort erfahrt er, daB Flamin der Bruder Klotildens und 
Sohn des Fiirsten Januar von Flachsenfingen ist, eine Verwandt- 
schaft, die er geheim zu halten gelobt. In dem traumhaften Ort 
Maienthal findet.er seinen Lehrer Dahore wieder, der mit Ema- 
nuel identisch ist. Am Hof in Flachsenfingen, wo Viktor eine 
Stelle als Leibarzt bekommt, wird er jedoch in das verderbliche 
Hofleben hineingezogen, entfremdet sich schmerzlich von Klo- 
tilde, da er sich nicht geliebt glaubt, wird von Flamin durch 
Eifersucht entzweit und schlieBlich von der Furstin Agnola bei- 
nahe verftihrt. Aus einem Freundschaftsbund mit »den drei Eng- 
landern« entsteht eine Verschworung, in der der Intrigant Mat- 
thieu eine verraterische Rolle spielt. Inzwischen erklart Viktor 
auf der Heimfahrt von einem Ball in der Osternacht seine Liebe 
an Klotilde und wird nicht abgewiesen. Viktor verbringt mit 
Emanuel und Klotilde die Pfingsttage in Maienthal und wird dorr 
von dem eifersiichtigen Flamin zum Duell gefordert. Flamin 
totet, ebenfalls im Duell, den Vater Klotildes. Viktor erfahrt 
beim Tod Emanuels, daB er der Sohn des Kaplans Eymann sei 
und glaubt als Burgerlicher auf Klotilde verzichten zu mussen. 
Doch eine gliickliche Losung wird gefunden. Durch Offenbarung 
des Geheimnisses von Flamins Abkunft versohnen sich Viktor 
und Flamin in St.Liine. Viktor und Klotilde werden ein Paar. 
Am SchluB des Romans tritt der Erzahler Jean Paul selber in die 
Handlung ein. Lord Horion endet sein Leben freiwillig auf der 
>Insel der Vereinigung<. - . 



13^2 NACHWORT 

In beiden Handlungen stehen sich drei verschiedene Spharen 
gegeniiber, die jeweils durch Orte mit entsprechenden Orts- 
namen symbolisiert werden: die Sphare der Residenz, die kri- 
tisch-satirisch beschrieben wird (Scheerau in der vUnsichtbaren 
Loge<; Flachsenfingen im >Hesperus<); die Sphare der landlichen 
Idylle (der Rittersitz MauBenbach; das Pfarrhaus des Pastors 
Eymann in St. Lime); die Sphare der groBen Traumlandschaften 
und romantischen Freudenorte (Lilienbad ; Maienthal). - Die Ent- 
sprechung der Personen liegt auf der Hand; sie sind profilierter 
im zweiten Roman, das zeigt sich besonders bei einem Vergleich 
von Gustav und Viktor, von Amandus und Flamin, von Beata 
und Klotilde, schlieBlich vom Genius und von Emanuel. Aber 
auch sonst gibt es viele Nebengestalten und Nebenmotive, die 
den beiden Romanen gemeinsam sind. Die geheimnisvolle 
Gestalt des Mannes mit den sechs Fingern, die dort wie hier 
auftritt, sollte wahrscheinlich als eine Art Schlusselfigur der 
Verschworung dienen, zu einer Zeit, als Jean Paul noch beide 
Romane in einen »zusammenwerfen« wollte. Das Motiv der Blind- 
heit spielt, neben den Hauptmotiven Freundschaft, Liebe, Tod, 
Erziehung, Staatsmoral in beiden Romanen eine groBe Rolle. - 
Jean Paul deutet selbst auf Wiederholungen hin; so sagt er von 
seinem Helden im >Hesperus<, dem er die >Unsichtbare Loge< 
als Lektiire in die Hand druckt, dafi »er (Viktor) ... zwischen 
seiner Pfingstreise (im H.) und jener Badereise (in der U. L.) 
soviele Verwandtschaft herausfand ...«. Andere wiederholende 
Anspielungen gehoren zu der Gepflogenheit Jean Pauls, alle seine 
Geschichten mit einem stehenden Heer von gemeinsamen Sonder- 
lingsgestalten und ausgefallenen Orten zu durchsetzen : Die Ge- 
stalt des Knef im >Hesperus< entpuppt sich als der Fenk des 
fruheren Romans. Das >Einbein( tritt dort wie hier als einer der 
Beinamen des Verfassers auf. Auch die >Molukke Teidor< wird 
schon in der >Unsichtbaren Loge< erwahnt: Auf ihr schreibt 
Jean Paul den 53.Sekt.or. 

Die Geschichte vom Wutz, vor den beiden Romanen ge- 
schrieben, nennt Jean Paul einerseits eine »diirre Knospe und 
Vor(ibung« fur seine Romane, andererseits »eine exzentrische 



NACHWORT I323 

Idylle, ein dessein a la plume von einem Geschopf, dem der sin- 
liche Freudendiinger die hohere Sonne vergutet«. Jean Paul fragt 
Karl Philipp Moritz, ob sie der >Loge< »beigeleimt« werden solle. 
Der stimmt begeistert zu. Es werden einige Verbindungen ge- 
schaffen: Jean Paul verlegt den Falkenbergischen Rittersitz in 
der >Loge< in die Nahe von Auenthal und laBt den Sohn des 
Idyllen-Wutz als Nebenfigur auftreten. Der Schulmeister in Ro- 
man und Idylle war wahrscheinlich urspriinglich eine Person; 
dann aber wird er in Vater und Sohn aufgeteilt, weil sonst in der 
Idylle der Tod des Wutz nicht moglich ware. Im >Wutz< selbst 
wird Soheerau und, in der ersten Auf lage, sogar die Residentin 
von Bouse erwahnt. Im >Hesperus< laBt Jean Paul seinen Helden 
Viktor den >Wutz< lesen. 



Ill 



Wichtiger noch als die auBeren Zusammenhange dieser drei 
Fruhwerke ist ihre gemeinsame Eigenart, die sie durch die Jean 
PauPsche Konzeption beskzen und die sie von ahn lichen Ver- 
suchen in der zeitgenossischen Literatur abhob. Der Handlungs- 
verlauf erreichte dies nicht. Erreicht wurde die Eigenstandigkeit, 
die zum literarischen Ereignis fiihrte, vielmehr dadurch, daB 
Vorstellungsbereiche erweitert und daB der deutschen Sprache 
Moglichkeiten hinzugewonnen wurden, die fur die deutsche Li- 
teraturtradition bis dahin nicht vorhanden waren. 

Auf den ersten Blick scheint es, als ob Jean Paul zu der Appa- 
ratur des damaligen Unterhaltungs- und Trivialromans wenig 
hinzufiige. Wir begegnen Verwechslungen, Kindsvertau- 
schungen, Duellen, Raubiiberf alien, requisitenreichen Intrigen, 
geheimnisvollen Andeutungen, sentimentalen Liebesgeschich- 
ten, edelmiitigen Freundschaftstaten, Reisen, Episoden vom 
Gliick im Winkel und vielen anderen Motiven, die damals wie 
noch heute in der »unterstromigen« Literatur gang und gabe 
waren und sind, die man in den Geschichten der Familienblatter, 
der >Sentimentalen Wochenschriften< ebenso finden konnte wie 
spater in Christian August Vulpius' >Rinaldo Rinaldini<, in den 



I324 NACHWORT 

>Ritter-Romanen<, in der >Gartenlaube< und, noch weiter ein- 
geengt, im >Heimatroman<. Der Bericht iiber die Auffindung des 
Kindes mit den zerschnittenen Augen in der >Unsichtbaren Loge< 
ist ein Beispiel fur die direkte Obernahme des Kolportage-Stils, 
ahnlich die Oberraschung der Liebenden durch Flamin im >Hes- 
perus< : » >Schurke !< - schrie der herausstiirzende Flamin mit sprii- 
henden Blicken, mit schneeweiBen Wangen, mit wie Mahnen 
herunterhangenden Locken, mit zwei Taschenpistolen in den 
Handen - >da nimm, nimm, Blut will ich< und stieB ihm das Mord- 
gewehrentgegen — Viktor drangte Klotilden weg und sagte: >Un- 
schuldige, vermehre deine Schmerzen nicht!<« - Das Zeugma: 
»Blicken, Wangen, Locken, — Taschenpistolen« ist freilich jean- 
paulisch. An solchen Stellen jedoch, wo das Geriist der Intrige 
notgedrungen gestiitzt werden muB, merkt man, wie Jean Paul 
zu den vorhandenen Versatzstiicken griff, ohne hier Zeit zu fin- 
den, sie zu verwandeln. Er hat das Handlungsgeriist, das sein 
Romanleser von ihm erwartet, notig, um seinen eigenen Begriff 
von Handlung durchzusetzen. Was er an Motiven dem geheim- 
niskramenden Abenteuerroman, wie Meyerns >Dya Na Sore<, 
oder Publikumserfolgen wie Sintenis* >Veit Rosenstock< und 
Grosses >Der Genius< entnimmt, wird in der festgelegten Ein- 
deutigkeit mannigfach gebrochen, durch die Art der Darstellung 
mit Nebengerauschen versehen, die mehr und mehr die her- 
gebrachte Eintonigkeit iiberstimmen, so daB schlieBHch, in einer 
Biindelung solcher Einzelmotive, Jean Pauls spannungsreiche, 
gefiihls- und gedankengeladene Gesamtschau von Mensch, Welt 
und Oberwelt erscheint. Die >Insel der Vereinigung< (im z wolf- 
ten Hundposttag des >Hesperus<) mit ihrem Verschworungs- 
charakter und ihrem geheimnisvollen Maschinenzauber ist zu- 
nachst ein solches Requisit aus der Abenteuer-Sphare. Aber wie 
durchscheinend wird dieses Requisit in der Schilderung Jean 
Pauls. Das ominose »Steineriicken« gehort noch zur traditio- 
nellen Maschinerie, wahrend dann Jean Paul den Rundgang um 
die Insel dazu bentitzt, sie aus ihrer trivialen Requisitenhaftig- 
keit zu erlosen und sie zu einem Teil seines imaginaren Reiches 
zu machen: »Der Vater ging mit dem Sohne langsam um das 



NACHWORT 1325 

Ufer und riickte nach und nach 27 Steine, die in gleichen Ent- 
femungen auseinander lagen, aus ihrem Lager heraus... Unter 
dem Rundgang um die Insel sah Viktor ihr Stab- und Frucht- 
gelander von hohen Baumstammen, die ihre Schatten und ihre 
Stimmen in die Insel hineinzurichten schienen und deren Laub- 
werk die bebenden Wellen mit ihren zerteilten Sonnen und Ster- 
nen besprengten . . .« Das starre, zunachst von der Handlung dik- 
tierte Requisit lost sich auf in die-Wellenbewegung des Jean 
Paul'schen Stils und findet erst so den Weg zu einer > Vereinigungi 
der zertrennten und in sich abgekapselten Partikel der Welt, die 
der Name der Insel andeutet: »ein hohes schwarzes, an die Tan- 
nenspitzen reichendes Tor sah mit einer weiBen Sonnenscheibe 
bemalt nach Osten und schien zum Menschen zu sagen: gehe 
durch mich, hier hat nicht nur der Schopfer, auch dein Bruder 
gearbeitet! -« 



IV 



»- im Grunde mufi jede Hauptmaterie fiir einen Autor nur das 
Vehikel und das Pillensilber und der Katheder sein, um darin 
iiber alles andere zu reden«. Diese Stelle aus einem Brief Jean 
Pauls an Christian Otto vom 26.Marz 1793 macht deutlich, daB 
mit einer allgemeinen Skizzierung des Verlaufs von Geschichten 
bei keinem Autor so wenig gedient ist wie bei Jean Paul. Die 
>Unsichtbare Loge< und der >Hesperus<-Roman stehen beide in 
der Tradition der Staatsromane^ sie spielen an Fiirstenhofen, das 
Liebes- und Intrigantenleben am Hof, Auseinandersetzungen 
zwischen politischen Richtungen und die Frage der Erziehung 
von Staatsmannern sind Motive in beiden Romanen. Die Haupt- 
und Staatsaktion der barocken Literaturepoche klingt nach, ge- 
mildert und beruhigt durch den Staatsroman der Aufklarung, 
eines Haller und Wieland. In einem Plan zum >Hesperus< 
notiert Jean Paul unter dem Titel >Jungenda< die Leitgedanken, 
die er in seinem Roman verschmelzen will: »Satirische Karakter 
— Freundschaft - Liebe - Republik - Ein Zwek - Agathonsche 
Zwek - «. An Wielands >Agathon< sollte also zunachst der Zweck 



1^26 NACHWORT 

des Buches gebunden sein, d.h. die Erziehung des Helden zum 
Fursten war zunachst das leitende Thema. Davon ist nicht viel 
ubriggeblieben. Im >Hesperus< entpuppt sich der Hauptheld, 
Viktor, am SchluB als Burgerlicher. Am Ende der >Unsichtbaren 
Loge< sitzt der Held Gustav als Verschworer im Gefangnis. Das 
Schema der aufgeklarten Haupt- und Staatsaktion wurde von 
Jean Paul wahrend des Schreibens am Roman durchbrochen. 
Erst im >Titan< zwang er sich dazu, dieses Schema einzuhalten - 
und es fragt sich, welche Konsequenzen fur die Imaginations- 
kraft des Autors und fur das Kunstwerk selbst daraus entstanden. 
In den ersten beiden Romanen behielt das. Sterne* sche progres- 
sive digression^ die vorwartsschreitende Abweichung, das Jean 
Paul'sche Rankenspriihen die Oberhand iiber dem vorgefaBten 
Plan. Es ware freilich ohne den Widerstand dieses Planes nicht 
ausfiihrbar gewesen, hatte also den Grundton der Staatsaktion 
notig. — Alles, was Hofatmosphare und Hofcharaktere betraf, 
nahm Jean Paul aus der Literatur. Er verharrte deshalb nicht 
lange bei reinen Hof-Szenen, sondern versetzte sie sofort mit 
kreatiirlichen Regungen, zumeist mit Charakterschwachen, die 
nicht allein dem Hof zugehorig waren und bei denen er sich nicht 
an ein Reglement zu halten hatte. Das Auf Ibsen der Hofintrigen 
eines Matthieu in individuelle, zungelnde Kunstfertigkeiten ist 
ein Beispiel dafiir. Indem der Autor politisches Pathos mit Witz 
und Phantasie durchlochert, schafFt er sich die Mdglichkeit, durch 
die Maschen eines konventionellen Handlungsnetzes hindurch- 
zuschliipfen: wobei er freilich das Handlungssystem am SchluB 
zerreiBt, und so die Bewegung des Hindurchschlupfens wesent- 
licher fiir den Roman wird als das System selbst. Wie oft im 
Werk von Jean Paul, so lost sich auch hier StorT in Bewegung 
auf, doch die Bewegung ist an das Vorhandensein des rriehr und 
mehr in den Hintergrund tretenden Stoffes notwendig gebunden. 
Das ist ein KunstgrifF des Autors, der weniger ein Trick ist als 
eine aus seiner Begabung erwachsende Zwangslauflgkeit. Gerade 
deshalb freut er sich iiber nichts mehr, als wenn er aus Weimar 
berichten kann (n.Juni 179^ an Christian Otto): »Die Karak- 
tere Joachime, Matthieu (der besonders) und Agnola werden hier 



NACHWORT I327 

fur wahre gehalten und gefielen gerade am meisten. Im Klub 
stritt man, ob Flachsenfingen ein AbriB von Wien oder Man- 
heim ware wegen des Lokalen - Wieland war des hohnischen 
Dafurhaltens, Flachsenfingen liege in Deutschland sehr zer- 
streuet.« Im ubrigen mokiert sich Jean Paul iiber die allgemein 
sich wiederholenden »groBen« Ereignisse und Hauptaktionen, 
wo er kann, und miBt ihnen nicht mehr Bedeutung bei als eben 
die von Vehikeln: »Und so spielen wir alle unsere Haupt- und 
Staatsaktzion bald auf dem Nazional- bald auf dem Familien- 
theater und machen uns falsche Wunden und Bauche . . .« Er sucht 
in diesen Aktionen die verborgenen Schattierungen der Seelen 
oder die Abspriinge zu seinen Fltigen, die Randsituationen, die 
Misch- und Zwischenzustande auf. So gerat er aus der Schablone 
einer zekgendssischen Mode unversehens in Zonen, die so schnell 
nicht zu Ende zu entdecken sind. Unverblumt kundigt er dem 
Leser seine Entfuhrung in diese Zonen, mittels seiner Digres- 
sions-Methode, an, am Beginn der >Unsichtbaren Loge<: es 
konne aus einer scheinbaren Digression der Natur eine schrift- 
stellerische gemacht werden, »aber erst im 2osten Sektor; weil 
ich erst ein paar Monate geschrieben haben muB, bis ich den 
Leser so eingesponnen habe, daB ich ihn werfen und zerren kann, 
wie ich nur will«. 

Dort, wo er seine Helden Haupt- und Staatsreden halten lassen 
muB, wie seinen Viktor, im 32.Hundposttag, hilft er sich durch 
verschiedene Mittel. So schafFt er in diesem Fall einen Abstand 
zwischen dem Helden und der Rede, indem er vorausschkkt: 
»Er ahmte meistens den Stil nach, den er zuletzt gelesen oder - 
wie heute - gehort hatte ; daher sprach er in Sentenzen wie der 
eine brennend-kalte Englander«. Zum anderen aber steigert er in 
diesem Fall unter der Hand die sentenzenhafte Staatsrhetorik in 
die bewegte, weitausgreifende Gebarde Viktors hinein. Formell- 
aufklarerisch beginnt die Ansprache: »Kein Staat ist frei, als der 
sich liebt; das MaB der Vaterlandsliebe ist das MaB der Freiheit« 
- und sie endet jeanpaulisch: »In meinen jungern Jahren war 
mir oft die Menge der Menschen schmerziich, weil ich mich un- 
vermogend fiihlte, 1000 Millionen auf einmal zu lieben; aber das 



13^8 NACHWORT 

Herz des Menschen nimmt mehr in sich als sein Kopf, und der 
bessere Mensch miifite sich verachten, dessen Arme nur um einen 
einzigen Planeten reichen..*« Das Sprungbrett der Staatsaktion 
und des vorgeschiitzten Zitaten-Stils schleudert den Autor dort- 
hin, wo er der Autor ist. 



V 



Jean Paul kam aufatmend aus seiner >satiriscken Essigfabrik^ 
als er die >Unsichtbare Loge< begann. Er entfernte sich von der 
Tradition des Satirendrechselns, aus der er sich schon mit dem 
>Schulmeisterlein Wutz< halbwegs herausgezogen hatte. Das 
heiBt nicht, daB er seinen Hang zur Satire aufgab; er verfeinerte 
ihn vielmehr und stellte ihn in Dienste. In seinen Extrablattern 
schiebt er noch Satiren alten Stils ein, die zum Teil aus seinen 
fruheren Sammlungen stammen. Was aber den >Wutz< und die 
beiden Romane in der Tonlage mitbestimmt, ist nicht die Satire, 
die unmittelbar durch Komik vernichten oder herabsetzen will, 
sondern gleichsam ein huschendes satirisches Schattenspiel, ein 
aufstachelndes Ferment der Bewegung, das gegen die Gefahr ab- 
gestandener Zustandsschilderungen, sei es in den idyllischen, sei 
es in den >hohen< Passagen, mit Gluck eingesetzt wird. Die Vater 
der Jean Paul'schen Satire, auf die er sich oft genug berufen hat: 
Erasmus, Swift, Young, Sterne, Pope, Hamann, Liscow, Ra- 
bener, treten mit ihrem EinfluB mehr und mehr zuruck. Am Schlu B 
des funften Schalttags, am Ende des 20.Hundposttags, halt sich 
der Autor die >Dornenkronen< der Menschen vor Augen: »so 
vergeht mir die Lust, mit satirischen Dornen um mich zu schla- 
gen, und ich mochte lieber einige aus euern Fiifien oder Handen 
ziehen .« Die grotesk-satirische Akzentuierung des Pastors Ey- 
mann gibt der Idylle von St.Liine etwas von der Beweglichkeit, 
die die Idylle von Auenthal durch ahnlicrie Ziige im Portrat des 
Wutz verlebendigt. Aber schon im ersten Sektor und im ersten 
Extrablatt der >Loge< gibt Jean Paul zu erkennen, daB er sich nicht 
mehr in die Essigfabrik zurucktreiben laBt. Obwohl der erste 
Sektor einen alten konventionellen Vorwurf der Satiren behan- 



NACHWORT I329 

delt: Heiratsfragen und mogliche Kuppelei, wird hier in der Epi- 
sode mit der >Kopulierkatze< ein feineres Gam gesponnen. Wie 
das vor sich geht, ist leicht zu erkennen: durch eine genauere Be- 
obachtung der Eirqelfalle, die die Satire dem gelaufigen Modell 
entfremdet: »steht der Mann selber unkopiert funf FuB hoch vor 
ihr : so leistet sie es nicht mehr - ihre wie eine besonnete Mucken- 
kolonne spielenden Empfindungen treiben aus einander, wider 
einander und in einander, ein Fingerhut voll Puder am besagten 
Mann zu viel oder zu wenig - eine Beugung seines Oberleibes - 
ein zu tief abgeschnittener Fingernagel - eine sich abschalende 
schurflchte Unterlippe - der Puder- Anschrot und Spielraum des 
Zopfs hinten auf dem Rock - ein langer Backenbart - alles.<i Von 
der genauen Wahrnehmung aber wird bei Jean Paul das Rudel 
der dahinlaufenden Worte in stdrkere Bewegung versetzt bis zu 
Kapriolen, die einzelnen Worte gewinnen an verriickter Bunt- 
heit, halten sich stockend in der Bewegung zuriick, um nach 
kurzem Stocken wieder vorzuschieBen : ein synkopischer Rhyth- 
mus, der mit einer an der Wahrnehmung neu beflugelten Wort- 
imagination zusammenwirkt, laBt glanzende satirisch gefarbte 
Romankapitel entstehen. Sie erinnern nur noch von feme an die 
Kopisterei der Essigfabrik. Der frgeneigte Leser« hat das Recht 
nachzudenken: aber das Schattenspiel der Satire schreibt ihm die 
Gangart in dem Labyrinth der witzigen Formulierungen vor, er 
ertappt sich dabei, daB er zwei, drei Mai um die verkehrte Ecke 
herum assoziiert und spurt bald die Satire auf sein eigenes Denk- 
und Sprachvermogen, die er jedoch lachelnd-zuvorkommend 
serviert bekommt: ».... daB er seine Weisheitzahne und seinen 
Philosophen-Bart soil so auBerordentlich lang gewachsen tragen, 
wie der geneigte Leser beide tragt, dem es freilich nicht erst hier 
vorgedruckt zu werden braucht - er merkte alles schon vor drei 
guten Stunden -, daB hinter der Kopulierkatze etwas stak oder 
steckte, Ernestine namlich selber.« Wenn irgendwo in deutscher 
Sprache Imagination und Wortchemie ein unzertrennbares Paar 
Briider sind, dann bei Jean Paul. Die Schachregeln desD oktor Fenk 
fur den Rittmeister (aus eben diesem erstenSektor der >Loge<) sind 
Zeuge dafur, freilich, »kein Deutscher verstand Metaphern we- 



133° NACHWORT 

nigew< als er. — » - wie namlich der dtimmste Mann sich fur klu- 
ger halt als die kliigste Ehefrau; wie diese vor ihm, der vielleicht 
auBer dem Haus vor einer Gottin oder Gotzin auf den Knien 
liegt, um begliickt zu werden, gleich dem Kameele auf die ihrigen 
sinken muB, um befrachtet zu werden.« Jean Paul kennt das 
Hexenspiel der deutschen Pronomina, niemand wird ihn fest- 
nageln, noch dazu wenn dieses Spiel in Wetteifer gerat mit den 
eleganten Bockspriingen deutscher Syntax-Moglichkeiten; aber 
wehe dem Obersetzer (speziell dem, ders ins Englische setzt)! 
Hier werden nicht mehr Pointen und Bonmots gejagt, sondern 
Denkvorgange vorexerziert, jene Fixigkeit wird gefordert, die 
man dem Franzosischen nachsagt. So hilft das satirische Element 
mit, die Handlung zu entschweren und statt ihrer die Spontanei- 
tat des Autors direkt auf den Leser zu ubertragen, und nicht, wie 
zuvor, die Last der traditionellen Illusionen oder Desillusionen. 
Die Satiren erhalten die Spiritualisierung von Flaschenteufeln, 
die im Roman auf- und niederfahren. Ein Heer solcher Schatten 
bevolkert diesen Band, manche bestimmen ganze Kapitel; so ist 
der Sektor zwei der >Loge< von A bis Z vom satirischen Flaschen- 
teufel besessen, der den betrugerischen Handel und den Vater 
der Falkenbergischen Ahnen skizziert. »Aber der Stammhalter 
drehte langsam den Kopf hin und her und sagte kalt, >ich mag 
nicht< und trankZerbsterFlaschenbier...« Dochdas muB im Zu- 
sammenhang des gesamten Kapitels gelesen werden. 



VI 



Friedrich Hebbel war der Meinung, das »Schulmeisterlein Wutz« 
enthalte den »ganzen Succus des echten Jean Paul«, Dagegen 
steht ein Wort Jean Pauls aus den Vorarbeiten zu seiner Selbst- 
biographie -: »Wer mich rein und recht beurteilen will, muB mich 
in meinem Garden nehmen; denn sonst gibt und nimmt er mir 
im einzelnen zuviel und ist nie meiner Meinung uber mich.« 

Die Idylle sucht nach jenem geschlossenen, begrenzten Raum, 
in dem der Mensch sich »zuhause« fiihlt, nach dem Zufiuchtsort, 



NACHWORT 133 1 

der der Kreatur keine fremde Rolle aufzwingt, der ihre Sympa- 
thien und Neigungen frei hervortreten und sich entwickeln laBt, 
aus dem Querziige, Intrigen, Abwehrmasken verbannt sind. Das 
>Bildchen< dieses Zufluchtsorts konnte seit je seine Ztige entweder 
mehr aus realen Landschaften holen oder aus phantastischen, in 
Dorfer und Taler fuhren oder in Marchengegenden mit Nym- 
phengrotten. Es wurde immer eine Art Vorbild. Die >Poetik des 
Raums< findet in der Idylle die urspriinglichen poetischen Krafte 
des Riickzugs auf sich selbst; sie erkennt im Abenteurer-Roman 
den Gegenpolj den Drang zum VorstoB ins Unbekannte. 

Jean Paul ist ein Genie der Idylle, mit der groBen Sehnsucht 
nach der ewigen troglodytischen Zeit. Seinen All-Fliigen steht 
das Einnisten in Furchen und in Hohlensysteme gegenuber, eine 
Polaritat, die er selber in den »drei Wegen gliicklicher, nicht 
gliicklich, zu werden« in der Vorrede zu »Quintus Emanuel Fix- 
lein« beschrieb. DaB das LeserbewuBtsein des neunzehnten Jahr- 
hunderts aus dem Ganien Jean Pauls sich nur den idyllischen Teil 
herausschnitt, und noch dazu sich aus diesem Teilaspekt nur die 
harmlosen Lauben-Partien aneignete, riickte Jean Paul in ein 
MiBverstandnis, das heute noch wuchert. 

Das Hohlenleben Gustavs am Anfang der >Unsichtbaren Loge< 
bietet die Visionen, zu denen der idyllische Jean Paul fahig war. 
Er zeichnete Bilder, die sich mit Urbildern des Menschen- 
geschlechts beruhren, verwirklichte in dem Ausblick aus der 
Hohle in das Nachtmeer die in der Idylle verborgenen bedrangen- 
den Forderungen, was zwar kaum ein deutscher Kritiker, wohl 
aber ein franzosischer Literarhistoriker ? Gaston Bachelard, wahr- 
nahm. Die beiden groBen Panoramen der Jean Paul'schen Kunst 
kommen in dem Auf blick Gustavs in den Nachthimmel aufein- 
ander zu: »Diese Tiiren lieB er (der Genius) in der Nacht vor 
dem ersten Junius, als bloB die weiBe Mondsichel am Horizonte 
stand und wie ein altersgraues Angesicht sich in der blauen 
Nacht nach der versteckten Sonne wandte, mitten in einem Ge- 
bete unvermerkt aufziehen — und nun siehst du, Gustav, zum 
ersten Male in deinem Leben und auf den Knien, in das weite 
neun Millionen Quadratmeilen groBe Theater des menschlichen 



I33 2 NACHWORT 

Leidens und Tuns hinein; aber nur so wie wir in den nachtlichen 
Kindheitjahren und unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen 
Mucken uberhiillte, blickest du in das Nachtmeer, das vor dir 
unermeBlich hinaussteht mit schwankenden Bliiten und schieBen- 
den Feuerkafern, die sich neben den Sternen zu bewegen 
scheinen und mit dem ganzen Gedrange der Schopfungl - O, 
du glucklicher Gustav; dieses Nachtstiick bleibt noch nach 
langen Jahren m deiner Seele wie eine im Meer untergesunkene 
griine Insel hinter tiefen Schatten gelagert und sieht dich seh- 
nend an wie eine langst vergangne frohe Ewigkeit.<t — » Welch 
ein halsbrecherischer Idylliker!« bemerkt Max Rychner. Das 
Menschenleben scheint zwischen Himmel und Hohle eingespannt 
wie zwischen langst vergangene' frohe Ewigkeiten, - die eine 
begrenzt im Dunkel, aber ebenso ungemessen wie die andere, 
unbegrenzt, zwischen den Himmelslichtern. Jean Paul hat fast 
alle seine Idyllen mit diesen Sehnsiichten beladen ; auch seine Vor- 
rede zur >Loge<, die er in der Postkutsche schreibt, beherrscht die 
Erwartung eines Ausblicks : vom Fichtelberg; Wutz, demer am 
Tag vor seiner Hochzeit einen solchen Aus- und Aufblick aus 
Auenthal vermacht, ist keinesfalls harmlos. Naher besehen bleibt 
kaum eine der Jean Paul'schen Idyllen in der bio Ben Bequemlich- 
keit. Wutz ist das Gegenteil des SpieBendeals, dessen man Jean 
Paul verdachtigt hat. Er nahme sonst die >H6hle< seines Betts als 
Selbstverstandlichkeit und erkennte nicht in ihr den seltenen 
Schutz-Winkel inmitten der morderischen Bataille, in dem er sich 
selber sprechen hort Es ist, als wiiBte er sich zuruckgeschlucktin 
jene Hohle, aus derer einst unfreiwilligkam:»Undkrocherend- 
lich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein 
Oberbett, so schiittelte er sich darin, krempte sich mit den Knien 
bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich : >Siehst du, Wutz, es 
ist doch vorbei.<« 

VII 

En^yklopadistik, Wortgerolle, Fremdwortserien, Zitate, Ex- 
zerpte, FuBnoten gehorten zum strategischen Plan Jean Pauls, 



NACHWORT 1333 

die ihm vorschwebende Welt-Gebarde in seinen Romanen aus- 
zufuhren, die Viktor im >Hesperus< leidenschaftlich beruft: »tau- 
send Millionen auf einmal zu lieben«... »und der bessere Mensch 
mii6te sich verachten, dessen Arme nur um einen einzigen Pla- 
neten reichen.« Kein Aufwand und Aufmarsch von Register- 
Systemen konnte daftir gewaltig genug sein, aber auch keine Er- 
wagung des einzelnen Wort-Elements genau genug. Aus Sprach- 
wirbeln und Worthaufungen, aus oft bewuBt entkornten und be- 
wuBt iiberladenen Worthiilsen und aus Bilderfolgen, deren 
rascher Sturz die Umrisse der einzelnen Bilder verwischte, schuf 
sich Jean Paul, wie er es selbst nannte, eine >Manier<, die sein Vor- 
haben trug : sobald der Leser sich dieser Manier anvertraute und 
die Texte nicht»kanzleiverwandt« las. Jean Paul ging dabei syste- 
matisch zu Werk. Die Exzerpte wurden spezialisiert geordnet. 
Kuriose Bezeichnungen fiir merkwurdige Speisen, Handwerke, 
Gewohnheiten wurden zusammengestellt: »Hechtwurste, Bratel- 
braten, Eingeschneizel« ; seltsame Orts- und Personennamen wur- 
den gesammelt. Neben den Exzerptbanden entstand das >Mit- 
worterbuch<, eine Zusammenstellung von Synonyma; allein fiir 
das Wort >sterben< brachte er es auf zweihundert Wendungen. 
Mit einem ungeheuren FleiB legte er noch in seiner Satiren-Zeit 
Register iiber Register an, dazu wiederum »Register dessen, was 
ich zu thun habe«: 
» 1. Dieses Register zu machen. 

2. Aus der >Geschichte< ein Register. 

3. Aus den >Gedanken< eins. 

4. Das erste durchzulesen und 

5. das andere. 

6. Das Worterbuch vermehren. 

7. Es lesen. 

8. Die >Geschichte< lesen. 

9. Die >Gedanken< lesen. 

10. Register aus den >Thorheiten< machen. 

1 1. Eines aus der >Wizsammlung(. 

12. Diese lesen. 

13. Die >Ironien< lesen. 



1334 NACHWORT 

14. Ein Register daraus machen. 

15. Die Anleitung zum Wizze lesen. 

16. Die Tugend lesen. 

17. An dem deutschen Lexikon arbeiten. 

18. Lesen der Anekdoten. 

19. Ein Register fiir die Register aus der Geschichte machen. 

20. Am ersten Tage die Obungen in Stylen, am zweiten in Vor- 
bereitungen, 3 ten im Buchmachen. 

21. Mein Tagebuch machen. 

22. Auf die Menschen Achtung geben. 

23. Meine Urtheile iiber die besten Autoren abfassen. 

24. Ich muB mich im gemeinen Leben nach StofF zu Gleich- 
nissen umsehen.« 

Aus dem in seinen fruheren Jahren systematisch begriindeten 
Wort-Fundus wurde^ die Enzyklopadistik seiner Romane ge- 
speist, - wobei weniger die Sammlung selbst als die Scharfung 
der Sinne beim Auswahlen und Sammeln in den Romanen sich 
auswirkte. 

Die erstaunlich ungewohnliche Art der »Systematisierung« in 
seinen Registern und in seinem Mitworterbuch fuhrt Jean Paul 
in der >Unsichtbaren Loge< am Ende des i6.Sektors in einem 
Extrablatt iiber >Erzieh-Idiotismen< vor: »Ich gewohnte meinem 
Gustav an, die Ahnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften an- 
zuhoren, zu verstehen und dadurch selber zu erfinden. Z.B. alles 
Grofie oder Wichtige bewegt sich langsam: also gehen gar nicht 
die orientalischen Fursten - der Dalai Lama - die Sonne - der 
Seekrabben; weise Griechen gingen (nach Winkelmann) lang- 
sam - ferner tut es das Stundenrad - der Ozean - die Wolken 
bei schonem Wetter« . . . etc. 

Jean Paul hatte (ahnlich wie Rabelais und Fischart) einen 
sicheren Spursinn fur Kombinationen, die motorisch waren: d.h. 
die mehr hergaben als ein kurioses Sammelsurium. Sie riefen 
Funkensprunge hervor und brachten ihn dem Ziel naher, ein 
allumfassendes >Gesamtbewu8tsein< in seinem Werke, wie spie- 
lend, im »quer durchemander Hinbauen« zu umreifien. Er arbei- 
tete mit.der Gelehrtenmethode der Zettel und Zettelkasten, Be- 



NACHWORT I33J 

sucher berichten von seinen »nummerierten Fachern«j aber nicht, 
um die Erscheinungen der Welt zu spezialisieren, sondern sie, 
im Gegenteil, aus der Spezialisierung der »entlegenen Wissen- 
schaften« zu erlosen, auf Grund von vorhandenen und erfundenen 
Ahnlichkeiten. Von »der ErschafFung des Schopfers Jean Paul in 
seinen Werken« hat Oskar Loerke gesprochen, ein Ausdruck, 
der dem Verfahren Jean Pauls entspricht. Wer diesem Vorgang 
mit dem Zeigefinger am BegrifFsgerust dahintastend oder mit 
einer falsch eingestellten informationstheoretischen Mechanik 
nachgeht,kommtnach wie vor zumSchluB: »sinnlose Anhaufung 
zufalligen Wissens«. - Erst das Zusammenwirken von Wahr- 
nehmung und Vorstellung, von Systematik und Imagination hob 
Jean Pauls Enzyklopadistik aus bloBer Skurrilitat und HeB sie als 
eines der wichtigsten Elemente teilhaben an seinem schopfe- 
rischen Vorgehen: »Aus alien Winkeln des Gehirns krochen ver- 
borgene Einfalle hervor; jede Ahnlichkeit, jede die Stammutter 
einer Familie von Metaphern, sammelte ihre unahnlichen Kinder 
um sich, und gleich einer wandernden Mausefamilie hangt sich 
ein Bild an den Schwanz des andern.« Eine Haufung von Bon- 
mots und Lehren wird nicht mehr lehren, sondern aus den Lehren 
die ironische Gegenwahrheit des Nicht-Lehrbaren heraus- 
holen, dann aber durch den Aufeinanderprall ihrer Vergleichbar- 
keiten das BewuBtsein iiber jede lehrbare Einzelerfahrung zu 
einer skh weiter vorwagenden Erfahrungsanstrengung locken. 
Ahnliches geschieht im >Hesperus< bei raren Worten, die sich 
der Raritaten von Herrn Le Bauts > Cabinet d'histoire naturelle< 
annehmen. Der Gedankenstrich wird dabei Jean Pauls wichtig- 
stes Hilfsmittel: »In einem solchen Entwurf halt* ich die un- 
ahnlichsten und feindlichsten Dinge bloB durch Gedanken- 
striche auseinander«, kiindigt Jean Paul seine Vorrede zur zwei- 
ten Auflage des >Hesperus< an. Das Mittel des Zeugma kniipft 
Querknoten in die Wortvorhange: »Ich denke, ich werde heute 
Kopfschmerz und den Nathan und der Himrriel ein Gewitter be- 
kommen«. - »Pechholz in den Ofen und Mohren in den Magen 
schieben.« Katachresen sprengen die Metaphernkette und schaf- 
fen das Gegenteil vom festen Besitz, namlich beweglichen: »Und 



13 3 6 NACHWORT 

dann zog er fort, nicht als Gewitter, sondern als Regenbogen, 
den er aus der achten Farbe allein verfertigte, aus der schwarzen, 
und zwar mit den Augenbraunen.« Nicht durch zu wenig, son- 
dern durch zu viel Sinn, durch Sinniaberladung treten die Worte 
aus ihrer gewohnten Reihe und greifen weiter aus, fuhren hin zur 
»complexe et indivisible totalit6«, die Baudelaire fordert, der sich 
auf Jean Paul beruft. Die Dichtkunst entdeckt hier neu ihre Do- 
mane als erste konstituierende Macht; denn »die Philosophic 
macht« nach Jean Paul »nur die Silberhochzeit zwischen den Be- 
grirTen, die Dichtkunst aber die erste«. 

Der Titel >Hesperus< selbst ist unter solchen jeanpaulisch- 
enzyklopadistischen Gesichtspunkten gewahlt. Erst wahrend des 
Drucks wird er gefunden, er hat keine direkte Beziehung zum 
Stoff und zur Handlung, er soil, in einem Wort, die Stimmung 
des gesamten Werkes umfassen: signalisierend und pantomi- 
misch. Das anfangliche Sprechen der Menschheit soil wieder er- 
scheinen, das noch nicht zerstreut und erstarrt ist. In den Gesten 
dieses Sprechens, im Zusammenspiel mit der Enzyklopadistik 
soil es moglich sein, die groBe Spannweite des Romans auch im 
kleinsten Ausschnitt sichtbar zu machen: »Er wankte ohne Steig 
ins Dorf hinab, umzogen von" den groBen Kreisen des Kibitz- 
vogels und von den kleinen des Maikafers.« - Ein Gesprach zwi- 
schen Klotilde und Viktor im 7. Hundposttag weist auf diese 
Anfangs-Sprache hin. »Aber wie lernt das Kind unsere Sprache, 
wenn es nicht schon eine kann?« Viktor antwortet: »Also muB 
die pantomimische Sprache gerade soviel bezeichnen wie die 
Ohrensprache.« Er halt sie fur »die erste, im Menschen dagewe- 
sene«. Wenige Zeilen weiter geht Viktor den Hintergrunden die- 
ser pantomimischen Zeichen nach und findet dort die Erinnerung 
und die Hoffnung. Das Wort Hesperus scheint nichts anderes zu 
sein als ein Hinweis auf die Koinzidenz beider Regungen und 
damit auf den Sinn dieses groBen Romans. Jean Paul verwech- 
selt als Enzyklopadist nicht den absoluten Geist mit der Methode 
einer Spezial-Wissenschaft. Er weiB, daB er das Ganze im Ein- 
zelnen antreffen kann, aber nur dort, wo seine Sprache die erste, 
die »dagewesene« Sprache aufspurt. 



NACHWORT J 337 

VIII 

Was aber macht Jean Paul aus der traditionellen >Tugendemp- 
findsamkeit<, aus deren Stimmungsbereich er doch vor allem 
herkam? Wann erscheint sie in humoristischer Brechung, wann 
formt er sie zu mythischen Naturbildern? Welches sind die Kom- 
ponenten der groBen Traum-Visionen in der >Loge< und im 
>Hesperus<, die bis zu den All-Flugen und an die Grenzen der 
Musik reichen? Welche Rolle spielen die Auslaufer der >Schauer- 
empfindsamkeit<, mit denen dieser Band durchsetzt ist, mit ihren 
Leichengesichten, Grabes- und Schlachtfeld-Stimmen, Glieder- 
puppen und Wachsfiguren? Wie verhalten sich die groBen Ver- 
nichtungs- und Freudenaugenblicke und die Blitzschlage, die 
noch iiber Vernichtung und Vereinigung hin weiter bestehen, 
zu dem bisher gesichteten Teil des Kontinents Jean Paul? 

Daraufhin ist zugleich Jean Pauls >Titan< zu befragen, der im 
Band 3 dieser Ausgabe stent. 

Weder die >Unsichtbare Loge< noch >Hesperus< haben ihre 
Hohepunkte in den letzten Kapiteln. Dort macht sich vielmehr 
der Widerspruch zwischen der Handlung des begrenzten >Staats- 
romans< und der Konzeption des »unbegrenzten« Romans deut- 
lich spiirbar; im >Hesperus< durch das Auseinanderfallen der 
>hohen< und >niedern< Tonart und durch die Vernachlassigung 
der Gestalt Klotildes; in der >Loge< durch den Hippel'schen Be- 
helfs-Gag der Briefe, der aber immerhin einen treffenden jean- 
paulischen SchluB-Satz ermoglichte. - Wenn Jean Paul, kurz vor 
seinem Tod, den >Hesperus< als ein Buch bezeichnete, das seinen 
>Zweck< nicht erreichte, so ware zu fragen, ob er damit jenen 
>Agathonschen Zweck< der auBeren Handlung meinte, den das 
Buch sicher nicht erreicht hat, oder den von Viktor ausgespro- 
chenen umfassenden >Zweck< der Gesamt-Liebe und des Plane- 
ten-Flugs. Jean Paul beschaftigt dieses Buch bis zum Ende 
seiner Tage. Den Autor und seine Gestalten hat es unter einen 
hohen Anspruch gestellt. Es gehort zu den Unruhe stiftenden 
Biichern, deren Komposition nicht in Losungen aufgehen, ebenso 
wie das Fragment der >Unsichtbaren Loge<, gleichsam der erste 



133^ NACHWORT 

Anlauf zum >Hesperus<. Nicht von ungefahr steht das Motiv der 
>Ruhe< in beiden Romanen an entseheidender Stelle als ein an- 
gestrebtes, im Leben nie erreichtes Ziel, die letzte Erfullung der 
Vision von der Idylle und der entgegengesetzten Vision vom 
groBen Flug. »Ruhe ! dich geben weder Freude noch der Schmerz, 
sondern nur die Hofrhung. Warum ruht nicht alles in uns wie 
um uns?« (Viktor im 45.Kapitel des >Hesperus<). Ruhe wird als 
Sehnsuchtsmotiv ausgesprochen; sie wird beschworen, wo die 
Wellen der Satze im ozeanischen Stil Jean Pauls an den Hohe- 
punkten einhalten und eine Ahnung geben vom Zusammenfall 
des Entzweiten. »Em singendes Wesen schwebte durch unser Tal, 
aber von Blattern und Dammerung verdeckt, weil der Mond noch 
nicht auf war. Es sang schoner als ich noch horte: 

— Niemand, nirgends, nie. 

— Die Trane, die fallt. 

— Der Engel, der leuchtet. 

— Es schweigt. 

— Es leidet. 

— - Es hofFt. 

— - Ich und Du !« 
(Unsichtbare Loge, S4. Sektor) 

Walter Hollerer 



Zur Textgestaltung 



In der Einrichtung des Textes folgt unsere Ausgabe in alien 
wesentlichen Fragen den bewahrten Grundsatzen der Kritischen 
Ausgabe, die ihr Herausgeber Eduard Berend in seinen »ProIe- 
gomena zur historisch-kritischen Ausgabe von Jean Pauls Wer- 
ken« (veroffentlicht in den Abhandlungen der preuB. Akademie 
der Wissenschaften, Jahrg. 1927, Phil.-hist. Klasse, Nr. 1) aus- 
fiihrlich dargestellt und begriindet hat. 

Da die von Jean Paul lange geplante Gesamtausgabe bei 
Reimer erst in seinem Todesjahr 1826 zu erscheinen begann, 
ohne daB der Dichter noch auf sie EinfluB nehmen konnte, gibt 
es von ihm keine verbindliche, zu seinen Lebzeiten veranstaltete 
Sammlung seiner Werke. Deshalb werden unserer Textredak- 
tion die jeweils letzten, noch vom Dichter selbst besorgten 
Einzeldrucke zugrunde gelegt. Unsere Ausgabe, die alle willkur- 
lichen Eingriffe, alles Streichen und »Bessern« im Text streng 
vermeidet, ist um eine zuverlassige Wiedergabe der urspriing- 
lichen Form der Werke bemiiht. Darum werden neben der vor- 
bildlich edierten Kritischen Ausgabe, deren Ergebnisse wir 
dankend benutzen, in jedem Fall von jedem Werk alle Original- 
drucke genau verglichen, wobei wichtige Erweiterungen und 
Einschiibe, ebenso die Varianten der verschiedenen Drucke, so- 
fern sie inhaltliche Bedeutung besitzen, in den Anmerkungen 
aufgefiihrt oder kenntlich gemacht werden. Konjekruren und 
Anderungen gegen die Drucke, die bisweilen durch die Nach- 
lassigkeit des Satzes in den Originalausgaben notwendig sind, 
werden nur mit groBer Vorsicht vorgenommen und ebenfalls 
in den Anmerkungen unter Angabe des vorgefundenen Wort- 
lautes gebucht. 



1340 ZUR TEXTGESTALTUNG 

Unsere Ausgabe nahert die auBere Textgestalt der Werke 
behutsam der heutigen Schreibweise an, laBt aber den Lautstand 
des Dichters unangetastet. Zwar werden in der Orthographie die 
altertiimlichen Formen (deBhalb, bischen, Thau, SchooB, Drath, 
wol, bios, hinzu kommen usw.) durch die heute iiblichen (deshalb, 
biBchen, Tau, SchoB, Draht, wohl, bloB, hinzukommen usw.) 
ersetztj ebenso Fremdworter und franzosische Ausdriicke in Zi- 
taten unserer Schreibung angepaBt. Auch werden falsche oder 
veraltete Schreibungen von Namen (Gothe, Buffon, Nikolai 
usw.) durch die richtigen oder gebrauchlichen Formen (Goethe, 
Buffon, Nicolai usw.) wiedergegeben. Alle Eigenheiten und 
Eigenwilligkeiten in Jean Pauls Diktion, alle personlichen und 
idiomatischen Sprachgewohnheiten werden jedoch bewahrt. So 
behalt unsere Ausgabe z. B. : weitlauftig, Augenbraunen, funfzig, 
Dinte, sprutzen, Heurat bei anstelle von weitlaufig, Augen- 
brauen, funfzig, Tinte, spritzen, Heirat. Auch dann, wenn inner- 
halb eines Werkes Doppelformen nebeneinander auftreten: hier- 
bei neben hiebei, elf neben eilf, gescheit neben gescheut, Sina 
neben China usw., schien einEingreifen nicht gerechtfertigt. Jede 
solche Anderung oder Vereinheitlichung, auch wo sie zunachst 
berechtigt scheinen mag, wiirde das Textbild verunstalten und 
auf die Dauer zu untragbaren Konsequenzen und Schwierig- 
keiten fiihren. Das gilt im besonderen MaBe fur die Tilgung des 
Fugen-S im Genitiv, die Jean Paul nach 18 17 rigoros in alien 
Werken und Neuauf lagen durchgefuhrt hat. Obwohl diese ver- 
meintliche Neuerung, der Jean Paul eine eigene umfangliche 
Abhandlung gewidmet hat, sprachwissenschaftlich sich schon 
sehr bald als unhaltbar erwies und der Dichter vielleicht selbst 
wieder von ihr abgekommen ware, darf uns das nicht dazu ver- 
fiihren, diese Tilgung wieder riickgangig zu machen. So werden 
auch eigentliche Sprachfehler, die bei Jean Paul in der Recht- 
schreibung und in der Grammatik nicht selten auftreten, nur 
dort korrigiert, wo nachweislich eine Verwechslung vorliegt, 
z.B. wenn er stets Magahonie statt Mahagonie, Lordschip statt 
Lordship, Retoude statt Redoute, Fortins statt Fortius schreibt. 

Abkurzungen werden beibehalten, sofern sie dem modernen 



ZUR TEXTGESTALTUNG I341 

Gebrauch noch entsprechen: usw., d.h. und ahnliche. (Das 
Frakturzeichen ic wurde in die entsprechende Abktirzung der 
Antiqua: etc. aufgelost.) Wo diese Abbreviaturen jedoch heute 
unverstandlich sind, wie A. d. B. fur Allgemeine deutsche Bi- 
bliothek, oder schon fruh zu MiBverstandnissen AnlaB gaben, 
wie das haufige Abktirzen von Doktor, Herr und heilig in D., 
H. und h., werden sie besser aufgelost. Ebenso ersetzen wir die 
haufig bei Zahlen vorkommenden ZirTern durch Zahlworter. 
Solche ganz willkiirlichen Unterscheidungen dienten ohnehin 
keiner bestimmten Absicht und entsprangen gewohnlkh der 
Bequemlichkeit des Autors oder des Setzers. 

In der Anwendung der Satzzeichen folgt Jean Paul starker als 
in der ubrigen Sprachgestaltung seiner Werke den Vorschriften 
seiner Zeit, die freilich um vieles lockerer und gefuhlsbestimmter 
angewandt wurden, als es die strengen und bisweilen starren 
Regeln der Gegenwart zulassen wurden. „Meine Interpunktion 
ist die herkommliche, wie meine Briefe zeigen", schreibt der 
alternde Jean Paul an Heinrich VoB (Brief vom 17. August 1822). 
In den Drucken verbinden sich die Gewohnheiten des Dichters 
noch uberdies mit den Gepflogenheiten der jeweiligen Setzer, 
und da Jean Paul selten an der Interpunktion korrigierte, 
schwankt ihr Gebrauch in den einzelnen Schriften oft sehr be- 
trachtlich. Jean Paul bedient sich also zunachst keiner originellen 
Interpunktion, er ist auch im allgemeinen nicht, wie man er- 
warten wiirde, auf musikalische Wirkungen und rhythmische 
Gliederungen bedacht, sondern handhabt seine Interpunktion, 
haufig selbst gegen den Rhythmus, nach dem Iogischen Ver- 
standnis des Lesers oder nach der eigenen Bequemlichkeit. Fast 
immer fehlt bei eingeschobenen Satzen oder Vergleichen zu 
Anfang oder zu Ende das Komma, vor Klammern und Ein- 
schaltungen schwankt der Gebrauch der Satzzeichen noch star- 
ker, in Aufzahlungen, die durch >und< oder durch >oder< gekop- 
pelt sind, werden die einzelnen Glieder nach dem Zeitgebrauch 
durch Komma getrennt usw. In solchen Fallen ist es so unbedenk- 
lich wie notwendig, dem Leser das ohnehin schwierige Verstandnis 
der langen Perioden zu erleichtern und ihm nicht durch eine 



I342 ZUR TEXTGESTALTUNG 

mangelnde und ungewohnte Interpunktion neue Hindernisse in 
den Weg zu legen. Es versteht sich jedoch von selbst, daB eine 
strenge und pedantische Reglementierung unbedingt vermieden 
wird und daB alle tatsachlichen Eigenheiten Jean Pauls bei- 
behalten werden: seine Vorliebe fur den Gedankenstrich zur 
Trennung einer langeren Reihe von koordinierten Satzen, vor 
allem in den gehobenen Landschafts- und Stimmungsschilde- 
rungen (»Die Flote tonet fort - sie gehen den Nachtgang der 
Himmelleiter hinauf — zwei angstliche Herzen zerbrechen mit 
ihren Schlagen beinahe die Brust - der Genius stoBet die Pforte 
auf, hinter der die Welt steht - und hebt sein Kind in die Erde 
und unter den Himmel hinaus...«, vgl. S. 62, 21 rT.); das gleiche 
gilt fur die Verwendung des Doppelpunkts vor dem zusammen- 
fassenden Nachsatz und des Strichpunkts zwischen mehreren 
verbundenen Nebensatzen (>Die umkehrenden Gespielinnen 
kamen den Garten herauf, und beide muBten auseinander schei- 
den; und als Viktor noch mit erstickten Lauten sagte : >Ruhe wohl, 
du edle Seele - ...<; und als ein Auge voll neuer Tranen ihm 
dankte; und als er sich tief, tief biickte vor der Heiligen, Stillen, 
Bescheidenen und aus Ehrfurcht nicht einmal ihre Hand kiiBte: 
so umarmte in der Unsichtbarkeit ihr Genius seinen Genius 
vor Entziicken . . . .«, vgl. S. 1073, i8ff.). Diese Charakteristika 
besitzen als Zasuren und rhythmische Unterteilungen eine sti- 
listische Funktion, die auf keihen Fall angegriffen werden darf. 
Hierher gehort als drittes vorstechendes Merkmal noch das 
Fehlen des Kommas zwischen mehreren Beiwortern, die zu 
einem Substantiv gehoren und mit diesem als Einheit aufgefaBt 
sind, ein Merkmal, das in alien Schriften gleichmaBig auftritt. 
Nur wo ein solches Beiwort einen langeren Zusatz bei sich tragt, 
wird es in unserer Ausgabe durch ein Komma von den anderen 
isoliert, wahrend der Gebrauch in den Drucken hier schwankt. 

Auch die Verwendung des Apostrophs, mit dem Jean Paul 
gewohnlich seine Prosa sehr sorgfaltig und konsequent be- 
zeichnet, richtet sich in unserer Ausgabe weitgehend nach seinem 
Vorbild. Jean Paul ersetzt durch den Apostroph immer ein am 
Wortende ausgefallenes >e< (sagt*, dacht', verzog'), wahrend 



ZUR TEXTGESTALTUNG 1343 

bei angelehntem >das< oder >es< der Apostroph (ins, durchs, 
sprachs) entfallt, wenn nicht das vorausgehende Wort verkiirzt 
ist (war's, bracht's) oder auf einen Vokal endet (sei's, wo's). 
Nur beim Genitiv der Eigennamen (Shakespeare's, Matthieu's) 
und in der Befehlsform in der zweiten Person Singular (geh*, 
schrei') entfallt in unserer Ausgabe, abweichend von den Drucken 
und der Kritischen Ausgabe, der Apostroph, und die Schreibweise 
wird nach der iiblichen Form geregelt. 

Besondere Schwierigkeiten ergeben sich schliefilich in der 
Anwendung der Anfuhrungsstriche, vor allem innerhalb langerer 
Redeabschnitte. Jean Paul setzt die Anfuhrungszeichen nicht nur 
bei der direkten, sondern auch bei der indirekten Rede, um in 
dieser eine dem Wortlaut nach wiedergegebene Rede von einer 
nur nach dem Inhalt mitgeteilten zu unterscheiden. Die An- 
fiihrungsstriche mussen auch in diesem Fall natiirlich beibe- 
halten werden. Dem Brauch der Zeit folgend laBt der Dichter 
gern vor einem eingeschobenen »sagt* er« die Anfiihrungsstriche 
fort oder trennt solche eingefiigten Partikeln von der Rede selbst 
lediglich durch Bindestriche oder Klammern. Das fiel in den 
alten Drucken, die ohnehin fiir gewohnlich solche gesprochene 
Abschnitte zu Beginn jeder Zeile mit Anfuhrungszeichen ver- 
sahen, nicht ins Gewicht, erschwert aber dem heutigen Leser die 
glatte Lekture durch die Ungewohntheit einer derartigen Inter- 
punktion. Umgekehrt stellt eine Auf losung nach dem heutigen 
Gebrauch in Anfuhrungszeichen und Kommata einen zu weit- 
gehenden und gefahrlichen Eingriff dar. Wir erganzen daher 
nur stets die Anfiihrungsstriche, ohne hingegen die Klammern 
oder Bindestriche durch die iiblichen Kommata zu ersetzen. So 
wird einmal die Lesbarkeit wesentlich erleichtert und zugleich 
der Charakter, den diese eingeschobenen Partikel oder Bericht- 
stiicke als zuriickgedrangte und untergeordnete Regiebemer- 
kungen besitzen, nirgends verwischt, ein Vorgehen, zu dem sich 
in den Schriften Jean Pauls auch sonst geniigende und recht- 
fertigende Anhaltspunkte finden. 

Norbert Miller 



INHALT 



DIE UNSICHTBARE LOGE (MUMIEN) 

Ester Teil 

Entschuldigung bei den Lesern der samtlichen Werke 13 

Vorrede zur zweiten Auflage 14 

Vorredner in Form einer Reisebeschreibung 23 

Erster Sektor 
Verlobung-Schach - graduierter Rekrut - Kopulier-Katze ... 33 

Zweiter Sektor oder Ausschnitt 

Ahnen-Preiskurant des Ahnen-Grossierers — der BeschSler und 

Adelbrief 46 

ErstesExtrablatt.-Ehrenbezeugungen, die mir meine Grafschaft 
nach meiner Heimkehr von der grand tour antat 49 

Dritter Sektor oder Ausschnitt 
Unterirdisches Padagogium - der beste Herrnhuter und Pudel 52 

Vierter Sektor oder Ausschnitt 

Lilien - Waldhorner - und eine Aussicht sind die Todes-An- 
zeigen 58 

Funfter Sektor oder Ausschnitt 
Auferstehung 62 

Sechster Sektor oder Ausschnitt 

Gewaltsame Entfuhrung des schonen Gesichts - wichtiges 

Portrat 64 

Zweites Extrablatt: Strohkranzrede eines Konsistorialsekretars, 
worin er undsie beweisen, daB Ehebruch und Ehescheidung zu- 
zulassen sind 70 

Siebenter Sektor oder Ausschnitt 
Robisch - der Star - Lamm statt der obigen Katze 76 



134^ INHALT 

Ackter Sektor 
Abreise - weibliche Launen - zerschnittene Augen 81 

Extrablattchen : Sind die Weiber Papstinnen? 85 

Neunter Sektor 
Eingeweide ohne Leib - Scheerau 89 

Zehnter Sektor 

Ober-, Unterscheerau — Hoppedizel - Krauterbuch - Besuch- 

braune - Furstenfeder 92 

Extrazeilen iiber die Besuchbraune, die alle Scheerauerinnen be- 

fallt bei dera Anblick einer fremden Dame 98 

Extragedanken iiber Regentendaumen ; . 102 

Eilfter Sektor 
Amandus' Augen - das Blindekuhspiel 103 

Zwolfter Sektor 
Konzert - der Held bekommt einen Hofmeister von Ton 105 

Dreiiehnter Sektor 

Landestrauer der Spitzbuben — Scheerauer Fiirst - furstliche 
Schuld 109 

Vierqehnter Sektor 
Eheliche Ordalien - fiinf betrogene Betruger 114 

Funfyehnter Sektor oder Ausschnitt 
Der funfzehnte Sektor oder Ausschnitt 122 

Sech^ehntef Sektor 

Erzieh-Vprlegblatter 124 

Extrablatt: Warum ich meinem Gustav Witz und verdorbne 
Autores zulasse und klassische verbiete, ich meine griechische . 
und romische? 129 



INHALT , 134? 

Siebfeknter Sektor 
Abendmahl - darauf Liebemahl und LiebekuB 136 

Acht^eknter Sektor 

Scheerauische Molukken - Roper - Beata - offizinelle Weiber- 
kleider- Oefel 145 

Neun^ehnter Sektor 
Erbhuldigung - Ich, Beata, Oefel 164 

Zwan^igster Sektor 

Das zweite Lebens-Jahrzehend - Gespenstergeschichte - Nacht- 
Auftritt - Lebensregeln 171 

Einund^wan^igster oder Michaelis- Sektor 

Neuer Vertrag zwischen dem Leser und Biographen - Gustavs 
Brief 179 

Zweiund{wan%igster oder XVIIIL Trinitatis- Sektor 

Der echte Kriminalist - meine Gerichthalterei - ein Geburttag 
und eine Korn-Defraudation 187 

Dreiund%wan\igster oder XX. Trinitatis- Sektor 

Andrer Zank - das stille Land - Beatens Brief- die Aussohnung - 
das Portrat Gutdos 194 

Vierund^wan^igster oder XXI. Trinitatis-Sektor 
Oefels Intrigen - die Infammachung - der Abschied 206 

Fiinfundiwan^igster oder XXII. Trinitatis-Sektor 

Ottomars Brief 217 

Extrablatt: Vonhohen Menschen-und Beweis, dafi die Leiden- 
schaften ins zweite Leben und Stoizismus in dieses gehoren 221 

Sechsund^waniigster oder XX. Trinitatis-Sektor 
Diner beim Schulmeister 224 



I34 8 INHALT 

ZWEITER TEIL 

SiebenundfWaniigster oder XXL Trinitatis-Sektor 
Gustavs Brief- Fiirst mit seinem Frisierkamm 235 

Achtundiwaniigster oder Simon Judd-Sektor 
Gemalde - Residentin '. 246 

Neunund^wan^igster oder XXII. Trinitatis-Sektor 
Die Ministerin und ihre Ohnmachten - und so weiter 253 

Dreifiigster oder XXIIL Trinitatis-Sektor 
Souper und Viehglocken 262 

Einunddreifiigster oder XXIIIL Trinitatis-Sektor 
Das Krankenlager - die Mondfinsternis - die Pyramide 276 

Zweiunddreifiigster oder 1 6. November-Sektor 

Schwindsucht - Leichenrede in der Kirche des stillen Landes - 
Ottomar 289 

Dreiunddreifiigster oder XXV* Trinitatis-Sektor 

GroBe Aloe-Bliiten der Liebe : oder das Grab - der Traum - die 
Orgel nebst meinem SchlagfluB, Pelzstiefel und Eis-Liripipium 294 

Vierunddreifiigster oder I. Advent-Sektor 
Ottomar- Kirche - Orgel 303 

Funfunddreifiigster oder Andreas- Sektor 

Tage der Liebe — Oefels Liebe - Ottomars SchloB und die 
Wachsfiguren 310 

Sechsunddreifiigster oder II. Advent-Sektor 

Kegelschnitte aus vornehmen Korpern - Geburttag-Drama - 
Rendezvous (oder, wie Campe sich ausdriickt, Stell dich ein) ina 
Spiegel 322 



INHALT 1349 

Siebenunddreifiigster oder hell. Weihnacht-Sektor 

Liebebrief - Com6die - Souper - bal pare - zwei gefahrliche 

Mitternachtszenen - Nutzanwendung 332 . 

Das Wort uber die Puppen 338 

Achtunddreifiigster oder Neujahr-Sektor 

Nachtmusik - Abschiedbrief - mem Zanken und Kranken 355 

Neununddreifiigster oder iter Epiphanid-Sektor 364 

Vier^igster oder 2ter Epiphanid-Sektor 364 

Einundvier^igster oder 3ter Epiphanid-Sektor 365 

Zweiundvier^igster oder 4ter Epiphanid-Sektor 365 

Dreiundvieriigster oder Ster und 6ter Epiphanid-Sektor 365 

Vierundvier^igster oder Septuagesimd-Sektor 366 

Funfundvier{igster oder Sexagesimd-Sektor . . . 366 

Sechsundvier^igster oder Esto Mihi-Sektor 366 

Siehenundvieriigster oder Invokavit-Sektor 367 

Achtundvier%igster oder Mai-Sektor 

Der hammernde Vetter - Kur - Bade-Karawane 367 

Neunundvier^igster oder 1 ter Freuden-Sektor 

Der Nebel - Lilienbad 378 

Funfygster oder 2ter Freuden-Sektor 

Der Brunnen - Die Klagen der Liebe 381 

Einundfunfyigster oder ster Freuden-Sektor 

Sonntagmorgen — offne Tafel - Gewitter - Liebe 386 

Extraseiten uber die falsche Bauart der Kirchen 389 



135° INHALT 

Vierter Freuden-Sektor 
Der Traum vom Himmel - Brief Fenks 396 

Dreiundfunfiigster oder der grqfite Freuden-Sektor oder der Geburttags- 

oder Teidors-Sektor 
Der Morgen - der Abend - die Nacht 400 

Vierundfunfoigster oder 6ter Freuden-Sektor 
Tag nach dieser Nacht - Beatens Blatt - Merkwurdigkeit 414 

Let^ter Sektor 

111111111 418 

Leben des vergniigten Schulmeisterlein Maria Wut^ in Auenihal . 422 
Auslauten oder Sieben let^te Worte 463 

HESPERUS 

Erstes Heftlein 

Vorrede zur dritten Auflage 475 

Vorrede zur zweiten Auflage \ . . . 480 

Vorrede, sieben Bitten und BeschluB ."' 487 

1 . Hundposttag 

Unterschied zwischen dem 1 . und 4. Mai - Rattenschlachtstiicke - 
Nachtstuck - drei Regimenter in kunftigen Hosen - Starnadel - 
Ouvertiire und geheime Instruktion dieses Buchs 491 

2. Hundposttag 
VorsundflutlicheGeschichte-ViktorsLebens-ProzeB-Ordnung 512 - 

3. Hundposttag 

Freuden-Saetag - Wartrurm - Herzens-Verbriiderung 5 24 

4. Hundposttag 

SchattenriB-Schneider - Klotildens historische Figur - einige 
Hof leute und ein erhabner Mensch 535 



INHALT 1 3 5 I 

5. Hundposttag 

Der dritte Mai - der auf der Musik sitzende Abbate - die Nach- 
tigall 551 

6*. Hundposttag 

Der dreifache Betrug der Liebe - verlorne Bibel und Puderquaste 

- Kirchgang - neue Konkordaten mit dem Leser 555 

7. Hundposttag 

Der groBe Pfarr-Park - Orangerie - Flamins Standes-Erhohung 

- Fest-Nachmittag der hauslichen Liebe - Feuerregen - Brief 

an Emanuel 566 

8* Hundposttag 

Gewissens-Exammatorium und Dehortatorium - die Studier- 
Flitterwochen eines Gelehrten - das Naturalienkabinett - ein- 
gepacktes Kinn - Antwort von Emanuel - Ankunft des Fursten. 584 

Erster Schalttag 

Miissen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daB man 
sie macht? 611 

S>. Hundposttag 

Himmels-Morgen, Himmels-Nachmittag - Haus ohne Mauer, 
Bette ohne Haus 613 

/ o. Hundposttag 
Zeidler - Oszillieren Zeusels - Ankunft der Prinzessin 624 

it, Hundposttag 

Cbergabe der Prinzessin - KuB-Kaperei - montre a regulateur 

- Sammliebe 032 

z 2, Hundposttag 

Polar-Phantasien - die seltsame Insel der Vereinigung - noch ein 
Stuck aus der Vor-Geschichte - der Stettinerapfel als Ge- 
schlechtwappen 652 



13 5 2 INHALT 

Dritter Schalttag 
Wetterbeobachtungen uber den Menschen 666 

13. Hundposttag 

Ober des Lords Charakter - ein Abend aus Eden - Maienthal 

- der Berg und Emanuel 669 

1 4. Hundposttag 

Das philosophische Arkadien - Klotildens Brief- Viktors con- 
fessions \ 679 

1 5. Hundposttag 

Der Abschied 693 

Z VEITES HEFTLEIN 

G. Hundposttag 

KartofFeln-Formschneider - Hemmketten in St. Liine - Wachs- 
Bossierungen - Schach nach der regula falsi - die Distel der 
HofFnung - Begleitung nach Flachsenfingen 703 

Vierter Schalttag und Vorrede %um %weiien Heftlein 
Schalt- und NebenschoBlinge, alphabetisch geordnet 721 

; 7. Hundposttag 

Die Kur - das SchloB des Fiirsten - Viktors Visiten - Joachime 

- Kupferstich des Hofs - Priigel 725 

/ <?. Hundposttag 

Standeserhohung Klotildens - Inkognito-Reise - Bittschrift 
der OberjSgermeisterei — Konsistorialbote - Vexierbild der 
Flachsenflnger 747 

icf. Hundposttag 

Der Friseur, der nicht lungen-, sondern singsuchtig ist - Klo- 
tilde in Viktors Traum - Extrazeilen iiber die Kirchenmusik - 



INHALT 1353 

Gartenkonzert von Stamh{ - Zank zwischen Viktor und Fla- 
min - das Herz ohne Trost - Brief an Emanuel 763 

20. Hundposttag 

Blatt von Emanuel - Flamins Fruchtstiicke auf den Schultern - 
Gang nach St. Liine 787 

Funfter Schaktag 
Fortsetzung des Registers der Extra-Schofilinge 796 

2 1\ Hundposttag 

Viktors Krankenbesuche - iiber tochtervolle Hauser - die zwei 
Narren - das Karussell 803 

22. Hundposttag 

StiickgieBerei der Liebe, z.B. gedruckte Handschuhe, Zank, 
Zwergflaschen und Schnktwunden - ein Titel aus den Digesten 
der Liebe - Marie - Courtag - Giulias Sterbebrief 817 

2 j. Hundposttag 

Erster Besuch bei Klotilde - die Blasse — die Rote - die Renn- 
Wochen .838 

24, Hundposttag 

Schminke - Krankheit Klotildens - Schauspiel Iphigenie- 
Unterschied der biirgerlichen und der stiftfahigen Liebe 851 

Sechster Schalttag 
Uber die Wiiste und das gelobte Land des Menschengeschlechts . 867 

2$. Hundposttag 

Verstellte und wahre Ohnmacht Klotildens - Julius - Emanuels 
Brief iiber Gott , 875 



1354 INHALT 

Drittes Heftlein 

26* Hundposttag 

Drillinge - Zeusel und sein Zwillingbruder - die aufsteigende 
Perucke - Entdeckung von Spitzbubereien 895 

.27. Hundposttag 

Augenverband - Bild hinter Bettevorhang - Gefahr fur zwei 
Tugenden , 910 

2 8. Hundposttag 

Osterfest 924 

Erster Osterfeiertag: Ankunft im Pfarrhause - Klub der Dril- 
linge - Karpfe 924 

Zweiter Osterfeiertag: Leichenrede auf sich selber - zweierlei 

entgegengesetzte Schicksale der Wachsstatue 932 

Dritter Osterfeiertag: F. Kochs doppelte Mundharmonika - die 
Schlittenfahrt - der Ball - und 944 

Vorrede ium dritten Heftlein 961 

Siebenter Schalttag 
Ende des Registers der Extra-SchoBlinge 961 

29* Hundposttag 
Bekehrung - Billetdoux der Uhr- Florhut 967 

30. Hundposttag 
Briefe 981 

3 1 . Hundposttag 

Klotildens Brief- der Nachtbote - Risse und Schnitte im Bande 
der Freundschaft 989 

32. Hundposttag 

Physiognomie Viktors und Flamins - Siedpunkt der Freund- 
schaft — prachtige HorTnungen fur uns 1006 



INHALT 13 55 

Erster Pfingsttag {33. Hundposttag) 

Polizeiordnung der Freude - Kirche - der Abend - die Bliiten- 
hohle 1029 

Zweiter Pfingsttag (34. Hundposttag) 

Der Morgen — die Abtissin - der Wasserspiegel- stummer In- 
jurienprozeB - der Regen und der offne Himmel 1045 

Dritter Pfingsttag oder 3S. Hundposttag oder Burgunder-Kapitel 
Der Englander - Wiesenball - selige Nacht - die Bliitenhohle 1060 

Vierter und let%ter Pfingsttag (36. Hundposttag) 

Hyazinthe - die Stimme vom Vater Emanuels - Brief vom Engel 
- Flote auf dem Grab - zweite Nachtigall - Abschied - Geister- 
erscheinung j . . . 1075 

VlERTES HEFTLEIN 

Vierte Vorrede 

oder abgedrungene Antikritik gegen eine oder die andere Rezen- 
sion, die mir etwan nicht gefallen sollte 1095 

Neunter Schalttag 
Viktors Aufsatz uber das Verhaltnis des Ich zu den Organen . . . 1 099 

3 j* Hundposttag 

Der Amoroso am Hofe - Praliminarrezesse der Hochzeit - Ret- 
tung des hoflichen Kriimmens 1 105 

38. Hundposttag 

Die erhabene Vormitternacht- die selige Nachmitternacht - der 
sanfte Abend 1 125 

3$. Hundposttag 
GrpBe Entdeckung - neue Trennungen 1151 



13 5 6 " INHALT 

40 '. Hundposttag 

Das mbrderische Duell - Rettung der Duelle - Gefangnisse als 
Tempel betrachtet - Hiobsklagen des Pfarrers - Sagen meiner 
biographischen Vorzeit, Kartoffelnstecken 1 160 

41. Hundposttag 

Brief - zwei neue Einschnitte des Schicksals - des Lords 
Glaubensbekenntnis 1 175 

42. Hundposttag 

Aufopferung - Valetreden an die Erde - Memento-mori - 
Spaziergang - Herz von Wachs 1 182 

43. Hundposttag 

Matthieus vier Pfingsttage und Jubilaum 1 193 

44. Hundposttag 

Die Bruderliebe - die Freundliebe - die Mutterliebe - die 
Liebe 1203 

Nachtrag %um 44* Hundposttag 
Nichts - 1214 

4$stes oder let^tes Kapitel 

Knef - die Stadt Hof- SchweiBfuchs - Rau&er -Schlaf - Schwur 

- Nachtreise - Gebusch - Ende 1217 

ANHANG 

Anmerkungen zur Unsichtbaren Loge 1241 

Anmerkungen zum Hesperus 1268 

Nachwort 1313 

Zur Textgestaltung : 1339 



INHALTSVERZEICHNJS 

ZU DEN BANDEN I-VI 

DIESER AUSGABE 



Das vorliegende Verzeichnis umfaBt die Titel der in den Biindenl-VI ent- 
haltenen Werke sowie der in diese Werke eingeschobenen kleineren Texte 
selbstandigen Charakters. Es wurde jedoch darauf verzichtet, alle Extra- 
blatter, Extraseiten und Billets aufzunehmen, da das Verzeichnis dem Leser 
vor allem das Auffinden wichtiger und haufig gesuchter Einzelschriften 
erleichtern soil. 



Adams Hochzeitsrede (aus »Sieben- 

kas«) II, 119 
Appendix des Appendix oder meine 

Christnacht (aus »Der Jubel- 

senior«) IV, 545 
Auslauten oderSieben letzteWorte 

(aus »Die Unsichtbare Loge«) 

1,463 

Billet an meine Freunde, anstatt der 
Vorrede (Vorrede zu »Quintus 
Fixlein«) IV, 9 

Biographische Belustigungen IV, 
261 

Blumen-, Frucht- und Dornen- 
stucke oder Ehestand, Tod und 
Hochzeit des Armenadvokaten 
F. St. Siebenkas II, 7 

Brief des Doktor Viktor an Kato 
den Attern uber die Verwand- 
lung des Ich ins Du, Er, Ihr und 
Sie - oder das Fest der Sanftmut 
am 2oten Marz (aus »Siebenkas«) 
II, 416 



Briefe und bevorstehender Lebens- 

Iauf IV, 925 
Brief uber die Philosophic (aus 

»Briefe und bevorstehender Le- 

benslauf«) IV, 1014 

Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana 
HI, ion 

Dammerungen fur Deutschland V, 
917 

Das Fest der Sanftmut am 20ten 
Marz : siehe "Brief des Doktor 
Viktor . . .« 

Das Gliick, auf dem Hnken Ohre 
taub zu sein (aus »Dr. Katzen- 
bergers Badereise«) VI, 251 

Das Gliick eines schwedischen Pfar- 
rers (aus »Flegeljahre«) II, 598 

Das heimliche Klaglied IV, 1081 

Das Kampaner Tal IV, 561 

Der doppelte Schwur der Besse- 
rung (aus »Briefe und bevor- 
stehender Lebenslauf«) IV, 960 



1358 



GESAMTINHALTSVERZEICHN1S 



Der Jubelsenior IV, 409 

Der Komet VI, 563 

Der Mond. Phantasierende Ge- 
schichte (aus »Quintus Fixlein«) 
IV, 50 

Der Tod eines Engels (aus »Quin- 
tus Fixlein«) IV, 45 

Der Traum im Traum (aus »Sie- 
benkas«) II, 276 

Des Amts-Vogts Josuah Freudel 
Ktaglibell gegen scinen verfluch- 
ten Damon (aus »Quintus Fix- 
lei n«) IV, 206 

Des LuftschifTers Giannozzo See- 
buch (aus »Komischer Anhang 
zum Titan«) III, 925 

Des Rektors Florian Falbels und 
seiner Primaner Reise nach dem 
Fichtelberg (aus »Quintus Fix- 
lein«) IV, 226 

Die Doppelheerschau in GroD- 
lausau und in Kauzen samt Feld- 
ziigen (aus nPolitische Fasten - 
predigten«) V, 11 50 

Die Kunst, einzuschlafen (aus »Dr. 
Katzenbergers Badereise«) VI, 
238 

Die Mondfinsternis (aus »Quintus 
Fixlein«) IV, 38 

Die Neujahrsnacht eines Ungliick- 
lichen (aus »Briefe und bevor- 
stehender Lebenslauf«) IV, 965 

Die Salatkirchweih in Obersees, 
oder fremde Eitelkeit und eigne 
Bescheidenheit (aus »Satirischer 
Appendix** zu »Biographische 
Belustigungen«) IV, 363 

Die Unsichtbare Loge I, 7 

Die Vernichtung (aus »»Dr. Kat- 
zenbergers Badereise«) VI, 257 

Die wunderbare Gesellschaft in der 
Neujahrsnacht (aus »Das heim- 
liche Klaglied«) IV, mi 

Dr. Fenks Leichenrede auf den 



hochstseligen Magen des Fiirsten 
von Scheerau (aus »Dr. Katzen- 
bergers Badereise«) VI, 153 
Dr. Katzenbergers Badereise VI, 77 

Einladungs-Zirkulare an ein neues 
kritisches Untcr-Fraisgericht 
uber Philosophen und Dichtcr 
(aus »Komischer Anhang zum 
Titan«) III, 909 

Entschuldigung bei den Lcsern der 
samtlichen Werke (vor »Die Un- 
sichtbare Loge«) I, 1 3 

Erkliirung der Holzschnitte unter 
den loGeboten des Katechismus 
(aus >»Das Kampaner Tal«) IV, 
627 

Erzahtungsspiel (aus »Komischer 
Anhang zum Titan«) III, 87? 

Es gibt weder eine eigenniit/ige 
Liebe noch eine Selbstliebe, son- 
dern nur eigenniitzige Hand- 
lungen (aus »Quintus Fixlein«) 

IV, 219 

Fata und Werke: siehe »Palinge- 

nesien« 
Flegeljahre II, 577 
Friedens-Predigt an Deutschland 

V, 877 

Geschichte meiner Vorrede zur 
zweiten Auflage des Quintus 
Fixlein IV, 15 

Habermanns logischer und geo- 
graphischer Kursus durch Eu- 
ropa, von ihm selber ganz sum- 
marises dem Erbprinzen der 
MilchstraOe vorgetragen (aus 
»Palingenesien«) IV, 865 

Hesperus I, 471 

Huldigungspredigt vor und unter 
dem Regierantritt der Sonne (aus 



GESAMTINHALTSVERZEICHNIS 



*359 



»Dr. Katzenbergers Badereise«) 
VI, 138 

Kleine Nachschuie zur Asthetischen 

Vorschule V, 457 
Komischer Anhang zum Titan III, 

831 
Konjektural-Biographie (aus »Briefe 

und bevorstehender Lebenslauf«) 

IV, 1025 

Leben des Quintus Fixlein IV, 7 
Leben des vergniigten Schulmei- 
sterlein Maria Wutz in Auenthal 
I, 422 
Leben Fibels VI, 365 
Levana oder Erziehlehre V, 5 1 5 
Luna am Tage (aus »Briefe und be- 
vorstehender Lebenslauf«) IV, 
940 

Mars' und Phdbus* Thronwechsel 

V, 1037 

Mein Aufenthalt in der Nepomuks- 

Kirche wahrend der Belagerung 

. der Reichsfestung Ziebingen (aus 

»Politisclie Fastenpredigten«) V, 

11 12 

Meine Christnacht: siehe "Appen- 
dix des Appendix . . .« 

Nachdammerungen fur Deutsch- 
'land (aus »Politische Fastenpre- 
digten«) V, 1075 

Palingenesien (Fata und Werke vor 

und in Nurnberg) IV, 717 
Politische Fastenpredigten V, 1069 

Quintus Fixlein IV, 7 



Rede des toten Chrisms vom Welt- 
gebaude herab, daB kein Gott sei 

(aus »Siebenkas«) II, 270 

Satirischer Appendix (zu »Biogra- 
phische Belustigungen«) IV, 345 
Schmelzles Reise nach Flatz VI, 7 
Selberlebensbeschreibung VI, 1037 
Selina oder iiber die Unsterblich- 

keit der Seele VI, 1105 
Siebenkiis II, 7 

Titan III, 7 

Traum iiber das All (aus »Der Ko- 
met«) VI, 682 

Cber Charlotte Corday (aus »Dr. 

Katzenbergers Badereise«)VI, 332 
Ober den Tod nach dem Tode; 

oder der Geburttag (aus »Dr. 

Katzenbergers Badereise«) VI, 

160 
Ober die natiirliche Magie der Ein- 

bildungskraft (aus »Quintus Fix- 
lein") IV, 195 
Cber die Wuste und das gelobte 

Land des Men schengesch lech ts 

(aus »Hesperus«) I, 867 
Ober Hebels alemannische Ge- 

dichte (aus »Dr. Katzenbergers 

Badereise«) VI, 145 

Vorredner in Form einer Reise- 
beschreibung (Vorrede zu »Die 
Unsichtbare Loge«) I, 23 

Vorschule der Asthetik V, 7 

Wiinsche fur Luthers Denkmal von 
Musurus (aus »Dr. Katzenber- 
gers Badereise«) VI, 310 



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